doc - Historisches Lexikon der Schweiz

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© Neue Zürcher Zeitung; 30.01.2008; Ausgabe-Nr. 24; Seite 44
Feuilleton
Ökonomischer Wandel
Der neue Band des «Historischen Lexikons der Schweiz»
Mit den Buchstaben H, I und J enthält der neueste Band des «Historischen Lexikons der Schweiz»
zentrale Artikel zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Landes, so zu den Handwerkern. In Zünften
organisiert, wurden sie seit dem Spätmittelalter in vielen Städten - allerdings nur der deutschen
Schweiz - neben den Kaufleuten die bestimmende politische Kraft. Sie missbrauchten im Ancien
Régime allerdings ihre Macht zusehends dazu, sich vor Konkurrenz etwa aus der Landschaft zu
schützen. So verpasste das Handwerk den Anschluss an die Wirtschaftsentwicklung, die sie mit der
Aufhebung des Zunftzwangs 1798 schlagartig existenziell herausforderte. Der Kampf um die
Gewerbefreiheit hielt lange an, Basel-Stadt gewährte sie erst 1874, und noch die ständestaatlichen
Nostalgiker der 1930er Jahre rekurrierten auf vormoderne Schutzvorstellungen. Anders als in
Deutschland bewirkte die politische Organisation (vor allem im Schweizerischen Gewerbeverband von
1879) letztlich aber keine neokorporativen Strukturen, das heimische Handwerk blieb dereguliert.
Industrielle Revolution
Gegen den Zunftzwang hatten städtische Kaufleute bereits seit dem Spätmittelalter vor allem das
Weben und Spinnen (Baumwolle, Seide) durch familiäre Heimarbeit auf der Landschaft etabliert,
wobei sie als Lieferanten der Rohstoffe und Verkäufer der veredelten Ware den ganzen
Produktionsablauf kontrollierten. In der Textil-, aber auch der Uhrenindustrie, den führenden
Exportzweigen, war die Heimarbeit bis 1880 dominierend, die Seidenindustrie beschäftigte noch um
die vorletzte Jahrhundertwende 30 000 Heimarbeiter. Wodurch sie alle verdrängt wurden, erfährt man
nicht im schwachen, nicht auf die Schweiz fokussierenden Artikel über «Industrielle Revolution»,
sondern unter dem Lemma «Industrialisierung».
Im internationalen Vergleich früh, aber doch erst gegen 1870, während des zweiten «Eisenbahnbooms»
und der damit einhergehenden «Transportrevolution», überholte die Industrie die Landwirtschaft in
puncto Wertschöpfung und Anzahl der Beschäftigten und wurde damit zum Motor des
Wirtschaftswachstums. Im zweiten Sektor waren damals vierzig Prozent der Werktätigen beschäftigt,
deutlich mehr als in den USA oder Deutschland. Wenn dagegen die eigentliche Fabrikarbeit zu diesem
Zeitpunkt nur rund zehn Prozent der Erwerbstätigen beschäftigte, so lag dies unter anderem am Mangel
an Kohle für die maschinelle Produktion - bis Staudämme, Wasserkraftwerke und die Elektrotechnik
dieses Problem lösten (und auch dem Handwerk neue Möglichkeiten boten).
Angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen (Rohstoffmangel) und einer geringen
Binnennachfrage waren Spezialisierung und Flexibilität die Voraussetzungen, damit Schweizer
Produzenten die grossen Kosten der Industrialisierung tragen und sich als Exporteure auf dem
Weltmarkt behaupten konnten. Etliche Innovationen (mit zahlreichen Patenten) beim Maschinenbau, in
der chemischen und pharmazeutischen Industrie waren ursprünglich durch Bedürfnisse der Textil- und
der Uhrenindustrie angestossen worden. Letztere befanden sich - mit drastischen Folgen besonders bei
der Frauenarbeit - seit der Zwischenkriegszeit beziehungsweise seit der Uhrenkrise der 1970er Jahre im
raschen Niedergang, als generell der industriell-gewerbliche Sektor seine Vorrangstellung an die
Dienstleistungen verlor und so 2005 nicht einmal mehr ein Viertel der Erwerbstätigen beschäftigte
(1960 noch fast die Hälfte).
Der medizinische Diskurs
Nebenprodukt der Industrialisierung war in einer rasch urbanisierten Gesellschaft mit schlechten
Wohnverhältnissen die Bewegung für «Hygiene», die sich in den 1870er Jahren als Zweig der Medizin
etablierte und zunehmend in die Zuständigkeit des Staates fiel, wobei ganz unterschiedliche Anliegen
zusammengefasst wurden: die Gesundheit der Arbeiter (Fabrikgesetz), die Seuchenvorsorge oder die
psychische oder soziale Disziplinierung und Besserstellung von Bevölkerungsgruppen
(Sittlichkeitsbewegung). Dank entsprechender Indoktrination etablierte sich Sauberkeit gar als
nationaler Wert.
Ebenfalls dem psychiatrisch-medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts verdankte sich die
Wortbildung «Homosexualität» als Bezeichnung für das, was in der Vormoderne «Sodomie» genannt
wurde und noch lange mit dem Tod geahndet werden konnte. Die Strafbarkeit der Homosexualität
endete in der Westschweiz mit der Übernahme des Code Napoléon im frühen 19. Jahrhundert, doch
eine bundesweite Entkriminalisierung erfolgte erst 1938 beziehungsweise 1991 durch die
Gleichstellung von homo- und heterosexuellen Beziehungen.
Ein Produkt der frühen (gerichts)psychiatrischen Forschung war schliesslich Karl Jaspers' Heidelberger
Dissertation über «Heimweh und Verbrechen» von 1909. Damit widmete sich der später in Basel
wirkende Philosoph einer Krankheit, die seit einer Basler «Dissertatio medica de Nostalgia» (1688) als
typisch schweizerisch galt. Sie konnte durch das Singen des Kuhreigens ausbrechen und tödlich enden.
Von Rousseau über Arnim/Brentano bis zu Wilhelm Kienzl war sie ein weltberühmtes Element des
Schweizer Alpenmythos, heutzutage aber ist die Krankheit mit guten Aussichten auf Heilung
verbunden.
Thomas Maissen
Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6. Schwabe, Basel 2007. 860 S., zahlreiche Abb., Fr. 298.-;
selber Preis für die französische und die italienische Ausgabe.
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