250 Jahre rasches Wachstum

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250 Jahre schnelles Wachstum - und was kommt jetzt?
Von Sidney Pollard
Die Industrialisierung hat der Welt eine nie zuvor gekannte Dynamik beschert. Die Zahl der Menschen,
die die Erde bevölkern, stieg steil an, und ihr Wohlstand erschien früheren Generationen märchenhaft.
Doch der Fortschritt schuf auch die Möglichkeiten der Selbstzerstörung. Sie sind heute fast unbegrenzt.
Industrie gab es schon vor der modernen, industrielle Revolution genannten Industrialisierung. In Europa
breitete sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Doch beschränkte sich der Prozess nicht
allein auf industrielle Veränderungen. Gemeint ist vielmehr ein zusammenhängendes, nie da gewesenes
Bündel von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die das moderne Zeitalter des
technischen Fortschritts, der Massenproduktion und steigender Einkommen einläutete. Dieser Vorgang
wird häufig in drei Phasen aufgeteilt. Die erste industrielle Revolution setzte auf den britischen Inseln ein.
Von 1760 an fanden dort vor allem in der Weberei, der Eisenproduktion, im Ingenieurwesen und bei der
Herstellung von Dampfmaschinen sowie in Bergwerken technische Erfindungen statt, die die
Arbeiterschaft vervielfachten, die Produktionskosten drastisch reduzierten und wachsende Märkte
eröffneten. Damit Fabrikanten immer mehr Rohmaterialien herbeischaffen und größere Märkte erreichen
konnten, wurden Straßen, Kanäle und schließlich Eisenbahnen gebaut; die Banken expandierten und
Handelshäuser florierten.
Notwendiger Bestandteil dieser Entwicklung waren tief greifende soziale und strukturelle Veränderungen.
Neue, größere Unternehmen wie Stahl- und Bergwerke und vor allem "Fabriken", in denen viele Arbeiter
in große Gebäude gepfercht wurden und an Maschinen arbeiteten, die mit Wasser oder Dampf betrieben
wurden, brauchten eine Konzentration des Kapitals; dies galt um so mehr für Eisenbahnen oder
Wasserwerke. Die aus Landwirtschaft und Handwerk rekrutierten und dort von Maschinen ersetzten
Arbeiter - häufig Frauen und Kinder - verbrachten fortan ihr Arbeitsleben fern vom gewohnten Heim, dem
Hof oder der Werkstatt; ihre persönliche Beziehung zum Arbeitgeber wurde gebrochen. Industriestädte
entstanden, enge, unhygienische Siedlungen ohne Tradition oder Sozialgefüge.
Aufgrund der zumeist technischen Verbesserungen, die bald nahezu jeden Bereich der Wirtschaft erfasst
hatten, darunter die industrielle Produktion von Chemie, Papier, Metall, Porzellan und Glas und auch die
Landwirtschaft, stieg das Inlandsprodukt in Großbritannien, obwohl es kaum Anzeichen dafür gab, dass
das Volk anfangs auch davon profitierte. Im Gegenteil: Die Menschen arbeiteten oft härter, wurden
schlechter ernährt und lebten unter schlechteren Bedingungen als ihre Vorfahren. Erst Mitte des 19.
Jahrhunderts stieg der Lebensstandard allmählich. Die große Wirtschaftskraft half Großbritannien, das
viel größere Frankreich, das viel mehr Bewohner hatte, in den Revolutionskriegen und den
napoleonischen Kriegen zwischen 1793 und 1815 zu schlagen, und zwar sowohl in der unmittelbaren
militärischen Konfrontation, als auch durch die Subventionierung seiner Alliierten. Gegen Ende jener Zeit
war der Ausstoß an Gütern wie Kohle, Stoffen oder Schmiedeeisen sowie der Bestand an
Dampfmaschinen in Großbritannien wesentlich höher als in der gesamten übrigen Welt zusammen.
Andere Länder folgten dem britischen Vorbild. Zu den ersten gehörten die Vereinigten Staaten, ein Land,
dessen Sozialstruktur ohne traditionelle Aristokratie das Unternehmertum ermutigte, ein Land mit reichen
natürlichen Ressourcen und einer fast unbegrenzten Weite. Lange Zeit exportierten die USA jedoch nur
Lebensmittel und Rohmaterialien und keine Industrieprodukte. Auf dem europäischen Kontinent
industrialisierten sich als erste Länder Belgien und Frankreich. In Deutschland entwickelten sich einige
Regionen ebenfalls recht früh - zum Beispiel Oberschlesien und Sachsen - dank ihrer Mineralvorkommen
und des technischen Know-how ihrer Bewohner. Das Rheinland mit seinen alten Handelsverbindungen
war reich und hatte eine hoch entwickelte Handwerkstradition. Das Ruhrgebiet, später die führende
Industrieregion, verfügte über ausgedehnte Kohlevorkommen.
So hatten um 1860 beachtliche Teile von Westeuropa den Prozess der Industrialisierung aufgegriffen.
Diese geographische Verteilung erlaubt es, einige begünstigende Faktoren aufzuzeigen. Dazu zählten
die Nähe zu Großbritannien und gute Verkehrswege, Rohstoffe wie Kohle, Eisen, Wolle oder Holz und
ein ausgeglichenes Klima. Diese Faktoren gab die Natur vor. Doch sozialhistorische Faktoren spielten
eine ebenso große Rolle. Dazu zählten eine Tradition industrieller Fertigkeiten, angesammelter Reichtum
und Regierungssysteme, die innerhalb verlässlicher Rechtsnormen entweder die Wirtschaft begünstigten
oder Unternehmer zumindest nicht diskriminierten.
Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an entwickelten sich neue Technologien und Industriezweige - diese
Phase wird häufig zweite industrielle Revolution genannt. Ihre Kennzeichen: Massenproduktion von
Stahl, Nutzung von Elektrizität, chemischen Produkten, Erdöl und Verbrennungsmaschinen - vor allem für
Autos. Diese Entwicklung forderte wissenschaftliche Forschung, systematische Planung und verdrängte
den genialen Tüftler. Was als "amerikanisches Herstellungsverfahren" bekannt wurde, die arbeitsteilige
Massenproduktion austauschbarer Teile, die angelernte Arbeiter einfach montieren konnten, griffen viele
Länder auf. Frühe Beispiele finden sich in der Rüstungsindustrie. Die vielleicht spektakulärste
Anwendung allerdings fand 1913 in Henry Fords Autofabrik statt.
Die Belegschaften in den führenden Unternehmen wuchsen auf Zehntausende an, auch wenn nicht alle
am gleichen Ort arbeiteten. Diese Konzerne gaben häufig technisch den Ton an, hatten Kunden in
zahlreichen Ländern; viele gründeten Niederlassungen im Ausland. Im eigenen Land verringerten sie den
Wettbewerb durch Kartelle und Abkommen. Markennamen, Standardisierung, Werbung und organisierte
Verkaufskampagnen sollten ihre Produkte bei den Konsumenten einprägen und so für kontinuierliche
Nachfrage sorgen.
Großbritannien stand längst nicht mehr an der Spitze. In vielen Bereichen und auch im Pro-KopfEinkommen lagen die Vereinigten Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts längst vorn. In manchen
Bereichen hatte auch Deutschland schon Großbritannien überflügelt, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen
dort bis zum Zweiten Weltkrieg höher blieb. Um 1914 hatte sich die Industrialisierung mit allen sozialen
Begleiterscheinungen weiter in Europa ausgebreitet; bis in die westlichen Provinzen der DonauMonarchie und nach Norditalien. Die skandinavischen Länder machten besonders schnelle Fortschritte
und profitierten gemeinsam mit den Niederlanden von ihrer Neutralität im Ersten Weltkrieg. Es gab auch
Parallelentwicklungen außerhalb Europas, in Japan etwa oder in einigen Regionen von China und Indien.
Diese Phase zeichnete sich jedoch zumeist durch einen wachsenden internationalen Handel aus, in dem
die industrialisierten Nationen Europas und Nordamerikas Rohmaterialien und Nahrungsmittel aus der
restlichen Welt bezogen. Im Gegenzug lieferten sie Industriegüter und Kapital für Eisenbahnen und
Häfen. Dadurch "öffneten" sie diese Länder und ermöglichten ihnen den Export ihrer Primärprodukte in
die Industriestaaten. Dies forcierte zwar die Modernisierung, aber zwang jene Länder in eine
landwirtschaftliche statt einer industriellen Spezialisierung. Insgesamt wuchs der internationale Handel
enorm schnell - schneller als die Produktion. Und viele Millionen Menschen wanderten aus den
übervölkerten Ländern Europas nach Amerika, Australien und Asien aus, es gab Migrationsbewegungen
von China nach Nordamerika und Südostasien und von Indien nach Afrika und in die Karibik.
Die Zeit von den fünfziger bis in die späten neunziger Jahre unseres Jahrhunderts wird gelegentlich als
dritte industrielle Revolution bezeichnet. Ganz Europa wurde nun industrialisiert. Die überraschendsten
Fortschritte machten später Ost- und Südostasien sowie vor allem Japan, das sich zur zweitwichtigsten
Industrienation entwickelte. Die asiatischen "Tiger", darunter Singapur, Hongkong, Südkorea und Taiwan,
gefolgt von Malaysia, Thailand und Indonesien, verzeichneten jahrelang Wachstumsraten von bis zu 10
Prozent im Jahr. Andere moderne Industrieenklaven wuchsen in Ländern wie Mexiko, Argentinien und
Chile zumeist im Dunstkreis der Hauptstädte sowie in Sao Paulo und Rio de Janeiro in Brasilien.
Viele Fabriken in den neu industrialisierten Regionen firmierten als Zweigniederlassungen von
Unternehmen, die ihren Hauptsitz in der entwickelten Welt hatten. In zahlreichen Schlüsselindustrien
standen multinationale Unternehmen an der Spitze, die ihre Produktionsstätten dorthin verlagert hatten,
wo die Kosten am niedrigsten waren, oder von wo aus sie Märkte erschließen konnten, die durch
Einfuhrzölle geschützt waren. Die Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer führte, zumindest
vorübergehend, zu wachsender Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten, beschleunigte in den
Schwellenländern jedoch die Industrialisierung und brachte Einkommen, technische Fähigkeiten und
Gewohnheiten der entwickelten Wirtschaften in Regionen der Dritten Welt. Die globalisierte Produktion
transnationaler Unternehmen, von denen eine Handvoll ihre Branche im Weltmaßstab dominieren, ging
einher mit einer Standardisierung und Normierung von Produkten wie Kameras, TV-Geräten und
Computern.
Noch ausgeprägter schlug sich die Globalisierung in der Finanzwelt nieder. Zu den neuen oder neu
verbreiteten Technologien gehörten Elektronik, Atomenergie, Kunstfasern und Kunststoffe sowie
Verfahren, die auf medizinischen oder biologischen Entdeckungen basierten, darunter Antibiotika und
andere Pharmazeutika. Die elektronische Revolution, besonders als Folge der Datenverarbeitung und
des Informationsflusses auch per Satellit, veränderte die Lebensgewohnheiten der Menschen rund um
den Globus.
Die Zahl der Dienstleistungs-Arbeitsplätze ist schneller angestiegen als in anderen Bereichen und macht
die Hälfte bis zwei Drittel aller Arbeitsplätze in den Industrieländern aus. Der Wechsel vom Kauf von
Quantität zum Kauf von Qualität, von Gütern zu Dienstleistungen hat den Druck auf die beschränkten
natürlichen Ressourcen verringert. Aber andere Bedrohungen der Umwelt, Luft- und
Wasserverschmutzung und die Abholzung der Tropenwälder, sind an ihre Stelle getreten. Gleichzeitig
stellen die ärmeren Länder der Welt, die ihre Industrialisierung mit dem entsprechenden Druck auf die
natürlichen Ressourcen noch vor sich haben, eine Bedrohung unbekannten Ausmaßes für die Umwelt
dar.
Die Erfahrungen aus dem industriellen Wandel geben uns einige Hinweise auf wahrscheinliche
Entwicklungen in der Zukunft. So zeichnet sich ab, dass wir einen weiteren Fortschritt der
Computerisierung und Datenverarbeitung im für alle leicht zugänglichen Internet erwarten können. Die
Gentechnik für Pflanzen und Tiere breitet sich aus. Mit dem Sieg über immer mehr Krankheiten wird
gerechnet. Die Menschen werden mehr Freizeit fordern, was wiederum zu Wachstum in der
Freizeitindustrie führen wird.
Die globalen Auswirkungen von Krisen und Katastrophen werden wahrscheinlich zunehmend lästig oder
gar gefährlich. Die Welt hat einige Mechanismen zur Steuerung der Wirtschaft entwickelt, darunter den
Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die regelmäßigen Treffen der "G7"-Staaten, der
führenden Industrienationen. In anderer Hinsicht und besonders in der Politik hinkt das globale
Management den Bedürfnissen hinterher.
Das vielleicht hartnäckigste Problem besteht darin, dass wachsende Einkommen, größere Freizeit und
eine verbesserte Aus- und Fortbildung sich auf die industrialisierten Zonen beschränken und damit
höchstens ein Viertel der Weltbevölkerung erfassen. Der Rest wird noch von Armut, häufig schierem
Hunger und Unterernährung heimgesucht, von vermeidbaren Krankheiten, von Hoffnungslosigkeit und
von politischer Unterdrückung. Und das in einer Zeit, in denen ihnen die Medien Tag für Tag zeigen, wie
viel besser andere Menschen leben.
Dabei sind diese Länder nicht unbedingt von Natur aus benachteiligt. Im Gegenteil, viele verfügen über
reiche Vorkommen an Mineralien, haben Holz und gutes Ackerland. Das Problem liegt vielmehr in der
Anhäufung und Verknüpfung mehrerer Unzulänglichkeiten: seien es Korruption, inkompetente
Regierungen, Mangel an Können oder Mangel an Traditionen, die einen sozialen Rahmen ermöglichen
könnten, um diese Fortschrittshemmnisse zu beseitigen. Hinzu kommt - nicht zuletzt dank medizinischer
Hilfe aus dem Westen - ein Bevölkerungswachstum von jährlich zwei oder mehr Prozent, das jeden
wirtschaftlichen Fortschritt zunichte macht. Selbst wenn es möglich wäre, die Fruchtbarkeitsrate sofort zu
verringern, würde der hohe Anteil junger Menschen in diesen Bevölkerungen mindestens eine Generation
lang für ein schnelles Bevölkerungswachstum sorgen. Neuesten Schätzungen zufolge wird die
gegenwärtige Weltbevölkerung von 6 Milliarden Menschen - schon dies eine Verdreifachung seit dem
Zweiten Weltkrieg - auf mindestens 15 Milliarden ansteigen, bevor sich das Wachstum abschwächt.
In den Industrieländern hat der wachsende Wohlstand in der Vergangenheit auf verschiedene Weise zu
einer "demographischen Verlagerung" geführt, indem sich die niedrigeren Geburtenraten allmählich den
ebenfalls niedrigeren Sterberaten angepasst haben; die Bevölkerungsexplosion verhindert in der Dritten
Welt derzeit jenes wirtschaftliche Wachstum, das sie anhalten könnte.
Die Welt könnte insgesamt wesentlich mehr Nahrungsmittel produzieren; die industrialisierten Länder
geben jedes Jahr große Summen aus, um ihre überbordende landwirtschaftliche Produktion künstlich zu
beschränken. Auch wenn sie das nicht täten, könnten Überproduktionen nicht ohne weiteres in jene
Regionen gebracht werden, die von Hungersnöten heimgesucht werden. Regierungen der Dritten Welt
haben in der Vergangenheit große Kredite erhalten, aber gleichzeitig ist die Verschuldungsproblematik
zur Quelle weiterer Instabilität geworden. Die Schulden belasten zunehmend die Zahlungsbilanzen oder
verringern bei Zahlungsverweigerung die Chance auf zukünftige Hilfe.
Gleichwohl verfügen diese Länder über beträchtliche politische Macht. Während sie inneren Unruhen
ausgesetzt und häufig politisch instabil sind, nutzen sie nach außen internationale Organisationen, um
Hilfe zu erbitten oder drohen, globale Umweltschutzbestrebungen einfach zu ignorieren; und das nicht
ohne Wirkung. Die Vorbehalte gegen den Westen, insbesondere gegen die ehemaligen Kolonialmächte,
bilden ein wirksames Mittel, von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
Auch von technisch unterentwickelten Ländern können Massenvernichtungswaffen erworben werden,
besonders nach dem Zusammenbruch der russischen Atommacht; und es ist nicht auszuschließen, dass
die eine oder andere weniger verantwortungsbewusste Regierung, genährt durch Vorbehalte, oder aus
Furcht vor einer heimischen Revolte, oder in der Hoffnung auf schnellen Gewinn, diese Waffen
einzusetzen bereit ist. Die Industrialisierung hat der Menschheit Macht gegeben; dazu zählt die
beispiellose Macht zur Zerstörung.
Quelle: http://www.archive.hoechst.com/deutsch_3er/publikationen/future/298/art3.html
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