Entrechtet, überwacht, versorgt: Von der Verstaatlichung des

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Erich Weede
Entrechtet, überwacht, versorgt:
Von der Verstaatlichung des Individuums
im Westen, der früher mal die freie Welt war
Zusammenfassung
Philosophischer Ausgangspunkt meiner Analyse ist Lockes Vorstellung vom Selbsteigentum
des Menschen. Selbsteigentum des Menschen und individuelle Entscheidungsfreiheit sind
deshalb so wichtig, weil Menschen sich immer wieder irren. Daraus folgt, dass eine
Gesellschaft zwar nicht den Irrtum vermeiden kann, aber die Auswirkungen des Irrtums
dadurch minimieren, dass sie vielen, in der Regel machtlosen Individuen die Möglichkeit des
Irrtums überlässt statt Entscheidungen zu zentralisieren und damit großflächig wirkende
Irrtümer der Obrigkeit zu ermöglichen, die kaum kostengünstig korrigierbar sind. Je
mächtiger der Mensch ist, desto erfolgreicher kann man sich gegen die Zumutung wehren
dazuzulernen. Wichtiger noch als die demokratische Wahl der Obrigkeit ist deshalb die
Beschränkung der staatlichen Gewalt und Zuständigkeit. Demokratie bewältigt dass Problem
der Fehlerhaftigkeit menschlicher Entscheidungen nicht. Nur die Beschränkung der
Staatstätigkeit kann dazu einen Beitrag leisten. Deshalb ist es so beunruhigend, dass Europas
Staaten und die überstaatliche Brüsseler Administration immer mehr Rechte an sich ziehen,
damit notwendigerweise die Menschen bevormunden und entrechten. Weil mit diesem
Bevormundungs- und Entrechtungsprozess gleichzeitig den Menschen Versorgungsansprüche
vermittelt werden, kann die Expansion staatlicher Tätigkeit auf Zustimmung stoßen. Was
dabei nicht vermieden werden kann, ist das Risiko großflächig wirkender Fehler, wie sich bei
der Analyse von hoch verschuldeten Sozialstaaten und bei der Etablierung des Euro oder
seiner sog. Rettung zeigen lässt. Die zunehmende Verbesserung der Datenerhebung,
Datenerspeicherung und Datenanalyse halte ich nur dann für eine Gefahr für die Freiheit,
wenn sie sie zur weiteren Verfestigung staatlicher Macht eingesetzt wird. Instrumente zur
Verteidigung der menschlichen Freiheit sind territoriale Gewaltenteilung, Standortkonkurrenz
der Staaten und Exit-Optionen für die Menschen, die durch Kleinstaatlichkeit maximiert
werden. Zentralisierung der Entscheidungen in Brüssel gefährdet Europa statt die Freiheit der
Europäer zu verteidigen.
Abstract
Locke’s idea of self-ownership is the starting point of my argument. Self-ownership and
individual decision-making are important because of human fallibility. Human societies
cannot avoid error, but they can minimize the impact of error by letting lots of powerless
individuals commit small errors, rather than centralizing decision-making and thereby enable
the authorities to commit big errors which cannot easily be corrected. The more powerful a
human being is, the more easily one can resist admitting and correcting one’s errors.
Therefore limited government is even more important than the democratic election of
governments. Democracy does not help to contain the problem of human fallibility. Only
limited government does. Therefore, it is so lamentable that European governments and the
administration in Brussels grab ever more decision rights from individuals. Tutelage replaces
self-determination. Since tutelage and deprivation of rights come together with welfare
promises, the expansion of government is popular and accepted. Nevertheless, the expansion
of government does not contain the problem of fallibility, as an analysis of indebted welfare
states, the establishment of the Euro, or attempts to rescue it demonstrate. Improvements in
data collection, storage and analysis become dangerous only if they are used to further expand
and reinforce government. The territorial separation of powers, interstate competition, and
exit-options for people are the most effective instruments to defend freedom. The smaller the
state is, the easier the defense of freedom becomes. Centralization of European decisionmaking in Brussels endangers the liberty of Europeans instead of safeguarding it.
1
1. Der philosophische Ausgangspunkt: Überlegungen zum Selbsteigentum, Freiheit und
Recht
Mit John Locke (1690/2003) gehe ich davon aus, dass der Mensch sich selbst gehört und
deshalb ein Recht auf Freiheit hat. Mit Friedrich August von Hayek (1960/1971) verstehe ich
unter Freiheit zunächst und vor allem Freiheit von Zwang. Freiheit bedeutet nicht unbedingt
eine großartige Ressourcenausstattung oder Wohlstand für Alle, sondern dass man über die
eigenen Ressourcen selbst verfügen darf. Freiheit ist ein Abwehrrecht, nicht zuletzt
gegenüber der eigenen Regierung. Je mächtiger die Regierung gegenüber den Individuen
ist, desto weniger frei sind die Menschen. In einer freien Gesellschaft erkennen Regierung
und Staat das Selbsteigentum der Menschen als ein Recht an.
Ein Recht ist mehr als ein bloßer Anspruch, etwa auf Freiheit und Selbsteigentum. Rechte
werden von Anderen, vor allem auch von Staat und Obrigkeiten, anerkannt. Weil der
Rechtsanspruch des einen mit dem des Anderen in Konflikt geraten kann, muss das Recht die
Ansprüche der Menschen, ihre Freiheits- und Eigentumsrechte, von einander abgrenzen.
Das Recht funktioniert am besten, wenn es meistens von den meisten Menschen freiwillig
anerkannt wird, wenn man meistens dem Recht folgen will. Das ist vor allem dann der Fall,
wenn das Recht entweder auf Gewohnheiten und Traditionen der Menschen aufbaut, also
gefunden oder expliziert werden kann und nicht etwa von einer Obrigkeit oktroyiert wird,
oder wenn es - wie beim Zivilrecht üblich - auf freiwilligen Vereinbarungen aufbaut.
Warum sind Selbsteigentum und Freiheit so wichtig? Letzten Endes liegt das an der
menschlichen Natur. Wenn wir irgendetwas über den Menschen wissen, dann nicht dass wir
rationale Eigennutzmaximierer sind, wie manche Ökonomen zu glauben scheinen, sondern
dass Menschen sich immer wieder irren. Wenn Irrtum eine allgegenwärtige Gefahr ist, dann
ist es besser, viele möglichst kleine und leicht korrigierbare Fehler in Kauf zu nehmen als
wenige große und schwer korrigierbare Fehler. Je mehr Entscheidungen dezentral von vielen
kleinen Leuten gefällt werden, desto weniger wahrscheinlich sind schwerwiegende Folgen,
desto eher sind die Fehler korrigierbar. Denn kleine Leute können sich gegen die
Aufdeckung von Fehlern im Gegensatz zu Machthabern nicht mit Aussicht auf Erfolg wehren.
Außerdem ist nur bei vielen kleinen und unabhängigen Entscheidungen ein gewisser
Fehlerausgleich denkbar. Wenn der eine Bäcker den Brotbedarf unterschätzt, der andere ihn
überschätzt, dann leidet der Konsument kaum. Nur bei kleinen Leuten klappt es auch, Freiheit
und Verantwortlich-gemacht-werden oder Entscheidung und Haftung mit einander zu
verbinden, Machthaber finden allzu oft Mittel und Wege, die Lasten von Fehlentscheidungen
2
auf andere abzuwälzen.
Zentralisierung der Entscheidungen, ich könnte auch sagen Freiheitsbeschränkungen,
ermöglichen flächendeckende Fehler. Schlechtes Management kann einen Betrieb in den
Bankrott
führen. Eine
schlechte Regierung kann Schlimmeres.
Die dirigistische
Wirtschaftspolitik der DDR, der Sowjet-Union oder schlimmer noch der große Sprung
nach Vorn in China mit vielleicht 45 Millionen Hungertoten liefern mahnende Beispiele
dafür, wie man es nicht machen soll. Je mehr die europäische Wirtschaftspolitik auf die
Brüsseler Ebene verlagert wird, desto großflächiger können Irrtümer werden. Vielleicht steht
die Schweiz so viel besser als die meisten europäischen Länder da, weil das eigensinnige
Beharren auf kantonaler Selbstverantwortung die Anfälligkeit des an sich schon kleinen
Landes für großflächige Fehler weiter verringert hat. Brüssel und die EU werden seit der
Euro-Einführung zunehmend zu Synonymen für großflächige Fehler.
Seit der Einführung des Euro ist die europäische Wirtschaftspolitik nicht erfolgreich.
Das Recht wurde von Anfang an missachtet. Missachtetes Recht nützt nichts. Das
Verschuldungskriterium von 60% Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurde zwar von
Gründungsmitgliedern, wie Italien und Belgien, nie eingehalten, aber es deutet einen Maßstab
an, was zumindest manche Gründerväter für notwendig und wünschenswert hielten. Von
diesem Kriterium ist Euroland als Ganzes heute noch weiter als bei der Euro-Einführung
entfernt. Der Euro ist ein großflächiger Fehler der europäischen Eliten. Er ist ein
Negativsummenspiel, bei dem mehr verloren als gewonnen wird. Die Krisenländer am
Mittelmeer haben die Abwertungsoption verloren und tun sich deshalb schwer, ihre
Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. Sie leiden unter hoher Arbeitslosigkeit und
katastrophaler Jugendarbeitslosigkeit. Deutschland hat zwar keine Probleme mit dem
Außenwert
des
Euro,
aber
Deutschlands
Steuerzahler
haften
zunehmend
über
Rettungspakete, Target-Kredite und Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB für die
Fehler
und
Schulden
der
Partnerländer,
seitdem
das
vertragliche
vereinbarte
Nichtbeistandsprinzip und das Verbot von Staatsfinanzierung durch die EZB aufgegeben
wurde. Not bricht offenbar EU-Recht. Bei der Euro-Rettung ist „Rechtsbeugung längst
zur Routine“ geworden (Steltzner 2011, S. 11; auch Geppert 2013; Kerber 2010; Starbatty
2013).
Es ist nicht leicht, das Ausmaß der deutschen Haftung und die Wahrscheinlichkeit des
Umschlagens von Haftung in Verluste abzuschätzen. Verluste um oder gar über 1 Billion
3
(Tausend Milliarden) Euro sind durchaus denkbar.1 Dann hätten wir vielleicht eine explizite
Staatsschuldenquote in der Nähe von 120 Prozent und würden vielleicht selbst ein Krisenland.
Die
Haftung
für
Auseinanderbrechen
fremde
der
Schulden
wird
meist
damit
gerechtfertigt,
dass
Eurozone
für
Deutschland,
insbesondere
für
das
seine
Exportwirtschaft, teuer würde. Diese Befürchtung ist gerechtfertigt. Weil weder die
bisherigen Rettungsmaßnahmen, noch künftige und noch teurere eine Bestandsgarantie für
den Euro geben können – vielleicht halten manche Volkswirtschaften am Mittelmeer eine
Währungsunion mit Deutschland, also den Verzicht auf die Abwertungsoption, einfach nicht
aus – trägt Deutschland ein doppeltes Risiko: erst die Belastung durch fremde Schulden,
danach doch noch die Verkleinerung oder der Zusammenbruch der Eurozone.
Sparer werden durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank langsam – oder
sollte man sagen: sozialverträglich? – enteignet.
Sinn (2014) hat die daraus für den
deutschen Sparer bis Herbst 2014 entstandenen Verluste auf 300 Milliarden Euro geschätzt.
Für die Sparer ist der Zins auch vor Steuern und Inflation schon in der Nähe von Null, wird
nach Steuern auf Kapitalerträge und zur Zeit schwacher Inflation eindeutig negativ. Unter
diesen Bedingungen kann fast niemand mehr durch Sparen für sein Alter versorgen. Die
Individuen werden noch abhängiger vom Staat, vom Kollektiv der Mitbürger, als sie es
schon sind.
Die Niedrigzinspolitik
verschafft
dem
Staat
auf
lange Sicht ein
Versorgungsmonopol für seine Bürger.
2. Wie kann Freiheit bedroht werden? Durch Zwang, Mitbestimmung und den
Sozialstaat
Die Verteidigung der individuellen Freiheit ist ein Kampf gegen die Verstaatlichung des
Menschen. Die Freiheit der Individuen kann auf drei Arten eingeschränkt werden: am
offensichtlichsten durch Anwendung von Zwang. Klassische Formen sind die Sklaverei oder
etwas abgeschwächt die Leibeigenschaft. In der Zentralverwaltungswirtschaft, wo alle
Arbeitsplätze und Einkommenschancen letztlich von einer Obrigkeit kontrolliert werden,
kann die Freiheit so wirksam beschnitten werden, dass der Status des Menschen sich dem des
Staatssklaven annähert. Davon abgesehen ist die Wehrpflicht, bei der der Staat das Recht
beansprucht, junge Männer in den Tod zu schicken, die schärfste Form der Verstaatlichung
des Menschen. In den meisten westlichen Gesellschaften bestehen diese Probleme zurzeit
nicht.
1
Vgl. die Schätzungen von Bagus (2012), FAZ (2013), die auf Goldmann Sachs zurückzuführen sind,
Homburg (2012), Rasch (2012) oder Sinn (2012), die zum Teil noch darüber liegen.
4
Die zweite Art der Freiheitsbeschränkung ist heimtückischer, weil der Mensch gleichzeitig
Selbstbestimmungsrechte verliert und Mitbestimmungsrechte über Andere gewinnt.
Freiheit hat viel mit Selbstbestimmung zu tun, viel weniger mit Mitbestimmung. Friedrich
August von Hayek (1960/1971) wusste das, linke Demokraten wissen das nicht. Deshalb darf
man auch eine freiheitliche Gesellschaft nicht mit einer demokratischen Gesellschaft
verwechseln. Freiheit und Demokratie sind weder Synonyme, noch Gegensätze. Ich sehe
keinen Grund, warum eine Gesellschaft nicht sowohl frei als auch demokratisch sein kann,
aber die Freiheit muss auch in der Demokratie noch verteidigt und erkämpft werden.
Solange
Selbstbestimmung
herrscht,
lösen
die
Menschen
Koordinations-
und
Kooperationsprobleme durch freiwillige Zusammenarbeit, etwa auf dem Markt. Dabei
sind Verträge und das Zivilrecht hilfreich. Der freiwillige Tausch auf dem Markt führt in der
Regel zur Besserstellung aller Beteiligten. Seit Adam Smith (1776/1990) wissen wir, dass
die unsichtbare Hand bei beiderseits freiwilligen Tauschgeschäften die Marktteilnehmer
zwingt, die Bedürfnisse ihrer Partner zu berücksichtigen, so zu tun, als ob einem deren
Wohlergehen am Herzen läge. Die unsichtbare Hand kann Altruismusdefizite kompensieren.
Der dezentrale Markt mit seinen nur bei Privat- oder Sondereigentum möglichen
Knappheitspreisen überfordert die Menschen auch kognitiv nicht.2
Wo demokratische Mitbestimmung herrscht, werden Menschen überstimmt, wird die
Selbstbestimmung durch Mehrheitsentscheidungen beeinträchtigt. Das hat in westlichen
Gesellschaften zu
massiven Einschränkungen der Vertragsfreiheit
geführt.
Im
Arbeitsleben ist davon nicht mehr viel übrig. Die staatliche Obrigkeit verfügt Mindestlöhne
und Kündigungsschutz, ohne Rücksicht darauf, dass Mindestlöhne wenig qualifizierte
Arbeitskräfte zur Arbeitslosigkeit verdammen können oder dass ein hochwertiger
Kündigungsschutz Arbeitgeber an der Einstellung zusätzlicher Kräfte hindert. In Deutschland
kann die staatliche Obrigkeit auch Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären, so
dass sie sogar dann bindend sind, wenn weder der Arbeitgeber, noch der Arbeitnehmer diesen
zugestimmt haben. Ein über den Arbeitsmarkt hinausgehendes Beispiel für die Einschränkung
der Vertragsfreiheit sind Diskriminierungsverbote, die etwa auch auf dem Wohnungsmarkt
gelten. Es ist ja zumindest denkbar, dass es Merkmale von Menschen gibt, die mit säumigen
Mietzahlungen oder grob nachlässigen Umgang mit der Mietwohnung korrelieren, so dass ein
rationaler Wohnungseigentümer durchaus Anlass zur Diskriminierung haben kann. Auch die
2
Mises (1922) hatte als erster erkannt, dass Privateigentum an Produktionskapital bzw. Unternehmen
eine Voraussetzung für Knappheitspreise auf Inputmärkten und damit für eine rationale Ressourcenallokation ist.
Hayek (1945) hat später ergänzt, dass die Unmöglichkeit der Wissenszentralisierung eine dezentrale
Wirtschaftsweise bzw. eine Marktwirtschaft erzwingt, wenn Wissensvergeudung vermieden werden soll.
5
Freiheit von Konsumenten wird massiv eingeschränkt. Statt sich mit Caveat Emptor zu
begnügen, verbietet der Staat an vielen Stellen das Rauchen oder den Verkauf von
Medikamenten, die manchmal in genauso hoch entwickelten Nachbarländern erhältlich sind.
Weil der Staat zunehmend dazu neigt, Freiheitsbeschränkungen in juristischer Form zu
verfügen, liegt der Verdacht nahe, dass sowohl die Zahl und Länge der Gesetze als auch die
der Juristen eher ein Indikator für den Missbrauch des Rechts als für die Herrschaft des
Rechts ist. Deshalb konnte auch ein berühmter amerikanischer Rechtswissenschaftler (Epstein
1995, S. IX, 14) schon vor Jahren feststellen, dass es zu viele Gesetze und Juristen gibt, weil
Problemlösungen durch freiwillige Vereinbarungen vernachlässigt werden.
Die dritte Möglichkeit der Freiheitsbeschränkung ist die Enteignung der Früchte der
eigenen Arbeit durch den Staat. Wenn der Mensch sich selbst gehört, dann gehören auch die
Früchte der Arbeit dem, der sie erarbeitet hat, nicht einem Kollektiv oder einem Staat. Hohe
Steuerlastquoten und Staatsausgaben sind Anzeichen dafür, wie gern der Staat die
Freiheitsrechte der Individuen angreift und missachtet, wieweit die Verstaatlichung des
Menschen vorangekommen ist. Mit der Existenz des Staates hat der permanente Angriff
auf die Freiheitsrechte des Individuums begonnen. Aber den Staat können wir nicht wieder
loswerden wie eine andere unglückselige Erfindung: die Atombombe. Ich habe diesen
Vergleich gewählt, um anzudeuten, dass die Einsicht in die Fortdauer des Staates nicht aus
der Liebe zum Staat resultieren muss. Je kleiner der Staat, desto eher kann man ihn als
kleineres Übel lieben.
Staatsausgaben, Steuerlast und Staatsschulden sind deshalb wichtig, weil sie das Wachstum
und damit die Leistungsfähigkeit von Volkswirtschaften beeinträchtigen. Zwar sind
ökonometrische Befunde oft umstritten, aber viele Studien sprechen dafür, dass steigende
Steuer- und Abgabenlasten, steigende Staatsausgaben, steigende Sozialtransfers und steigende
Staatsschuldenquoten zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums beitragen. 3 Es fällt
leicht, Gründe dafür zu finden, warum ausufernde Staatstätigkeit und großzügige
Sozialleistungen zur Verlangsamung des Wachstums beitragen. Hier sollen zunächst die
Anreizeffekte betrachtet werden. Hohe und progressive Steuersätze können Leistung
entmutigen. Großzügige Sozialleistungen können manche Menschen veranlassen, lieber von
Sozialleistungen statt von Arbeit zu leben. Auch der Anreiz, Kindern Arbeitsdisziplin zu
vermitteln, sinkt mit zunehmender Großzügigkeit der Sozialleistungen.
3
Bergh and Karlsson (2010), Bernholz (1986), Connolly and Li (2014), Poulson and Kaplan (2008),
Romer and Romer (2010), Vedder and Robe (2009), Weede (1986, 1991). Der Economist (2013: 16) fasste
kürzlich den Zusammenhang in folgender Faustregel so zusammen: “An increase in tax revenues as a share of
GDP of ten percentage points is usually associated with a drop in annual growth of half to one percentage point.“
6
Vom Steuer- und Sozialstaat gehen Wanderungsanreize aus: Viele Menschen in den
ärmsten Ländern Europas oder im angrenzenden Mittelmeerraum wissen, dass die
Sozialleistungen in Deutschland immer noch höher sind als das, was man in der Heimat
erarbeiten kann. Viele deutsche Leistungsträger wissen, dass ihre Steuerlast in der Schweiz
oder in den USA etwas geringer als in der Heimat ausfiele. Abwanderung von
Leistungsträgern und Zuwanderung in die Sozialsysteme ist nicht das, was ein ergrauendes
Land braucht. Je großzügiger die Sozialleistungen sind, desto eher werden Menschen in
Versuchung geführt, sogar dann welche zu beanspruchen, wenn sie ihnen gar nicht zustehen.
Neben den Anreizen ist auch die Verlangsamung des Strukturwandels durch
Staatseingriffe zu berücksichtigen. In einer globalisierten Welt können komparative
Kotenvorteile schnell verlorengehen, also Unternehmen oder gar Branchen ihre
Wettbewerbsfähigkeit schnell verlieren. Dann neigen Politiker dazu, mit Struktur
erhaltenden Maßnahmen soziale Härten zu mildern und damit gleichzeitig den
notwendigen Strukturwandel zu verlangsamen. Nicht nur in Deutschland, aber auch in
Deutschland ist angesichts eines ergrauenden, überschuldeten Hochsteuerstaates mit
verlangsamtem Wirtschaftswachstum in der Zukunft zu rechnen. Es gibt zwar noch nicht viele
ökonometrische Studien zum Zusammenhang von Verschuldung und Wachstum, aber was
wir haben, ist mit der Hypothese vereinbar, dass Staatsverschuldung das Wachstum
verlangsamt. Mit zunehmender Staatsschuldenquote ist nach Reinhart and Rogoff (2011) mit
einer Verlangsamung des Wachstums zu rechnen.4
Im 20. Jahrhundert sind die Staatsausgaben in vielen westlichen Demokratien von ca. 10 auf
ca. 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen (Tanzi and Schuknecht 2000, Tanzi
2011). Ein großer Teil dieser Ausgabensteigerung hat sich nach 1960 ergeben und kann nur
durch den Ausbau des Sozialstaates erklärt werden. Die Steigerung der Sozialtransfers hat
einerseits eine Erhöhung der Steuer- und Abgabenlast relativ zum Bruttoinlandsprodukt
notwendig gemacht, ist außerdem in vielen Ländern, auch bei uns, durch steigende
Staatsschulden finanziert worden (Tanzi 2013). Mit einer expliziten Staatsschuldenlast in
der Nähe von 80 Prozent gilt Deutschland schon als solide und erregt den Neid seiner
Nachbarn. Deutschland wird Adressat von Bitten um Hilfe. Wenn man davon ausgeht, dass
Staaten nicht nur gegenüber ihren Kreditgebern Verpflichtungen haben, sondern auch
4
Herndorn, Ash and Pollin (2013) haben auf einen Fehler in der ökonometrischen Studie von Reinhart
and Rogoff hingewiesen, den diese auch zugestanden haben. Nach Korrektur ihrer Berechnungen bestehen
Reinhart and Rogoff allerdings darauf, dass ihre Schlussfolgerung einer Korrelation von hoher
Staatsverschuldung und verringertem Wachstum immer noch gilt (Cook 2013). Der ursprünglich mal bei 90%
Staatsschulden (relativ zum BIP) vermutete Schwelleneffekt lässt sich allerdings nicht halten.
7
gegenüber Pensionären und Rentnern, denen man sichere Alterseinkünfte versprochen hat,
dann muss man auf die implizite Staatsverschuldung blicken, die derartige Versprechungen
berücksichtigt.
Das Ausmaß der impliziten Staatsverschuldung ist schwerer abzuschätzen als das Ausmaß der
expliziten, weil es von einer Vielzahl von Annahmen beeinflusst wird. Noch vor Beginn der
Euro-Rettungsmaßnahmen, die auch etwas kosten könnten, hatte die Financial Times (2010)
mal die impliziten Staatsschulden Deutschlands und Großbritanniens auf 400,
Frankreichs und der USA auf 500 und Griechenlands auf 800 Prozent des jeweiligen
Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Es gibt auch andere, nicht ganz so schlimme Zahlen. Aber
alle größeren westlichen Demokratien, auch die Deutschen, sind mit einem Vielfachen des
Bruttoinlandsprodukts verschuldet, wenn man die impliziten Schulden nicht einfach
übersieht. Von den Wählern abhängige Politiker können der Versuchung nicht widerstehen,
über Schulden künftige Generationen mit den Kosten für gegenwärtige Sozialleistungen
zu belasten. So kann man heute Gutes tun ohne die heutigen Steuerzahler übermäßig zu
belasten. Kinder und noch Ungeborene haben keine Stimme, können sich nicht gegen die
Schuldknechtschaft wehren, der ‚Vater Staat’ oder ‚Mutti Merkel’ sie ausliefern.
Zwar ist ein Umbau der Sozialsysteme unter stärkerer Berücksichtigung der davon
ausgehenden Anreize denkbar, aber mit dem Versprechen von Leistungskürzungen kann
man keine Wahlen gewinnen. Überall in den westlichen Demokratien ist ja eine Mehrheit
der Bevölkerung, die unteren 60%, von der Einkommensteuerzahlung fast freigestellt.5
Die Konzentration der Steuerlast auf immer kleinere Bevölkerungsteile macht den Ausbau des
Sozialstaates so attraktiv. Außerdem sind alle großen westlichen Demokratien in die
Schuldenfalle getappt. Für Deutschland kommt eine tragische Situation hinzu. Es scheint im
Moment stark zu sein. Die Nachbarn an der südlichen Euro-Peripherie sind in Not. Da liegt
es nahe zu vergessen, dass Deutschland dabei ist, wegen der Überalterung, des Steuer- und
Sozialstaates und der hohen Verschuldung immer schwächer zu werden. Auch Deutschland
hat Reformbedarf.
3. Was gefährdet die Freiheit darüber hinaus? Big Data und Großeuropa
5
Obwohl die USA bei der sozialstaatlichen Fehlentwicklung verglichen mit Europa Nachzügler sind,
lässt sich sogar dort aufzeigen, dass die Konzentration der Steuerlast auf eine Minderheit zunimmt, dass
gleichzeitig die Transfers (‚entitlements’) zunehmen und die staatliche Schuldenlast auch (Eberstadt 2012;
Lipford and Yandle 2012). Auch in Deutschland zahlten 2011 die oberen 40 Prozent der Bevölkerung mit 89,3
Prozent die Einkommensteuer fast allein – ja die oberen zehn Prozent allein trugen schon 54,6 Prozent der
Einkommensteuerlast – während eine Mehrheit der Bevölkerung sich daran so gut wie gar nicht beteiligte (IW
2012: 67).
8
Die Datensammelwut von Unternehmen und politischen Instanzen, einschließlich der
Geheimdienste, oder die alltägliche Überwachung sind Instrumente, die unser Verhalten
beeinflussen oder gar steuern sollen. Das kann zunächst einmal harmlos sein und
maßgeschneiderte Information für potenzielle Kunden bedeuten. Mir ist aufgefallen, dass
Amazon meine Buchbestellungen gespeichert haben muss und daraus recht intelligente
Schlüsse in Bezug auf die Bücher zieht, die mich interessieren könnten, an deren Verkauf
Amazon künftig etwas verdienen könnte. Ich sehe nicht, wie diese und ähnliche rein
kommerzielle Datensammlung und deren Nutzung ausschließlich im privaten Profitinteresse
meine Freiheit gefährden könnte. Schlimmstenfalls führt diese Form der Überwachung zu
mehr Spam in der E-Mail. Aber private Profitinteressenten haben ein Interesse daran, mich
damit nicht zu sehr zu belasten. Je mehr uninteressante Buchempfehlungen mir Amazon
schickt, desto seltener sehe ich mir die Empfehlungen an. Das reicht, um Amazon zur
Orientierung an meinen Interessen zu zwingen, analog zu Adam Smith’ unsichtbarer
Hand. Je mehr der Staat derartige private Datensammelei überwacht und reguliert, desto
mächtiger wird er, desto eher kann er sich auch diese privat gesammelten Daten aneignen.
Staatliche Überwachung privater Datensammlung könnte gefährlicher als diese sein.
Die Datensammlung seitens des Staates, also des legitimen Gewaltmonopolisten in
funktionierenden Staaten, ist ambivalent. Aber so ambivalent war ja die Existenz von Polizei
und Justiz auch immer schon. Im Rechtsstaat (wie der Schweiz) schützen Polizei und Justiz
die Menschen, unter Hitler oder Stalin waren sie eine tödliche Bedrohung. Sofern ’big data’
dazu führt, dass private Gewalt unterbunden wird kann das im allgemeinen Interesse sein.
Wenn die Arbeit der wohl fleißigsten Datensammelstelle der Welt, der NSA, und deren
Zusammenarbeit mit befreundeten Geheimdiensten dazu führt, islamistische und sonstige
Terroranschläge zu vereiteln, dann ist das im allgemeinen Interesse. Datensammlung über
buchstäblich jeden Menschen auf Erden kann im Rahmen des ‚Kriegs gegen den Terror’
notwendig sein, weil man nicht weiß, wer Terrorist ist oder noch werden könnte (Streek
2014). In diesem Zusammenhang ist es weniger beunruhigend, dass Daten über Milliarden
Nicht-Terroristen gespeichert werden, sondern dass einzelne Terroristen übersehen werden
könnten, oder dass aus der Datenflut ungültige Schlüsse gezogen werden. Die ungültigen
Schlüsse führen dann etwa beim Einsatz von Kampfdrohnen zu sog. Kollateralschäden. Über
die Gültigkeit der Datenauswertung liest man in den Medien erstaunlich wenig. Wenn ich
mangels besserer Alternativen meine Erfahrungen in der Psychometrie als Anhaltspunkt
nehme, dann wird die Gültigkeit der Datenauswertung viel zu wünschen übrig lassen, dann
sind bei Überwachung zwecks Kampfdrohneneinsatz mindestens so viele Kollateralschäden
wie getötete Terroristen zu erwarten.
9
Bevor man daraus schließt, dass Überwachung als Vorstufe von Drohneneinsätzen besser
unterlassen würde, sollte man sich vergegenwärtigen, dass man analog mit derselben
Begründung auch die Abschaffung von Polizei und Justiz, damit auch des Rechtsstaates,
fordern könnte. Irrtum ist bei menschlichen Analysen und Urteilen nie ausgeschlossen. Das
gilt auch für Polizisten und Richter. Wenn die Berechtigung ihres Handelns auf absoluter
Fehlerfreiheit ihrer Entscheidungen beruht, dann kann es sie nie geben. Über die
Kollateralschäden von Polizei und Justiz erfährt man ebenfalls ziemlich wenig. Das staatliche
Interesse daran, hier die Informationslage zu verbessern, scheint auch begrenzt zu sein. Wenn
Big Data-Analysen die Entscheidung über die Bewährungsanträge von Strafgefangenen
beeinflussen, wie stellenweise in den USA, dann beunruhigt mich das nicht. 6 Auch bei
traditioneller oder intuitiver Entscheidung über solche Anträge, spielt die Erwartung der
Rückfälligkeit eine wichtige Rolle. Wenn die Prognosen künftig besser werden, würde ich das
nur begrüßen.
Problematisch wird die Kombination von Überwachung durch staatliche Instanzen zwecks
Zwangsanwendung einmal durch kognitive Schwächen des Menschen, zum anderen aber
auch durch unlautere Absichten. Die Verhinderung von Terroranschlägen ist im allgemeinen
Interesse. Die Verhinderung von Kritik an den Herrschenden oder die Verfolgung von
Dissidenten ist das genaue Gegenteil. Denn nur durch Kritik wird die Verbesserung der
Regierungstätigkeit möglich gemacht.
Überwachung ist nicht nur notwendig, um Terroranschläge auf Menschen zu unterbinden,
sondern auch um unsere zunehmend vernetzte Infrastruktur zu schützen. Rifkin (2014)
erhofft sich zwar von technologischen Entwicklungen, wie dem Internet und dem Internet der
Dinge, nicht weniger als eine bessere und egalitärere Welt, aber er hält Cyberterrorismus im
Allgemeinen und Anschläge auf die Elektrizitätsversorgung im Besonderen für eine
potenziell
tödliche Gefahr.
Damit
gibt
es
noch einen
guten
Grund für
eine
Überwachungsgesellschaft. Möglicherweise geht das Zeitalter der Privatsphäre am Internet
zugrunde. Heute schon funktionieren die klassischen Strategien des Datenschutzes mehr
schlecht als recht (Mayer-Schönberger and Cukier 2013: 196). Dass man der Verwendung der
eigenen Daten zustimmen muss, nützt wenig, wenn man vorher lange Texte lesen und
verstehen muss, wenn man ohne Zustimmung von wichtigen Dienstleistungen ausgeschlossen
6
Merkwürdigerweise sehen Mayer-Schönberger und Cukier (2013: 199ff.) das anders. Für sie dürfen
Entscheidungen immer nur von Taten, nie von Vorhersagen abhängen. Dann dürfte m.E. Bewährung entweder
nie oder müsste immer gewährt werden. Verfrühte Entlassung auf Bewährung ist m.E. eher eine Art der
Begnadigung als ein Recht, weshalb Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten m.E. die Entscheidung sehr wohl
beeinflussen dürfen.
10
wird, so dass der Normalverbraucher oft ungelesenen Verträgen zustimmt. Außerdem gibt es
oft unvorhersehbare Wiederverwendungsmöglichkeiten von Daten. Auch die Anonymisierung
der eigenen Daten nützt wenig, weil die Re-Identifikation von Personen auch bei
anonymisierten Daten zunehmend möglich ist.
Die diffuse und oft ungezielte Überwachung im Internet ist zwar mehr als andere Formen
der Überwachung im Gespräch, aber ich halte gezielte Formen der Überwachung für
gefährlicher. Die weitgehende Abschaffung des Bankgeheimnisses in der westlichen Welt ist
ein wichtiger Schritt auf dem Weg in den Überwachungsstaat. Die Abschaffung des
Bankgeheimnisses kann zwar auch die Finanzierung von Terroranschlägen erschweren, aber
Hauptziel der Maßnahme war wohl doch der Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Eine
Welt, in der nur ehrliche Menschen Steuern zahlen und es folglich Anreize gibt, unehrlich zu
werden, ist sicher nicht wünschenswert. Aber je schwerer sich der Mensch den Steuerdruck
entziehen kann, desto leichter können Politiker den Steuerdruck erhöhen. Bei Steuer- und
Sozialabgabequoten in der Nähe von 50% schon für ledige Durchschnittsverdiener (wie in
Deutschland) sollten eher Bremsen gegen weitere Steuererhöhungen eingebaut werden als
solche Bremsen abgebaut. Tendenziell impliziert ja jede Steuererhöhung
mehr
Machtzentralisierung, die aus kognitiven Gründen und wegen der damit verbundenen
Anreizverzerrungen nicht wünschenswert ist.
Der nächste und noch radikalere Schritt in Richtung auf den gezielten Überwachungsstaat
ist schon im Gespräch, die Abschaffung des Bargeldes. Schon vor Jahrzehnten hoffte ein
berühmter Ökonom mit offensichtlich eher sozialdemokratischen als freiheitlichen
Präferenzen (Tinbergen 1975, S. 20, 164) auf eine verbesserte Erfassung der
Leistungsfähigkeit der Menschen, um diese zur Besteuerungsgrundlage zu machen.
Wenn das geschieht, dann haben die Opfer des staatlichen Steuerzwangs nicht mal mehr die
Möglichkeit, aus der Arbeit in die steuerfreie Muße zu fliehen. Das wäre ein gewaltiger
Schritt Richtung Staatssklaverei. Meines Wissens gibt die Psychometrie eine solche
Erfassung noch lange nicht her, aber weil die Speicherung und Analyse von Daten immer
preiswerter wird, sind Durchbrüche nicht auszuschließen. Aber weil der Staat ja bei
Handlungen
von
Polizei,
Justiz
und
Antiterrorkämpfern
auch
das
Risiko
von
Kollateralschäden hinnimmt - weder genau wissen kann, noch genau wissen will, wie oft er
Fehler macht - ist die Unvollkommenheit psychometrischer Persönlichkeitserfassung keine
Garantie dafür, dass der Staat sie nicht doch irgendwann zu Besteuerungsgrundlage macht.
So wie die staatliche Überwachung Vorstufe und Instrument der Freiheitsbeschränkung
11
sein kann, gilt das auch für die territoriale Expansion des Staates. Es ist kein Zufall, dass das
seit dem Mittelalter politisch fragmentierte Europa die in Großreichen geeinten asiatischen
Hochkulturen wirtschaftlich und technologisch spätestens im 19. Jahrhundert überholen
konnte. Die Kleinflächigkeit vieler europäischer Länder – denken Sie an die Niederlande, die
Schweiz, Württemberg oder Sachsen – und die Autonomie vieler Städte hat die Fürsten und
Könige in den Standortwettbewerb gezwungen und den Untertanen Exit-Optionen vermittelt.
Der Standortwettbewerb hatte Europas Obrigkeiten dazu gezwungen, die Eigentums- und
Verfügungsrechte der Untertanen in einem größeren Ausmaß zu achten als das in Asiens
Großreichen üblich war. Der politischen Uneinigkeit Europas verdanken wir also bessere
Eigentumsrechte, bessere Arbeitsanreize, mehr dezentralisierte Entscheidungen und bessere
Innovationschancen, damit auch eher und mehr Massenwohlstand als anderswo (Jones 1981;
Rosenberg and Birdzell 1986, S. 310; Weede 2012).7 Weil Freiheit ja viel mit
Selbstbestimmung und weniger mit Mitbestimmung zu tun hat, sind Exit-Optionen, die
einem im Alleingang zugänglich sind, entscheidend und nicht etwa die Möglichkeit,
irgendwann eine Mehrheit zu bekommen. Im Kleinstaat hat die Freiheit grundsätzlich bessere
Chancen als im Großreich.
Aus der Tatsache, dass die Uneinigkeit Europas, vor allem im 20. Jahrhundert, einen
fürchterlichen Blutzoll gefordert hat, haben Europas Politiker nach 1945 auf die
Notwendigkeit der Einigung des Kontinents geschlossen (Geppert 2013). Dabei haben sie sich
nicht an dem kleinen Europa in der Mitte des Kontinents, der Schweiz, orientiert, und
versucht,
möglichst
kleinen
Einheiten
möglichst
viel
Selbständigkeit
zu
lassen,
Standortkonkurrenz und Steuerwettbewerb zu stärken. Im Gegenteil: Europas Politiker
scheinen Großflächigkeit und Zentralisierung der Entscheidungen für einen Wert an sich
zu halten. Die Kosten dieser falschen Weichenstellung sehen sie nicht, obwohl der Kontrast
zwischen dem kleinen und funktionierenden Europa, der Schweiz, und dem wesentlich
schlechter funktionierenden Großeuropa, vor allem in der Eurozone, die Kosten der
Überzentralisierung und großflächig durchgesetzter und verteidigter Fehlentscheidungen recht
deutlich macht.
7
McCloskey (2010) vertritt eine etwas andere Auffassung als die Institutionenökonomen, die
Handlungsbeschränkungen, Eigentumsrechte und Anreize in den Mittelpunkt ihrer Erklärung der industriellen
Revolution und der Überwindung der Massenarmut im Westen stellen. Bei Ihr spielen Menschenwürde und
Freiheit als Innovationsvoraussetzzungen die entscheidende Rolle. Aber erstens hält auch sie sichere
Eigentumsrechte für notwendig und eine Hintergrundbedingung von Würde und Freiheit, zweitens ist auch bei
ihr politische Fragmentierung (viele Staaten statt eines Imperiums, autonome Städte) beitragende Bedingung zu
Würde und Freiheit. Drittens ist ihre Relativierung der Bedeutung politischer Fragmentierung nicht immer
überzeugend. Sie (McCloskey 2010, S. 110 und 360-362) verweist sowohl auf die politische Fragmentierung
Deutschlands vor 1871 und dessen geringen Beitrag zur Industrialisierung Europas in der Frühphase als auch af
die Bedeutung der meist vor der Einheit gegründeten deutschen Universitäten und der dort entwickelten
organischen Chemie später.
12
Was bedeutet die sog. ‘Euro-Rettung’? Hier soll es nicht um die Details der Rettungsfonds
oder des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank gehen, sondern um
die Prinzipien hinter der Rettungspolitik. Bisher konnten auf dem Markt erfolglose
Europäer nur zulasten der Mitbürger desselben Nationalstaats und bei entsprechender
Verschuldung zulasten kommender Generationen leben, künftig könnte das auch zulasten
der Steuerzahler in anderen Euroländern gehen. Wir sind dabei, eine zweite oder
europäische Etage des Sozialstaates aufzubauen. Es ist nicht selbstverständlich, dass das in
Anbetracht der Grenzen der Finanzierbarkeit des Sozialstaates in ergrauenden Gesellschaften
eine gute Idee ist. Fiskalische Tugend wird bestraft, besonders verantwortungsloses
Regieren wird belohnt. Jede unter moralischem Druck erfolgende Hilfe kann man als
Bestrafung der relativ soliden Geberländer und als Belohnung der relativ unsolideren
Nehmerländer betrachten.
Dass die Datensammelei von Amazon, Google und sogar der NSA die Freiheit der
Menschen in Europa so stark bedroht wie der Aufbau einer großflächigen Europäischen
Union mit zunehmender Zentralisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen, mit
abnehmender
Standortkonkurrenz
und
abnehmendem
Steuerwettbewerb,
mit
notwendigerweise kostspieligeren Exit-Optionen, das kann ich nicht sehen. Großeuropa bzw.
die EU hat bisher schon über Zentralisierung, schleichende Entdemokratisierung auf dem
Umweg über Brüssel, immer mehr Enteignung der Früchte der Arbeit der Menschen
durch den Staat oder bei Sparern auch durch die EZB schon soviel Freiheitsabbau geleistet,
dass die digitale Überwachung noch Nachholbedarf hat, wenn sie eine genauso wirksame
Freiheitsschranke werden will wie die ewig unterfinanzierten, ergrauenden, aber in einer
Union aneinander geketteten Sozialstaaten Europas. Wirklich Schrecken mich kann die
digitale Überwachung nur in den Händen eines großeuropäischen Steuer-, Sozial- und
Transferstaates oder schlimmer noch eines Weltstaates.
4. Fazit
Für alle westlichen Demokratien – wenn auch für Deutschland weniger als etwa Frankreich
– gilt dass wir in ein Loch gefallen sind. Eigentlich sollte man dann aufhören weiterzugraben.
Aber wir graben weiter: mit den Anreizverzerrungen des Hochsteuer- und Sozialstaates,
mit Mindestlöhnen, die die Vertragsfreiheit verringern, aber die Arbeitslosigkeit fördern
können, mit Rentenerhöhungen in einer ergrauenden Gesellschaft, mit dem schleichenden
Aufbau einer europäischen Transferunion. Selbst da, wo ein Land wie Deutschland zu
versuchen scheint, eines wichtigen Problems Herr zu werden, des Schuldenproblems, sieht
13
die Welt bei genauerem hinsehen düster aus. Wir bekommen die Schulden ja nicht deshalb in
Griff, weil wir Sozialleistungen kürzen oder unsere Wirtschaft schneller als die
Sozialtransfers wächst, sondern weil wir der Verrottung von Teilen unserer Infrastruktur
zusehen, weil wir implizit unterstellen, dass uns Verteidigungslasten künftig erspart
bleiben. Damit hinterlassen wir kommenden Generationen ein ebenso schlimmes Erbe wie
mit Schulden und einem Anreize vernichtenden Steuer-, Schulden- und Sozialstaat.
In den westlichen Demokratien wird der Kampf um die Freiheit verloren, weil die
Geschädigten sich nicht wehren. Geschädigt werden in erster Linie die kommenden
Generationen, denen wir – Mutti Merkel und meine Generation – einen Schuldenberg,
einen
Anreize
vernichtenden
Hochsteuer-
Transferunion, die Fehlerkorrekturen
und
Sozialstaat,
erschwert, und
eine
eine
europäische
langsam verrottende
Infrastruktur hinterlassen. Ich könnte auch die deutsche Energiepolitik erwähnen, die die
Industrie aus unserem Lande vertreibt, natürlich ohne das Weltklima zu retten. Die
Jugend muss sich gegen den Ausbau dieser Erblast wehren. Sonst muss sie sich damit
abfinden, für die Schuldknechtschaft geboren zu sein. Unter den Älteren sind die
Leistungsträger und die Reichen – die beiden Gruppen überlappen sich, sind aber durchaus
nicht identisch – die natürlichen und unverzichtbaren Verbündeten der Jugend beim
Kampf gegen Freiheitsentzug durch Steuerbelastung und Schuldknechtschaft. Denn
Leistungsträger und Reiche tragen heute den Teil der Lasten, den die Politik nicht auf
künftige Generationen abwälzen kann. Niemand hat besser als Ludwig von Mises formuliert,
was Politiker motiviert, als er schrieb: „Gemeinnützig ist, was den Regierungsmännern
ermöglicht, sich am Ruder zu behaupten“.8 Nur, dass sich wenig ändert, wenn eine Frau
Kanzlerin wird, konnte er nicht voraussehen.
8
Zitiert nach Krebs (2014: 98).
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