Zusammengefasst von: http://www.russlanddeutschegeschichte.de GESCHICHTE DER RUSSLANDDEUTSCHEN Teil I 1763 - 1820 Auswanderung der Deutschen Inhalt: 0 Einführung "Was sind Russlanddeutsche?" Teil I "Auswanderung der Deutschen" 1 Gründe für die Auswanderung 1.1 Wirtschaftliche Auswanderungsgründe 1.1.1 Bevölkerungswachstum 1.1.2 Anerbrecht und Realabteilung 1.1.3 Belastungen und Leistungen 1.1.4 Binnenkolonisation 1.1.4.1 Nebenerwerb 1.1.5 Verarmung 1.1.5.1 Armenhilfe 1.1.5.2 Armenhäuser 1.1.5.3 Arbeits-, Werk- und Zuchthäuser 1.2 Politische Auswanderungsgründe 1.3 Religiöse Auswanderungsgründe 1.3.1 Mennoniten 1.3.2 Werbung von Mennoniten 1.3.3 Ansiedlung von Mennoniten 1.3.3.1 Gnadenbrief 1.4 Auswanderung als Ausweg 1.4.1 Auswanderungsgebiete Karte 1 Hessen Karte 2 Württemberg Karte 3 Baden Karte 4 Rheinpfalz 1.4.2 Sammelpunkte 1.4.2.1 Dominoeffekt 2 Abwerbung 2.1 Katharina II. 2.2 Ansiedlungspolitik Katharina II. 2.2.1 Peuplierungspolitik 2.2.2 Manifest vom 14. Oktober 1762 2.2.3 Manifest vom 22. Juli 1763 (Katharina II.) 2.2.3.1 Wortlaut des Manifestes 2.2.4 Lomonossow 2.3 Privilegien der Siedler 2.3.1 Freijahre 2.3.2 Militärdienst 2.3.3 Tutelkanzlei 2.3.3.1 Mir-System 2.3.4 Verbreitung des Manifestes in Deutschland 2.3.4.1 Verhältnisse im Siedlungsgebiet 2.3.4.1.1 Christian Gottlob Züge 2.3.4.2 Werber 2.3.4.2.1 Baron Ferdinand de Canneau de Beauregard 2.3.4.2.2 Direktoren 2.4 Leibeigene 2.5 Auswanderungsverbote 2.5.1 Auswanderungsverbot des Bischofs von Trier vom 28. April 1763 2.5.2 Weitere Auswanderungsverbote 2.6 Staatsbauern 3 Bedingungen für die Einwanderung 3.1 Zielgebiete 3.2 Kolonistengesetz 3.2.1 Vertragsformular 3.3 Manifest vom 20. Februar 1804 3.3.1 Preußische Kriterien 3.3.1.1 Einwanderungszahlen 3.4 Treueid 4 Ankunft im Siedlungsgebiet 4.1 Reisewege nach Russland 4.1.1 Von Lübeck nach Oranienbaum 4.1.1.1 Bernhard Ludwig Platen 4.1.1.1.1 Poem-Platen 4.1.2 Von Oranienbaum an die Wolga 4.1.3 Von Ulm nach Odessa 4.1.3.1 Die Ulmer Schachtel 4.2 Erste Eindrücke 4.3 Charakterisierung der Kolonisten 4.3.1 Reisebericht von J.P.B. Weber 4.4 Siedlungsgebiete (Übersicht) 5 Anfang und Aufbau 5.1 Boden und Klima 5.1.1 Berg- und Wiesenseite 5.2 Konflikte mit den Einheimischen 5.3 Selbstverwaltung 5.4 Fortschritte 5.4.1 Liste der Wolgakolonien 5.4.1.1 Tochterkolonien 5.5 Bericht Peter Simon Pallas 5.5.1 Peter Simon Pallas 5.5.2 Lebenserwartung 5.5.3 Katharinenstadt Zeittafel - bis 1820 Gründe für die Auswanderung Warum wanderten so viele Menschen aus? Als wichtigste Auswanderungsgründe sind zu nennen: Wirtschaftliche Auswanderungsgründe Das Bevölkerungswachstum, die damit einher gehende Verknappung des Bodens und die von der ländlichen Bevölkerung zu erbringenden Belastungen und Leistungen sowie Stagnationserscheinungen im Handwerk führten zur Verelendung und Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Politische Auswanderungsgründe Der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 mit all seinen negativen Begleiterscheinungen (Zwangsrekrutierungen, Kriegssteuern), die Besetzung der rheinischen Gebiete durch Frankreich am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts und die erzwungene Teilnahme an napoleonischen Feldzügen ließen die Zahl der Auswanderer ansteigen. Religiöse Auswanderungsgründe Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung war oft mit vielen Sanktionen und Verfolgungen sowie wirtschaftlichen Beschränkungen verbunden. Dies bewog vor allem viele Mennoniten zur Auswanderung. Für einen Teil der Bevölkerung blieb daher nur noch die Auswanderung als Ausweg Teil 1 1.1 Wirtschaftliche Auswanderungsgründe Das anhaltende Bevölkerungswachstum in Deutschland während des gesamten 18. Jahrhunderts ließ die Einwohnerzahl auf ca. 22 Millionen ansteigen. Dieses Wachstum setzte sich auch im 19. Jahrhundert fort. Das Bevölkerungswachstum führte zu einer Verknappung des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Anerbrecht und Realerbteilung erzeugten einen Abwanderungs- bzw. Auswanderungsdruck. Die Zahl der Menschen, die sich ausschließlich von den Erträgen ihres eigenen Hofes ernähren konnten, nahm stetig ab. Die der Landarmen und Landlosen stieg dagegen stark an. Sie waren zur Existenzsicherung auf einen Nebenerwerb angewiesen. Die Belastungen und Leistungen, die bäuerliche Höfe zu tragen und aufzubringen hatten, sicherten oft nur den einfachsten Lebensunterhalt. Bei außergewöhnlichen Belastungen drohte die Verschuldung oder der Verlust des Hofes. Der Versuch, durch die Binnenkolonisation zusätzliche Bauernstellen zu schaffen, stieß wegen der schlechten Bodenqualität schnell an seine Grenzen. Das städtische und ländliche Handwerk bot nur noch in geringem Maße die Möglichkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes. In ihrer Gesamtheit führten die genannten Faktoren zu einer massenhaften Verelendung und Verarmung der Bevölkerung, die als Pauperismus bezeichnet wird. Teil 1 1.1.1 Bevölkerungswachstum Das Bevölkerungswachstum unterlag in der Geschichte starken Schwankungen. Perioden, die von einer starken Zunahme der Bevölkerung geprägt waren, wurden immer wieder von Zeiten der Stagnation oder sogar eines dramatischen Rückganges unterbrochen. Nach einer längeren Phase des durch Seuchen und Kriege bedingten Rückgangs der Bevölkerung zeichnete sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine neue Phase des Bevölkerungswachstums ab, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in einzelnen Regionen zu einer Überbevölkerungskrise und somit zur Verarmung (Pauperismus) führte. Ein Ausweg aus dieser Situation war für viele die Auswanderung nach Nordamerika oder in Siedlungsgebiete in Südost- und Osteuropa. Zeitweise wurde die Auswanderung zu einer Massenerscheinung. Allein zwischen 1846 und 1855 wanderten etwa 1 Millionen Deutsche nach Nordamerika aus. Eine langfristige und dauerhafte Abwendung der drohenden Verelendung breitester Bevölkerungsschichten konnte erst durch die sich in Deutschland um 1840 durchsetzende Industrialisierung erreicht werden.. Teil 1 1.1.2 Anerbrecht und Realerbteilung Beim Anerbrecht, das in den norddeutschen Gebieten dominierte, erhielt nur ein Erbe den gesamten Hof. Alle anderen Erben wurden abgefunden. Ihnen boten sich als Alternativen: Eine Arbeit als Knecht oder Magd und damit ein Absinken in die Schicht der landlosen dörflichen Bevölkerung, der Erwerb eines eigenen Hofes durch Kauf, durch Einheirat oder durch die Abwanderung in ein Siedlungsgebiet (wobei der Binnenkolonisation durch die Bodenqualität Grenzen gesetzt waren), im städtischen oder ländlichen Handwerk eine Erwerbstätigkeit zu finden. Bei der Realerbteilung erhielt jedes Kind einen gleich großen Landanteil. Die daraus resultierende Zersplitterung des Bodens führte zu immer kleineren bäuerlichen Wirtschaften, deren Größe ab einem bestimmten Punkt nicht mehr ausreichte, um eine Familie von den Erträgen zu ernähren. Diese Situation trat am Ende des 18. Jahrhundert ein. Etwa zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung konnte sich nicht mehr von dem ihnen zur Verfügung stehenden Land ausreichend ernähren. Auch die Möglichkeiten, durch andere Einnahmequellen das Existenzminimum abzusichern, waren begrenzt. Als Fazit blieb ein Leben in permanenter Armut.. Teil 1 1.1.3 Belastungen und Leistungen Die Belastungen eines Hofes, die sich aus Abgaben und Leistungen für den Staat und den Grundherren zusammensetzten, überstiegen oft die Einkünfte. Der Erlös, der aus dem Verkauf pflanzlicher Produkte erzielt wurde, stellte die bedeutendste Einnahmequelle dar. Um alle Abgabenforderungen erfüllen zu können, musste auch ein Teil der Erlöse aus der Tierzucht dafür verwendet werden. Das bäuerliche Gesamteinkommen wurde also auch von dieser Seite her geschmälert. Je kleiner ein bäuerlicher Hof war, um so höher war die proportionale Belastung durch Abgaben und Leistungen. Kleinere Bauernhöfe waren im Vergleich zu größeren stärker belastet. "Es ist also der Ertrag dieses geringen und daneben sehr onerierten Meierhofes kaum dazu hinreichlich, daß ein zeitiger Colons (Bauer) für sich und seine Familie mit möglichster Einschränkung nur diejenige Bedürfnisse davon genießt, ohne welche sein Dasein zum Zweck der Dienstleistung und gutsherrlichen Prästation nicht bestehen kann." Dieses Fazit findet sich in einem Ertragsanschlag vom 4.Januar 1794 für einen mittelmäßigen Meierhof in Jetenburg im Amt Bückeburg, nachdem vom Berichterstatter alle möglichen Einnahmequellen aufgelistet und deren Erträge zusammengezählt worden waren. Nach Abzug aller Abgaben und Leistungen (Natural- und Geldabgaben wie Zinshühner, allgemeine Steuern, Hofzins, Kontributionen, Kriegssteuern, Mahlgeld, Brandsteuer, Wächtergeld) wie auch der Aufwendungen für einen Knecht und eine Magd sowie der für die Aufrechterhaltung des Betriebes und für die eigene Lebenshaltung blieben dem Bauern keinerlei Reserven für außergewöhnliche Belastungen, zu denen in diesem Fall auch die Verpflichtungen zu zählen sind, "die ein zeitiger Colonus obschon nur nach dem Maß der Policey -Ordnung seinen Kindern beim Heiratsfalle leisten muß..." Bei derartigen oder anderen zusätzlichen Belastungen drohte dem Hof die Verschuldung und damit über kurz oder lang dessen Verlust durch eine Zwangsversteigerung. Dass derartige Zwangsversteigerungen keine Einzelfälle waren, zeigen Bemühungen der hessischen Regierung, durch geeignete Maßnahmen (Gewährung zinsfreier Darlehen und ratenweise Zurückzahlung) eine solche Entwicklung zu verhindern und so weitere Bauern vom Auswandern abzuhalten. Dem Bauern Johann Peter von der Haid aus Schwickartshausen konnten diese Maßnahmen anscheinend in seiner Situation nicht mehr helfen. In einer Eingabe an den Landgrafen von Hessen schreibt er: "So wahr wir uns beeifern, die herrschaftlichen Gelder richtig abzutragen, und uns von anderen Schulden zu entledigen, so wenig sind wir imstande gewesen, diesen Vorsatz zu erfüllen, sonder wir sind und kommen von Tag zu Tag tiefer hinein, so daß wir dermalen kein Mittel mehr vor uns sehen, uns ferner zu ernähren, als wenn wir mit nach den russischen Reichen ziehen." Teil 1 1.1.4 Binnenkolonisation Die Binnenkolonisation hatte das Ziel, Menschen im eigenen Herrschaftsbereich auf bisher nicht genutztem Boden anzusiedeln. Folgendes Beispiel zeigt den Versuch, minderwertiges Land für eine landwirtschaftliche Nutzung zu erschließen: Im Sommer 1788 verloste die münsterische Regierung unter Fürstbischof Maximilian Franz insgesamt 441 Siedlerstellen in 14 Kolonien im Bourtanger Moor. Diese Landschaft war menschenleer, unwegsame Moorflächen beherrschten sie. Sie bildeten natürliche Grenzlinien zu den benachbarten Territorien. Insgesamt waren zur Zeit der Kolonisation ca. 40% des nördlichen Emslandes von Mooren bedeckt, die nicht oder kaum bewirtschaftet wurden. Trotz der dünnen Besiedlung - gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebten im gesamten Emsland ca. 50.000 Menschen - stellte sich das nördliche Emsland zu dieser Zeit, gemessen an seinen landwirtschaftlichen Ressourcen und der Einwohnerzahl, bereits als eine überbevölkerte Landschaft dar. Die 1788 begonnene Kolonisation der Moorgebiete verfolgte zwei Ziele: I. Die Schaffung zusätzlicher Siedlerstellen und Anbauflächen sollte die Lebenssituation bäuerlicher, vor allem aber unterbäuerlicher Schichten verbessern. Dies entsprach den merkantilistischen Interessen des Bischofs. II. Die Kolonisation war zugleich eine grenzstabilisierende Maßnahme gegenüber den Gebietsansprüchen des benachbarten Hollands. Die staatlichen Aktivitäten bei der Kolonisation beschränkten sich allerdings nur auf die Bereitstellung der Siedlerstellen und eine zehnjährige Steuerbefreiung. Trotz der zu erwartenden enormen Schwierigkeiten bei der Erschließung und Urbarmachung des Moorlandes war die Resonanz auf das Kolonisationvorhaben des Fürstbischofs vor allem bei der besitzlosen Landbevölkerung groß. Die Kolonisten mussten aber bald feststellen, dass die Erträge ihrer Höfe nicht zur Existenzsicherung ausreichten. Sie waren auf einen Nebenerwerb angewiesen. Heinrich Blanke, ein Bauer aus dem Emsland, berichtet: "So kamen die Siedler mit wenigen Ausnahmen aus ferneren Gegenden des Vaterlandes, und man sagt, sie seien aus sieben verschiedene n Gegenden gekommen: aus dem Münsterland, Alt -Hannover, Hildesheim, Paderborn und sogar aus Holland und Brabant. Familie um Familie kamen angezogen, und es schien den alten Bewohnern des Emslandes, als ob eine Völkerwanderung eingesetzt habe. Doch viele ka men nur bis an den Rand des Moores. Aus Not und kümmerlichem Leben waren sie in der frohen Hoffnung weggegangen, bald einen großen Acker und wohlbestallten Hof ihr eigen nennen zu können. Beim Anblick des Moores verließ sie aber der Mut, und enttäuscht keh rten sie um. Und nur die Familien, die zu jedem Opfer und jeder entsagungsvollen Arbeit entschlossen waren, blieben. [...] Nur mit wenig Hab und Gut - und einer großen Schar Kinder - im buchstäblichen Sinne des Wortes arm, begannen die ersten Kolonisten ihr neues Leben. Da gings hart her. Da war keine Sippe und keine Gemeinschaft. Jeder sprach einen anderen Dialekt.". Teil 1 1.1.5 Verarmung Armut im Sinne von Besitzlosigkeit und Bedürftigkeit ist ein Phänomen, das aus allen historischen Epochen bekannt ist. Armut als Massenerscheinung, die Verarmung und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten trat seit dem Ende des Mittelalters immer stärker in Erscheinung. Das Armenproblem wurde fortwährend drückender und die Einrichtungen, die für dessen Milderung geschaffen wurden, gelangten schon während des ausgehenden 16. Jahrhunderts an ihre Grenzen. Dies traf auch für die so genannte "offene Armenfürsorge" (Arme erhielten eine wöchentliche Unterstützung in Form von Geld oder Naturalien) zu, so dass Armen an bestimmten Tagen offiziell das Betteln zur Existenzsicherung erlaubt werden musste. Die steigende Zahl der Armen machte sich auch in einer veränderten Haltung der Gesellschaft gegenüber diesen Menschen bemerkbar. Es kam zu einer immer schärferen Verfolgung und Vertreibung "fremder Armer" und arbeitsunwilliger Personen. Unterstützung sollten nur noch die offiziell als arm anerkannten Personen, die "eingeschriebenen Armen", und die so genannten "verschämten Armen" oder "Hausarmen" erhalten. Den "eingeschriebenen Armen" war es übrigens nicht erlaubt, ein Wirtshaus zu betreten. Um die Einhaltung dieses Verbotes überprüfen zu können, mussten die Betreffenden ein Zeichen an ihrer Kleidung tragen. Die massenhafte Verarmung und Verelendung seit Mitte des 18. Jahrhunderts wird als Pauperismus bezeichnet. Die Zahl der umherziehenden Bettler, Vaganten (umherziehende Spielmänner), Kriegsinvaliden und Alten wuchs sehr stark an. Immer mehr Menschen waren auf staatlich, kommunal, kirchlich oder privat organisierte Armenhilfe angewiesen. Im gleichen Maße nahm auch deren Verfolgung zu, wuchs die Zahl der Armenhäuser und Arbeits-, Werk- und Zuchthäuser, in denen sie untergebracht wurden. Dem Bevölkerungswachstum stand eine unzureichende Anzahl von wenigstens das Existenzminimum garantierenden Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten gegenüber, denn: Zusätzliche Bauernhöfe waren kaum noch zu schaffen, da der Boden zu knapp war. Die Zahl der Kleinbauern wuchs, die sich nicht mehr allein von ihrer landwirtschaftlichen Arbeit ernähren konnten. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren davon ca. zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung betroffen. Zur Existenzsicherung waren zusätzliche handwerkliche Tätigkeiten als Nebenerwerbsmöglichkeit erforderlich. Sie fanden aber nicht die entsprechende Nachfrage nach ihren Gütern und Leistungen. Durch das sich ausdehnende ländliche und städtische Exportgewerbe konnten zwar Arbeitsplätze geschaffen werden, aber ihre Zahl reichte nicht, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Die Situation der unteren Bevölkerungsschichten verschärfte sich noch durch steigende Nahrungsmittelpreise, die somit zu steigenden Lebenshaltungskosten führten. Für verarmte oder von Verarmung bedrohte Menschen bot sich die Auswanderung als Ausweg an. In dieser Situation fiel das Angebot der russischen Zarin Katharina II. noch unerschlossenes Land in Russland ausländischen Siedlern zur Verfügung zu stellen, auf fruchtbaren Boden. Neben Nordamerika wurde Osteuropa ein bevorzugtes Auswanderungsziel. Nach Russland zogen im 18. Jahrhundert fast 100.000 Menschen. Teil 1 1.1.5.1 Armenhilfe Nach dem 30jährigen Krieg zwangen die enormen Zerstörungen und die damit einhergehende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zu einer Neugestaltung der Armenhilfe. Die bisher auf kommunaler Ebene organisierte Hilfe und deren Verwaltung wurden mehr und mehr vom Staat übernommen. Das rigorose Vorgehen gegen Bettler, Gaukler, Spielleute, Zigeuner und Vagabunden wurde zu einer zentralen Aufgabe. Die Strafen, die diesen Menschen angedroht wurden, waren vielfältig. Wer nach einer Ausweisung noch einmal in den Landes- oder Stadtgrenzen aufgegriffen wurde, dem drohte eine öffentliche Auspeitschung und im Wiederholungsfall die Brandmarkung, die Zwangsrekrutierung zum Militär, ja sogar die Todesstrafe. Auch wurde die Beherbergung dieser Menschen bei Strafe untersagt. Im 18. Jahrhundert kam es dann zu regelrechten Treibjagden auf das "fahrende Volk". An den Landesgrenzen bzw. den Grenzen der Gemeinden und Kommunen tauchten so genannte "Zigeunerstöcke" auf. Das waren Schilder mit der Aufschrift "Gauner und Zigeuner Straff". Um auch Analphabeten ihre Aussage unmissverständlich zu verdeutlichen, waren sie noch mit einem Bild versehen, das einen gestäupten (stäupen = Prügelstrafe) Zigeuner und einen Galgen zeigte. Strafandrohungen bzw. deren Vollzug waren jedoch kein Konzept, um die Armut wirksam zu bekämpfen. Die Einrichtung geschlossener Anstalten, die als Armenhäuser, Arbeits- oder Zuchthäuser bezeichnet wurden, war der nächste Schritt. Mit der Einrichtung derartiger Anstalten wurden mehrere Ziele verfolgt: Schaffung einer stationären Armen- und Altenfürsorge in Hospitälern, Irrenund Waisenhäusern. Erziehung zur Arbeit, die Sozialdisziplinierung von Menschen, die durch ein abweichendes Verhalten auffielen. Durch die abschreckende Wirkung der Arbeits- und Zuchthäuser (Überwachung und Arbeitszwang) sollte eine deutliche Verringerung der Zahl der "mutwilligen" Armen erreicht werden. Die Nutzung der Arbeitskraft aller Untertanen durch den Staat. Von der praktischen Umsetzung war nur ein geringer Teil der Bevölkerung betroffen.. Teil 1 1.1.5.2 Armenhäuser Für einen großen Teil der Bevölkerung ist für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu konstatieren, dass sich die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnung auf einem sehr niedrigen, zum Teil auf einem existenzbedrohenden Niveau befand. Als Beispiel für eine solche Versorgung mit Nahrungsmitteln sind die Verpflegungssätze für die Insassen des Hamburger Armenhauses zu nennen: Morgens - 1/4 Maaß (= 0,29 Liter, 1 Maaß = 1,14 Liter) dünne Suppe + 1/2 Pfund Brot Mittags - Gerichte, zu deren Zubereitung man ausschließlich einheimische Gewürze verwendete und ausschließlich auf einheimisches Gemüse zurückgriff. Es wurde kein Fett, sondern Milch bzw. Buttermilch verwendet. Die wöchentliche Speisefolge war stereotyp. Die Abfolge der Gerichte war immer die gleiche. Auf Graupen folgten Möhren, Kohl, Rüben, Erbsen, Linsen, Kartoffeln, zusätzlich gab es 1/2 Pfund Brot. Das Abendessen bestand aus einem 3/4 Pfund Brot, Suppe und Käse. Man zog noch in Erwägung, aus den Resten der anderen Mahlzeiten eine Suppe zuzubereiten und so den Käse einzusparen. Zu jeder Mahlzeit gab es 1/2 Liter Bier. Fleisch gab es nur zu besonderen Festtagen (Weihnachten) und auch dann nur in geringen Mengen. Insgesamt standen damit den Insassen täglich etwa 2500 kcal zur Verfügung. Angehörige der Unterschichten dürften sich in gleicher oder ähnlicher Weise ernährt haben. Die Wohnverhältnisse waren primitiv. Die in Museen ausgestellten Gebäude und deren Einrichtung, aber auch die Bekleidung standen nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zur Verfügung. Jedes Kleidungsstück, jeder Gebrauchsgegenstand und jedes Möbelstück waren es wert, einzeln in Testamenten aufgeführt zu werden.. Teil 1 1.1.5.3 Arbeits-, Werk- und Zuchthäuser Aus dem 17. und 18. Jahrhundert kennen wir die Unterbringung und Beschäftigung von Armen in speziellen Einrichtungen, die man als Armen-, Arbeits-, Werk- oder Zuchthäuser bezeichnete. Derartige Anstalten dienten mehreren Zielen: Das landesherrliche Interesse an der Nutzung möglichst aller Arbeitskräfte führte frühzeitig zu dem Gedanken der Arbeitserziehung. Die zeitgenössische Ansicht, allein Arbeit mache den Menschen glücklich, sie sei die beste Form der Fürsorge, führte zur Verbindung des Strafvollzuges mit Zwangsarbeit. Eine zeitgenössische Definition für ein Werk- oder Zuchthaus lautet: Eine solche Einrichtung "ist ein Haus oder Gebäude, so von der Obrigkeit unterhalten wird, daß darin trotzige und ungehorsame Kinder, erwachsene unbändige, in dem Müßiggang und Boßheit verwilderte Leute, sammt denen durch rechtlichen Anspruch zur Arbeit verwiesenen Missethätern, unter der Aufsicht eines Zuchtmeisters und anderer hierzu bestellter Leute bezwungen, gebessert und streng gehalten werden." Als potentielle Insassen dieser Anstalten wurden "Faulenzer und Müßiggänger, die nicht arbeiten wollen, da sie doch wohl könnten, sondern nur daheim müßig sitzen, die Hände in schoß legen, auf anderer Leute Brod=Schränke sich verlassende, indem sie ihnen die Kinder häuffig vor die Thüren schicken, und die Bettel=Stück sich zutragen lassen ... oder wenn das Betteln nicht zureichen will, sie sich auf das Stehlen in Felde, Gärten und Häusern begeben" betrachtet. Das 1732 in Bamberg eröffnete Zuchthaus hatte neben der Züchtigung "ungetreuer, trotziger Dienstboten" ausdrücklich den Zweck, erzieherisch auf vernachlässigte Jugendliche einzuwirken und "faule Bettler" zu beschäftigen. Hier tritt der Aspekt der "Sozialdisziplinierung" deutlich hervor. Neuankömmlinge wurden im Bamberger Zuchthaus übrigens mit zwölf Stockhieben empfangen, sozusagen als Einstimmung auf das Regime, dem sie von nun an unterworfen waren. Die männlichen Insassen wurden unter anderem zum Glasreinigen, Holzspalten und Anfertigen von Weidenkörben eingesetzt. Wem es gelang, mehr als sechs Weidenkörbe in der Woche zu flechten, der erhielt für jeden zusätzlichen Korb 13 Pfennige. Weitere 13 Pfennige wurden gespart. Dieses Geld erhielt derjenige dann bei seiner Entlassung, bei der nochmals 12 Stockhiebe zu ertragen waren. Die angestrebte sozialdisziplinierende Wirkung der Werk- oder Zuchthäuser resultierte vor allem aus ihrem abschreckenden Ruf, der auf der Behandlung der Insassen, ihrer Unterbringung und Verpflegung sowie den Arbeitsbedingungen in den Anstalten beruhte. Teil 1 1.2 Politische Auswanderungsgründe Die Gebiete, aus denen die meisten Auswanderer kamen, litten seit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder unter zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen. Die Herkunft der Auswanderer aus diesen Gebieten war deshalb besonders groß. Aus den zahllosen Kriegen ergaben sich negative Folgen wie Plünderungen, Zwangsrekrutierungen (Soldatenwerbung unter Zwang), Requirierungen (für Heereszwecke beschlagnahmen) und Kontributionen (vom Sieger erhobene Geldzahlung beim Besiegten). Die Rekrutierungen zum Militärdienst wurden mit großer Härte durchgeführt, was viele junge Männer veranlasste, sich ihnen durch Flucht oder Abwanderung zu entziehen. Der Siebenjährige Krieg verursachte nicht nur hohe Kriegssteuern, sondern löste auch eine Nachkriegsdepression aus, die ihrerseits eine immense Preissteigerungswelle nach sich zog. Kriegsbedingte Ernteausfälle und Missernten ließen vor allem die Lebensmittelpreise sprunghaft ansteigen, was die untersten Schichten am härtesten traf. Der Anstieg der Getreidepreise führte am Ende des 18. und zum Beginn des 19. Jahrhunderts zu regelrechten Hungerkrisen. Steigende Lebensmittelpreise bewirkten eine sinkende Nachfrage nach Dienstleistungen und gewerblichen Produkten, so dass die Einkommensentwicklung im Handwerk negativ verlief. Neben den Besatzungs- und Kriegskosten wurde die Bevölkerung durch Abgaben für die prunkvolle Hofhaltung der Landesherren belastet. Teil 1 1.3 Religiöse Auswanderungsgründe Religiöse Motive waren es, die außer Pietisten (ev. Glaubensrichtung) vor allem Mennoniten veranlassten, als Kolonisten nach Russland zu ziehen. Ihrem Glauben gemäß lehnen die Mennoniten nicht nur jede Eidesleistung oder die Übernahme von Staatsämtern ab, sondern auch jeden Kriegs- oder Militärdienst. Vor allem ihre Einstellung zum Kriegs- oder Militärdienst ließ sie immer wieder in Konflikt mit der Staatsgewalt kommen. Die Aufhebung des 1780 von Friedrich II. verfügten Gnadenprivilegs für die in Preußen lebenden Mennoniten durch Friedrich Wilhelm II. im Jahr 1787 hatte weitreichende Konsequenzen. War es den Mennoniten zunächst nur verboten in größerem Umfang Land zu kaufen, so wurde ihnen ab 1789 jeder Landerwerb unmöglich gemacht, da er nunmehr an die Wahrnehmung der Wehrpflicht gebunden war. Auf diese Weise konnten sie ihren Kindern auch kein wirtschaftliches Auskommen für die Zukunft sichern. Vor diesem Hintergrund fanden die Bemühungen des im Auftrag der Zarin Katharina II. handelnden Werbers Trappe um die Werbung von Mennoniten und die Ansiedlung von Mennoniten in Südrussland ein positives Echo. Teil 1 1.3.1 Mennoniten Bei Mennoniten handelt es sich um Vertreter einer Glaubensrichtung, die sich vor allem auf die Aussagen des Neuen Testamentes berufen. Die Anhänger der nach ihrem Gründer Menno Simons benannten Glaubensrichtung lehnen eine Kindertaufe, wie sie in der lutherischen und katholischen Kirche praktiziert wird, ab. Sie plädieren für eine Erwachsenentaufe. In konsequenter Auslegung der Bergpredigt von Jesu Christi lehnen die Mennoniten jeden Kriegs- oder Militärdienst ebenso wie den Staatsdienst und die Eidesleistung ab. All dies waren Gründe, die zu ihrer Verfolgung führten. Bereits im 16. Jahrhundert entzogen sich Mennoniten religiösen Verfolgungen, indem sie aus Süddeutschland und Flandern in das Mündungsgebiet der Weichsel auswichen, wo sie durch Trockenlegung von Sümpfen Land erschlossen. 1780 erhielten sie von Friedrich II. ein Gnadenprivileg, das sie vom Militärdienst befreite. Außerdem wurde ihnen Schutz bei der Ausübung ihres Gewerbes - sie waren vor allem in der Textilherstellung und -verarbeitung tätig - zugesagt. Land durften sie aber nur mit Genehmigung des Königs erwerben. Der nachfolgende König Friedrich Wilhelm II. lehnte die Bestätigung des Gnadenprivilegs ab, im Gegenteil, er verschärfte das Verbot des Landerwerbs.. Teil 1 1.3.2 Werbung von Mennoniten Der von der russischen Zarin Katharina II. mit der Anwerbung mennonitischer Siedler beauftragte Georg von Trappe rief mit dem unten stehenden Flugblatt die in und um Danzig lebenden Mennoniten auf, in die für sie bereitgestellten Siedlungsgebiete Südrusslands zu ziehen. Die Werbung hatte Erfolg. In einer ersten Welle zogen 1788 über 200 Familien nach Russland, um sich auf der Dnjepr-Insel Chortiza anzusiedeln. Jedoch bestand in Preußen schon ein Verbot zur Auswanderung preußischer Untertanen. Um Verwicklungen aus dem Weg zu gehen, verkauften die preußischen Mennoniten ihre Habe und mieteten sich anschließend auf Danziger Gebiet ein. Von den dortigen Gemeinden erhielten sie eine Aufenthaltsbescheinigung. Damit wurde das Verbot umgangen. »Denen wertgeschätzten und wohlachtbaren Mitgliedern derer beyden Mennonisten-Gemeinden in Dantzig, vornemlich allen, denen daran gelegen seyn kann, und welche die Vollmacht für die Rußland gesandt gewesene Abgeordnete unterzeichnet haben, wird hierdurch bekannt gemacht, daß eben diese Abgeordnete, nachdem sie laut ihrer Instruction sehr fruchtbare Ländereyen am Dniepr-Strom ausgewählet haben, gesund und glücklich zurückgekommen sind, und am 13. May dieses Jahres neuen Styls, das ist, am 2. May alten Styls, die hohe Gnade genossen haben, durch S. Durchlaucht den Herrn Reichs Fürsten von Potemkin-Tavrischeskoi in der Stadt Krementschuk Ihre Kayserrl. Majestät in Gegenwart des Kabinets -Ministers, Herrn Reichsgrafen v. Bresborodko Erlaucht, des Römisch -Kaiserl. Ambassadeurs, derer Gesandten von England und Frankreich, und noch vieler anderen hohen Standespersonen, vorgestellet zu werden, und aus der allerhuldreichsten Russischen Monarchin eigenem Munde die Versicherung des allerhöchsten Kaiserl. Schutzes und Gnade für sich und alle Mennonisten-Familien von Dantzig die nach Rußland ziehen wollen, auf die allergnädigste und leutseligste Weise zu erhalten. Weil nun auch Ihre Kaiserl. Majestät allen Mennonisten, die von dem Dantziger Gebiet Lust und Belieben finden möchten, nach Rußland zu ziehen, ausser 65 Dessjetinen, die ohngefehr 4 Hufen ausmachen, der schönsten Ländereyen für jede Familie, solche herrliche Gnadenwohltaten, Geldvorschüsse und Vorrechte allergnädigst zu bewilligen geruhet haben, dergleichen während Allerhöchst Dero 25 jährigen ruhmvollen und ewigdenkwürdigen Regierung noch keinen Ausländern verliehen worden; als werden alle Mennonisten vom Danziger Gebiet, denen es noch gefällig seyn möchte, von dieser grossen kaiserlichen Huld und Gnade für sich und ihre Familien und Nachkommen Gebrauch zu machen, hierdurch eingeladen, sich am bevorstehenden 19. Januarii des von Gott zu erwartenden 1788sten Jahres Vormittags um 9 Uhr allhier in Danzig im Ruß. Kays. Gesandschafts-Palais auf Langgarten, persönlich einzufinden, damit ihnen die Privilegia und allerhöchste Kayserliche Kabinets Resolutiones in originalibus vorgeleget werden, und sie sich nach ihrem Gutdünken, und so wie es freyen Leuten, deren Vorfahren aus Holland hierher gekommen sind, und die nun bey ihrem Abzuge praestanda praestieren werden, nicht gewehret werden darf, erklären können. Danzig, den 29. Decemb. 1787« Teil 1 1.3.3 Ansiedlung von Mennoniten Als Beauftragter der russischen Zarin Katharina II. trat Georg von Trappe 1786 vor Mennoniten in Danzig auf. Es gelang ihm, diese für eine Ansiedlung in Russland zu gewinnen. Zunächst aber reiste eine Delegation der Gemeinde in das vorgesehene Siedlungsgebiet, um sich vor Ort einen Eindruck von den Verhältnissen zu machen und die konkreten Siedlungsbedingungen auszuhandeln. Nach Abschluss der Verhandlungen mit dem Beauftragten der Zarin, Fürst Potjomkin, wurden im September 1787 folgende Punkte durch Katharina II. bestätigt: Den Mennoniten wurde Religionsfreiheit zugesagt. Jede Kolonistenfamilie erhielt 65 Desjatinen Land zugeteilt . Die russische Regierung verpflichtete sich, Holz für den Hausbau sowie Baumaterial für die Errichtung von zwei Mühlen zur Verfügung zu stellen. Für den Kauf landwirtschaftlicher Geräte und Saatgut erhielt jede Familie ein Darlehen von 500 Rubeln, das nach 10 Jahren in drei Raten zurückzuzahlen war. Für die Zeit bis zur ersten Ernte wurde eine Unterstützung von 10 Kopeken pro Tag und Person zugesagt. Für die ersten zehn Jahre nach der Ansiedlung musste keine Landsteuer entrichtet werden. Danach waren pro Desjatine und Jahr 15 Kopeken zu zahlen. Befreiung vom Militärdienst, Fuhrdiensten, öffentlichen Arbeiten und Einquartierungen. Die Mennoniten waren verpflichtet, Brücken und Wege in ihrem Siedlungsgebiet zu pflegen und gegebenenfalls zu reparieren. Für die Reise in das Siedlungsgebiet erhielt jeder Erwachsene pro Tag 25 und jede Person unter 15 Jahren 12 Kopeken. 1789 fand die erste Ansiedlung preußischer Mennoniten in Russland statt. 228 Familien (rund 1.000 Personen) aus Marienwerden wurden auf der Dnjepr-Insel Chortiza im heutigen Gouvernement Jekaterinoslaw angesiedelt. Als Kolonisten hatten sich vor allem "kleine Leute" wie Zimmerleute, Milchträger, Leineweber, Tagelöhner, Knechte und nachgeborene Bauernsöhne, deren Chance auf einen eigenen Hof angesichts der Landknappheit gering war, gemeldet. Zwischen 1793 und 1796 kamen insgesamt weitere 118 Mennonitenfamilien nach Russland, die auf die bereits bestehenden Kolonien auf Chortiza, im Kreis Alexandrowsk und Neu-Moskau aufgeteilt wurden. Insgesamt entstanden zwischen 1789 und 1797 elf mennonitische Kolonien. Eine Bestätigung ihrer Privilegien erhielten die Mennoniten 1800 durch einen Gnadenbrief vom russischen Zaren Paul I. Die Aufhebung aller Privilegien der Russlanddeutschen durch den russischen Zaren Alexander III. im Jahr 1871 traf vor allem die Mennoniten hart. Die ihnen zugesagte Befreiung vom Militärdienst war damit hinfällig geworden. Zwar konnte in Verhandlungen ein Ersatzdienst durchgesetzt werden, dennoch zogen es viele Mennoniten vor, Russland in Richtung Nord- und Südamerika zu verlassen. Zwischen 1874 und 1879 wanderten Tausende von ihnen aus.Teil 1 1.4 Auswanderung als Ausweg Karl Stumpp schreibt in seinem Buch "Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862": "Nirgends war nur ein Grund für die Auswanderung allein ausschlaggebend. Immer wirkten mehrere Gründe zusammen, wobei in dem einen Lande der eine, in dem andern der andere Grund überwog. Die Voraussetzung für solch eine Massenauswanderung aber war nicht nur im Auswanderungs-, sondern auch im Einwanderungslande gegeben. Im damaligen Deutschland: Politische Unterdrückung durch fremde Mächte, aber auch durch die eigene Regierung und Fürsten Heeres- und Frondienst im eigenen Land und für Fremdmächte Wirtschaftliche Not, Missernten, Hungerjahre, Landmangel, Steuerlasten Strenge und oft ungerechte Verwaltung Einführung von Neuerungen auf schulischem und kirchlichem Gebiet In Russland: Freie Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten Befreiung vom Militärdienst "auf ewige Zeiten" Angebot von Land, fast unbegrenzte Landankaufmögl ichkeiten, Steuerfreiheit Freie Gemeindeverwaltung Volle Freiheit auf religiösem Gebiet Das war damals Grund genug, der Heimat den Rücken zu kehren und sich in der Ferne eine neue bessere Heimat zu suchen." Die aus verschiedenen Auswanderungsgebieten stammenden Aussiedler traten die Reise nach Russland von Sammelpunkten aus an. Teil 1 1.4.1 Auswanderungsgebiete Die Auswanderer kamen vor allem: aus Hessen, aus Württemberg, aus Baden und aus der Rheinpfalz. Teil 1 1.4.2 Sammelpunkte Unter anderem gab es im hessischen Büdingen einen Sammelpunkt für Ausreisewillige. Von hier aus traten mehrere hundert Menschen ihre Reise nach Russland an. Da die russische Regierung ein großes Interesse an Familien und Ehepaaren hatte, wurde vor der Auswanderung eine Eheschließung angestrebt. Dies spiegelt sich im so genannten Kopulationsregister des evangelischen Pfarramtes in Büdingen wider (siehe Bild rechts). Zwischen dem 24. Februar 1766 und dem 8.Juli 1766 wurden dort insgesamt 375 Paare getraut, an manchen Tagen 11 Paare. Im Heiratsregister ist für 170 Männer und 110 Frauen der Heimatort angegeben, daraus ist ersichtlich, dass die meisten der hier registrierten Auswanderer aus Hessen stammten. Allein aus der Stadt Gelnhausen wanderten 112 Personen aus, wobei es sich hier nur um die legalen Auswanderer handelte. Die Zahl der illegal, heimlich ausgewanderten Personen, die auf diese Weise vor ihren Gläubigern flohen, dürfte sehr viel höher gewesen sein. Durch das anhaltinische Roßlau, das von Friedrich August als Sammelpunkt für ausreisewillige Siedler bestimmt worden war - die Werber selber hatten Coswig vorgeschlagen - zogen 11 Kolonistenzüge mit insgesamt 3.440 Personen. Diese Tatsache wirkte überzeugender als alle Werber (Dominoeffekt). Von den 15.000 Einwohnern in Anhalt-Dessau verließen zur Auswanderungszeit 97 Männer, 105 Frauen und 250 Kinder das Land. Darunter befanden sich 21 alleinstehende Frauen mit 32 Kindern. Aus der Heiratsliste ist ersichtlich, dass von den 25 heiratenden Männern 18 ihren Beruf angaben, 17 von ihnen waren Handwerker, nur einer war ein "Ackersknecht". Als Handwerksberufe wurden Leineweber, Fleischhauer, Maurermeister, Zimmermann, Weißbäcker, Bandmacher, Drechsler, Knopfmacher, Damastweber und Schuhmacher genannt. Teil 1 1.4.2.1 Dominoeffekt Die Kolonnen von Ausreisewilligen, die zu den Sammelpunkten zogen, bewirkten, dass sich viele Leute, die zuvor keinerlei Kenntnis von der Ausreise hatten, spontan den Trecks anschlossen. Einen Eindruck von dieser "Sogwirkung", den durchziehende Kolonistentransporte auf die örtliche Bevölkerung in den deutschen Kleinstaaten ausübten, vermittelt ein Auszug aus dem Kirchenbuch von Stockhausen bei Gießen. Den Transporten schlossen sich 46 Einwohner an. Im Kirchenbuch heißt es dazu: "Wofern nicht ein herrschaftliches Verbot Einhalt gegeben, so wäre, aus eitler Träumerei nach einem gelobten Land, wohl d as halbe Dorf entvölkert worden." Ein weiteres Beispiel für den Dominoeffekt liefert der Bericht von Oberpfarrer Boeckner aus Schlitz, nördlich von Fulda, in dem er über den Durchzug eines Transportes von Aussiedlern 1766 schrieb: "Heute den 13.Mai 1766 ist der erste Transport Leute durch Slitz gezogen. Es liefen auch Bauern aus dem Schlitzer Land heimlich fort und ließen ihre Güter stehen und gaben vor, ihre Obrigkeit sei zu streng und die Arbeit sei zu viel." Der Oberpfarrer berichtet von sieben Transporten, die durch den Ort zogen, jeder mit etwa 500 Personen. Aus Roßlau schlossen sich junge und bis dahin ledige Frauen den Transporten an. Durch öffentliche Aushänge wurden sie aufgefordert, Auswanderer zu heiraten. "Zu Roßlau bey Dessau im Schwarzen Bär en werden sie Verpflegung erhalten, auch wird alles bestens gesorgt werden. Nehmlich der Gastwirth Hoffmann bezahlet jedem Manne täglich vier Groschen sechs Pfennige, dabey frey Quartier und Transport, ingleichen werden ledige Frauenspersonen zur Verheuratung verlanget und angenommen, es muß sich aber ein jedes bald möglichst daselbst einfinden, weil der Commissarius binnen 4 Wochen nach Sankt Petersburg abgehet." Teil 1 2 Abwerbung Schon im Mittelalter zogen Deutsche nach Russland. Im 12. bis 15. Jahrhundert waren es Hansekaufleute, die von Lübeck oder Danzig aus einen schwunghaften Handel mit Holz, Pelzen, Pech und anderen Dingen trieben. Im 16. Jahrhundert begann die Ausdehnung des Russischen Reiches nach Süden. Nachdem im weiteren das Land am unteren und mittleren Lauf der Wolga erobert worden war, konnten in zwei Kriegen mit dem Osmanischen Reich die nördliche Schwarzmeerküste und die Krim für Russland gewonnen werden. Um diese Eroberungen zu sichern, wurde neben dem Bau von Befestigungsanlagen auch eine aktive Ansiedlungspolitik betrieben. Nach der Verlagerung des politischen Machtzentrums Russlands nach Moskau kamen zahlreiche Deutsche in die Stadt. Sie waren hier als Lehrer, Offiziere, Ärzte und Beamte tätig und lebten alle in der so genannten "Deutschen Vorstadt" (nemezkaja sloboda). Unter Zar Peter I. wurden viele deutsche Wissenschaftler, Handwerker, Techniker, Offiziere und Beamte angeworben, die bei der angestrebten Modernisierung des russischen Staates behilflich sein sollten. Die meisten dieser Spezialisten, die oft nur für einige Jahre in Russland weilten, lebten im 1703 gegründeten Sankt Petersburg. Die im 18. Jahrhundert verstärkt betriebene Besiedlungspolitik der russischen Regierung lehnte sich an die von anderen europäischen Mächten betriebene Kolonisationspolitik an, die auch als Peuplierungspolitik bezeichnet wird. Die massenhafte Ansiedlung bäuerlicher Kolonisten diente neben der wirtschaftlichen Erschließung der eroberten Gebiete auch deren Verteidigung gegen Überfälle nomadisierender Stämme. Da aber ca. 75% der russischen Bauern als Leibeigene an ihre Herren gebunden waren, kamen für diese Aufgaben nur die so genannten "Staatsbauern" (Kronsbauern) oder aber ausländische Kolonisten in Frage. Erst durch die Zarin Katharina II. kam es zu einer planmäßigen Ansiedlungen von bäuerlichen Kolonisten in den neu eroberten und noch unerschlossenen Gebieten im Süden des Reiches. Die meisten dieser Kolonisten kamen aus Deutschland. Die Ansiedlungspolitik war mit Privilegien für die Siedler verbunden. In den deutschen Territorien reagierte man mit Auswanderungsverboten.Teil 1 2.4 Leibeigene Im Verlauf des 17. Jahrhunderts kam es zur endgültigen Aufhebung der persönlichen Freiheit der russischen Bauern. Sie verloren ihr Recht auf Freizügigkeit. Noch im 16. Jahrhundert hatten sie zumindest formal die Möglichkeit, zu einem bestimmten Termin im Jahr (meist am 23. November, dem St. Georgs-Tag) ihren Herrn zu verlassen. Nun wurden die Bauern verpflichtet, ihrem Herrn ewig zu dienen. Wenn ein Bauer dennoch seinen Herrn verließ, konnte ihn dieser zeitlich unbegrenzt zurückholen, einerlei woher. Die Verschärfung der persönlichen Abhängigkeit wurde von einer weitgehenden Umwandlung der bisher in Naturalien zu entrichtenden Abgaben in Geldabgaben begleitet. Dies betraf sowohl die Abgaben, die aus der persönlichen Unfreiheit resultierten (z. B. die Heiratsabgabe) als auch die Leistungen, die aus der Nutzung des herrschaftlichen Landes herrührten. Neben den Abgaben waren Frondienste (Hand- und Spanndienste, Ackerdienste) mit den eigenen Geräten zu leisten. Die Dienste waren weder quantitativ noch qualitativ begrenzt. In den Urkunden, die Aussagen zu den bäuerlichen Verpflichtungen enthalten, heißt es: "er hat jede Arbeit zu verrichten", "hat Dienste zu leisten, wie es die Nachbarn tun". Die persönliche Abhängigkeit der Bauern vom Grundherrn drückte sich aber nicht nur in der fehlenden Freizügigkeit und den Abgaben aus. Die Leibeigenen konnten auch verschenkt, verkauft oder verpfändet werden.-. Teil 1 2.6 Staatsbauern Staatsbauern wurden als "Kronsbauern" bezeichnet. Sie bewirtschafteten Land, dessen Obereigentümer die Krone war. Sie durften keine Leibeigenen besitzen und waren an die Gemeinde und den Boden gebunden. Rechtlich gesehen gehörten auch die Kolonisten zu dieser Gruppe. Auch sie erhielten Land zu erbrechtlichen Bedingungen, dessen Obereigentümer die Krone war. Im Unterschied zu den Staatsbauern waren bei ihnen die Erbfolge (Minorat), die Besteuerung und die Frage der Selbstverwaltung anders geregelt. Die russischen Kronsbauern nahmen regelmäßig Umverteilungen des der Gemeinde gehörenden Landes vor, wobei das Land nach der Anzahl der männlichen "Seelen" auf die Familien aufgeteilt wurde. Teil 1 2.1 Katharina II. Katharina II., die Große (russ. Jekaterina II. Alexejewna) Geb. 2. Mai 1722 in Stettin Gest. 17. November 1796 in Petersburg Zarin von Russland. Geboren als Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst. Tochter des preußischen Generals Fürst Christian August von Anhalt-Zerbst. Seit 1745 mit dem russischen Thronfolger Peter III. verheiratet, der kurz nach seiner Krönung 1762 bei einer Palastrevolte ermordet wurde. Katharina ließ sich daraufhin selbst als Zarin ausrufen. Sie sah sich in der Tradition Peters I. und leitete als Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus Reformen ein, die in ihrer Tragweite allerdings bescheiden blieben. Neben Maßnahmen zur Modernisierung des Staatsapparates leitete Katharina II. die planmäßige Besiedlung noch unerschlossener ländlicher Gebiete im Süden des Reiches ein. Teil 1 2.2 Ansiedlungspolitik Katharina II. In ihrer Ansiedlungspolitik ließ sich Katharina II. ebenfalls von der in Westeuropa betriebenen Peuplierungspolitik leiten, deren Grundzüge auch in Vorschlägen von Lomonossow enthalten waren. Ein erster Schritt zur Anwerbung von Kolonisten war das Manifest vom 14. Oktober 1762, in dem der Senat ausdrücklich die Erlaubnis erhielt, Ausländern die Ansiedlung im Land zu gestatten. Da die Veröffentlichung dieses ersten Manifestes wegen seines nur summarischen Inhalts nicht die erhoffte Resonanz im Ausland hatte, unterschrieb Katharina II. das Manifest vom 22. Juli 1763, in dem weitgehende Privilegien für die Siedler in Aussicht gestellt wurden... Teil 1 2.2.1 Peuplierungspolitik »Menschen halte ich für den größten Reichtum.« Dieser Ausspruch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. beschreibt das Ziel der Peuplierungspolitik. Die Macht des Staates sollte vor allem durch die Steigerung der Bevölkerungszahl und die Erweiterung des Territoriums erhöht werden. Diese Politik setzten nach Friedrich Wilhelm I. in Preußen, dessen Sohn Friedrich II. (Schlesien, Brandenburg, Westpreußen) und für die Habsburger Monarchie Maria Theresia und deren Nachfolger Joseph II. (Donauschwaben auf dem Balkan) in die Tat um. In Russland tat dies Katharina II. Der Hauptvertreter dieser Theorie, Johann Heinrich Gottlob Justi (1720-1771), vertrat die These, dass der Staat dafür zu sorgen habe, "daß zuförderst die, zu der Republik gehörigen, Länder recht cultiviret und angebauet werden müssen." Die Nutzung der "unbeweglichen Güther" vergrößere den Nutzen des Staates, dessen "Glückseligkeit" auf seiner Macht und Stärke beruhe. Wesentlichste Voraussetzung dafür war nach Justi eine ausreichend hohe Bevölkerungszahl. Ähnlich wie Justi sah auch Joseph von Sonnenfels in der Vermehrung der Bevölkerung ein Hauptziel staatlichen Handelns. Denn durch eine wachsende Einwohnerzahl würden auch die Zahl der Steuerpflichtigen und damit die Staatseinnahmen steigen. Außerdem würde neben dem zu erwartenden wirtschaftlichen Wachstum auch die innere und äußere Sicherheit vergrößert. Sonnenfels forderte, dass jede staatliche Maßnahme dahingehend zu überprüfen sei, ob sie einen Beitrag zum Bevölkerungswachstum leisten könne. Eine deutliche Beschleunigung des Wachstums der Einwohnerzahl sollte durch die Aufnahme von Ausländern erzielt werden. Denn diese brächten nicht nur ihr Vermögen mit, sondern würden auch den gesamten Wirtschaftskreislauf anregen. Als wesentliche Voraussetzung für die Einwanderung bezeichnete Sonnenfels die Gewährung der persönlichen Freiheit durch den Staat, die Förderung von Handel und Gewerbe, die befristete Befreiung von Abgaben und die finanzielle Unterstützung der sich niederlassenden Ausländer durch die Bereitstellung von Baumaterial, Gerätschaften und Krediten. Solche Gesichtspunkte findet man im russischen Manifest vom 22. Juli 1763. Teil 1 2.2.2 Manifest vom 14.Oktober 1762 Ukas Katharinas II. an den Senat vom 14.Oktober 1762 Ukas an unseren Senat. „Da in Rußland viele öde, unbevölkerte Landstriche sind, und viele Ausländer uns um Erlaubnis bitten, sich in diesen öden Gegenden anzusiedeln, so geben Wir durch diesen Ukas Unserem Senat ein für allemal die Erlaubnis, den Gesetzen gemäss und nach Vereinbarung mit dem Kollegium der auswärtigen Angelegenheiten - denn dies ist eine politische Angelegenheit - in Zukunft alle aufzunehmen, welche sich in Russland niederlassen wollen, ausgenommen Juden. Wir hoffen dadurch, den Ruhm Gottes und seiner rechtgläubigen, griechischen Kirche, sowie die Wohlfahrt des Reiches zu mehren." Katharina "Dasselbe gilt für alle russischen Uebersiedler." Katharina Auf einen beigefügten Zettel an den Generalprokureur Alexander lwanowitsch Glebow wies Katharina an: "Dieses Manifest soll in allen Sprachen veröffentlicht und in allen ausländischen Zeitungen abgedruckt werden. Den 4. December 1762." Katharina Wegen der geringen Resonanz dieses Manifestes im Ausland erließ Katharina II. am 23. Juli 1763 ein weiteres Manifest, mit dem im Ausland Siedler gewonnen werden sollten. Teil 1 2.2.3 Manifest vom 22. Juli 1763 Teil 1 2.2.3.1 Wortlaut des Manifestes Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 Von Gottes Gnaden Wir Catharina die Zweite, Zarin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zarin zu Casan, Zarin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensko, Fürstin zu Esthland und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Permien, Wjatka und Bolgarien und mehr anderen; Frau und Großfürstin zu Nowgorod des Niedrigen Landes, von Tschernigow, Resan, Rostow, Jaroslaw, Belooserien, Udorien, Obdorien, Condinien, und der ganzen Nord-Seite, Gebieterin und Frau des Jurischen Landes, der Cartalinischen und Grusinischen Zaren und Cabardinischen Landes, der Tscherkessischen und Gorischen Fürsten und mehr anderen Erb-Frau und Beherrscherin. Das Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbiger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meerung gnugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen. Dieses gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifestes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen Unterthanen den 4. December des abgewichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich in Unserem Reich häuslich niederzulassen, Unser Belieben nur summarisch angekündiget; so befehlen Wir zur besseren Erörterung desselben folgende Verordnung, welche Wir hiermit feierlichst zum Grunde legen, und in Erfüllung zu setzen gebieten. 1. Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen. 2. Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die Ausländer besonders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen Gränz-Städten Unseres Reiches nach eines jeden Bequemlichkeit bey denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den vornehmsten Stadts-Befehlshabern zu melden. 3. Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragenden Ausländern sich auch solche finden würden, die nicht Vermögen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so können sich dergleichen bey Unseren Ministern und an auswärtigen Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand nach Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen. 4. Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt gemeldet haben werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Entschluß zu eröffnen, worinn nehmlich ihr eigentliches Verlangen bestehe, und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben lassen und Bürger werden wollen, und zwar nahmentlich, in welcher Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem und nutzbarem Grunde und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder zu allerley nützlichen Gewerben sich niederlassen; da sodann alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen ihre Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifolgendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen Gegenden Unseres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung bequeme Ländereyen vorhanden sind; wiewohl sich außer der in bemeldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige Gegenden und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder am nützlichsten selbst wählen wird. 5. Gleich bei der Ankunft eines jeden Ausländers in Unser Reich, der sich häuslich niederzulassen gedenket und zu solchem Ende in der für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley oder aber in anderen Gränz-Städten Unseres Reiches meldet, hat ein solcher, wie oben im 4ten § vorgeschrieben stehet, vor allen Dingen seinen eigentlichen Entschluß zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions-Ritu den Eid der Unterthänigkeit und Treue zu leisten. 6. Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche niederzulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie weit sich Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser Unser Wille: 1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf unbewohnten Ländereyen sich besonders in Colonien oder Landflecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den Klosterbau ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Rußland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen, unter gar keinem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens und seiner Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze auszusetzen gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen ausgeschlossen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen Religion zuneigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, einem jeden erlauben und gestatten. 2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Abgaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten gezwungen, noch Einquartierung zu tragen verbunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer und Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, welche in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher noch unbekannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre; die sich aber in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter der Kaufmannschaft einschreiben wollen, auf ihre Rechnung in Unserer Residenz Sankt-Petersburg oder in benachbarten Städten in Lifland, Estland, Ingermanland, Carelien und Finland, wie nicht weniger in der Residenz-Stadt Moscau nehmen, haben fünf FreyJahre zu genießen. Wonechst ein jeder, der nicht nur auf einige kurze Zeit, sondern zur würklichen häuslichen Niederlassung, nach Rußland kommt, noch über dem ein halbes Jahr hindurch frey Quartier haben soll. 3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen Ausländern, die entweder zum Kornbau und anderer Handarbeit, oder aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, wird alle hülfliche Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen von solchen zu errichtenden Fabriken und Anlagen erheischet, besonders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet gewesen. 4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley wie beym Ackerbau, also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre und Materialien, soll einem jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und zwar nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Theilen gerechnet, zurück gezahlt werden. 5. Wir überlassen denen sich etablirten ganzen Colonien oder Landflecken die innere Verfassung der Jurisdiction ihrem eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß die von Uns verordneten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren Einrichtungen gar keinen Antheil nehmen werden, im übrigen aber sind solche Colonisten verpflichtet, sich Unserem Civil-Recht zu unterwerfen. Falls sie aber selbst Verlangen trügen eine besondere Person zu ihrem Vormunde oder Besorger ihrer Sicherheit und Verteidigung von uns zu erhalten, bis sie sich mit den benachbarten Einwohnern dereinst bekannt machen, der mit einer Salvegarde von Soldaten, die gute Mannszucht halten, versehen sey, so soll Ihnen auch hierinnen gewillfahret werden. 6. Einem jeden Ausländer, der sich in Rußland niederlassen will, gestatten Wir die völlige zollfreie Einfuhr seines Vermögens, es bestehe dasselbe worinn es wolle, jedoch mit dem Vorbehalte, daß solches Vermögen in seinem eigenen Gebrauche und Bedürfnis, nicht aber zum Verkaufe bestimmt sey. Wer aber außer seiner eigenen Nothdurft noch einige Waaren zum Verkaufe mitbrächte, dem gestatten Wir freyen Zoll für jede Familie vor drey Hundert Rubel am Werte der Waaren, nur in solchem Falle, wenn sie wenigstens zehn Jahre in Rußland bleibt: widrigenfalls wird bey ihrer Zurück-Reise der Zoll sowol für die eingekommene als ausgehende Waaren abgefordert werden. 7. Solche in Rußland sich niederlassende Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins, außer dem gewöhnlichen Land-Dienste, wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden; ja auch zur Leistung dieses Land-Dienstes soll keines eher als nach Verfließung obangesetzter Freyjahre verbunden seyen: wer aber frey-willig geneigt ist, unter die Soldaten in Militär-Dienst zu treten, dem wird man außer dem gewöhnlichen Solde bey seiner Enrollierung beym Regiment Dreißig Rubel Douceur-Geld reichen. 8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley oder sonst in Unsern Gränz-Städten gmeldet und ihren Entschluß eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich daselbst häuslich niederzulassen, so bald werden selbige auch Kostgeld, nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen. 9. Wer von solchen in Rußland sich etablirten Ausländern dergleichen Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichtet, und Waaren daselbst verfertigt, welche bis dato in Rußland noch nicht gewesen, dem gestatten Wir, dieselben Zehn Jahre hindurch, ohne Erlegung irgend einigen inländischen See- oder Gränze-Zolles frey zu verkaufen, und aus Unserm Reiche zu verschicken. 10. Ausländische Capitalisten, welche auf ihre eigenen Kosten in Rußland Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichten, erlauben Wir hiermit zu solchen ihren Manufacturen, Fabriken und Anlagen erforderliche leibeigene Leute und Bauern zu erkaufen. Wir gestatten auch: 11. Allen in Unserm Reiche sich in Colonien oder Landflecken niedergelassenen Ausländern, nach ihrem eigenen Gutdünken Markt-Tage und Jahrmärkte anzustellen, ohne an Unsere Cassa die geringsten Abgaben oder Zoll zu erlegen. 7. Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Rußland geboren, solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Rußland zu berechnen sind. 8. Nach Verfließung obangesetzter Freyjahre sind alle in Rußland sich niedergelassene Ausländer verpflichtet, die gewöhnlichen und mit gar keiner Beschwerlichkeit verknüpften Abgiften zu entrichten, und gleich Unsern anderen Unterthanen, Landes-Dienste zu leisten. 9. Endlich und zuletzt, wer von diesen sich niedergelassenen und Unsrer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes würde, sich aus Unserm Reiche zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit dazu die Freyheit, jedoch mit dieser Erleuterung, daß selbige verpflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen in Unserm Reiche wohlerworbenen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten; diejenigen nehmhich, die von Einem bis Fünf Jahre hier gewohnet, erlegen den Fünften, die von fünf bis zehen Jahren und weiter, sich in Unsern Landen aufgehalten, erlegen den zehenden Pfennig; nachher ist jedem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt. 10. Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Verlangen tragenden Ausländer aus einem oder anderen besonderen Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und Privilegien zu gewinnen wünschen würden; solche haben sich deshalb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche uns alles umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände nicht anstehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution ertheilen, als sich ein jeder von Unserer Gerechtigkeitshiebe zuversichtlich versprechen kann. Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung Das Original haben Ihre Kayserliche Majestät Allerhöchst eigenhändig folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beym Senate den 25. Juli 1763.Teil 1 2.2.4 Lomonossow Der russische Gelehrte Michail Wassiljewitsch Lomonossow, der wohl bedeutendste Vertreter der Aufklärung in Russland, schrieb in einem Brief an Iwan Iwanowitsch Schuwalow vom 1. November 1761 unter anderem: "Den Platz der ins Ausland Geflohenen könnte man bequem durch die Aufnahme von Ausländern ausfüllen, wenn entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Die gegenwärtigen unheilvollen Kriegszeiten in Europa zwingen nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze ruinierte Familien, ihr Vaterland zu verlassen und Orte aufzusuchen, die weit entfernt vom Kriegsschauplatz und seinen Greueltaten liegen. Das weite Reich unserer großen Monarchin ist in der Lage, ganze Völker in seinen sicheren Schoß aufzunehmen und mit allem Nötigen zu versehen; es erwartet für sein Gedeihen nicht mehr als eine den menschlichen Kräften angemessene Arbeit." Ob diese Gedanken Lomonossows der Zarin Katharina II. bekannt waren und inwieweit sie ihre Entscheidungen beeinflusst haben, ist nicht bekannt. Aber ungeachtet dieser Unsicherheit findet man hier Gesichtspunkte, die eine Auswanderung nach Russland und die Kolonisation bisher unerschlossener Gebiete für viele Menschen zu einer attraktiven Alternative machten.. Teil 1 2.3 Privilegien für die Siedler Im Gegensatz zum Manifest vom Oktober 1762 enthielt das vom 22. Juli 1763 eine ganze Reihe von Privilegien, die für Aussiedlungswillige verlockend waren. Als wichtigste sind zu nennen: Die Kolonisten und ihre Nachkommen sollten persönlich frei sein. Ihnen wurde Freizügigkeit (§ 1 und 4) zugesagt, also das Recht, sich an jedem beliebigen Ort im Russischen Reich niederzulassen und das Land auch jederzeit wieder verlassen zu dürfen. Die Reise- und Transportkosten übernahm die russische Regierung. Die Kolonisten erhielten außerdem ein nach Geschlecht und Alter differenziertes Tagegeld (§ 3). Sie erhielten das Recht, ihre Religion ungehindert zu praktizieren (§ 6.1). Ihnen wurde eine finanzielle Unterstützung (§ 6.4) für den Hausbau, den Kauf von Vieh und landwirtschaftlichen Geräten versprochen. Der zinslose Kredit musste erst nach zehn Jahren zurückgezahlt werden. Die Kolonisten erhielten die Erlaubnis, sich auch in geschlossenen Kolonien anzusiedeln, für die eine lokale Selbstverwaltung zugesichert wurde (§ 6.5). Das Manifest räumte den Siedlern und ihren Nachkommen Freijahre ein und sagte die völlige Befreiung vom Militärdienst (§ 6.7) zu. Als oberste, der Zarin direkt unterstellte Behörde, die sich mit allen die Kolonien betreffenden Fragen zu befassen hatte, wurde die so genannte Tutelkanzlei eingerichtet (§ 6.8). Einen entscheidenden Anteil an der Verbreitung des Manifestes in Deutschland und der daraus resultierenden "Massenauswanderung" hatten die im Auftrag der russischen Regierung aktiv werdenden Werber, die so genannten Lokatoren. Gegen deren Aktivitäten richteten sich die aus verschiedenen deutschen Territorien überlieferten Auswanderungsverbote, die vor allem aus Sorge um die sich verringernden Steuereinnahmen erlassen wurden. Teil 1 2.3.1 Freijahre Zeitraum, in dem Kolonisten von allen staatlichen Abgaben, Diensten (Landdienste) und Steuern befreit wurden. Im zweiten Manifest der russischen Zarin Katharina II. wurde eine Differenzierung vorgenommen. Im Gegensatz zu den Kolonisten, die sich in Städten des Russischen Reiches als Handwerker oder Kaufleute niederlassen wollten und die nur fünf Freijahre zugesagt bekamen, wurden den Kolonisten, die sich in noch unbesiedelten Gebieten niederließen, dreißig Freijahre eingeräumt. Nach Ablauf der Freijahre, in deren Genuss auch die Nachkommen der Siedler kommen sollten, waren die Kolonisten zu allen "gewöhnlichen und gar keine Beschwerlichkeit verknüpften Abgiften" und den Landdiensten "gleich unsren anderen Unterthanen" verpflichtet. Freijahre waren ein durchaus übliches Mittel, um ausländische Siedler zu gewinnen. So versprach der dänische König Friedrich V. in seinem Manifest vom 29. November 1748 allen ausländischen Siedlern 20 Freijahre.Teil 1 2.3.2 Militärdienst Im Manifest der russischen Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 wurde den Kolonisten und ihren Nachkommen die Befreiung vom Militärdienst zugesagt. Für die aus deutschen Fürstentümern und Grafschaften kommenden Siedler war die in Aussicht gestellte Befreiung vom Militärdienst angesichts des "Hungers" ihrer Landesväter nach immer neuen Soldaten ein entscheidender Punkt. Erinnert sei hier nur an die Tatsache, dass aus Hessen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Zehntausende "Landeskinder" an die englische Krone verkauft wurden, um als Soldaten in Nordamerika kämpfen zu müssen. In Russland bedeutete Militärdienst, dass der Betroffene, der per Losentscheid aus dem Kreis der wehrpflichtigen Männer einer Gemeinde bestimmt wurde, für 25 Jahre zu diesem Dienst verpflichtet war. Die Befreiung der deutschen Siedler vom Militärdienst war ein besonderes Privileg, das wirkte.- Teil 1 2.3.3 Tutelkanzlei Auf Anweisung Katharinas wurde am 22. Juli 1763 eine "Kanzlei der Vormundschaft der Ausländer", als Tutelkanzlei oder Vormundschaftskanzlei bezeichnet, mit Sitz in St. Petersburg geschaffen. Zum Vorsitzenden dieser Kanzlei, die an "Macht und Vorzügen" den Staatskollegien (Ministerien) gleichgestellt war, wurde der Vertraute der Zarin Graf Orlow ernannt. Aufgabe der Tutelkanzlei war es: "alle gerechten Forderungen zu befriedigen", welche die Neuankömmlinge stellten und dafür Sorge zu tragen, dass sie bei ihrem Eintreffen in Russland keinerlei Erschöpfungen unterliegen und ihnen bei erster Gelegenheit provisorische Wohnstätten zugewiesen werden, bis "jeder nach seinem eigenen Wunsche eingewiesen wird." Das jährliche Budget der Kanzlei belief sich auf 200.000 Rubel. Von diesem Geld sollten die Unterstützungszahlungen an die Kolonisten für den Hausbau wie für den Kauf von Saatgut, Hornvieh, Pferden und Gerätschaften gezahlt werden. Um die bei der Ansiedlung auftretenden Fragen und Probleme vor Ort lösen zu können, wurden regionale Kontore eingerichtet. Das erste von ihnen war das 1766 in Saratow geschaffene Tutelkontor. Dieses Kontor kann als Träger der im Manifest von 1763 zugesicherten lokalen Selbstverwaltung betrachtet werden. Nach der Niederschlagung des Pugatschow-Aufstandes (1773-1775) nahm Katharina II. eine Reform der staatlichen Verwaltung in Angriff. Russland wurde in Gouvernements eingeteilt, die in den folgenden Jahren mit Verwaltungsorganen und Behörden ausgestattet wurden. 1782 erfasste diese Reform auch die Sonderverwaltungen für die Kolonien bzw. die Ausländer. Am 28. April 1782 wurden durch einen Ukas Katharinas II. die Vormundschaftskanzlei in Petersburg und das Vormundschaftskontor in Saratow aufgehoben. Die Kolonisten wurden nun zusammen mit den russischen Kronsbauern, der privilegiertesten Gruppe der russischen Bauern, der Leitung des Kameralhofes in Saratow unterstellt. Die "kontorlose Zeit" hatte aber nur 15 Jahre Bestand. 1797 hob Zar Paul I. diese Reform wieder auf. Das Tutelkontor wurde wieder eingerichtet. Im Jahre 1800 wurde ein Tutelkontor für Neurussland in Jekaterinoslaw eröffnet. Bei den deutschen Kolonisten blieb die kontorlose Zeit als eine Zeit des Chaos und der Verunsicherung im Gedächtnis haften. Während der kontorlosen Zeit kam es in einigen russlanddeutschen Kolonien zur Übernahme des "Mir-Systems". Das am 4. Juni 1871 von Zar Alexander II. erlassene Kolonistengesetz hob nicht nur alle Privilegien der Kolonisten auf. Sie wurden nun auch der allgemeinen Verwaltung unterstellt. Die bisher für diese Aufgabe zuständigen Kontore wurden geschlossen. Damit war auch die lokale Selbstverwaltung beendet. Teil 1 2.3.3.1 Mir-System M i r bedeutet so viel wie Dorfgemeinschaft. Bezeichnet wird so auch eine für das zaristische Russland des 18./19. Jahrhunderts spezifische Agrarordnung, die "Umteilungsgemeinde": Das Land war Gemeindeland. Es durfte nicht auf ein Familienmitglied vererbt werden, sondern musste auf die lebenden männlichen Personen periodisch immer wieder neu verteilt werden. Dieses System förderte das Interesse an großen Familien – je mehr männliche Familienmitglieder vorhanden waren, um so mehr Land stand einer Familie zu. Wie bereits erwähnt, erhielten die Kolonisten das Land nicht wie versprochen als freies Eigentum, sondern nur zur Erbleihe. Obereigentümer des Bodens blieb die Krone. Das Land wurde der Gemeinde zur Nutzung übergeben. Sie war auch für die Leistung der Geld- und Naturalabgaben verantwortlich. Das nun vorgesehene Erbrecht stieß bei den Kolonisten auf wenig Gegenliebe. Es widersprach ihren heimatlichen Traditionen. Zudem war es gar nicht möglich, dass alle älteren Söhne als Handwerker in benachbarten Städten ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Sie mussten ebenfalls in der Landwirtschaft untergebracht werden. Um das notwendige Land bereitstellen zu können, begannen die Siedler in den Wolgakolonien bereits in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts das MirSystem zu übernehmen. Die Auflösung der Tutelkanzlei durch Katharina II. im Jahre 1782 und die folgende "kontorlose Zeit" beförderten dies. So konnte zumindest kurzfristig der Landmangel behoben werden. Langfristig aber hatte diese Entwicklung negative Folgen. Der Landanteil der einzelnen Bauern verkleinerte sich ständig. Seit 1793 verringerte sich der Anteil der einzelnen Familien auf 20 Desjatinen Land. 1840 lag er bereits unter 15 Desjatinen und umfasste somit nur noch die Hälfte des ursprünglichen Landbesitzes, der jeder Kolonistenfamilie bei ihrer Ansiedlung zur Verfügung gestellt worden war. Die später gegründeten Schwarzmeerkolonien übernahmen das Mir-System nicht. Die Kolonisten erhielten hier aber im Unterschied zu den Siedlern in den Wolgakolonien 60 Desjatinen Land und befolgten das Verbot, das Land unter den Erben aufzuteilen. Die nichterbberechtigten Söhne mussten den väterlichen Hof tatsächlich verlassen und ein Handwerk erlernen. Als einzige Alternative blieb ihnen der Status eines "Anwohners". In diesem Fall waren sie zwar Inhaber einer eigenen kleinen Wirtschaft ohne Ackerland, sie mussten sich aber im Nebenverdienst als Tagelöhner bei ihrem erbberechtigten Bruder verdingen. Dies führte in den Schwarzmeerkolonien dazu, dass im 19. Jahrhundert die meisten Landarbeiter selbst Russlanddeutsche waren.Teil 1 2.3.4 Verbreitung des Manifestes in Deutschland Das Manifest wurde in französischen, englischen und deutschen Zeitungen gedruckt. Doch erreichten diese Zeitungen nur einen geringen Teil der ländlichen Bevölkerung und nur wenige davon waren des Lesens kundig. Der Inhalt des Manifestes wurde in den Kirchen verlesen. Bei dieser Gelegenheit konnten den Zuhörern die Verhältnisse im Siedlungsgebiet in den schönsten Farben geschildert werden. Im Auftrag der russischen Regierung waren Werber aktiv, die von verschiedenen Orten im Reich aus tätig wurden. Aus Orten, durch die die Aussiedler zogen oder in denen sie sich sammelten, schlossen sich ihnen immer neue Menschen an. Auch die Briefe und Nachrichten von den Siedlern, die die zurückgebliebenen Familienmitglieder und Nachbarn erreichten, werden auf den einen oder anderen nicht ihre Wirkung verfehlt haben. Teil 1 2.3.4.1 Verhältnisse im Siedlungsgebiet Den Bewohnern des Dorfes Mettenheim in der Grafschaft Wartenberg wurde von der Kanzel unter anderem zugerufen: "Die Bekenner einer jeden Konfession sind willkommen. Der Ort ist am Wolgastrom gelegen im Königreich Astrachan bei der neuen deutschen Stadt Katharinenburg, die Gegend kommt derjenigen am Oberrhein gleich, was Mäßigkeit der Luft und Fruchtbarkeit de s Erdreiches anbelangt, es sei reich an Wein, Getreide, Wiesenwachs, Holz und fischreichen Flüssen ... Wer bei uns nichts hat, kann dort glücklich werden. Alle diejenigen nun, welche Lust haben, sich obiger herrlicher Vorteile teilhaftig zu machen und sich in Russland niederlassen, wo bereits eine Kolonie von mehr als 1.000 deutschen Kolonisten befindlich ist, die können sich zu Worms anmelden, woselbst den 13. März 1766 Schiffe abgehen werden und wo ihnen das Tagegeld ausbezahlt wird." Auch die Aussicht auf eine weite und kostenlose Reise sowie die Möglichkeit, fremde Völker kennen zu lernen, wurde als Lockmittel eingesetzt. Ob der Brief, den ein aus Anhalt-Dessau ausgewanderter Bauer 1788 an seinen Heimatort schickte und in dem er über seine Situation in Russland berichtete, jemanden zur Auswanderung nach Russland bewegte, wissen wir nicht. Aber Eindruck wird die Schilderung seiner Arbeits- und Lebensverhältnisse gemacht haben – "... und habe Gott sey Danck Äcker, Wiesen-Pferde, Kühe und ander Vieh so viel, ja mehr als ich bestreiten kann, habe als noch nie über Mängel zu klagen gehabt, Kirche und Schulen haben wir auch". Nicht nur die Aussicht auf ein besseres Leben veranlasste Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Es war zum Teil auch eine gehörige Portion Neugier und Abenteuerlust. Diese Motive waren es wohl, die in dem Handwerksgesellen Christian Gottlob Züge den Entschluss reifen ließen, Deutschland zu verlassen. Seine ursprüngliche Absicht, nach Amerika auszuwandern, um "von meinem Vaterland fern gelegene Gegenden der Welt zu beseh´n", änderte er kurzfristig. In Lübeck überredeten ihn "einige gut gekleidete Leute", mit ihnen nach Russland zu gehen, "denn dort hat jetzt die große Catharina, selbst Deutsche, allen ihren Landsleuten, welchen es daheim nicht gefällt, ein neues Paradies eröffnet. Dorthin geht man einem gewissen Glück entgegen, durchstreift bis an das Ziel der Reise einen nicht kleinen Theil der Welt, lernt Kosaken, Kalmücken, Morduinen, Tschuktschen und eine Menge anderer unbekannter Völker kennen und sieht unzählige Dinge, von welchen man hier zu Lande kaum einmal hat reden hören." Teil 1 2.3.4.1.1 Christian Gottlob Züge Der 1746 als Sohn eines Zeugmachers in Gera geborene Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge gelangte 1764 auf seiner Wanderschaft nach Lübeck. Hier schloss er sich einem Zug von Auswanderern an. In seinem 1802 erschienenen Buch "Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge´s Leben in Russland. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen, vornehmlich in den asiatischen Provinzen" gibt er nicht nur eine wenig schmeichelhafte Charakteristik der nach Russland auswandernden Menschen, sondern er beschreibt auch seine Eindrücke von der Reise in die Siedlungsgebiete und von den Schwierigkeiten nach der Ankunft. Nach der Ankunft im Siedlungsgebiet zog er bald nach Saratow, wo er zunächst in einer Manufaktur arbeitete. Danach war er Mitglied einer Schauspielertruppe. Nachdem ihm mit Hilfe eines falschen Passes die Flucht aus Russland gelungen war, kehrte er 1774 in seine Geburtsstadt zurück. Teil 1 2.3.4.2 Werber Da mit der Veröffentlichung des Manifestes vom 22. Juli .1763 in Zeitungen und auf Flugblättern die ländliche Bevölkerung nur in unzureichendem Maße erreicht werden konnte, war der Einsatz von Werbern notwendig. Dabei handelte es sich um Agenten, die neben den "Kronkommissaren" (Beamte im Dienst der russischen Regierung) auftraten. Sie organisierten als Privatunternehmer die Werbung der Kolonisten und deren Abreise nach Russland. Einer der bekanntesten Werber war der Baron Ferdinand de Canneau de Beauregard. In dieser Funktion tritt er auch in den so genannten Heymannschen Dokumenten auf. Außer einer Prämie von fünf bis zehn Rubeln für jede geworbene Familie erhielten die Werber für 100 Familien drei Parzellen in den Ansiedlungsgebieten. Als finanzielle Starthilfe kam ein zinsloser Zehnjahreskredit in Höhe von 4.000 Rubeln dazu. Die Werber erhielten zudem das Recht, mit den Auswanderern Sonderrechte und -leistungen zu vereinbaren. Welche Sonderrechte und leistungen dem Werber dabei eingeräumt wurden, zeigt der Entwurf eines derartigen Ansiedlungsvertrages. Darin wurde dem Werber das Vorkaufsrecht auf alle Produkte eingeräumt, die der Siedler verkaufen wollte. Gleichzeitig konnte er aber den Preis nicht frei aushandeln. Dieser durfte nur so hoch sein, wie er allgemein von Dritten verlangt wurde. Der Siedler verpflichtete sich auch zur Zahlung des Zehnten, also des zehnten Teils von allen Getreideprodukten und dem Geflügel an den Leiter der Kolonie - den ehemaligen Werber. 1764 unterstanden 63 der insgesamt 104 Dörfer auf beiden Seiten der Wolga ehemaligen Werbern, die jetzt als Direktoren fungierten. Gegen deren Ansprüche wehrten sich die Kolonisten. Den Werbern wurde für jede von ihnen gewonnene Familie eine Prämie gezahlt. Auch hier ist Christian Gottlieb Züge ein gutes Beispiel. Als Handwerksgeselle dürfte er kaum die notwendige Qualifikation besessen haben, um sich in Russland als Bauernkolonist eine neue Lebensgrundlage aufzubauen. Diese Qualifikation wie auch den Willen, sich eine neue und bessere Lebensgrundlage aufzubauen, spricht Züge seinen Reisegefährten in seiner Charakterisierung ab, wobei andere ihm darin folgten (vgl. Ankunft im Siedlungsgebiet). Er war kein Einzelfall, wie die Ergebnisse einer 1769 von Katharina II. verfügten Inspektion der Wolgakolonien zeigten. Damals wurde festgestellt, dass rund 9 Prozent aller Kolonistenfamilien nicht für die Landwirtschaft geeignet waren. Von den 6.433 dort lebenden Familien waren es 579. Bei einer zweiten Inspektion 1774 stieg dieser Anteil sogar auf 10 Prozent. Dieser Zustand war aber nicht allein den Werbern anzulasten, sondern auch der russischen Regierung. Sie lies sich offenbar von dem Gedanken leiten, allein eine hinreichende Zahl von Menschen würde die Kolonisation erfolgreich gestalten. Teil 1 2.3.4.2.1 Baron Ferdinand de Canneau de Beauregard Der in den Quellen sowohl als Schweizer wie auch als Brabanter bezeichnete Ferdinand de Canneau de Beauregard war der wohl bedeutendste Werber im Dienst der russischen Regierung. Er hatte mit ihr einen Vertrag abgeschlossen, in dem er sich zur Anwerbung von 4.000 Kolonisten verpflichtete. Für ihren Transport nach Hamburg und Lübeck wurde ihm ein Darlehen von 15.000 Rubeln eingeräumt. Als weitere Gegenleistung wurden ihm drei Prozent des Siedlungsgebietes für einen eigenen Wirtschaftsbetrieb in Aussicht gestellt. Außerdem sollte er für die Ansiedlung von je 100 Kolonistenfamilien ein zinsloses Darlehen von 350 Rubeln erhalten. In den Verträgen mit Siedlern sicherte sich Canneau de Bauregard die Zahlung des Zehnten und ein Vorkaufsrecht für landwirtschaftliche Produkte (vgl. Vertragsformular für Kolonisten). Ihm gelang es jedoch nur, etwa 2.000 Kolonisten zu gewinnen. In der Folge kam es zu Unstimmigkeiten zwischen ihm und der russischen Regierung. Katharina II. lehnte eine weitere Zusammenarbeit mit den Worten ab "... mit selben nichts weiters will verhandeln". Der Name des Werbers kehrt in den Bezeichnungen für zwei auf der Wiesenseite der Wolga gelegene Kolonien (Kaneau und Beauregard) wieder. Auch seine Familienmitglieder fanden Eingang in die Geschichte der Wolgakolonien. Die Kolonien in der Nähe von Katharinenstadt Ernestinenfeld und Philippsfeld erinnern an seine Tochter und seinem Sohn. Das nördliche Susannental wurde nach seiner Frau benannt (vgl. Liste der Wolga-Kolonien).. Teil 1 2.3.4.2.2 Direktoren Den in Süddeutschland tätigen privaten Werbern wurde – wie bereits erwähnt – das Recht zugestanden, mit den geworbenen Kolonisten Sonderbedingungen auszuhandeln. In den Kolonien beanspruchten die ehemaligen Werber und nunmerigen Direktoren nochmehr. Sie versuchten zum Teil auch die Polizeigewalt und die Rechtsprechung unter ihre Kontrolle zu bringen. Um sich von den Ansprüchen der Direktoren auf den Zehnten auf Getreideernte und Geflügel zu befreien, traten Siedler mit der Bitte an die Tutelkanzlei heran, ihre Kolonien in Kronkolonien umzuwandeln, denn die unter der Herrschaft der Krone lebenden Kolonisten waren abgabenfrei. Der Vorsteher Ludwig aus der Kolonie Kamenny Owrag ersuchte 1768 untertänigst "uns von der Direction zu befreyen und als Crons-Colonisten allergnädigst aufund anzunehmen". In seinem Schreiben hatte der Vorsteher auch darauf aufmerksam gemacht, dass von den versprochenen Geistlichen, Schullehrern, Doktoren und Hebammen noch nichts zu sehen sei. Die Direktoren wurden Anfang der 70er Jahren des 18. Jahrhunderts abgelöst. Der Forschungsreisende Simon Pallas konnte bereits 1773 feststellen, dass von 1.000 Familien rund 900 der Krone unterstanden. Es dauerte aber noch einige Jahre, bis die ehemaligen Werber durch die Tutelkanzlei entschädigt und alle Kolonisten gleichgestellt werden konnten.- Teil 1 2.5 Auswanderungsverbote Es lag in der Regel nicht im Interesse der herrschenden Gesellschaftsklasse, wenn sich im 18. Jahrhundert in den verschiedenen deutschen Fürstentümern eine größere Anzahl von Landeskindern zur Auswanderung in ein anderes Staatsgebiet außerhalb des Reiches entschloss. Daher wurden von vielen Landesherren Auswanderungsverbote verfügt, die in entsprechenden Erlassen an die Beamten des jeweiligen Fürstentums ihren Niederschlag fanden. Zwei Grundgedanken durchziehen solche Erlasse: es wird der Verlust der Arbeitskraft für den Staat beklagt, es wird immer wieder auf die "Sorge" der Landesherren über die vermeintlich unsichere Zukunft der Auswanderer verwiesen. Tatsächlich dürfte der Verlust an Steuereinnahmen das wahre Motiv für die Landesherren gewesen sein, denn in einem solchen Erlass wurde ein Vermögen von über 100 Gulden als ein Auswanderungshindernis angeführt. Beispiele: Auswanderungsverbot des Erzbischofs von Trier vom 28. April 1763, das kaiserliche Auswanderungsverbot von 1768 und weitere Auswanderungsverbote... Teil 1 2.5.1 Auswanderungsverbot des Bischofs von Trier vom 28. April 1763 Als Grund für dieses Verbot - erste derartige Verfügungen gab es bereits 1724 und 1726 - wurde der Wegzug mehrerer Familien "auf Anstiften und Verführung boshaftiger Leute ... in die so genannte(n) neue(n) Länder, oder sonst andere Herrschaft Bottmäßigkeit" angeführt. Die Wegziehenden hätten aus "einbilischer Hoffnung zu finden mehreren Glücks" gehandelt, was als Verletzung ihrer Untertanenpflichten betrachtet wurde. Um in Zukunft diesem für das Land "schädliche Unweesen mit Nachdruck" zu begegnen, wurde verfügt: Untertanen, die versuchen auszuwandern, wird nicht nur die Beschlagnahme (Confiscation) ihres gesamten Besitzes angedroht. Sie haben auch mit einer Körperstrafe (Leibs-Strafe) zu rechnen. Von allen, die von ausreisewilligen Untertanen deren Hab und Gut kaufen, wird dieses entschädigungslos zu Gunsten der erzbischöflichen "HofRent-Kammer" eingezogen. Mit einem Wegzug verlieren alle Personen das Recht, später wieder auf ihren alten Hof zurückzukehren. Sie und ihre Nachkommen verlieren damit auch alle erbrechtlichen Ansprüche im gesamten Erzbistum, egal woraus sich diese ergaben. Sie fallen an die "Rent-Kammer". Allen Personen, die erzbischöfliche Untertanen für eine Auswanderung werben, droht der Verlust ihres gesamten Besitzes und die lebenslängliche Ausweisung aus dem Erzbistum. Vor der Ausweisung müssen sie mehrere Stunden öffentlich am Pranger stehen. Dabei ist ihnen ein Schild mit der Aufschrift "Verführer der Unterthanen" um den Hals zu hängen. In besonders schweren Fällen kann auch die Todesstrafe verhängt und vollstreckt werden. Teil 1 2.5.2 Weitere Auswanderungsverbote Als Ergänzung zum Auswanderungsverbot des Erzbischofs von Trier soll hier nur noch kurz auf weitere Verbote dieser Art eingegangen werden: I. Das Auswanderungsverbot der pfälzischen Regierung vom 29. April.1766. II. Es unterscheidet sich von anderen Auswanderungsverboten durch die "Warnung" vor den Gefahren, die Auswanderer in der Fremde erwarten würden. Die Pfalz hatte bereits seit 1709 einen erheblichen Bevölkerungsverlust durch Auswanderungen zu verkraften. Seither verließen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen 12.000 und 15.000 Menschen das Land in Richtung Nordamerika. Angesichts dieses Aderlasses hatte die pfälzische Regierung bereits am 27. Februar 1764 ein erstes Auswanderungsverbot erlassen, dass sich namentlich gegen russische Werber richtete. Es wurde befohlen: Alle Werber, die das pfälzische Herrschaftsgebiet betreten, "gefänglich einzuziehen" und zu verhören. Die Untertanen zu ermahnen, dieser "Gattung Leuten, die wegen der ihnen zugesagten Belohnung, sie gleichsam nur zu erkaufen suchten, keinen Glauben bei(zu)messen, wohl aber die sich zuziehenden Leibes- und Lebensgefahr und sonstige Unbequemlichkeiten (zu) betrachten". Zugleich wurden die Untertanen gewarnt, "das ihnen großen Teils angeborene, von Gott und Natur hinreichend gesegnete Land" nicht gegen ein solches einzutauschen, "welches wegen der beschwerlichen Überfahrt der See, wenig zu erreichen Hoffnung hätten, und worinnen sie der fremde Himmelsstrich vielen Krankheiten aussetze, dessen Sprache und Lebensart sie unkundig, dazu auch nicht wissen könnten, welche Lage ihnen zuteil würde, werden, und ob, statt einer vorgeblich guten, nicht in einer sumpfigen, öden und unfruchtbaren, auch unsicheren Gegend ihren Wohnsitz aufschlagen mögten ..." Die örtlichen Vertreter der Obrigkeit (Ortsvorstände) wurden angewiesen, auf die "verdächtigen unvermöglichen Untertanen gut Acht zu haben, und durch dann und wann nächtlicher Teil in dem Ort herumschickende Wachen solches Vorhaben zu behindern trachten ..." Die abziehenden Untertanen waren zu verfolgen, einzuholen und "arrestierlich hin(zu)setzen", zu verhören und nach Maßgabe der Vorgesetzten zu bestrafen. Denjenigen, die trotz des Verbotes abzuziehen versuchten, drohte eine "Belegung mit der Zuchthaus oder sonstigen Straf". Den Ortsvorständen, die eine Abwanderung nicht verhindert hatten, drohte ebenfalls eine Strafe. II. Der Fürstabt von Fulda - aus dessen Herrschaftsgebiet und dem der angrenzenden Ritterschaft insgesamt 300 Familien abgezogen waren warnte ähnlich wie die pfälzische Regierung die Zurückgebliebenen vor den Versprechungen der Werber: "Über Regensburg haben wir erfahren, daß den Emigranten an der Grenze das vorgestreckte Geld wieder abgenomen, sie auf der Stirn gebrandmarkt werden, damit sie, falls sie flüchtig werden, bald erkannt, und daß die ödesten Strecken als Sklaven zugewiesen werden." Teil 1 3 Bedingungen für die Einwanderung Eine Karte zeigt die Zielgebiete der Kolonisten. In Ergänzung zum Manifest wurde am 19. März 1764 ein Kolonistengesetz erlassen, in dem die Zahl der zu gründenden Kolonien und die Größe der einzelnen Grundstücke festgelegt wurden. Auch die Verfügungsgewalt über den Boden wurde reglementiert. Die Siedler erhielten das Land nicht wie versprochen zu freiem Eigentum, sondern nur zur Erbleihe. Neben den durch die russische Regierung vorgegebenen Bedingungen für die Kolonisten wurden zwischen Werbern und Ausreisewilligen noch darüber hinausgehende Abmachungen getroffen. Der Enkel Katharinas II., Zar Alexander I., setzte mit seinem Manifest vom 20. Februar 1804 die Kolonisationspolitik seiner Großmutter fort. Er legte aber größeres Gewicht auf qualitative Faktoren. Bereits bei der Werbung von Kolonisten sollte darauf geachtet werden, dass es sich hierbei um erfahrene Landwirte handelte. Neben der persönlichen Freiheit wurde den Kolonisten auch weitgehende Freizügigkeit versprochen. Diese Zusage zerschlug sich allerdings bereits bei der Ankunft in Russland. Den meisten Kolonisten scheint die im Manifest enthaltene Bestimmung nicht aufgefallen zu sein, dass jeder Ausländer, der sich als Kolonist bei einer der Grenzstädte oder bei der Tutelkanzlei meldet, einen Treueid zu leisten hatte.Teil 1 3.1 Zielgebiete der Kolonisten Teil 1 3.2 Kolonistengesetz In Vorbereitung auf den sich abzeichnenden Zustrom ausländischer Siedler erließ Katharina II. am 19. März 1764 ein weiteres Gesetz, das Kolonistengesetz. Im Vertragsformular des Kolonistengesetzes finden sich speziellen Verpflichtungen, gegen die sich die Kolonisten nach ihrer Ansiedlung wehrten. Das Gesetz regelte: Die Einteilung des Siedlungsgebietes an der Wolga in kreisförmige Bezirke (volost) mit einem Durchmesser von 60 bis 70 Werst (1 Werst = 1,067 km), in denen jeweils 100 Familien angesiedelt werden sollten. Die Zahl der zu gründenden Kolonien - 52 auf der Bergseite und 52 auf der Wiesenseite. Die Einteilung der Kolonien nach Konfessionen. Die Ausstattung jeder Familie mit 30 Desjatinen Land zur Erbleihe. Das Land durfte nicht geteilt, verkauft oder verpfändet werden. Es blieb Eigentum der Gemeinde. Die Nutzung des zugeteilten Landes: 15 Desjatinen als Ackerland, 5 als Weideland, 5 als Hof- und Gartenland. Hinzu kamen noch 5 Desjatinen Waldanteil je Familie. Die Erbfolge. Es galt das Anerbrecht. Im Wolgagebiet setzte sich das Minorat durch. Nur der jüngste Sohn sollte Alleinerbe sein. Im Schwarzmeergebiet dagegen traf dies auf den ältesten Sohn zu. War der Erbberechtigte unfähig, durfte der Vater einen anderen Sohn oder einen Verwandten zum Erbe bestimmen. Ziel dieser Regelung war, "daß jeder Vater, der dieses Gesetz kennt, sich zwangsläufig bemühen wird, seine Kinder vom jüngsten Alter an verschiedene Handarbeiten zu lehren." Die Selbstverwaltung der Gemeinden und Kreise. Jeder Kolonist hatte bei seiner Ansiedlung zu schwören, dass er die Regelungen der inneren Jurisdiktion, also die Gesetze der Selbstverwaltung, anerkennt und befolgen wird. Durch diesen Gesetzeskodex etablierten sich die Kolonisten als eigenständiger Stand mit beträchtlichen Privilegien und Freiheiten. Von der einheimischen Bevölkerung wurden die deutschen Kolonisten als "wolnyje ljudi" (freie Menschen) bezeichnet. Zusammen mit einer Reihe von Ergänzungen hatten diese Bestimmungen als Kolonialkodex über 100 Jahre Gültigkeit. Sie wurden 1871 Teil 1 3.2.1 Vertragsformular Der nachstehende Vertragsentwurf wurde von den angeworbenen Kolonisten durch ihre Unterschrift akzeptiert. In dem Vertrag wurden alle Leistungen von russischer Seite und die daraus resultierenden Rechte und Verpflichtungen des Kolonisten fixiert. Der Vertrag wurde formal zwischen dem Direktor (Directeur) Baron Caneau de Beauregard als dem Beauftragten Katharinas II. für die Besiedlung der Kolonie Cathrinen Lehn und dem Kolonisten abgeschlossen. Als Vertreter des Barons tritt der auch vom zweiten Direktor, Herr Otto Friedrich von Monjou, autorisierte Kommissar Johann Friedrich Wilhelm von Nolting zu Schloss Fauerbach, unweit Friedberg in der Wetterau, auf. I. Aus diesem Formular geht hervor, dass die Kolonisten bereits bei ihrer Ankunft in Russland gegenüber der russischen Regierung verschuldet waren. Diese Verschuldung wuchs durch die Gewährung eines Darlehens weiter an. Der Kolonist erhält für die Reise von ... bis nach Petersburg über Lübeck tgl. 15 Kreuzer, seine Frau 10, die mannbaren Kinder ebenfalls 10 und die unmündigen Kinder 6 Kreuzer tgl. Dieses Geld ist ebenso wie die Zahlungen, die der Kolonist, seine Erben oder Nachkommen nach seiner Ankunft erhält ("Vorschuß" in Geldern oder Sachen), nach Ablauf von zehn "Wohnungs-Jahren in Catharinen-Lehn" in den darauffolgenden drei Jahren zu je einem Drittel zurückzuzahlen. Zinsen werden nicht berechnet. Die Transportkosten von Petersburg bis zum Wohnort übernimmt die Krone. Für den Fall einer Ausreise aus Russland innerhalb der nächsten zehn Jahre sind nur die Transportkosten und der Reisezuschuss bis nach Petersburg zurückzuzahlen. Außerdem hat der Kolonist auf alle Güter, die er in den ersten fünf Jahren erworben hat, den fünften Pfennig abzugeben. Zieht er erst zwischen dem 6. und 10. Jahr ab, so ist der zehnte Pfennig fällig. Jeder Kolonist erhält bei Ankunft Geld für Anschaffungen (Vieh, Gerätschaften, Haus, Stall, Saatgut). Auch hier war er zur Zurückzahlung verpflichtet. Befreiung von allen Geldabgaben und Frondiensten gegenüber dem Russischen Reich für die nächsten 30 Jahre. Der Termin, an dem die Rückzahlung der Schulden beginnen sollte, wird festgelegt. Das Erbrecht wird genau definiert. Die Zollfreie Einfuhr von Waren bis zu einem Wert von 300 Rubeln war bei der Einreise gestattet II. Die Verpflichtungen des russischen Staates gegenüber den Kolonisten werden ebenfalls angeführt. Religionsfreiheit. Bau von wohlbestellten öffentlichen Schulen für jede Religion. Medizinische Versorgung wird sichergestellt. Freijahre werden bestätigt. Die Möglichkeit zur Ausreise wird eingeräumt, wenn eine Reihe von Vorbedingungen erfüllt wurden. III. Der Kolonist erhält Land ("Äcker, Wiesen, Holzungen und dergleichen von der besten und fruchtbarsten Art, als zu der ganzen Familie Unterhalt und Gebrauch immer vonnöthen") zum erblichen Eigentum. Kommen bereits erwachsene Kinder mit, die eine eigene Familie gründen, so erhalten diese Land zu den gleichen Bedingungen. IV. Der Kolonist verpflichtet sich im Gegenzug, sich während seines Aufenthaltes in Russland als treuer Untertan der Zarin zu benehmen, also sich deren "Landes-Gesetzen und Ordnungen auch denen in der Colonie errichteten Policey-Verfügungen ... behörig (zu) untergeben". Jährlich den Zehnten an den Leiter der Kolonie abzuführen, diesem alle landwirtschaftlichen Produkte, die er zu verkaufen gedenkt, zum Vorkauf anzubieten und den Preis dabei nicht höher zu veranschlagen als dies bei einem Dritten der Fall wäre. Teil 1 3.3 Manifest vom 20. Februar 1804 In ihrem Manifest vom 20. Februar 1804 warb die russische Regierung vor allem um "Einwanderer, welche in ländlichen Beschäftigunge n und Handwerken als Beispiel dienen können ... gute Landwirte, Leute, die im Weinbau, in der Anpflanzung von Maulbeerbäumen und anderen nützlichen Gewächsen hinreichend geübt oder in der Viehzucht, besonders aber in der Behandlung und Zucht der besten Sch afrassen erfahren sind, die überhaupt alle notwendigen Kenntnisse zu einer rationellen Landwirtschaft haben ...". Die wesentlichsten Bestimmungen des Manifestes neben diesen qualitativen Anforderungen waren: Den Kolonisten wurde eine zehnjährige Steuer-, Abgaben- und Dienstfreiheit zugestanden. Nach Ablauf dieser Zeit sollten sie in den folgenden zehn Jahren 15 - 20 Kopeken Grundsteuer pro Desjatine entrichten. Gleichzeitig waren innerhalb dieser Zeitspanne auch die Schulden beim Staat zu tilgen, die bei der Ansiedlung durch finanzielle und materielle Unterstützungen entstanden waren. Nach Ablauf dieser zweiten Dekade sollten die von den Kolonisten zu entrichtenden Steuern und Landesdienste denen der Staatsbauern angeglichen werden. Die Einreisewilligen mussten ein Barvermögen in Höhe von 400 Rubeln bzw. 300 Gulden nachweisen. Die Kolonisten sollten verheiratet sein und Kinder haben. Alleinstehende hatten die Bereitschaft zur Gründung einer Familie nachzuweisen. Für die Reise von der russischen Grenze bis zum Ort der Ansiedlung erhielt jeder erwachsene Kolonist täglich 10 Kopeken, Minderjährige bekamen 6 Kopeken. Dieses Geld brauchte nicht zurückgezahlt zu werden. Für den Hausbau, die Anschaffung von landwirtschaftlichen Geräten und Vieh wurde den Kolonisten ein Kredit in Höhe von 500 Rubeln gewährt. Neben ihrem Vermögen durfte jede Familie auch zum Verkauf bestimmte Waren im Wert von 300 Rubeln mitbringen. Der Aufbau von Fabriken und Handwerksbetrieben war erlaubt. Ebenso der Handel mit Waren im gesamten Reich. Wer seine Schulden und die Steuern für drei Jahre im Voraus bezahlte, durfte auch wieder auswandern. Wer den Anweisungen der Behörden nicht Folge leistete oder sich "Ausschweifungen hingebe", dem drohte nach Rückzahlung seiner Schulden die Ausweisung. Die Kolonisten im Schwarzmeergebiet erhielten 60 Desjatinen Land, denen auf der Krim wurden nur 20 Desjatinen zugestanden. Den Kolonisten wurde aber bereits am 18. April 1804 das Recht eingeräumt, Land zu kaufen. Die russischen Vertreter im Ausland wurden aufgefordert, sich eine Bestätigung der Heimatgemeinde vorlegen zu lassen, durch die nachgewiesen wurde, dass die Ausreisewilligen alle Verpflichtungen gegenüber ihrem Landesherren erfüllt hatten. Diese Forderung konnte in der Praxis aber kaum verwirklicht werden. Zur Begründung verwies man darauf, dass viele Ausreisewillige die Reisevorbereitungen nur heimlich treffen könnten. Bei der Abfassung des Manifestes wandte die russische Regierung preußische Kriterien für die Ansiedlung von Kolonisten an. Teil 1 3.3.1 Preußische Kriterien Der russische Gesandte in Stuttgart, Jakowlew, berichtete im August 1803 seiner Regierung über die Erfahrungen, die Preußen in den letzten Jahren mit Einwanderern aus Süddeutschland gemacht habe. Unter ihnen befänden sich "oft schlechte Wirte und liederliche Leute". Dem preußischen König ginge es aber "nicht um viele, sondern um gute Ansiedler". Um sicherzustellen, dass die Ansiedler diesen Kriterien entsprachen, habe man in Preußen eine Kommission eingesetzt, die eine Reihe von Richtlinien festlegte, nach denen die Werbung von Ansiedlern zu erfolgen hatte: Es sollten nur die angenommen werden, die alle Abgaben und Leistungen gegenüber ihrer Landesherrschaft erfüllt hatten. Bei der Werbung von Kolonisten sollten keine "falschen Vorspiegelungen und Verheißungen" gemacht werden. Nur die Vorteile, die bei einer Ansiedlung wirklich zu erwarten seien, dürften genannt werden. Den Einwanderern sollten preußische Pässe ausgestellt werden, in denen auch Reiseroute und Zielort verzeichnet sein sollten. Die vorherige Begutachtung des Siedlungsgebietes durch eine Delegation war erlaubt. Alle Kolonisten hatten ein noch festzulegendes Barvermögen nachzuweisen, von dem die eine Hälfte bei Reiseantritt vorhanden sein musste, die zweite Hälfte war innerhalb der nächsten zwei bis vier Jahre vorzulegen. Freie Religionsausübung (lutherisch, reformiert, katholisch) wurde ebenso zugesagt wie der Schulunterricht in diesen Glaubensrichtungen. Im letzten Punkt wurde jedem Kolonisten, "der fleißig und arbeitsam, insbesondere des Kern-, Obst- und Gartenbaues kundig ist" versprochen, dass "er ein gutes Auskommen finden und ein wohlhabender Mann werden könne." Begründet wurde dieses Versprechen mit der Tatsache, dass diese Fertigkeiten in der Koloniegegend noch weitgehend unbekannt seien. Siehe auch: EinwanderungszahlenTeil 1 3.3.1.1 Einwanderungszahlen Die Zahl der Auswanderungswilligen war nicht wie vorgesehen zu kontrollieren. Bereits im Januar 1804 hatten sich etwa 1.500 Familien aus Süddeutschland als Kolonisten einschreiben lassen und viele vermögende Familien hatten ihr Interesse bekundet. Aus Litauen meldete der dortige Militärgouverneur im März 1804, dass rund 2.000 Sachsen - Weber, Porzellanmacher, Bergleute und "Fabricanten aller Art" - auf ihre Einreise warteten. Reisepass Insgesamt kamen 1804 allein 5.329 Personen aus dem Rheinland sowie aus Westund Süddeutschland nach Russland. Um eine weitere weitgehend unkontrollierte Einwanderung nach Russland zu verhindern, wurden die russischen Gesandten in Regensburg und München angewiesen, in Zukunft nur noch je 100 Familien als Kolonisten anzunehmen. Außerdem sollten in ausländischen Zeitungen Erklärungen veröffentlicht werden, in denen ausdrücklich darauf verwiesen werden sollte, dass niemand einwandern dürfe, der die im Manifest vom 20. Februar 1804 enthaltenen Bestimmungen nicht erfülle und keinen Pass der zuständigen russischen Gesandtschaft besitze. Angesichts des wachsenden Interesses zahlreicher Menschen vor allem in Westdeutschland an einer Auswanderung nach Russland - Ursache waren die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in ihrer Heimat - hob die russische Regierung die von ihr 1804 eingeführte zahlenmäßige Beschränkung vier Jahre später wieder auf, bot sich ihr doch die Gelegenheit "ordentliche Leute" anwerben zu können. Die Zahl der Siedler stieg.. Teil 1 3.4 Treueid Bei seiner Ankunft in Russland musste jeder Kolonist, wie im Manifest von 1763 gefordert, einen Treueid auf die russische Krone ablegen. Der entsprechende Paragraph 5 hatte folgenden Wortlaut: "Gleich bei der Ankunft eines jeden Aus länders in Unser Reich, der sich häußlich niederzulassen gedenket und zu solchem Ende in der für die Ausländer errichteten Tutel-Cantzelley, oder aber in anderen Grentz-Städten Unseres Reichs meldet, hat ein solcher, wie oben im Paragraph 4 vorgeschrieben steht, vor allen Dingen seinen eigentlichen Entschluß zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions -Ritu den Eid der Unterthänigkeit und Treue zu leisten." Die über die Ostsee einreisenden Kolonisten leisteten den Eid entsprechend ihrer Religionszugehörigkeit in Oranienbaum. In der dortigen Schlosskirche versammelten sie sich zur Eidesleistung. Der Text des Treuegelöbnisses, der vom dortigen Pastor Johann Christian König vorgesprochen wurde, musste von allen Anwesenden wiederholt werden. Durch diesen Eid, der Voraussetzung für die Einwanderung war, verpflichteten sich die Ankömmlinge zur russischen Untertanenschaft. Spätestens jetzt wurde wohl allen klar, dass sie von nun an Untertanen der Zarin geworden waren und eine Rückkehr nicht ohne weiteres möglich sein dürfte. Um aber vor dem eigenen Gewissen nicht eidbrüchig zu werden, wenn man doch wieder in die alte Heimat zurückkehren wollte, bewegte so mancher, wie Christian Gottlob Züge beobachtete, "nur die Lippen, ohne etwas zu sagen". Teil 1 4 Ankunft im Siedlungsgebiet Die eigene hoffnungslose wirtschaftliche Situation vor Augen, trafen die im Manifest vom 22. Juli 1763 enthaltenen Zusagen und die Beschreibungen der Werber über das gute Klima, die Fruchtbarkeit des Bodens und den Fischreichtum der Gewässer auf offene Ohren. Fisch, Geflügel, Gemüse und andere Lebensmittel sollten in den Siedlungsgebieten "fast umsonst zu bekommen" sein. Im Vergleich zur Not in der Heimat dürften dies paradiesische Zustände gewesen sein, die den Menschen in Aussicht gestellt wurden, die sich als Kolonisten meldeten. Insgesamt zogen bis 1774 rund 30.000 Siedler nach Russland. Jedoch zahlreiche Menschen überlebten die Strapazen auf den Reisewegen nach Russland nicht. Viele starben vor Hunger oder wurden von Epidemien dahingerafft. Andere zogen es vor zu fliehen, weil sie den Mut vor der ungewissen Zukunft verloren hatten. So zogen bis 1774 rund 26.500 Kolonisten von Petersburg aus nach Saratow. Aber nur etwa 23.000 kamen dort an. Bei der Ankunft in Russland geben erste Eindrücke wieder, dass etliche der im Manifest zugesagten Freiheiten den Kolonisten nicht zugestanden wurden, so dass sich angesichts der unwirtlichen Steppenlandschaft und des dort herrschenden Klimas zunächst Mut- und Hoffnungslosigkeit breit machten. Die Zusage, dass jeder Ausländer sich dort niederlassen dürfe "wo es sich ein jeder am nützlichsten selbst wählen wird", wurde ebenso wenig eingehalten wie das Versprechen, ein jeder dürfe sein erlerntes Gewerbe ausüben. Die Vorstellung, dass sie ihre handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnisse in Städten nutzen und weitergeben könnten, zerschlug sich sehr schnell. Die Kolonisten sahen sich dem Zwang ausgesetzt, sich im Wolgagebiet anzusiedeln und dort eine landwirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, auch wenn viele von ihnen darin keine oder nur geringe Erfahrungen besaßen. Ihre berufsspezifischen Kenntnisse und Erfahrungen blieben ungenutzt. Aber auch die Freiheit, das Russische Reich wieder verlassen zu können, wurde erheblich eingeschränkt. Im Manifest aus dem Jahr 1763 wurde zwar jedem Ausländer, der sich in Russland niedergelassen und sich mit dem Treueid der "Botmäßigkeit" der Krone unterworfen hatte, das Recht eingeräumt, das Land auch wieder verlassen zu können. Voraussetzung dafür war aber, dass abhängig von der Aufenthaltsdauer vorher ein bestimmter Prozentsatz vom erworbenen Vermögen abzuführen war. Wollte jemand innerhalb der ersten fünf Jahre das Reich wieder verlassen, so mussten zwanzig Prozent des "wohlerworbenen Vermögens" an die Krone abgeführt werden. Hatte man aber erst nach diesem Zeitabschnitt diese Absicht, so wurden nur noch 10 Prozent gefordert. Außerdem musste vorher natürlich auch das Geld zurückgezahlt werden, das den Kolonisten in Form von Tagegeldern und als Starthilfe zum Erwerb von landwirtschaftlichen Geräten, Zugvieh und Saatgut zur Verfügung gestellt wurde. Finanzielle Verpflichtungen und der Treueid machten eine legale Ausreise nahezu unmöglich. Es blieb nur die Flucht. Von Christian Gottlob Züge wissen wir, dass ihm dieses Unterfangen auf abenteuerlichen Wegen gelang und er in seine Heimatstadt zurückkehren konnte. Von anderen erfolglosen Versuchen wissen wir aber auch. So wurde eine Gruppe von Kolonisten, die versuchte, über Saratow in die Heimat zurückzukehren, von Kosaken in ihre Siedlungen zurückgetrieben. Andere wiederum wurden von Tataren überfallen und getötet. Die Charakterisierung der Kolonisten fiel sehr differenziert aus. Übersicht über Siedlungsgebiete. Teil 1 4.1 Reisewege nach Russland Auf der Karte werden die wichtigsten Reiserouten gezeigt, die deutsche Kolonisten in den verschiedenen Ansiedlungswellen bis etwa 1830 benutzten. Die zwischen 1763 und 1768 einwandernden deutschen Siedler kamen vorrangig aus dem hessischen Raum. Ihre Reise führte sie über die Ostsee von Lübeck nach Oranienbaum bei St. Petersburg. Weiter ging es von Oranienbaum an die Wolga in die dortigen neuen Siedlungsgebiete. Zwischen 1789 und 1804 zogen vor allem Mennoniten aus der Weichselniederung östlich Danzig in das damalige Neurussland (Südrussland). Sie wurden beiderseits des Dnjeprs im Umkreis von Jekaterinoslaw (jetzt Dnjepropetrowsk/Ukraine) angesiedelt. Von 1804 bis 1824 kamen weitere Auswanderer aus dem südwestdeutschen Raum (Elsass, Baden, Württemberg) über die Donau von Ulm nach Odessa, die zum größten Teil im Raum Cherson, nördlich des Asowschen Meeres und in Bessarabien angesiedelt wurden. Andere zogen in den Südkaukasus, südlich von Tiflis. Teil 1 4.1.1 Von Lübeck nach Oranienbaum Lübeck war für die meisten Kolonisten die letzte Reisestation auf deutschem Boden. Von hier aus organisierte der im Dienst der russischen Regierung stehende Kaufmann Christoph Heinrich Schmidt die Weiterfahrt über die Ostsee nach St Petersburg. Nach seinem Tod übernahm der Lübecker Jurist Gabriel Christian Lemke ab dem 30. Mai 1766 diese Aufgabe. Bereits im Januar 1764 empfahl das Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg den Seeweg als die geeignetste Reiseroute für den Transport von Kolonisten. Der Landweg hatte sich nicht nur als zu lang erwiesen, er war auch zu teuer. Die Vorstellung, die in Lübeck verfügbaren Schiffe würden für den Transport ausreichen, musste angesichts der Aussiedlerzahlen allerdings bald korrigiert werden. Es erwies sich als notwendig, auch Schiffe aus Kiel und Neustadt sowie sogar aus England unter Vertrag zu nehmen. Daneben kamen auch russische Schiffe zum Einsatz. Die so genannten Paketboote und Pinken, die eigentlich nicht für einen Personentransport konstruiert worden waren, brachten rund 3.100 Kolonisten nach Russland. Insgesamt traten über 22.000 Menschen von Lübeck aus ihre Reise nach Russland an. Die Aussiedlertrecks kamen entweder über Regensburg – Weimar – Lüneburg nach Lübeck oder sie fuhren zunächst von Worms den Rhein abwärts, um dann durch Westfalen und Hannover auf dem Landweg in die Hansestadt zu gelangen. In Lübeck angekommen, mussten sich die Kolonisten wegen des großen Andrangs auf eine längere Wartezeit einrichten. Den Vermögenderen unter ihnen wies der Kommissär Schmidt eine Unterkunft in einem der Bürgerhäuser zu. Die anderen wurden in Baracken in der Nähe des Hafens untergebracht. Diese Gebäude wurden streng bewacht, um Fluchtversuche zu unterbinden. Während der Wartezeit erhielten die Kolonisten ein Tagegeld, das nach Geschlecht und Alter differenziert war. Männer erhielten pro Tag 8, Frauen 5, Kinder 3 und Kleinkinder 1 Schilling. Das Geld und die Nahrungsmittel wurden von ausgewählten Männern ausgeteilt, denen Amtsbezeichnungen wie "Schulze", "Vogt" oder "Vorsteher" gegeben wurden. In Lübeck war das große Echo auf das Angebot der Zarin Katharina II. in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. Bereits 1765 warteten hier Tausende Menschen auf ihre Einschiffung. Die damals im Einsatz befindlichen Schiffe waren in der Lage, 280 Passagiere zu befördern. Endlich eingeschifft, stand diesen Menschen gewöhnlich eine Seereise von neun bis elf Tagen bevor. War das Wetter ungünstig (Flauten oder Stürme), so konnte die Schiffsreise aber auch sechs Wochen dauern, so dass Brot und Wasser knapp werden konnten. Es gab aber auch immer wieder Kapitäne, die die Reise künstlich in die Länge zogen, um so die Kolonisten zu zwingen, ihr gesamtes für zwei Wochen berechnetes Reisegeld für den Kauf von Proviant auszugeben. Bernhard Ludwig von Platen beschreibt in seinem 1766-67 entstandenen Poem "Reise-Beschreibungen der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen" diese Seereise. Nach einer zweiwöchigen Wartezeit in Lübeck wurde von Platen mit anderen Kolonisten eingeschifft: "Da ward ein jeder Mann/Mit Brofiant versehen/Und so nach Petersburg/Ins Schiff hinein zu gehen/Allein condrerer Wind/Macht uns die Reise schwer/Das Brofiant ging auf/Die Taschen wurden leer. Sechs Wochen mußten wir/Die Wasserfahrt ausstehen/Angst, Elend, Hungersnoth/Täglich vor Augen sehen/Also daß wir zuletzt/Salz Wasser, schimmlich Brod/Zur Lebens unterhalt /Er - hielten kaum zur Noth." Wäherend dieser Seereisen waren auch die ersten Toten zu beklagen. Der Bäckermeisters Johannes Hühn aus Gelnhausen gab 1766 zu Protokoll, dass er mit dem Ehepaar Dölck und dessen beiden Töchtern auf einem Seefahrzeug des Schiffers Jakob Bauer von Lübeck nach Russland transportiert worden sei. Am zweiten Tag der Überfahrt seien die Töchter, die er sehr gut gekannt habe, an einer auf dem Schiff ausgebrochenen verheerenden Krankheit gestorben. Die Toten wurden der Gewohnheit nach vor seinen Augen in das Meer gelassen. In Kronstadt, einer Festung vor St. Petersburg, angekommen, ging die Reise sofort nach Oranienbaum, dem heutigen Lomonossow, weiter. Dort konnten sich die Kolonisten gegen Vorlage einer vom Vorsteher ausgegebenen Bescheinigung eines Billets - mit neuer Kleidung ausstatten. Während ihres dortigen Aufenthaltes, dessen Dauer unbestimmt war, leisteten sie auch den Treueid auf die russische Krone. Die Reise in die neuen Siedlungsgebiete ging weiter von Oranienbaum an die Wolga. Teil 1 4.1.1.1 Bernhard Ludwig von Platen Der wahrscheinlich 1733 in Pommern geborene von Platen diente im Siebenjährigen Krieg als Offizier im Preußischen Heer. 1766 schied er aus dem Dienst aus und ließ sich in Lübeck für die Auswanderung anwerben. Auf der Überfahrt dichtete er 1766/67 das Poem "Reise-Beschreibung der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen", das in 67 Strophen seine Auswanderungserlebnisse beschreibt. Bei der Anwerbung hatte Platen unter Hinweis auf seinen Adelstitel den Wunsch geäußert, auch der Zarin als Offizier dienen zu können ("Sagt daß ich ein Offizier/Auch gut von Adel wär. Bat mir zu Gnaden aus/Der Kaiserin zu dienen."). Dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Auch er wurde zunächst in einem Dorf an der Wolga als Bauer angesiedelt. Die Enttäuschung darüber äußerte er in seiner Reisebeschreibung mit den Worten: "Kein Adel Charakter/Kein Amtrecht kein Offizier/Ihr müßt nun Bauern seyn/Da ist kein Rath dafür." Da Platen sich weigerte, als Bauer zu arbeiten, musste er seinen Lebensunterhalt als Dorflehrer (Proceptor) verdienen. 1774 starb Bernhard Ludwig von Platen in der Gemeinde Jost auf der Wiesenseite der Wolga. Mit seinem Leben als Kolonist, in dem er "viel Plag und Kummer leiden/Betrübniß viel Verdruß" erleiden musste, konnte er sich allem Anschein nach nicht anfreunden. Dies drückt sich in den Zeilen "Drum bin ich ärgerlich/In diesem neuen Stande" deutlich aus. Platen gilt als der erste wolgadeutsche Dichter. Teil 1 4.1.2 Von Oranienbaum an die Wolga In Begleitung einer Wachmannschaft unter Führung eines Offiziers wurde von Oranienbaum aus die Reise fortgesetzt. Die Weiterfahrt erfolgte auf zwei verschiedenen Reiserouten. Petersburg Ein Teil der Kolonisten zog auf dem Landweg weiter, während der andere Teil dies auf dem Wasserweg tat. Diese Route erwies sich vor allem für größere Gruppen mit mehreren Hundert Kolonisten als günstiger. Sie führte von Petersburg über die Newa, den Ladoga-Kanal und den Wolchow nach Nowgorod. Hier wurden die Kranken zurückgelassen, die sich während des Winters erholen konnten. Von Nowgorod aus ging es weiter über den Fluss Msta bis nach Wyschni Wolotschok. Auf dem Landweg zog man dann über Torshok, Twerza bis nach Twer, um von hier auf der Wolga an Jaroslawl, Kostroma und Nishni Nowgorod vorbei nach Saratow zu fahren. Die Kolonisten, die auf dem Wasserweg in das Wolgagebiet kamen, wurden auf dieser Reise mit der gleichen Taktik konfrontiert, die sie bereits auf der Schiffsreise von Lübeck nach Kronstadt erlebt hatten. Auch hier waren die Schiffsführer bestrebt, die Reise so lange wie möglich auszudehnen, um eine größere Menge Lebensmittel zu überhöhten Preisen an die Reisenden verkaufen zu können. Die Landroute dagegen führte über Peterhof, Nowgorod, Twer, Moskau, Rjasan und Pensa nach Pokrowsk an der Wolga, dem heutigen Engels, das Saratow gegenüberliegt. Saratow In Saratow angekommen, erhielten alle Kolonisten 150 Rubel ausgezahlt. Von diesem Geld sollten sie sich ein Haus kaufen bzw. den Hausbau finanzieren sowie Saatgut, Vieh und landwirtschaftliche Geräte anschaffen. Von Saratow aus reisten die Siedler dann in die für sie vorgesehenen Siedlungsgebiete. Sie waren am Ziel. Welche Gefühle und Eindrücke sie beim Anblick ihrer neuen Heimat bewegten, beschreibt Christian Gottlieb Züge. Teil 1 4.1.3 Von Ulm nach Odessa Zwischen 1804 und 1818 gelangten zahlreiche Siedler aus dem schwäbischen Raum auf der Donau von Ulm über Wien - Budapest und Belgrad bis zur ehemaligen türkischen Festung Ismail im Donaudelta. Von dort aus ging es weiter nach Odessa. Hier erfolgte die Zuweisung in die einzelnen Kolonien im Schwarzmeergebiet oder im Kaukasus. Über die Strapazen und Gefahren, denen die zukünftigen Kolonisten ausgesetzt waren, gibt es Reiseberichte, die als Beschreibungen oder als Briefe vorliegen. So beschrieb der aus Oetlingen stammende Johann Chr. Bidlingmaier die Fahrt auf der Ulmer Schachtel in einem Brief vom 18. Juli 1817 an die zurückgebliebenen Nachbarn und Verwandten. Wir erfahren von der großen Anteilnahme, die die Ausreisenden in Wien erfuhren. Dort verglich man die Reise etwas euphorisch mit dem Auszug der Kinder Israels ins Heilige Land. Die Reisebeschreibung vermittelt dem Leser nicht nur den Optimismus, mit dem die Menschen die Reise antraten, sondern auch die Hoffnung, nun den schlechten Verhältnissen in der Heimat entronnen zu sein. So schreibt er: "Überhaupt sind wir im Leiblichen recht wohl geraten, von Ulm aus bis jetzt, so dass wir öfters denken, wie mangelhaft es bei euch hergehen werde. Wenn wir euch nur mit Unterhalt auch dienen könnten, bei so wohlfeilen Preisen ... Alles ist hier wohl feiler ... Wenn wir euch nur mitteilen könnten in eurem Mangel." Der Optimismus gründete sich auf Eindrücke, die die augenscheinlich fruchtbaren Landschaften auf die Auswanderer machten: "Die Landteile durch die wir reisen, sind alle so ergiebig von Wien bis daher (Galatz), so daß wir uns verwundern mußten ... So ettliche Württemberger hätten sich so wohl zu nähren, und soviel haben nicht einen Schuh breit bei uns!" Warum sollte es in der neuen Heimat anders sein? Die Reisebeschreibung des 1817 aus Rosenfeld ausgewanderten Johann Georg Höhn enthält zudem zahlreiche Passagen über Krankheiten ("Nerven- und andere Fieber, gelbe und rothe Ruhr, große Geschwüre an Kopf und Hals wüteten heftig"), die sich unter den Reisenden ausbreiteten und denen ein Teil von ihnen zum Opfer fiel. Mitunter waren über 400 Menschen auf einem Schiff zusammengedrängt, was solche Vorgänge ganz sicher begünstigte. Auch Friedrich Schwarz, der mit seiner Frau und neun Kindern unter "allerbitterste(m) Trennungsschmerz" am 26. Juni 1817 die Reise nach Russland antrat, berichtete von Opfern unter den Mitreisenden. Für den 29. August 1817 notierte er: "Von allen 5 Schiffen starben in diesen Tagen, die wir in Galatz zubringen mußten (Ankunft war am 19.8.), 42 Menschen." Fast die Hälfte aller Aussiedler war erkrankt. Weitere Todesopfer waren dann während der mehrwöchigen Quarantäne vor Ismail zu beklagen. Für die kranken Familienmitglieder hatte Friedrich Schwarz "gar nichts zur Labung als Donauwasser ..." Wie viele der von Ulm nach Odessa aufgebrochenen Kolonisten letztendlich ihr Ziel erreichten und wie viele von ihnen durch Unfälle oder Krankheiten umkamen, ist nicht mit Gewissheit zu sagen. Man schätzt, dass von den rund 9.000 Auswanderern, die 1816/17 Württemberg verließen, etwa 3.000 in Ismail verstarben. Johann Georg Höhn erwähnte in seinem Bericht, dass dort "1.328 Emigranten ... begraben liegen. " Teil 1 4.1.3.1 Die Ulmer Schachtel Mit der "Ulmer Schachtel" gelangten zwischen 1804 und 1818 viele schwäbische Kolonisten auf dem Wasserweg nach Russland. Von Ulm aus fuhren sie mit diesen Booten die Donau abwärts bis Ismail (Stadt an der Mündung der Donau ins Schwarze Meer) und dann an der Küste entlang bis nach Ovidiopol bei Odessa. Bei der "Ulmer Schachtel" handelte es sich um einen langen Lastkahn mit einem hausartigen Aufbau. Die Länge betrug insgesamt 30 m, die Höhe der Bordwand, gemessen in der Mitte des Lastkahns, 150 bis 160 Zentimeter, die größte Breite 7,5 m, die Länge des hausartigen Aufbaus 5 bis 6 m. Die Höhe des Kahns betrug insgesamt etwa 4 m. Das Fahrzeug verfügte am Bug und in der Mitte des Schiffes über 2 Ruderblätter, am Heck über 2 bis 4. Mit diesen Ruderblättern wurde auch gesteuert. Mangelhafte Organisation und fehlende Erfahrungen hatten zur Folge, dass die Menschen unvorbereitet harten Bedingungen ausgesetzt waren. Teil 1 4.2 Erste Eindrücke Der Geraer Zeugmachergeselle Christian Gottlob Züge vermittelt uns auch heute noch einen lebendigen Eindruck über die Enttäuschung, die sich unter den Kolonisten bei der Ankunft in den Siedlungsgebieten breit machte. Erste Eindrucke In seinem Buch "Der russische Colonist" lesen wir: "Unser Führer rief halt! Worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war; unsere Verwunderung gieng aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, daß wir hier am Ziel unserer Reise wären. Erschrocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildniß zu sehen, welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde, nichts als fast drei Schuh [entspricht etw a einem Meter] hohes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Roße oder Wagen herabzusteigen, und als das erste allgemeine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man auf allen Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können ... Das ist a lso das Paradies, das uns die russischen Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit einer traurigen Miene! ... Es war freilich eine Thorheit von uns gewesen, daß wir uns in Russlands unbewohnten Gegenden einen Garten Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzu groß, dafür eine Steppe zu finden, die auch nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirthbaren Gegend nicht die geringsten Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch im Verlauf mehrerer Tage keine machen, und doch schien, bei dem nicht mehr fernen Winter Eile nöthig zu sein." Zemljanka Auch wenn die Siedler, wie Züge bemerkt, nach einer näheren Untersuchung der Umgebung feststellten, dass sie anscheinend doch nicht ganz so unfruchtbar zu sein schien wie anfänglich befürchtet, so fanden sie dennoch nicht die ihnen versprochenen Bedingungen vor. Das für den Bau der Häuser lag nicht in ausreichender Menge vor und der Bau der Häuser verzögerte sich. Einige Kolonisten mussten deshalb mehrere Monate in Erdhütten (semljanki) Schutz vor den Unbilden der Witterung suchen. Die russische Regierung war augenscheinlich durch die hohe Zahl der Kolonisten mit der Organisation der Ansiedlung überfordert.. Teil 1 4.3 Charakterisierung der Kolonisten Christian Gottlob Züge beschreibt in seinem Buch "Der russische Colonist ..." auch die Menschen, mit denen er von Lübeck aus die Reise in die Siedlungsgebiete an der Wolga unternahm. Sein Urteil, aber nicht nur seines, ist wenig schmeichelhaft. Man sollte dabei aber immer bedenken, dass sich Züge als "ehrbarer Handwerksgeselle" berechtigt fühlte, mit einer gewissen Arroganz bzw. mit Standesdünkel auf seine Reisegenossen herabzublicken. Er war hier ganz und gar "ein Kind seiner Zeit". "Auswürflinge, die in fernen, unwirthbaren Gegenden ein Unterkommen suchten, weil das Vaterland sie ausgespien hatte, oder ihnen zumindest ein solches Schicksal drohte ... Sittenlose Menschen, die sich in jeder Lage wohl befinden, sobald sie nur ihren groben Lüsten ungestört frönen können, bildeten eine zweyte, nicht weniger mißfällige Classe. Zur dritten, der kleinsten von allen, formten sich einige Unglückliche, welche der Druck widriger Schicksale oder die Verfolgung ihrer Mitbürger aus dem Vaterlande jagten ... Die vierte un d zahlreichste Classe war zusammengesetzt aus Abentheurern, Leichtsinnigen, die zu jedem gewagten Unternehmen bereit sind ..., oder Unerfahrenen, welche listigen Ueberredungen Gehör gegeben hatten, und an den goldenen Bergen, die man ihnen versprach, nicht im geringsten zweifelten." Die Meinung, die der russische Dichter Alexander Puschkin von den deutschen Kolonisten hatte, war ebenfalls wenig schmeichelhaft. Für ihn waren es "Landstreicher und Taugenichtse", die sich dem Führer des Bauernaufstandes Jemeljan Pugatschow angeschlossen hätten. Ihre Zahl dürfte allerdings gering gewesen sein. Peter Simon Pallas dagegen schätzte die Kolonisten als zumeist "gute Ackersleute". Weniger optimistisch liest sich dagegen der Reisebericht von J. P. B. Weber.. Teil 1 4.3.1 Reisebericht von J. P. B. Weber In seinem 1787 erschienen Buch "Die Russen oder Versuch einer Reisebeschreibung nach Russland und durch das russische Reich in Europa" zeigt Weber, mit welchen Versprechungen Menschen zur Auswanderung bewegt wurden und welche Schwierigkeiten die Ankommenden erwarteten. Dies und seine Beschreibung von der Ankunft eines Kolonistenzuges vermittelt eine Ahnung davon, was für Menschen sich damals auf den Weg gemacht hatten. Man hat nicht den Eindruck, dass es sich hier um "Abenteurer" oder "Leichtsinnige" (Ch. G. Züge) handelte, sondern um Menschen, die sich mit ihrer Familie und den wenigen Habseligkeiten in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ausgezogen und, am Ziel ihrer Reise angekommen, der örtlichen Obrigkeit und den Unbilden des fremden Landes ausgeliefert waren. "Um diese Gegend zu bevölkern, und zur Cultur zu bringen, glaubte die Regierung genug zu thun, wenn sie Menschen d ahin lockte. Sie sandte daher nach allen Gegenden Colonisten-Werber, welche zu Folge der diesfälligen Ukase und ihrer Instruktionen den Colonisten die vortheilhaftesten Versprechungen machten. Jeder Colonist sollte ein Haus, eine Kuh, einen verhältnismäßigen Grund zur Beurbarung, und das nöthige Ackergerät erhalten. Den Handwerksleuten ward der (sic!) abgängige Werkzeug, das Materiale für den ersten Verarbeitungs Bedarf, und überdieß noch eine jährliche Besoldung versprochen, welche nach dem Grade des Bedürfnißes ihres Gewerbes, für jene des ersten Bedürfnißes zum Beispiel für Zimmerleute, Maurer, Tischler auf 600 Rubel bestimmt, und nach dem größeren oder geringeren Grade des Bedürfnißes bis auf 100 Rubel abgestuft war. Zur Bestreitung dieser, und der sonstigen Gouvernements-Auslagen an Beamten-Besoldung, Bauführungen etc. etc. erhielt der Gouverneur jährlich 18 Millionen Rubel. Allein die Sache gewann eine ganz andere Gestalt ... Es wurden ... alle aus Frankreich, Italien, hauptsächlich aber aus allen Gegen den und Provinzen Deutschlands zuströmenden Colonisten, bis auf einige wenige, welche in Cherson bei ihren Landsleuten Unterkunft und Unterstützung fanden, nach dem Caucasus instradirt, da ... wurden die meisten vom Hunger, Witterung und Elend consumirt un d giengen zu Grunde. Während meines Aufenthaltes zu Cherson sah ich einen Colonisten Transport von ein Paar Hundert Mann aus Deutschland ankommen, sie waren alle zu Fuße und für Cherson bestimmt. Einige hatten ihre Weiber und Kinder bey sich, und nur wenig e trugen etwas Habseligkeiten in einem Bündelchen unter dem Arme. Sie wurden vor dem Policey-Hause aufgestellt, nach der Liste, die der Conducteur mit sich brachte, mit ihrem Namen verlesen, wobey sie 2 bis 4 Rubel auf die Hand erhielten, und hierauf entlassen, da sie dann, der eine dorthin, der andere dahin verliefen. Daß bey solchen Anstalten das Coloniewesen nicht zum besten bestellt seyn könne, erhellet von Selbst." Teil 1 4.4 Siedlungsgebiete Wanderwege und Wanderziele Kolonie Belowesh (1765) St. Petersburg (1765) Riebendorf (1765) Jamburg (1767) Kolonie Berislaw (1782/1804) Josefstal (1784) Alt-Danzig (1786) Kolonie Chortiza (1789) Kolonie Halbstadt (1804) Krim (1804/1810) Kolonie Odessa (1804/24) Kolonie Prischib (1804/27) Kolonie Beresan (1809) Wolhynien (1816/31/61) Südkaukasus (1817) Kolonie Mariupol (1823/42) Bessarabien (1841/42) Kolonie Samara (1854/59) Wolgagebiet (1764/67) Den in Petersburg eintreffenden Siedlern wurden von zuständigen Beamten detaillierte Beschreibungen "aller unbewohnten Ländereien" übergeben. Gleichzeitig erfassten die Beamten alle mitgeführten Mittel und Güter. Als Siedlungsgebiete wurden vor allem das Steppengebiet an der Wolga, das zwar erobert, aber nie völlig befriedet werden konnte, ausgewiesen. Die Ansiedlung der Kolonisten in diesem Gebiet hatte also auch wehrstrategische Bedeutung. Die Siedlungsgebiete erhielten im Zuge der Verwaltungsreform die Namen der Gouvernements Samara und Saratow. Zwischen 1765 und 1770 wurden hier 104 Kolonien gegründet. Die erste Gründerkolonie von 1764 erhielt den Namen Katharinenstadt (russ. Baronsk, später Marxstadt). Im Jahre 1772 zählte die von evangelischen Siedlern gegründete Kolonie bereits 283 Einwohner. In der im gleichen Jahr auf der so genannten Bergseite gegründeten evangelische Kolonie Galka waren es 240 Einwohner. Die 1765 gegründete evangelische Kolonie Balzer zählte 459 Einwohner; die katholische Kolonie Mariental wurde 1766 gegründet und zählte 400 Einwohner. Die evangelische Kolonie Warenburg, 1767 gegründet, hatte im Jahre 1772 schon 592 Einwohner. Teil 1 5 Anfang und Aufbau Nachdem die lange und strapaziöse Reise überstanden war, sahen sich die Kolonisten mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert. Das Klima entsprach in keiner Weise den Versprechungen der Werber. Es war im Vergleich zu den gewohnten, heimatlichen Wetterbedingungen extrem unterschiedlich. Der Boden war zum Teil salzhaltig und sandig. Wasser war oftmals knapp. Boden und Klima waren mit den bisherigen Erfahrungen nicht zu meistern. Konflikte mit Einheimischen und nomadisierenden Stämmen forderten immer wieder Opfer. Auseinandersetzungen mit den Direktoren um den Status als Kronskolonien. Aufbau einer Selbstverwaltung. Trotz aller Schwierigkeiten konnten bald Fortschritte beim Aufbau der Kolonien erreicht werden. Dazu auch der Bericht Peter Simon Pallas. Teil 1 5.1 Boden und Klima Viele Menschen wurden mit der Versicherung zur Ausreise bewegt, dass "Mäßigkeit der Luft und Fruchtbarkeit des Erdreichs" in den Siedlungsgebieten wie am Oberrhein seien. In "ein Land wie Italien" glaubte man zu ziehen. Im Wolgagebiet angekommen, mussten die Kolonisten aber feststellen, dass sich das hier herrschende Klima extrem von dem unterschied, das sie aus ihrer Heimat kannten – von dem in Italien ganz zu schweigen. Im Siedlungsgebiet an der Wolga fällt das Gros der Niederschläge zwischen Oktober und April. Es musste also tief und vor allem rechtzeitig gepflügt und gesät werden, damit die Getreidesaat genügend Feuchtigkeit erhielt und nicht verdorrte. Denn die im März und April auftretenden starken bis stürmischen Winde trockneten den Boden aus. Die Kolonisten mussten in dieser Jahreszeit aber auch immer noch mit Spätfrösten rechnen, die die Ernte ebenfalls gefährden konnten. Im Winter tobten Schneestürme, die einerseits zu Verwehungen führten, andererseits aber immer wieder die Schneedecke auf den Feldern aufrissen. In zwischenzeitlichen Tauwetterperioden schmolz der Schnee. Der folgende Frost verwandelte die Felder dann in Eisflächen. Neben Frost und Dürre konnten Hagelschauer und Mäuse zu einem erheblichen Ernteausfall führen. Um gegen unvorhersehbare Ernteausfälle gewappnet zu sein, wurden Getreidespeicher angelegt. Die Bodenqualität im Siedlungsgebiet, das aus einer Berg- und einer Wiesenseite bestand, ließ neben dem Anbau von Weizen den von Gerste, Wassermelonen, Kartoffeln, Lein und Sonnenblumen zu. Aber auch die Färberpflanze Waid gedieh hier. Teil 1 5.1.1 Berg- und Wiesenseite Es ist ein bei den meisten Flüssen im europäischen Teil Russlands zu beobachtendes Phänomen, dass die linke (östliche) Uferseite flach, die rechte (westliche) dagegen ein Steilufer ist. In dem von den Kolonisten besiedelten Gebiet wurde das linke Wolgaufer als "Wiesenseite" bezeichnet. Das rechte Ufer dagegen war die so genannte "Bergseite". Bergseite Die "Wiesenseite" weist in unmittelbarer Flussnähe einen sumpfigen Überschwemmungsstreifen auf. Die Wiesen des Überschwemmungsgebietes, mit üppiger Flora und Fauna, wurden von den Wolgadeutschen zur Heugewinnung und als Viehweide genutzt. Der sich anschließende Steppenboden eignete sich nach seiner Urbarmachung besonders für den Getreideanbau (Weizen). Bei der "Bergseite" handelt es sich um eine Hochebene, die steil zum Ufer abfällt und von zahlreichen Flusstälern durchschnitten wird. Während den Kolonisten auf der "Wiesenseite" genügend Land für die Erschließung und weitere Besiedlungen zur Verfügung stand, war dies auf der "Bergseite" nicht möglich. Hier lebten im angrenzenden Gebiet russische Bauern.. Teil 1 5.2 Konflikte mit Einheimischen Angst und Warnungen vor Überfällen durch nomadisierende Stämme aus dem asiatischen Raum waren nicht unbegründet. Die Kolonisten zogen es vor, sich stets bewaffnet und in Gruppen von fünf bis zehn Mann vom Dorf zu entfernen. Überfall Es wurden nicht nur Einzelpersonen verwundet oder getötet, sondern ganze Dörfer angegriffen und zerstört. 1772 wurde zum Beispiel die 1766 gegründete Kolonie Cäsarfeld von Kasachen überfallen und zerstört. 1774 erging es dem von katholischen Bauern gegründeten Dorf Chaisol nicht besser. Insgesamt verschleppten Kasachen (auch als Kajsachen bekannt) allein 1774 aus sieben Kolonien 1.573 Siedler, von denen nur etwa die Hälfte wieder freigekauft werden konnte. Die anderen waren tot oder wurden als Sklaven verkauft. Noch zwanzig Jahre später trafen bei den betroffenen Familien Nachrichten von den Verschleppten ein, in denen diese um ihre Befreiung baten. 1776 wurde die Kolonie Mariental überfallen, ihre Bewohner gefangen genommen und in die Sklaverei verkauft. Ein Aufgebot von rund 150 Männern aus dem benachbarten Katharinenstadt, das dem bedrohten Dorf unter Führung des evangelischen Pastors Wernborner zur Hilfe eilte, wurde überwältigt. Der Überlieferung nach verriet der Ton der Kirchenglocke, die die Gläubigen zum Gottesdienst rief, den Kasachen die Lage des Dorfes. Der anschließende Überfall lebt in der Geschichte "Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel. Ein Wolga-Steppenbild aus dem 18. Jahrhundert" fort.. Teil 1 5.3 Selbstverwaltung Die Kolonisten erhielten 1769 auf lokaler Ebene das Recht auf Selbstverwaltung. Sie durften alle drei Jahre einen Dorfschulzen und seine Beisitzer wählen. Auf Bezirksebene - drei bis fünfzehn Dörfer zusammengefasst - wurde ein Oberschulze gewählt. Die Gewählten mussten allerdings von der Tutelkanzlei bestätigt werden. Zu Schulzen und Beisitzern sollten nur "nüchterne und unverdächtige" Männer mittleren Alters mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt werden, die sich als tüchtige Landwirte erwiesen hatten. Die Befugnisse der Schulzen waren relativ weitreichend. Sie konnten unordentliche und faule Siedler ermahnen und mit Geldstrafen belegen. Wenn es ihnen notwendig erschien, vermochten sie die Betreffenden aber auch mit Gemeindearbeiten zu beauftragen oder sogar bei "Wasser und Brot" zu arretieren. Brachten diese Strafen nicht den gewünschten Effekt, so war der Dorfschulze im Einverständnis mit den angesehensten Kolonisten sogar berechtigt, Körperstrafen zu verhängen (bis zu 30 Peitschenhiebe). Bei Verstößen gegen kirchliche Gesetze konnten Geldstrafen verhängt werden, wobei diese in die Kirchenkasse eingezahlt werden mussten. Das so genannte Kolonialstatut fasste 1857 die einzelnen Bestimmungen zur Selbstverwaltung zusammen. Danach hatten die Schulzen und ihre Beisitzer neben den bereits erwähnten Aufgaben darauf zu achten, dass sich alle arbeitsfähigen Kolonisten ständig in der Landwirtschaft "üben" und "fleißig mit ihrer Wirtschaft beschäftigen", niemand "in seinem Haus liederliche(n) Manns- und Weibspersonen eine Zuflucht" gab, die Siedler die Dreifelderwirtschaft praktizierten und sich außerdem mit der Sechs- und Siebenfelderwirtschaft beschäftigten, jeder genügend Vorräte für den Eigenbedarf und die neue Saat anlegte, die Geräte in Ordnung hielt, in aller Frühe auf die Felder fuhr, tief genug pflügte, rechtzeitig täglich eine bestimmte Fläche mit Sommer- und Wintergetreide bestellte, während der Erntezeit bei gutem Wetter drosch und das Korn sorgfältig lagerte, das Vieh im Winter gut untergebracht wurde und die Frauen regelmäßig Butter herstellten und Geflügel hielten, von allen genügend Heu eingefahren wurde. War dies bei einem Siedler nicht der Fall, so durfte der Betreffende das Feld so lange nicht verlassen, bis eine ausreichende Menge Heu vorhanden war, alle Häuser, Wirtschaftsgebäude und Zäune in einem guten Zustand waren. So sollten die Schulzen darauf achten, dass alle Dorfbewohner "ein nüchternes, ruhiges und arbeitsames Leben führten, wie es ihrem Stand zukommt." Sowohl diejenigen, die diese Normen erfüllten, als auch Personen, die dagegen verstießen, sollten in einer Liste erfasst werden. Den Letztgenannten drohte nach mehrmaliger Ermahnung der Verlust ihres Landes. Es sollte "guten und fleißigen Familien" zufallen, bei denen sie dann als Knechte zu arbeiten hätten. Eine Aufforderung zur Denunziation, von der aber, so weit bekannt, kein Gebrauch gemacht wurde. Unter einem "nüchternen, ruhigen und arbeitsamen Leben" wurde auch der Verzicht auf jedwede "Ausschweifung" verstanden. Die Schulzen sollten darauf achten, dass bei Kindstaufen oder Hochzeiten keine übertrieben üppigen Ausgaben getätigt werden. Bei wiederholten Verstößen waren diese Personen zusammen mit einem Bericht an die Obrigkeit zu überstellen. Ihnen drohten Haftstrafen. Teil 1 5.4 Fortschritte Aus einer Erhebung aus dem Jahr 1769 ergibt sich, dass zu dieser Zeit 104 Kolonien (siehe Liste der Wolgakolonien ) beiderseits der Wolga existierten, auf der Bergseite waren es 45 und auf der Wiesenseite 59. Die strikte Trennung der beiden großen Konfessionen führte dazu, dass sich in 43 Kolonien die Siedler der Katholischen und in 64 der Protestantischen Kirche angehörten. In ihnen lebten 6.433 Familien bzw. 12.145 männliche und 10.964 weibliche Personen. Sie wohnten in 4.560 Gebäuden. An Vieh wurde gezählt: 13.842 Pferde 11.552 Kühe und Kälber 704 Ochsen 1.019 Schweine. Eine bei der Erhebung durchgeführte Umfrage belegt, dass sich 579 der 6.433 Familien als für die Landwirtschaft ungeeignet einschätzten. Über die weitere wirtschaftliche Entwicklung gibt der deutsche Gelehrte Peter Simon Pallas in dem 1773 erschienen Buch "Reise durch die verschiedenen Provinzen des Russischen Reiches" Auskunft. 45 der Mutterkolonien lagen auf der Berg- und 59 auf der Wiesenseite. Bei ihrer Gründung erhielten die Orte ihre Namen zunächst nach den ersten Vorstehern oder den Werbern bzw. Direktoren. Erst 1768 wurden amtliche russische Ortsbezeichnungen eingeführt, die zum Teil von Flüssen, Bächen, Gräben und Tälern abgeleitet wurden. Diese fanden sehr lange Zeit keinen Eingang in das Alltagsleben des Kolonisten, die die ursprünglichen Namen weiter benutzten. Für einige Orte gab es sogar zwei oder drei verschiedene Bezeichnungen. Schweizerische Ortsnamen – z. B. Basel, Schaffhausen, Solothurn, Zürich oder Zug – sind nicht auf die Ansiedlung von Kolonisten aus der heutigen Schweiz zurückzuführen. Diese Namen gab ihnen der Werber Ferdinand de Canneau de Beauregard. Teil 1 5.4.1 Liste der Wolgakolonien Die in der Liste aufgeführten Orte Cäsarsfeld und Chasselois wurden 1774 durch Kirgisen bzw. kasachische Stämme völlig zerstört und aufgegeben. Im gleichen Jahr wurden auch Keller und Leitzinger überfallen und zerstört. Die zurückgebliebenen Bewohner der beiden zuletzt genannten Kolonien gründeten später zusammen eine neue (Neukolonie, Kustarnaja Krasnorynowka). In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl durch die Gründung von Tochterkolonien. I. Bergseite Gründungsname amtlicher Name Gründungs jahr Anton Sewastjanowka 1764 Bähr Kamenka 1765 Balzer Goloi Karamysch 1765 Bauer Karamyschewka 1766 Baum Jagodnaja Poljana 1767 Beideck (auch Baideck) Talowka 1764 Brehning Popowka 1767 Degott (auch Deegott) Kammeny Owrag 1766 Dietel (auch Dittel) Oleschna 1767 Dobrinka Nischnaja-Dobrinka 1766 Dönnhof Gololobowka 1766 Dreispitz Werchnaja-Dobrinka 1766 Frank Medwedizkoi Krestowoi-Bujerak 1767 Franzosen Rossoschi 1765 Galka (auch Meierhöfer) Ust-Kulalinka 1764 Göbel Ust-Grjasnucha 1767 Grimm Lesnoi-Karamysch 1767 Hildmann Panowka 1767 Holstein Werchnaja Kulalinka 1765 Huck Splawnucha 1767 Husaren Jelschanka 1767 Hussenbach Linewo Osero 1767 Kauz Werschinka 1767 Köhler Karaulny-Bujerak 1767 Kolb Peskowatka 1767 Kraft WerchnajaGrjasnucha 1767 Kratzke Potschinnaja 1766 Leichtling Ilawla 1767 Merkel Makarowka 1766 Messer Ust-Solicha 1766 Moor Klutschi 1766 Müller Krestowoi-Bujerak 1767 Pfeifer Gniluschka 1767 Rothammel Pamjatnoje 1767 Röthling ? Semenowka ? Sarepta 1767 1765 Schilling Sosnowka 1764 Schuck Grjasnowatka 1766 Schwab Bujdakow-Bujerak 1767 Sewald Werchowje 1767 Stephan Wodjänoi-Bujerak 1767 Stricker? Tscherbakowka 1765 Volmar (auch Vollmer) Kopenka 1767 Walter Gretschinnaja-Luka 1767 Weigand Norka 1767 II. Wiesenseite Bangert Saumorje 1767 Beauregard (auch Borgard) Bujerak 1766 Beckerdorf (auch Ernestinendorf, Ernestinenfeld) Bettinger 1767 Baratajewka 1767 Biberstein (auch Glarus) 1767 Bohn (auch Hockerberg) 1767 Boisroux (auch Boaro) Bordowskoje 1767 Brabanter (auch Audincourt) Kasizkaja 1767 Cäsarsfeld (1774 von Kirgisen zerstört) 1767 Chasselois (auch Chaisol, 1774 von Kirgisen zerstört) 1766 Dehler (auch Deller) Beresowka 1767 Dinkel (auch Oberholstein) Tarlykowka 1767 Eckardt (auch Eckert oder Zürich) Sorkino 1767 Enders Ust-Karaman 1767 Fischer Teljausa 1765 Gattung (auch Zug) Marijinskoje 1767 Graf Krutojarowka 1766 Herzog (auch Susly) Hölzel (auch Neuendorf) 1766 Kotschetnoje Hummel (auch Brockhausen) Jost (auch Obernberg) 1767 Popowkina Kaneau (auch Kano) Keller (von Kirgisen 1774 zerstört) 1767 1767 1767 Krasnorynowka 1767 Kind Baskakowka 1767 Krasnojar (auch Walter) Krasnojarowka 1767 Kratz (auch Basel) Wassiljewska 1767 Kukkus (auch Neubrabant) Wolskoje 1767 Laub (auch Weidenfeld) Tarlyk 1767 Lauwe (auch Laube) Jablonowka 1767 Leitsinger (1774 von Kirgisen zerstört) Kustarewa 1767 Louis Ostrogowka 1766 Marxstadt (auch Baronsk, Katharinenstadt) 1767 Meinhard (auch Unterwalden) Podijesnoje 1767 Näb Resanowka 1767 Nieder-Monjou Bobrowka 1767 Ober-Monjou Kriwowka 1767 Orlowskaja 1767 Paulskoje 1767 Pfannenstiel (auch Mariental) Tonkoschurowka Philppsfeld 1766 1767 Preuß (auch Choisi le Roy) Krasnopolje 1767 Reinhard Ossinowka 1766 Reinwald Stariza 1767 Remmler (auch Römler, Luzern) Michailowka 1767 Rohleder (auch Rohlender) Raskaty 1766 Rosenheim Podstepnoje 1765 Schäfer Lipnowka 1766 Schaffhausen Wolkowo 1767 Schönchen Paninskoje 1767 Schulz Lugowaja Grjasnucha 1766 Schwed Sworanewka 1765 Seelmann (auch Krezenach) Rownoje 1767 Stahl (am Karaman, auch Schwed) Swonarewkut 1766 Stahl (am Tarlyk) Stepnoje 1767 Straub (auch Wiesental) Skatowka 1767 Urbach Lipow-kut 1767 Warenburg Priwalnoje 1767 Winkelmann (auch Susannental) Wittmann (auch Solothurn) 1767 Solotoje 1767 Teil 1 5.4.1.1 Tochterkolonien In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zur Gründung neuer Siedlungen, die zunächst in der Nähe der zuerst angelegten Siedlungen - der Mutterkolonien entstanden. Ursache war die Landknappheit in den einzelnen Gemeinden. Die Landknappheit führte zu einer Binnenwanderung in weiter östlich gelegene Gebiete Russlands. Über das Dongebiet und den Nordkaukasus wurden dabei auch Westsibirien, Kirgisien und Kasachstan erreicht. In den Familien der Kolonisten waren sechs, acht und mehr Kinder keine Seltenheit. Die Kinder brachten zwar ihre Arbeitskraft in die Entwicklung der elterlichen Höfe ein. Aber der Kinderreichtum führte auch dazu, dass die bestehenden Arbeits- und Wohnverhältnisse bereits in der zweiten Generation an ihre Grenzen stießen. Zusätzliches Bau- und Ackerland musste durch die Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Da die neuen Höfe an den bisherigen Dorfausgängen angelegt wurden, dehnten sich die Dörfer immer weiter aus, so dass um 1800 einige bereits eine Länge von mehreren Kilometern hatten. Die verheirateten Kinder lebten zwar zunächst noch auf dem väterlichen Hof. Spätestens nach der Geburt von Kindern musste dann für das junge Ehepaar ein eigenes Haus gebaut werden. Das Paar erhielt dem Mir-System folgend einen Landanteil vom väterlichen Hof zugewiesen. Durch diese, den ursprünglichen Bestimmungen widersprechende Praxis (Minorat) kam es zu einer immer stärkeren Zersplitterung und Verkleinerung der den einzelnen Familien zur Verfügung stehenden Landfläche. Die Verarmung einiger Familien war die logische Konsequenz. In der Kolonie Gorodok entfielen laut Einwohnerliste von 1807 nur noch 3,5-7 Desjatinen Land auf eine Person. Diese negative Entwicklung setzte sich in allen Belowesher Dörfern fort und konnte durch die Gründung von Tochterkolonien nur zeitweise aufgehalten werden. Bereits in seinem Manifest vom 20. Februar 1804 hatte Zar Alexander I. deutsche Bauernfamilien zur Ansiedlung am Schwarzen Meer aufgerufen. In Dörfern der Belowesher Kolonie wurde nun über die Gründung einer Tochterkolonie diskutiert, um so einen Ausweg aus dem akuten Landmangel zu finden. Den Gemeindemitgliedern wurde nahegelegt, sich für die Gründung einer Tochterkolonie zu entscheiden. Aber erst 1817 hatte man sich zur Wahl von Vertrauensleuten und von Delegationsführern durchgerungen. Vertrauensleute und Delegationsführer legten in den folgenden Jahren den Gemeinden einen Ansiedlungsplan vor, der durch Selbstbesteuerung finanziert werden sollte. Jede an der Gründung beteiligte Familie hatte entsprechend der Größe ihrer Wirtschaft einen Beitrag zu leisten. Man einigte sich auf einen Kompromiss, der die vermögenderen Bauern zu Sonderleistungen (z. B. mehr Spanndienste zur Beschaffung von Baumaterial) verpflichtete. Erhebliche finanzielle Mittel waren für die Erstausstattung der Tochterkolonie notwendig. Neben landwirtschaftlichen Geräten wie Wagen, Pflug, Egge mussten Vieh, Brot- und Saatgetreide sowie Futtermittel gekauft werden. Nach Klärung dieser Fragen konnten genauere Erkundungen über das zu besiedelnde Land eingezogen werden. Die im Schwarzmeergebiet gesammelten Eindrücke schreckten zunächst aber von einer Besiedlung ab. Es handelte sich um bisher nur als Viehweide genutztes Steppenland. Auch die Bedingungen, unter denen dort die ersten Siedler (Mennoniten) lebten, luden nicht ein. Es wurde aber ein Ablaufplan erstellt, nach dem die Ansiedlung dann auch erfolgte: Vorplanung in allen Bereichen Ablauf der Ansiedlung in mehreren Etappen - als erstes Entsendung von Bauleuten zur Errichtung der Wohnhäuser Nach deren Fertigstellung Zuzug der ersten Familien Sukzessiver Nachzug aller weiteren Familien Kinderreiche und arme Familien sollten durch angeworbene junge Männer unterstützt werden. 1823 sollten die ersten Siedler in die Tochterkolonie ziehen, 1824 die nächsten und 1825 die letzte Gruppe. Aber erst im Mai 1831 trafen die ersten Siedler in der zu gründenden Tochterkolonie – sie lag ca. 750 km von der Mutterkolonie entfernt – ein. Auf die fünf zu gründenden Dörfer wurden jeweils 26 Familien verteilt. Jede Gemeinde war mit 1.800 Desjatinen ausgestattet. Nach der Landvermessung und zuweisung an die einzelnen Familien konnte die Gründung der Tochterkolonie als beendet betrachtet werden. Die Anlage der Tochterkolonie war der der Mutterkolonie nachempfunden. Es handelte sich auch hier um ein typisches Straßendorf. Teil 1 5.5 Bericht Peter Simon Pallas Der Forschungsreisende Peter Simon Pallas konnte 1773 auf seiner Rundreise durch die Wolgakolonien 6.194 deutsche Kolonistenfamilien mit insgesamt 25.781 Personen (13.441 männliche und 12.340 weibliche) zählen. Im Vergleich zu der bei der Inspektion 1769 festgestellten Bevölkerungsentwicklung bedeutete dies zwar eine Verringerung der Anzahl der Familien, aber gleichzeitig ein nicht unbeträchtlicher Bevölkerungszuwachs, und dies trotz der geringen Lebenserwartung. Spinnrad Die Abnahme der Familienzahl ist wahrscheinlich auf die Abwanderung derjenigen Familien zurückzuführen, die sich für die Landwirtschaft als ungeeignet erwiesen hatten. Bereits 1769 war festgestellt worden, dass dies 569 von 6000 Familien betraf. Die meisten dieser Familien blieben in den Dörfern und arbeiteten als Handwerker oder Tagelöhner. Einige wanderten aber auch in die Städte ab, um dort ein Handwerk auszuüben oder als Gelegenheitsarbeiter in einer Fabrik zu arbeiten. Da aber nicht nur Siedler, die als "untauglich" für die Landwirtschaft eingestuft wurden, mit Schwierigkeiten (Klima, Boden) zu kämpfen hatten, musste die russischen Regierung eingreifen. Sie räumte 1775 den Kolonisten weitere Kredite ein, damit diese ihre Verluste an Saatgut, Vieh und Geräten ausgleichen konnten. Außerdem wurden die Schulden der Kolonisten bei der Krone für weitere fünf Jahre gestundet. Für das Bevölkerungswachstum in den Kolonien ist die hohe Kinderzahl verantwortlich zu machen. Familien mit bis zu zehn und mehr Kindern waren keine Seltenheit. Peter Simon Pallas schreibt, dass in den Kolonien "ein schöner Zuwachs an frischester Jugend" zu sehen sei. Der Autor der "Reise durch verschiedene Provinzen des Rußischen Reichs in den Jahren 1768-73" erwähnt auch die Vertreter der unterschiedlichen Gewerbe, die als Kolonisten nach Russland kamen, um hier ihr Glück zu finden. Für viele von ihnen hat sich dieser Traum nicht erfüllt. Ihr Spezialwissen war nicht gefragt, sie mussten sich mit der Landwirtschaft "begnügen". Über die in Katharinenstadt lebenden Handwerker berichtet Pallas: "Man findet in keiner Kolonie mehrere und bessere Professionisten als hier und einige fangen auch wegen der Nachbarschaft Saratow an, etwas Nahrung zu bekommen. Ein geschickter Tischler, gute Drechsler, einige Hutmacher, Schönfärber, Tuchmacher, Zeugweber, der Stellmacher, Messerschmied, Schlosser und Turm Uhrenmacher verdienen hauptsächlich erwähnt zu werden. Noch weniger fehlt es an gemeinen Handwerkern, Schneidern, Schustern, Bäckern, Müllern, Fleischern, Böttchern usw. Auch ein paar Bergbauer haben sich in die Städte verirrt und müssen statt der Keilhaue den Pflug gebrauchen, um ihre Nahrung zu f ördern. Wäre in der Nähe mehr Gelegenheit, die Handwerker zu beschäftigen, so könnte Katharinenstadt ein nahrhafter Ort werden. Mit dem Ackerbau will es wegen der gar zu gewöhnlichen dürren Jahre und des daraus nun so oft erfolgten, allen Mut benehmenden Misswachses gar nicht fort." Teil 1 5.5.1 Peter Simon Pallas Der am 22. September 1741 in Berlin geborene und auch dort am 8. September 1811 verstorbene Arzt und Forschungsreisende war einer der bedeutendsten universellen Naturwissenschaftler seiner Zeit. In Berlin als Professor für Naturgeschichte tätig, kam er auf persönlichen Wunsch von Zarin Katharina II. 1767 nach St. Petersburg. Hier wurde er zum Adjunkten der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt und mit einer fünfjährigen Forschungsreise durch Südrussland beauftragt. Seine Eindrücke und Erkenntnisse über das Wolga- und Schwarzmeergebiet, den Kaukasus und Transkaukasien legte er in verschiedenen wissenschaftlichen Schriften nieder. 1777 wurde Pallas zum Mitglied der topographischen Abteilung der Akademie berufen und 1787 zum Historiographen des Akademiekollegiums ernannt. 1793/94 unternahm Pallas eine zweite Forschungsreise durch Südrussland. Auf dieser Reise beschäftigte er sich vor allem mit dem Klima im Schwarzmeergebiet und auf der Krim. Als wissenschaftlicher Ertrag erschienen 1800-1801 in Leipzig die "Bemerkungen auf einer Reise in die südlichen Statthalterschaften des Russischen Reiches in den Jahren 1793 und 1794". In Würdigung seiner Verdienste schenkte ihm Katharina II. ein Gut auf der Krim, auf das sich Pallas 1796 zurückzog. Kurz vor seinem Tod kehrte er nach Berlin zurück. Teil 1 5.5.2 Lebenserwartung Die Auswertung von Einwohnerlisten verschiedener Schwarzmeerkolonien aus den Jahren 1807 und 1809 ergibt, dass die Lebenserwartung in den Kolonien relativ gering war. Nur wenige Menschen erreichten das sechzigste Lebensjahr oder wurden älter. Vergleicht man das mit der Lebenserwartung in Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, so zeigt sich, dass dort der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung im Durchschnitt höher war. Die gestiegene Lebenserwartung der Menschen wurde in Deutschland zu einem Problem. Die vergleichsweise geringere Lebenserwartung der Kolonisten in Russland ist wohl auf die hohen Belastungen zurückzuführen, denen die Menschen in den ersten Jahren ausgesetzt waren. In der ersten Phase des Aufbaus waren hohe Energieund Arbeitsleistungen erforderlich, um neben dem Haus- und Stallbau auch die Felder urbar zu machen und so die Grundlage für die weitere Sicherung des Lebensunterhaltes zu schaffen. Das Sprichwort: "Die ersten Jahre brachten den Tod, die nächsten Jahre noch immer Not, erst die letzten Jahre brachten uns Brot" umreißt in etwa diesen Prozess. Teil 1 5.5.3 Katharinenstadt Auf der Wiesenseite war Katharinenstadt, nordöstlich von Saratow gelegen, das einzige nennenswerte Gewerbezentrum. Katharinenstadt Aus einem Grundbuch von 1776 geht hervor, dass damals insgesamt 716 Menschen in dem Ort lebten, von denen 602 aus Deutschland kamen. Die anderen stammten aus Holland, dem heutigen Belgien, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Dänemark, Luxemburg, dem Baltikum und aus Ungarn. Zur Bevölkerung von Katharinenstadt zählten 29 Bauern, 2 Apotheker, 10 Bäcker, 2 Bader, 1 Bergmann, 5 Böttcher, 1 Brauer, 1 Kantor, 3 Kattunglänzer, 1 Chemiker, 4 Chirurgen, 1 Koch, 1 Destillateur, 4 Drechsler, 1 Färber, 1 Feldscher, 2 Fischer, 6 Fleischer, 3 Gärtner, 1 Glaser, 1 Goldschmied, 1 Grobschmied, 3 Hutmacher, 1 Jäger, 6 Kaufleute, 1 Kupferstecher, 5 Leinweber, 1 Lotgießer, 2 Maler, 4 Maurer, 6 Müller, 2 Musiker, 2 Ökonomen (Hausverwalter), 1 Parfümeur, 1 Perückenmacher, 2 Porzellanfabrikanten, 1 Puder- und Stärkemacher, 3 Offiziere, 1 Radmacher, 2 Sattler, 1 Seiler, 16 Schneider, 12 Schuster, 2 französische Sprachlehrer, 5 Strumpfweber, 1 Studierter, 8 Tischler, 3 Töpfer, 5 Tuchmacher, 1 Wachsbleicher, 2 Weißgerber, 1 Wollkämmerer, 4 Zeugmacher, 2 Zimmerleute, 1 Zinngießer. Den Vertretern einiger Gewerke wird es sicherlich nicht viel anders ergangen sein wie dem auch von Peter Simon Pallas erwähnten Bergmann. Ihre Spezialkenntnisse dürften in den Kolonien kaum gefragt gewesen sein. Es fällt jedenfalls schwer sich vorzustellen, dass zum Beispiel ein Perückenmacher oder ein Porzellanfabrikant ihren Lebensunterhalt im Kolonisationsgebiet mit dem von ihnen erlernten Beruf bestreiten konnten. Sie und andere dürften auf den im Manifest enthaltenen Passus vertraut haben, der jedem einwanderungswilligen Ausländer die Ansiedlung an jedem Ort innerhalb des Russischen Reiches versprach. Teil 1 Zeittafel - bis 1820 1549 In Wien erscheinen die Reiseberichte »Rerum moscovitarum commentarii« des Freiherrn von Herberstein (dt. 1557 »Beschreibung Moskaus«). Das Buch, in dem auch »deutsche Söldner« in russischen Diensten erwähnt werden, wurde zum Standardwerk der politischen Landeskunde Russlands 1652 Gründung der »Deutschen Vorstadt« (»Nemeckaja Sloboda«) in Moskau 1703 Gründung der Stadt St. Petersburg 1727 »St. Petersburger Zeitung«, die erste deutsche Zeitung in Russland erscheint (1916 verboten, 1991 wiedergegründet) 1763 22. Juli - Manifest der Zarin Katharina II. (1762-1796). Aufruf an Ausländer zur Einwanderung nach Russland 1764 19. März - Kolonialkodex: Festlegung der Agrarordnung in den Kolonien 1765 Gründung der Herrnhuter Gemeinde in Sarepta/Wolga 1773 Gründung der Erzdiözese Mohilew, Residenz St. Petersburg. Zuständig für alle Katholiken in Russland 1774-92 Russland erwirbt in zwei Türkenkriegen das gesamte Küstenland am Schwarzen Meer zwischen Dnjestr und Kuban, einschließlich der Krim (Taurin, Neurussland) 1789 Juli - Chortiza, erste mennonitische Kolonie in Südrussland am Dnjepr gegründet. Auch »Altkolonie« genannt. 1794 Gründung der Hafenstadt Odessa 1800 6. September - Gnadenprivileg Pauls 1. (1796-1801) zugunsten der Mennoniten 1804 20. Februar - Manifest Alexanders 1. (1801-1825). Einladung zur Ansiedlung Deutscher im Schwarzmeergebiet 1804-1824 Gründung zahlreicher Kolonien im Schwarzmeergebiet durch Einwanderer aus Süddeutschland und Danzig-Westpreußen