Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung WS 2011/12 Mi 8-10

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Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung WS 2011/12 Mi 8-10
Revolutionen und Reformen: Europa 1780/89-1815
Gliederung der Vorlesung:
19. 10.
26. 10.
2. 11.
9. 11.
16. 11.
23. 11.
30. 11.
7. 12.
14. 12.
21. 12.
3. 1.
10. 1.
17. 1.
24. 1.
1. 2.
Einführung – Ursachen der industriellen Revolution in England
Die industrielle Revolution in England.
Die Französische Revolution: Langfristige Ursachen.
Der Ausbruch der Revolution.
Aufbau und Scheitern der konstitutionellen Monarchie 1789-1792.
Revolutionskrieg – Republik – Jakobinerherrschaft 1792-1794.
Frankreich unter dem Direktorium 1794-1799.
Der Aufstieg Napoleons 1799-1804.
Deutschland und die Französische Revolution.
Vom Alten Reich zum Rheinbund.
Die rheinbündischen Reformen.
Die preußischen Reformen.
Höhepunkt und Zerfall der napoleonischen Herrschaft
Die Freiheitskriege und die Suche nach einer Neuordnung Europas.
Der Wiener Kongress.
Skript zur 1. u. 2. Vorlesung
Wichtigste allgemeine deutschsprachige Überblicksliteratur:
W. BUßMANN (Hg.), Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen
Bewegungen des 19. Jahrhunderts (Handbuch der europäischen Geschichte, hg. v. Th.
Schieder, Bd. 5), Stuttgart 1981.
A. FAHRMEIR, Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850, München 2010.
E. FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß (Oldenbourg-Grundriß der
Geschichte, Bd. 12) 4. überarb. Aufl. München 2001.
J. OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts,
München 2009.
B. WUNDER, Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815,
Stuttgart u.a. 2001.
I. Begriff der „Doppelrevolution“
Die Jahre zwischen 1780 und 1815 bilden eine tiefe Zäsur innerhalb der europäischen
Geschichte. Der englische Historiker Eric Hobsbawm hat von der westeuropäischen
Doppelrevolution gesprochen. Dieser Begriff verbindet zwei Entwicklungsstränge, die Europa
den Durchbruch zur Moderne brachten. Um 1780 setzte in England die so genannte
„Industrielle Revolution“ ein, mit der eine neue Form wirtschaftlichen Wachstums entstand,
das sich in den folgenden Jahrzehnten auf immer mehr Staaten ausdehnte und Wirtschaft,
Gesellschaft und Politik grundlegend veränderte. 1789 folgte in Frankreich die politischsoziale Revolution, die fundamental mit der jahrhundertealten ständisch-feudalen Gesellschaft
brach und den Prinzipien einer modernen bürgerlichen Gesellschaft (Rechtsgleichheit,
Freiheit der Person und des Eigentums) zum Durchbruch verhalf. Sie schuf zugleich den
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ersten demokratisch legitimierten europäischen Nationalstaat auf der Grundlage von
Volkssouveränität und Gewaltenteilung. Durch die 1792 einsetzenden Revolutionskriege und
die Herrschaft Napoleons über weite Teile des europäischen Kontinents fanden wesentliche
Prinzipien der Französischen Revolution rasch weitere Ausbreitung. Zwischen 1780 und 1815
beschleunigte sich somit der europäische Weg in die Moderne („Die Zeit ist auf der Flucht.“
E. M. Arndt). Diese Phase der Beschleunigung des Strukturwandels in Wirtschaft,
Gesellschaft und Staat hatte allerdings eine längere Vorgeschichte, zudem war der Wandel,
der innerhalb Europas nicht gleichförmig verlief, auch 1815 noch keineswegs abgeschlossen.
Ziel der Vorlesung ist es, einen Überblick über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der
Doppelrevolution zu geben. Ausgehend von einem knappen Einblick in die Fragen der
Industriellen Revolution in England geht es vor allem um die Französische Revolution, die
Herrschaft Napoleons und die Auswirkungen auf den deutschen Raum, konkret um die
preußische und rheinbündische Reformpolitik sowie die staatsrechtliche Neuordnung
Deutschlands auf dem Wiener Kongress.
II. Wirtschaft und Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte der Großteil der europäischen Bevölkerung
noch auf dem Lande. Die Landwirtschaft war überall noch der wichtigste Wirtschaftszweig.
Schlechte Ernteergebnisse führten nicht selten zu Hungerkrisen. Die gewerbliche Wirtschaft
bewegte sich zum Großteil noch in den traditionellen Strukturen des Handwerks. Dennoch
vollzogen sich im 18. Jahrhundert vor allem in Westeuropa wichtige Veränderungen. Hierzu
zählte die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durch Fortschritte im Landbau und
bei der Viehzucht, aber auch durch strukturelle Veränderungen wie dem verstärkten
Aufkommen rational wirtschaftender Großbetriebe (Agrarkapitalismus). Außen- und
Binnenhandel wiesen eine wachsende Tendenz auf, was nicht zuletzt auf das europäische
Ausgreifen nach Übersee zurückzuführen war. Und auch die gewerbliche Wirtschaft befand
sich in einem Expansionsprozess. Eine wachsende Nachfrage nach gewerblichen
Erzeugnissen förderte den Ausbau von Manufakturen und des ländlichen Heimgewerbes (vor
allem Textilproduktion) und schließlich das Aufkommen erster Fabriken. In England begann
die Industrielle Revolution.
III. Begriff „Industrielle Revolution“
Der Begriff „Industrielle Revolution“, der im frühen 19. Jahrhundert als Bezeichnung für
einen bis dahin nicht gekannten wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel aufkam, ist
heute innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht unumstritten. Zahlreiche Historiker ziehen
Begriffe wie „Industrialisierung“ oder „modernes Wirtschaftswachstum“ vor, weil sie sich
gegen die Vorstellung eines qualitativen und quantitativen Entwicklungssprungs wenden und
stärker auf den evolutionären Charakter der Veränderungen verweisen. Angesichts der
gewaltigen Umwälzungen, welche die Industrialisierung in wirtschaftlicher, sozialer und
politischer Hinsicht weltweit mit sich brachte, halten aber andere Historiker nach wie vor an
dem Begriff „Industrielle Revolution“ fest.
Als Hauptcharakteristika der Industriellen Revolution/Industrialisierung, mit der die Epoche
des modernen Wirtschaftswachstums einsetzt (S. KUZNETS), sind anzusehen: 1. die
Durchsetzung neuer Techniken; 2. massenhafte Nutzung von Rohstoffen, vor allem von
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Kohle und Eisen; 3. die Einrichtung des Fabriksystems; 4. die Durchsetzung der freien
Lohnarbeit, 5. die Kommunikationsrevolution.
Die Industrialisierungsforschung erhielt um 1960 herum wichtige Anstöße durch das
Entwicklungsmodell von Walt Whitman ROSTOW, der die Weltgeschichte in fünf
Wirtschaftsstadien (Alternative zur marxistischen Gliederung der Weltgeschichte) einteilte:
- traditionelle Gesellschaft
- Vorbereitungsphase der Industrialisierung
- Take Off Phase
- Stadium der Reife
- Zeitalter des Massenkonsums
Der Take Off ist auch als Industrielle Revolution im engeren Sinne definiert worden und
markiert jene Phase, in der die neue Industriewirtschaft voll zum Durchbruch gelangt, „abhebt
wie ein Flugzeug beim Start“, um in ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum
überzugehen. Für England ist dies bei ROSTOW die Zeit 1780-1800, für Deutschland 18501870. Kritiker dieses für die Forschung sehr anregenden Konzepts verweisen jedoch darauf,
dass der Take Off im Sinne Rostows keine notwendige Voraussetzung eines erfolgreichen
Industrialisierungsprozesses sein muss.
Die Ausgangsfrage jeder Beschäftigung mit der Industrialisierung lautet: Warum beginnt sie
in Europa und warum spielt hier wiederum England die führende Rolle?
Bei der Frage nach den Ursachen und Vorbedingungen der Industriellen Revolution werden
zahlreiche Gründe genannt und einzelne Faktoren sehr unterschiedlich gewichtet:
- überseeische Expansion und Ausplünderung der Peripherie durch den europäischen
Kolonialismus (WALLERSTEIN)
- technische Erfindungen als Hauptauslöser und Triebkraft der Industriellen Revolution
- Bevölkerungswachstum in Europa in Verbindung mit den besonderen klimatischen
Verhältnissen (Vorratshaltung und Produktionsleerzeiten durch lange Winterzeiten)
- Effizienzsteigerung der Landwirtschaft, dadurch bessere Ernährungsbedingungen der
Bevölkerung und allmählich wachsende Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen
- In jüngster Zeit wird vor allem auch der Ökonomisierung des Wissens, also das sich
mit der Aufklärung verstärkende Streben nach wirtschaftlich „nutzbarem Wissen“, ein
hoher Stellenwert eingeräumt.
In den letzten Jahren wächst die Tendenz, die Industrielle Revolution nicht auf eine
Hauptursache zurückzuführen, sondern auf das Zusammentreffen und die wechselseitige
Beeinflussung mehrerer günstiger Faktoren: z. B. Geographie, Klima, Bodenfruchtbarkeit,
Bodenschätze, Bevölkerungswachstum, Kapital, günstige Handelswege, Bildung,
Technikpotential, Unternehmerschaft.
Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass dem Beginn des eigentlichen
Industrialisierungsprozesses eine lange Vorbereitungsphase vorausging, in der die
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlagen gelegt wurden. Wichtige Aspekte in
diesem Zusammenhang sind:
- das Entstehen und die Entwicklung der europäischen Stadtkultur – das wachsende
Interesse an Wissenschaft und Technik.
- soziokulturelle Veränderungen im Gefolge der Reformation (These Max WEBERs:
Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus, mentale
Wandlungen als Voraussetzung einer neuen Wirtschaftsgesinnung).
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die Herausbildung des frühmodernen Staates, der bessere Rahmenbedingungen für die
wirtschaftliche Betätigung schafft: Rechtssicherheit, bessere Berechenbarkeit für den
Unternehmer, staatliche Nachfrage, Gewerbeförderung, Bildungspolitik.
die koloniale Expansion, die damit wachsenden außenwirtschaftlichen Verflechtungen
und Kapitalsbildung (aber nicht im Sinne des einzig entscheidenden Faktors).
IV. Die industrielle Revolution in England
Wichtigste Literatur:
Aus der unüberschaubaren Fülle der Literatur zur englischen Industriellen Revolution sei auf
folgende besonders geeignete Einführungen und Gesamtdarstellungen verwiesen:
R. C. ALLEN, The British Industrial Revolution in Global Perspective, Cambridge 2009.
Ch. BUCHHEIM, Industrielle Revolution: langfristige Wirtschaftsentwicklung in
Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994.
E. J. HOBSBAWM, Industrie und Empire 1: Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750,
Frankfurt/Main 1969.
Pat HUDSON, The Industrial Revolution, London 1992. (mit ausführlichem und
anschaulichem Forschungsteil).
A. Die Bedeutung des Pionierlandes:
Die englische Industrielle Revolution ist für den Verlauf der Industrialisierungsprozesse
sogenannter Nachzüglernationen oder -regionen von großer Bedeutung gewesen. Seit Karl
MARX wurde immer wieder das Bild des Pionierlandes entworfen, das dem zunächst noch
weniger entwickelten Nachzüglerland das Bild der eigenen Zukunft zeige. Die Vorstellung
einer bewussten Imitation des englischen Vorbildes ("abgeleitete Industrialisierung") sind
jedoch in den letzten Jahren verstärkt kritisiert worden. Bei einer Überbetonung der Imitation
des englischen Vorbildes läuft man nämlich Gefahr, dass die spezifischen Ausgangsbedingungen und die jeweils eigenen Ausprägungen der folgenden Industrialisierungsprozesse
übersehen oder zumindest vernachlässigt werden (Kritik von R. CAMERON). Dennoch bleibt
festzuhalten, dass Grundkenntnisse der englischen Entwicklung für das Verständnis der
kontinentaleuropäischen Industrialisierungsprozesse unverzichtbar sind.
B. Ursachen und Voraussetzungen der englischen Industriellen Revolution:
Über die Frage, warum die Industrialisierung in England begonnen habe, ist vielfach
gestritten worden. Alle monokausalen Erklärungsmodelle sind letztlich wenig überzeugend
geblieben. Die meisten Historiker gehen von einer ganzen Fülle eng miteinander
verflochtener günstiger Faktoren aus, die England zum Pionier werden ließen:
- allmähliche Verbesserungen der Ernährungssituation.
- starker Anstieg der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wachsende
Nachfrage nach Gütern, zusätzliches Arbeitskräftepotential.
- starker Aufschwung der englischen Landwirtschaft durch verbesserte Produktionsmethoden
und die Kommerzialisierung des Agrarsektors (Agrarkapitalismus). Man hat von einer
Agrarrevolution gesprochen, die der Industriellen Revolution vorausgeht.
- wachsende Bedeutung des Handels, wobei sich die Steigerungsraten sowohl auf den Außenals auch auf den Binnenhandel beziehen. Es ist unter Historikern umstritten, ob der Dynamik
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des Binnen- oder der des Außenhandels bei der Ingangsetzung der industriellen Revolution
die größere Bedeutung zukommt. In letzter Zeit wird stärker auf die Binnennachfrage
verwiesen (siehe BUCHHEIM). Der Außenhandel ist aber schon deshalb nicht zu
unterschätzen, weil die ersten industriellen Zweige (Baumwolle) in hohem Maße vom
Außenhandel abhängig waren.
- günstige verkehrsgeographische Bedingungen, einheitlicher Wirtschaftsraum.
- England verfügte über eine besonders günstige Ausstattung mit Rohstoffen: reiche, leicht
abbaubare Kohlevorkommen, Nähe zu den Eisenerzvorkommen, Schafwolle.
- England besaß größere Kapitalreserven als der Kontinent. In der frühen Phase der
Industriellen Revolution hielt sich der Kapitalbedarf der Unternehmerpioniere allerdings noch
in Grenzen.
- England besaß früh einen großen Reichtum an Erfindern und Unternehmertalenten,
vielleicht auch deshalb, weil die englische Gesellschaft in vielfacher Hinsicht offener war und
mehr soziale Mobilität ermöglichte als die ständisch verkrusteten Gesellschaften des
Kontinents. Viele Unternehmerpioniere kamen wie Richard ARKWRIGHT aus kleinsten
Verhältnissen oder wie der Pfarrer und Erfinder des mechanischen Webstuhls,
CARTWRIGHT, aus ganz anderen Berufszweigen. (andere wichtige Erfinder und
Unternehmerpioniere: James WATT, John KAY, James HARGREAVES, Samuel
CROMPTON, John ROEBUCK, Abraham DARBY, Henry CORT).
- Auch die Politik des Staates kam der Industrialisierung entgegen, zum einen durch die frühe
Rechtssicherheit, weitgehende politische Freiheiten des Individuums und die Förderung der
Wissenschaften (1660 Royal Academy of London). Zum anderen, weil der Staat im
Unterschied zum Dirigismus des kontinentalen Merkantilismus einerseits die wirtschaftliche
Entfaltung nicht behinderte (Wirtschaftsliberalismus, Adam Smith) und sie andererseits –
entgegen mancher Legenden – durch seine Politik in wichtigen Bereichen (Außenpolitik,
Navigationsakte von 1651, Verkehrswegebau, Ausreiseverbote für Fachkräfte,
Ausfuhrverbote für Maschinen) kräftig unterstützte.
C. Beginn der Industriellen Revolution:
Was spricht dafür, die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts schon als Durchbruchsphase
der englischen Industriellen Revolution anzusehen?
a) Die Entwicklung der Baumwollspinnerei. Sie war der erste Sektor, der seit den
sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend von der industriellen Produktionsweise
bestimmt wurde. In den achtziger Jahren beschleunigte sich die Entwicklung durch die
Kombination von Spinnmaschinen und Wattscher Dampfmaschine. Die Baumwollspinnerei
war der erste industrielle Führungssektor mit Rückkoppelungs-, Vorwärtskoppelungs- und
Begleiteffekten. Manchester als Zentrum der neuen Produktion wuchs zwischen 1760 und
1830 von 17 000 auf 180 000 Einwohner.
b) Auch die Eisenindustrie, deren rasantes Wachstum eigentlich erst mit dem
Eisenbahnbau der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts begann, verzeichnete vor 1800
wichtige technische Neuerungen (Koksverhüttung, Puddelverfahren) und ein
Produktionswachstum, das die Grundlage der späteren Erfolge legte.
c) Auch wenn gesamtwirtschaftliche Berechnungen (CRAFTS) das quantitative
Ausmaß des zwischen 1780 und 1800 erreichten Wachstums erheblich niedriger einstufen als
frühere Forschungen (Kritik am Mythos "Industrielle Revolution"), England um 1800 in
vielerlei Hinsicht noch vorindustrielle Strukturen besaß, so sollte dies nicht dazu führen, die
Bedeutung des eingetretenen Wandels zu unterschätzen. Die industrielle Revolution war
zunächst einmal ein regionales Phänomen (POLLARD). Die „revolutionären“ Veränderungen
dieser Führungsregionen werden in einer gesamtnationalen Wachstumsstatistik zu sehr
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eingeebnet. In den Führungsregionen hatte der wirtschaftliche Wandel in wenigen
Jahrzehnten eine bis dahin nicht gekannte Dynamik entfaltet und das Leben der Menschen
grundlegend verändert. Dies dürfte es auch weiterhin rechtfertigen, diese Jahrzehnte als
Beginn einer Industriellen Revolution anzusehen (HUDSON, LANDES).
D. England als Vorbild für Europa?
Um 1800 wurden die Fortschritte der englischen Industrie auf dem Kontinent einerseits
bewundert (Industriespionage). Andererseits war man angesichts der mit ihnen verbundenen
sozialen Probleme noch keineswegs generell davon überzeugt, langfristig denselben Weg
einschlagen zu müssen. Selbst in England war man, wie die Schriften von Robert Thomas
MALTHUS zeigen, um 1800 nicht voll davon überzeugt, durch die Beschleunigung der
Industrialisierung die sozialen Probleme des rasanten Bevölkerungswachstums in den Griff zu
bekommen und der wachsenden Bevölkerung ausreichende Existenzbedingungen zu schaffen.
Der Lebensstandard der Massen ist in den frühen Jahrzehnten der Industriellen Revolution
nicht oder nur wenig gestiegen. Hinzu kamen die von vielen Betroffenen als Verschlechterung
empfundenen Bedingungen der neuen Fabrikarbeit: Monotonie, Lärm, Schmutz, Zeitdruck,
Disziplinierung, Kinderarbeit, Trucksystem usw. Die sozialen Krisen führten vor allem seit
1800 zu Protestbewegungen der Arbeiter (Ludditen-Aufstand) und harten
Repressionsmaßnahmen der Regierung.
E. Das politische System.
In der langen Regierungszeit König Georges III. wuchsen in der an Bedeutung gewinnenden
öffentlichen Meinung die Forderungen nach politischen Reformen. Der amerikanische
Unabhängigkeitskrieg, der mit den Vereinigten Staaten 1783 geschlossene Frieden von
Versailles und der sich abzeichnende wirtschaftliche und soziale Wandel stellten das System
vor neue Herausforderungen. 1783 endete das "persönliche Regiment" des Königs. Unter der
Regierung William Pitts d. Jüngeren (1783-1801, 1804-06) erhielt die Reformdiskussion
innerhalb wie außerhalb des Parlaments zunächst neue Impulse. Der Ausbruch der
Französischen Revolution gab den radikalen Reformkräften wie Thomas Paine (Rights of
Man, 1791/92) noch zusätzliche Impulse. Die Mehrheit der politisch aktiven Kräfte lehnte
aber mit Edmund Burke (Reflections on the Revolution in France, 1790) eine Anlehnung an
das französische Vorbild ab und unterstützte Pitts Politik, die in den neunziger Jahren sehr
repressiv gegen potentielle Revolutionäre vorging, zugleich aber nicht nur den
wirtschaftlichen Wandel förderte, sondern auch erste vorsichtige Schritte zur Anpassung des
politischen Systems an die neuen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unternahm. Im
europäischen Vergleich war das wirtschaftliche Pionierland England politisch jedoch um
1800 eher ein Hort von Tradition und Konservativismus.
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