Fachhochschule Osnabrück University of Applied Sciences Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) Arbeitstexte zur 4. Konsensus-Konferenz in der Pflege Thema: Sturzprophylaxe 13. Oktober 2004 Aktuelles Programm/Referentinnen und Referenten Mitglieder der Expertenarbeitsgruppe „Sturzprophylaxe“ Mitglieder des Lenkungsausschusses des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege Konsensus-Konferenzen in der Pflege Expertenstandard-Entwurf zur Sturzprophylaxe Literaturstudie Info zum Networking for Quality 4. Konsensus-Konferenz in der Pflege Thema: Sturzprophylaxe Veranstalter: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Fachhochschule Osnabrück in Kooperation mit dem Deutschen Pflegerat (DPR) Die Konsensus-Konferenz ist Teil eines vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung im Rahmen des „Modellprogramms zur Förderung der medizinischen Qualitätssicherung“ geförderten Projekts zur Entwicklung, Konsentierung und Implementierung von vier Expertenstandards in der Pflege (Förderzeichen 217-43794-4/30). Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Doris Schiemann Wissenschaftliches Team: Prof. Dr. Martin Moers, Prof. Dr. Doris Schiemann Dipl.-Pflegewirtin Petra Blumenberg, Dipl.-Pflegewirt Jörg Schemann Fachhochschule Osnabrück ∙ Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ∙ Postfach 19 40 49009 Osnabrück ∙ Tel.: (05 41) 9 69-20 04 ∙ Fax: (0541) 9 69-29 71 e-mail: [email protected] ∙ Internet: http://www.dnqp.de Osnabrück, September 2004 Inhalt 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.10 Programm der 4. Konsensus-Konferenz/ Referentinnen und Referenten? Expertenarbeitsgruppe „Sturzprophylaxe“ Mitglieder des DNQP-Lenkungsausschusses Konsensus-Konferenzen in der Pflege Expertenstandard-Entwurf zur Sturzprophylaxe Präambel Expertenstandard-Entwurf Literaturstudie Gesundheitspolitische Relevanz Methodisches Vorgehen Einschätzung der Sturzrisikofaktoren Information und Beratung Interventionen zur Sturzprophylaxe Sturzdokumentation und Sturzanalyse Assessmentinstrumente Literaturverzeichnis Glossar 17 Info zum Networking for Quality Programm der 4. Konsensus-Konferenz in der Pflege Thema: Sturzprophylaxe Moderation: Elisabeth Beikirch 10.00 Eröffnung der Tagung Ulla Schmidt (angefragt) Peter Mayer Marie-Luise Müller 10.40 Der 4. Expertenstandard liegt vor – wie geht es weiter Doris Schiemann 11.00 Entwicklung des Expertenstandards Sturzprophylaxe: Gegenstand und Vorgehen Astrid Elsbernd Christine Sowinski 11:40 Vorstellung und Erörterung des Expertenstandardentwurfs zur Sturzprophylaxe Mitglieder der Expertenarbeitsgruppe 12:15 Mittagspause 13.30 Fortsetzung: Vorstellung und Erörterung des Expertenstandardentwurfs 15.00 Kaffeepause 15.30 Fortsetzung: Vorstellung und Erörterung des Expertenstandardentwurfs 16.10 Zusammenfassung der Ergebnisse Stellungnahmen zu den Konferenzergebnissen 17.45 Ausblick, Verabschiedung Sabine Bartholomeyczik Referentinnen und Referenten Elisabeth Beikirch Bundeskonferenz zur Qualitätssicherung im Gesundheits- und Pflegewesen, Hamburg Prof Dr. Astrid Elsbernd Hochschule für Sozialwesen Esslingen Prof. Dr.Peter Mayer Vizepräsident der Fachhochschule Marie-Luise Müller Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR), Wiesbaden Prof. Dr. Doris Schiemann Fachhochschule Osnabrück Ulla Schmidt Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bonn Dipl.-Psych. Christine Sowinski Kuratorium Deutsche Altershilfe, Köln u.a. Expertenarbeitsgruppe „Sturzprophylaxe in der Pflege“ Leitung/Moderation: Astrid Elsbernd Wiss. Leitung: Christine Sowinski Wiss. Mitarbeit/Literaturanalyse: Heiko Fillibeck und Christine Sowinski Mitglieder der Expertenarbeitsgruppe 18 Astrid Elsbernd Prof. Dr., Krankenschwester, Dipl.-Kff. (FH); Hochschule für Sozialwesen Esslingen, Fachbereich Gesundheit/Pflege (FB II), Mitglied im Lenkungsausschuss des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege, Osnabrück (DNQP) Heiko Fillibeck Altenpfleger, Diplom-Pflegewirt, Referent für Häusliche Pflege im Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), Köln Cornelia Heinze Krankenschwester, Diplom-Pflegepädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Doktorandin am Institut für Medizin-/Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin, Forschungsprojekte zum Thema Sturz, zahlreiche Veröffentlichungen Siegfried Huhn Krankenpfleger, Gesundheitspädagoge, Studium Gesundheitswissenschaften und Pflegemanagement, tätig im Bereich Fort- und Weiterbildung für zahlreiche Träger, zahlreiche Veröffentlichungen, Berlin Gabriele Meyer Krankenschwester, Absolventin des Hochschulstudienganges Lehramt für Oberstufe/Berufliche Schulen Gesundheit und Germanistik (Universität Hamburg), wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg (Institut für GewerblichTechnische Wissenschaften), Forschungsprojekte zum Thema Sturz, zahlreiche Veröffentlichungen Gisela Rehfeld Krankenschwester, Vorstand der Unternehmensgruppe Dienste für Menschen, Geschäftsführerin der Aerpah-Krankenhausgesellschaft, Vorstandsmitglied der LAG Geriatrischer Rehabilitationskliniken BW, Forschungsprojekte zum Thema Sturz, zahlreiche Veröffentlichungen Ulrich Rissmann Krankenpfleger, Diplom-Pflegewirt, Mitarbeit als Pflegewissenschaftler in verschiedenen Forschungsprojekten, Geriatrisches Zentrum Ulm/Alb-Donau Gabriele Schlömer Dr., Krankenschwester, Lehramt für die Oberstufe/Berufliche Schulen, Abschluss 2. Staatsexamen, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg, Fachrichtung Gesundheit, Forschungsprojekte zum Thema Sturz, zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zum Thema „Evidenzbasierte Pflege“ Doris Schulten Diplom-Krankenschwester, Weiterbildung zum Qualitätsmanager und Verbesserungsmanager an der Schule für Gesundheit in Berlin, Pflegedirektorin im Evangelischen Krankenhaus Hubertus Berlin, Wolfgang Schuldzinski Rechtsanwalt, Vertreter Patienten/Bewohner in der Expertengruppe „Sturzprophylaxe in der Pflege“, Projektleiter Gesundheit/Qualität in der Pflege, Verbraucherzentrale NRW in Düsseldorf , Lehrbeauftragter am Institut für Pflegewissenschaft Universität Witten/Herdecke René Schwendimann Krankenpfleger, Master of Nursing Science der Universität Maastricht (MNS), Projektleitung der Abt. „Entwicklung und Qualität in der Pflege“ im Stadtspital Waid in Zürich, Doktorand am Institut für Pflegewissenschaft in Basel, zahlreiche Veröffentlichungen Christine Sowinski Krankenschwester, Diplom-Psychologin, Doktorandin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten-Herdecke, Referentin für Pflegeorganisation am Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), Köln, Mitglied im Lenkungsausschuss des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege, Osnabrück (DNQP) Torsten Weber 19 Altenpfleger und Diplom-Pflegewirt, Wohnbereichsleiter und stellv. Pflegedienstleiter Kurstift Bad Homburg (Einrichtung des betreuten Wohnens), Diplomarbeit zum Thema: „Relibilität und Validität ausgewählter pflegerischer Assessments – eine Literaturstudie,“ Forschungsprojekte zum Thema Sturz. Mitglieder des DNQP-Lenkungsausschusses Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik Universität Witten/Herdecke Elisabeth Beikirch Bundeskonferenz zur Qualitätssicherung im Gesundheits- und Pflegewesen, Hamburg Ute Braun Hans-Weinberger-Akademie, München Prof. Dr. Astrid Elsbernd Hochschule für Sozialwesen Esslingen Hedwig François-Kettner Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin Gudrun Gille Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe, Berlin, Mitglied im Deutschen Pflegerat Prof. Dr. Ulrike Höhmann Ev. Fachhochschule Darmstadt Dr. Edith Kellnhauser Prof. emer. Kath. Fachhochschule Mainz Prof. Dr. Martin Moers Fachhochschule Osnabrück Michaela Picker Klinikum Braunschweig Prof. Dr. Martina Roes Hochschule Bremen Prof. Dr. Doris Schiemann Fachhochschule Osnabrück Christine Sowinski Kuratorium Deutsche Altershilfe, Köln 1 Konsensus-Konferenzen in der Pflege Doris Schiemann Das DNQP hat im Februar 2000 im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) geförderten Pilotprojektes zur Entwicklung, Konsentierung und Implementierung von Expertenstandards in der Pflege erstmalig eine Konsensus-Konferenz zum Thema „Dekubitusprophylaxe“ erfolgreich durchgeführt (Schiemann/Schemann 2002, S. 23 ff). Das im Pilotprojekt erprobte Konsentierungs-Verfahren wurde in dem ebenfalls vom BMGS geförderten Folgeprojekt1 erneut angewendet und hat sich auch in den beiden folgenden Konsensus-Konferenzen im September 2002 und im Oktober 2003 zum Thema Entlassungsmanagement und Schmerzmanagement gut bewährt. Alle Konferenzen haben bei den Konferenz-Teilnehmer/inn/en sowohl inhaltlich als auch methodisch beachtliche positive Resonanz gefunden. Wesentliche Erfolgsfaktoren waren das hohe fachliche Niveau der Expertenstandard-Entwürfe und die breite fach- und gesundheitspolitische Diskussion innerhalb der Pflegeberufe unter Einbeziehung der Vertreter/inn/en von 1 Die Entwicklung von vier Expertenstandards zu den Themen Entlassungsmanagement Schmerzmanagement, Sturzprophylaxe und Kontinenzförderung sowie die wissenschaftlich begleitete Implementierung dieser Expertenstandards in ausgewählten Gesundheitseinrichtungen werden vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung im Rahmen des Modellpropgramms zur Förderung der medizinischen Qualitätssicherung gefördert (Förderzeichen 217-43794-4/30). 20 Spitzenorganisationen und Verbänden im Gesundheitswesen und Fachexpert/inn/en anderer Gesundheitsberufe (Schiemann/Moers 2002, S. 93). Das DNQP konnte bei der Entwicklung seines Konsentierungs-Verfahrens auf methodische Erfahrungen des Nationalen Instituts zur Qualitätsförderung im Gesundheitswesen (CBO) der Niederlande zurückgreifen2. Die wesentlichen Schritte des Verfahrens sind: a) Einbeziehung der Fachöffentlichkeit Mit einer frühzeitigen Information der Fachöffentlichkeit über Themen und Termine von Konsensus-Konferenzen stellt das DNQP sicher, dass interessierte Fachvertreter/innen und Institutionen aus den Pflegeberufen ausreichenden Vorlauf haben, ihre Mitwirkung zu planen und sich anzumelden. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Konsensus-Konferenzen, sondern auch für eine Beteiligung an der wissenschaftlich begleiteten modellhaften Implementierung der konsentierten Expertenstandards in ambulanten und stationären Gesundheits- und Altenhilfeeinrichtungen, in deren Rahmen die Praxistauglichkeit der Expertenstandards überprüft wird. Die ersten Konferenz-Ankündigungen erfolgen daher etwa zwölf und die Versendung der Konferenz-Programme etwa sechs Monate vor der Konferenz. Darüber hinaus werden bestimmte Gruppen gezielt eingeladen. Dies sind: Personen aus Pflegepraxis und -wissenschaft mit besonderer Fachexpertise zum Thema des Expertenstandards Angehörige anderer Berufsgruppen des Gesundheitswesens mit besonderer Fachexpertise zum Thema des Expertenstandards Vertreter/innen aus Spitzenorganisationen und Verbänden des Gesundheitswesens. Die Teilnehmer/innen aus Pflegepraxis und -wissenschaft werden als Diskutant/inn/en und die Vertreter/innen der anderen beiden Gruppen als Beobachter/innen eingeladen. Letztere werden gebeten, aus ihrer fachlichen Sicht, bzw. für ihre Organisation oder ihren Verband zum Ende der Konferenz eine Stellungnahme abzugeben. b) Vorbereitung der Konferenz-Teilnehmer/innen An alle angemeldeten Teilnehmer/innen wird etwa vier Wochen vor der KonsensusKonferenz ein umfangreicher Arbeitstext versandt. Dieser enthält u. a. den Expertenstandard-Entwurf mit Präambel und die Literaturstudie zum Standardthema. c) Konferenzverlauf und Konsentierung des Expertenstandards Die Konsensus-Konferenz gliedert sich in drei Abschnitte: Die einführenden Referate zur gesundheitspolitischen und pflegeepidemiologischen Relevanz des Themas sowie zum Vorgehen bei der Entwicklung des vorliegenden Expertenstandard-Entwurfs. Die Vorstellung, Erörterung und Konsentierung des Expertenstandard-Entwurfs. In der Annahme, dass sich die Mehrzahl der Konferenz-Teilnehmer/inn/en vorab dezidiert mit den Inhalten des Standard-Entwurfs auseinandergesetzt haben, wird die Vorstellung der Standardaussagen zugunsten einer ausführlicheren Fachdiskussion mit den KonferenzTeilnehmer/inne/n kurz gehalten. Alle Kriterienebenen des Standard-Entwurfs, bestehend aus je einem Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterium, werden von Mitgliedern der Experten-Arbeitsgruppe in einem Zeitrahmen von ca. fünf Minuten vorgestellt und wissenschaftlich begründet. Zu jeder Kriterienebene erfolgt ein etwa fünfzehnminütiger pflegewissenschaftlicher Fachdiskurs, in dessen Rahmen bestätigende oder abweichende Auffassungen von den Diskutant/inn/en dargelegt und erörtert werden, um abschließend den Übereinstimmungsgrad zu der jeweiligen Standardaussage feststellen zu können. 2 Die erste niederländische Konsensus-Konferenz fand bereits 1985 statt; erstes Thema war ebenfalls die Dekubitusprophylaxe in der Pflege (Bours et al. 2000). Als weitere Themen folgten dann die Pflegedokumentation und Pflege bei Schmerz (Verpleegkundig Wetenschappelijke Raad 1992, Verpleegkundig Wetenschappelijke Raad 1994). 21 Der gesamte Konsentierungs-Vorgang wird auf Tonband aufgezeichnet und die Diskussionsbeiträge werden zusätzlich protokolliert. Die Protokolle stellen eine wichtige Grundlage für eine erste Zusammenfassung der Ergebnisse zum Ende der Veranstaltung dar. Die Stellungnahmen zum Verlauf und zu den Ergebnissen der Konsensus-Konferenz durch Vertreter/innen von Spitzenorganisationen und Verbänden des Gesundheitswesens sowie durch Fachexpert/inn/en anderer Gesundheitsberufe. d) Auswertung der Konferenz-Ergebnisse und Erarbeitung einer abschließenden Version des Expertenstandards Die protokollierten und in Auszügen verschrifteten Tonbandaufzeichnungen der Konferenz werden in einer abschließenden Sitzung der Experten-Arbeitsgruppe ausgewertet und fließen in die abschließende Version des Expertenstandards ein. Nach Abstimmung der Änderungen mit dem Lenkungsausschuss des DNQP wird der Expertenstandard einschließlich der Kommentierungen zu den einzelnen Kriterienebenen vom DNQP veröffentlicht. Eine weitere Veröffentlichung zum Expertenstandard erfolgt nach Auswertung der Ergebnisse der modellhaften Implementierung des Expertenstandards3. Nach der Konferenz wird der Expertenstandard mit wissenschaftlicher Begleitung in 15 bis 20 Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Altenhilfe über einen Zeitraum von sechs Monaten modellhaft eingeführt, um Aufschluss über die Akzeptanz und Praxistauglichkeit des Expertenstandards gewinnen zu können. Darüber hinaus sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Voraussetzungen für seine Einführung und Verstetigung in der Pflegepraxis bedeutsam sind. Die Implementierungsphase schließt mit einem Audit in allen beteiligten Gesundheitseinrichtungen ab. 2.1 Gesundheitspolitische Relevanz Heiko Fillibeck, Christine Sowinski Jeder Mensch kann stürzen. Dies liegt in erster Linie an der aufrechten Haltung, denn je höher der Körperschwerpunkt liegt, desto leichter gelangt ein Körper aus der Balance. Wenn Kinder laufen lernen, stürzen sie häufig. Dies liegt daran, dass es nicht angeboren ist, die Balance zu halten. Dies muss zunächst im Sitzen und später im Stehen erlernt werden. Danach wird erlernt den Verlust des Gleichgewichts wieder auszugleichen. Diese Fähigkeit ist mit einem zielgerichteten Kraftaufwand verbunden. Um einen Sturz zu vermeiden, sind zwei Fähigkeiten notwendig, die Fähigkeit den Körper in Balance zu halten und die Fähigkeit den Körper bei Verlust des Gleichgewichts wieder in Balance zu bringen. Daneben besteht die Möglichkeit Sturzfolgen bei unvermeidbaren Stürzen durch schnelle und geschickte Reaktionen zu minimieren. Dazu gehört z.B. das schnelle Greifen nach Haltemöglichkeiten oder das geschickte Abrollen über den Schultergürtel. Ein schlechter Allgemeinzustand (z.B. bei akuter Erkrankung, bei Multimorbidität, nach Operationen) kann die Fähigkeiten zur Vermeidung eines Sturzes und zur Minimierung von Sturzfolgen stark einschränken. Früher wurde dies anschaulich als „hinfällig sein“ bezeichnet. *Da Patienten/Bewohner häufig einen schlechten Allgemeinzustand aufweisen, wird die Sturzprophylaxe auch zu einer pflegerischen Aufgabe. Das bedeutet allerdings nicht, dass Patienten/Bewohner in einem guten Allgemeinzustand nicht sturzgefährdet sind. Diese können ebenso in ihren Fähigkeiten, die Balance zu halten oder einen Gleichgewichtsverlust auszugleichen, eingeschränkt sein. *Die WHO (2004) benennt deshalb folgende Gruppen als Zielpopulation für die Sturzprophylaxe: Menschen, die schon mehrfach gestürzt sind, Menschen, die in Institutionen oder ans Haus gebunden leben, Menschen mit Gang- oder Balanceproblemen, Zum Expertenstandard „Dekubitusprophylaxe“ liegen die Ergebnisse der Implementierung seit 2002 vor, zum Expertenstandard „Entlassungsmanagement“ sind sie seit April 2004 erhältlich. 3 22 Menschen mit Risikofaktoren für Osteoporose oder nach durch Osteoporose bedingte Frakturen, alte Menschen, die nach einem Sturz medizinisch behandelt werden, alte Menschen, die gerade aus der Klinik entlassen wurden. Stürze quantitativ zu erfassen, ist problematisch, da viele Stürze unbeobachtet geschehen. Ein weiteres Problem bei der Erfassung von Stürzen ist, dass man auf die Angaben der gestürzten Personen angewiesen ist. Dies ist häufig schwierig, da man sich unter Umständen nicht mehr an einzelne Sturzereignisse erinnern will (z.B. Verdrängung aufgrund der peinlichen Situation) oder kann (z.B. bei Demenz). 3.1.1 Epidemiologie Heiko Fillibeck, Cornelia Heinze und Christine Sowinski Epidemiologische Daten zu Stürzen sind in Deutschland nicht in dem Maße erhoben worden, wie es notwendig wäre, um einen Überblick zu haben wie häufig und in welchen Situationen Personen stürzen. Es existieren lediglich Datenerhebungen mit kleineren Fallzahlen zu speziellen Arten von Stürzen. So wurden z.B. von Frohberg & Bonsmann (1992) Gesichtsverletzungen durch Stürze vom Skateboard, von Giebel et al. (1993) Stürze bei Reitunfällen von Kindern, von Hahn et al. (1995) Stürze aus einer Höhe von durchschnittlich 7,2 m, von Majetschak et al. (1997) Stürze beim In-line Skating und von Preuss et al. (2004) Treppenstürze mit Todesfolge untersucht. In Bezug auf Einrichtungen des Gesundheitswesens existiert in Deutschland bislang keine Infrastruktur zur Erfassung von Stürzen. Dementsprechend gibt es keine Stellen, die verlässliche Zahlen zu Stürzen, die sich im pflegerischen Kontext ereignet haben, liefern. Selbst einrichtungsbezogen ist es bislang nicht üblich Sturzereignisse zentral zu erfassen und auszuwerten. Sind Zahlen vorhanden, so beziehen sich diese auf einzelne Einrichtungen oder auf Fallstudien mit nicht verallgemeinerbaren Zahlen (z.B. Markgraf et al. 1996, Scheffel & Pantelatos 1997, Balzer & Schnell 2001). Auf den ersten Blick lässt sich vermuten, dass Kinder und alte Menschen die beiden Gruppen sind, die am häufigsten stürzen. Dies würde auf eine U-förmige Verteilungskurve in Bezug auf das Lebensalter sprechen. Gregg et al. (2000), die Studien zum Zusammenhang zwischen dem Grad der Aktivität und dem Auftreten von Stürzen in einer Übersichtsarbeit zusammenfassten, wiesen darauf hin, dass sich auch eine U-förmige Verteilungskurve in Bezug auf die Aktivitätsrate abzeichne. Diese Verteilungskurven gelten aber aufgrund der uneinheitlichen wissenschaftlichen Datenlage als nicht gesichert. Stürze von Kindern werden in der Literatur wohl aufgrund ihrer Häufigkeit fast ausschließlich mit dem Focus sturzbedingte Verletzungen thematisiert. In den Publikationen zu Stürzen von älteren und alten Menschen ist hingegen die Sturzhäufigkeit unabhängig von den Folgen Gegenstand der Darstellung. 3.1.1.1 Stürze von Kindern In vielen Veröffentlichungen werden Stürze mit einem Anteil von über 50% als Ursache für unfallbedingte Verletzungen bei Kindern angeführt (Köhler 1985, 1993, 1995, Henter 1995, Schlude & Zeifang 1998, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 1998, Limbourg 1997). Für Deutschland führten Ellsäßer und Diepgen (2004) eine Analyse durch, die sich auf Daten des statistischen Bundesamtes und des Bundesamtes für Arbeitsschutz bezog. Kinder unter 15 Jahren erleiden tödliche Sturzunfälle vornehmlich im häuslichen Bereich, wobei die Hochrisikogruppe aus Säuglingen und Kleinkindern besteht. Insgesamt gehen Ellsäßer und Diepgen davon aus, dass im Jahre 1997 über 680 000 Kinder wegen Stürzen ärztlich behandelt werden mussten. Stürze von Kindern geschehen am häufigsten unter der Obhut der Eltern, Erzieher oder Lehrer oder wenn sie allein einer Freizeitbeschäftigung nachgehen (Gruskin et al. 1999, Marcenes et al. 2000, Hennrikus et al. 2003). Zu Stürzen von Kindern unter pflegerischer Obhut existieren keine zuverlässigen Angaben. Halfon et al (2001) fanden in der Universitätsklinik von Lausanne/Schweiz eine Inzidenzrate von Erststürzen von 0.97 auf 1000 Patiententage bei anderthalb bis 15- jährigen Kindern. Ob diese Rate auf andere Kliniken übertragbar ist, bleibt offen. 23 3.1.1.2 Stürze von älteren und alten Menschen „Alte Menschen stürzen“ heißt es im „house of god“, dem fiktiven Krankenhaus in dem gleichnamigen Roman von Samuel Shem (1998). Tatsächlich finden sich in den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen auch hauptsächlich Sturzinzidenzdaten von älteren und alten Patienten/Bewohnern. Halfon et al. (2001) ermittelten bei 46 bis 55-jährigen Patienten eine Inzidenz von 1.29 auf 1000 Patiententage, *diese verfünffachte sich bei den über 85Jährigen auf 5.61 Erststürze auf 1000 Patiententage. Dass sich mit fortschreitenden Alter das Sturzrisiko erhöht, wurde auch von der WHO (2004) bestätigt. Konkrete Angaben, wie viele Personen in Deutschland jährlich stürzen, sind nicht zu machen. In den meisten Veröffentlichungen wird angegeben, dass etwa 30 % der Menschen über 65 Jahren mindestens einmal pro Jahr stürzen. Bei den über 90-jährigen wird sogar von über 50 % ausgegangen. Untersuchungen, in welcher Umgebung am häufigsten gestürzt wird, existieren nur wenige. Von der Humboldt-Universität in Berlin wird seit 2001 jährlich eine Untersuchung, bei der unter anderem die Sturzrate älterer Menschen in Kliniken erfasst wird, durchgeführt. Im Jahr 2003 wurden die Daten von 9503 Patienten in 47 deutschen Kliniken erfasst. Dabei ermittelten die Autoren, dass 3,1 % der Patienten stürzten. Die meisten Stürze ereigneten sich auf geriatrischen Stationen (9,4 %), die wenigsten auf der Urologie und Gynäkologie (0,9%) (Heinze und Dassen 2004). Halfon et al. (2001) fassten in einer Übersichtsarbeit die Ergebnisse internationaler Studien zusammen und berichten von einer weiten Spannweite von Stürzen in Krankenhäusern. Je nach untersuchter Institution variiert der Prozentsatz an Patienten, die während des Klinikaufenthaltes stürzten, von 2-15%. *Es steht außer Zweifel, dass Bewohner von Alten- und Pflegeheimen ein erhöhtes Risiko zu stürzen haben. Es ist davon auszugehen, dass jeder zweite Bewohner (also 50 %) einmal pro Jahr stürzt, und 30 % der Heimbewohner stürzen sogar mehrmals (Becker et al. 1999) und bei 5 bis 10 % kommt es sogar zu schwerwiegenden Verletzungen und Frakturen (Heinze & Dassen 2002). (Anmerkung RSZ: Deswegen ist es eine zentrale Pflicht und nicht nur eine Nebenpflicht, alles zu unternehmen, um Stürze zu verhindern. Pflegeheim = Sturzverhinderungseinrichtung). Bezüglich der Sturzrate von zu Hause lebenden Personen liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Becker et al. (1999) konstatieren insgesamt ein Informationsdefizit bezüglich des Vorkommens von Stürzen ohne anschließende staionäre Behandlung. 3.1.2 Folgen von Sturzereignissen Heiko Fillibeck, Christine Sowinski Ein Sturz kann einen schwerwiegenden Einschnitt in die bisherige Lebensführung darstellen. Patienten/Bewohner laufen Gefahr, durch die Folgen in ihrer Selbständigkeit gravierend eingeschränkt zu werden. Physische Auswirkungen reichen von schmerzhaften Prellungen, Verstauchungen, Frakturen und Wunden bis hin zum Tod der Patienten/Bewohner. Die epidemiologisch besterfasste Sturzfolge sind hüftnahe Frakturen, meist vereinfachend als Hüftfrakturen bezeichnet. In Deutschland beträgt die Häufigkeit von Hüftfrakturen 122,5 pro 100.000 Einwohner. In der Gruppe der über 65-Jährigen liegt die Jahresinzidenz bei 660 und steigt bis zu einer Häufigkeit von 4.000 pro 100.000 Einwohner in der Gruppe der Altenund Pflegeheimbewohner. Das bedeutet, dass etwa jeder 25. Pflegeheimbewohner einmal im Jahr mit den Folgen einer Hüftfraktur stürzt (Becker et al. 1999). Mehr als 100.000 Menschen erleiden jährlich eine hüftnahe Fraktur (Runge & Schacht 1999). Obgleich diesbezüglich kaum Zahlen vorliegen, sind psychische Folgen von Stürzen, angefangen beim Verlust des Vertrauens in die eigene Mobilität über die Einschränkung des Bewegungsradius bis hin zu sozialer Isolation immer wieder beobachtbar. Huhn (1995) wies auf die schwierige Messbarkeit dieser Sturzfolgen hin, die eine massive Einschränkung der Lebensqualität bedeuten. Auch für andere, mit der Betreuung der Patienten/Bewohner beschäftigte Personen, können Stürze Folgen nach sich ziehen. Häufig entstehen Schuldgefühle und Selbstvorwürfe werden geäußert. Aber auch gegen andere gerichtete Schuldzuweisungen, z.B. Geschwister, Enkel, 24 Kollegen und insbesondere gegen die Patienten/Bewohner selbst kommen immer wieder vor. Stürze können auch zum Tode führen. Tideiksaar (2000, S.21) erläutert, dass Stürze und deren Folgen eine der häufigsten Todesursachen bei Menschen ab dem 65. Lebensjahr in den USA darstellen. Etwa 10000 Menschen würden dort jährlich an Sturzfolgen sterben. Davon handelt es sich bei 66 % um 75jährige und älter. Würde man diese Zahlen auf Deutschland übertragen, so bedeutete dies, dass jährlich fast 3000 Personen an Stürzen und deren Folgen sterben würden. Konkrete Zahlen, wie viele Personen es in Deutschland wirklich sind, existieren nicht. Das Statistische Bundesamt Deutschland (2004) nennt bei einer Zahl von 34296 Toten Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen als Todesursache. Bei wie vielen dieser Fälle es sich explizit um Stürze handelt, ist aber nicht angegeben. Die Kosten, die im Gesundheitswesen aufgrund von Stürzen entstehen, sind nicht zu unterschätzen. Dabei können aufgrund der lückenhaften Datenlage nur Aussagen über die Folgekosten von Stürzen, die zu Frakturen führen, gemacht werden. Becker et al. (2003, S.5) beschreiben, dass sich die Kosten für die Operation einer Schenkelhalsfraktur auf etwa 5000 Euro belaufen. Hinzu käme nochmals mindestens die gleiche Summe für die anschließende Rehabilitation. Sie geben zu bedenken, dass für die Behandlung von Sturzfolgen allein bei Heimbewohnern in Deutschland jährlich mehr als 500 Millionen Euro ausgegeben würden. Pientka & Friedrich (1999) stellten fest, dass die Kosten in den ersten sechs Monaten nach einer hüftgelenksnahen Fraktur davon abhängig waren, wo die Patienten vor dem Ereignis lebten und wo sie nach der Behandlung unterkamen. Bei Heimbewohnern betrugen die Kosten 17 701 Deutsche Mark (9 050 Euro), bei zu Hause lebenden Personen 27 102 Deutsche Mark (13 857 Euro) und bei zu Hause lebenden, die dann in ein Altenheim zogen 54 503 Deutsche Mark. Schwendimann (2000) rechnete jährliche frakturbedingte Krankenhauskosten für die Schweiz hoch. Er kommt dabei auf Kosten in Höhe von 150-200 Millionen Schweizer Franken (ca. 99-132 Millionen Euro). Einen weiteren, zwar schwer in Zahlen zu fassenden, aber nicht zu unterschätzenden Kostenfaktor, stellt die Erhöhung des Pflegebedarfs nach Stürzen dar. Tideiksaar (2000) beschreibt diesbezüglich die Personalkosten, die Hilfsmittelkosten und die Belegungskosten als die drei wesentlichen Bereiche. Konkrete Zahlenangaben wurden dazu aber bislang nicht gemacht. 3.1.2.1 Rechtliche Konsequenzen nach Stürzen Die steigende Zahl von mehr oder minder ungeprüften Schadenersatzansprüchen von Kranken- und Pflegekassen bei Stürzen von Patienten/Bewohnern lässt die Frage nach den rechtlichen Folgen von Stürzen immer wichtiger für Einrichtungen des Gesundheitswesens, und nicht selten auch für die unmittelbar beteiligten Pflegenden werden. Es existiert bislang noch keine einheitliche Rechtssprechung bezüglich der, sich im Einzelfall aus rechtlicher Sicht sehr unterschiedlich darstellenden, Sturzereignisse. Daher ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Sturz eines Patienten/Bewohners rechtliche Konsequenzen für die Einrichtung oder gar für die beteiligten Pflegenden nach sich zieht. Eine Orientierung hinsichtlich einer im Einzelfall zu erwartenden Rechtssprechung, bieten bislang ergangene Urteile zu Sturzereignissen. Zunächst ist es von Belang, ob eine Beweislastumkehr vorliegt. Das bedeutet konkret, dass nicht die gestürzten Patienten/Bewohner bzw. deren Kassen nachweisen müssen, dass Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz oder eine schuldhafte Verletzung der Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten seitens der beteiligten Pflegenden den Sturz mitverschuldet hat, sondern dass von der Einrichtung nachgewiesen werden muss, dass sie den Sturz nicht haben verhindern können. Das von den Kranken- und Pflegekassen immer wieder angeführte Urteil ist das des Oberlandesgerichts Dresden vom 21.07.1999, nach dem ein Heimträger den Nachweis erbringen musste, dass ein Sturz einer Bewohnerin bei der Begleitung zur Toilette nicht auf das Fehlverhalten der beteiligten Pflegefachkraft zurückzuführen war. Das entscheidende Kriterium für dieses Urteil war der Begriff der „voll beherrschbaren Risiken“. Diese sind dann gegeben, wenn es sich um eine Durchführung einer Pflegemaßnahme (z. B. beim Transfer, 25 beim Lagern, beim Umbetten) handelt (Urteil des Bundesgerichtshof vom 18.12.1990). In anderen Situationen handelt es sich um die Nebenpflicht von Pflegenden, Bewohner vor Schaden zu bewahren. Diese begrenzt sich auf Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Daraus resultiert, dass in den Fällen, in denen ein Gefahrenbereich nicht voll beherrschbar ist, die Nachweispflicht beim gestürzten Bewohner verbleibt. Zu solchen Gefahrenbereichen zählt z.B. der Sturz mehrere Stunden nach dem zu Bett bringen (Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 21.03.2001), ein unvorhersehbarer Sturz nach dem unbeaufsichtigten Aufstehen aus einem Sessel (Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig vom 27.09.2001), Sturz im Speise- bzw. Aufenthaltsraum beim Aufstehen aus einem Rollstuhl (Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 21.03.2002). Das Oberlandesgericht Frankfurt urteilte in seiner Entscheidung vom 24.01.2002 für eine Beweislastumkehrung, da aus einem medizinischen Gutachten des MDK hervorgegangen war, dass die Bewohnerin als „sehr motorisch unruhig“, „umtriebig mit Weglauftendenz“ und „umtriebig trotz Nachtmedikation“ einzustufen sei. Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 25.06.2002 bedeutete in diesem Fall, dass das Pflegepersonal eines Heimes keine Rund-um-Betreuung erbringen müsse, wenn einer Bewohnerin der Pflegestufe II lediglich 215 Minuten Hilfe in bestimmten Tätigkeiten zugesprochen seien. Auch die Unterbrechung der Aufsicht bei der Verrichtung von Ausscheidungen auf einer Toilette führe nicht zu einer Umkehr der Beweislast, da das Recht auf Intimsphäre in diesem Fall höher anzusiedeln sei, als der mögliche Schutz gegen einen Sturz (Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 30.04.2002). Dies, so entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf am 16.05.2002, kann auch für eine Bewohnerin mit Demenz gelten, wenn kein Hilfebedarf beim Stuhlgang erforderlich ist. In seinem Urteil vom 04.02.2003 betonte das Oberlandesgericht Hamm, dass ein universeller Schutz von Pflegeheimbewohnern nicht gewährt werden könne. Welche Maßnahmen zum Schutz gegen Stürze erforderlich seien, hänge vom individuellen Grad der Behinderung und der Gebrechlichkeit sowie vom zumutbaren personellen Aufwand seitens der Pflegeeinrichtung ab. Nicht zuletzt ist bei Schutzmaßnahmen immer auch abzuwägen, welche Maßnahmen unter Berücksichtigung der Würde und des Persönlichkeitsrechts als verhältnismäßig einzustufen sind. Bevor eine rechtliche Instanz eine Entscheidung über die rechtlichen Konsequenzen eines Sturzereignisses fällen kann, ist die Ergründung der Zusammenhänge unabdingbar. Da es nicht selten vorkommt, dass erst nach längerer Zeit (manchmal erst nach Jahren) eine Klage eingereicht wird, spielt eine detaillierte schriftliche Beschreibung der Sturzumstände eine zentrale Rolle. Daher muss den Pflegefachkräften dringend empfohlen werden, im Fall eines Sturzereignisses so viel wie möglich zu den konkreten Umständen zu dokumentieren. Die Dokumentation ist eine nicht zu unterschätzende Erkenntnisquelle, die über Sieg oder Niederlage in juristischen Auseinandersetzungen entscheiden kann. 3 Expertenstandard-Entwurf zur Sturzprophylaxe 3.1 Summary Eine englisch- und deutschsprachige Zusammenfassung, in der auf den Standard hingewiesen wird, und die auch im Internet gut zu finden ist, wurde in der Expertensitzung am 2. Dezember 2003 gewünscht. Wenn der Arbeitstext für die 4. Konsensuskonferenz zum Thema Sturzprophylaxe fertig ist, wird dann abschließend die Summary erstellt. 3.2 Präambel zum Expertenstandard Jeder Mensch hat ein Risiko zu stürzen, sei es durch Unachtsamkeit oder bei einer sportlichen Betätigung. Über dieses alltägliche Risiko zu stürzen hinaus gibt es aber Stürze, deren Ursache im Verlust der Fähigkeit zur Vermeidung eines Sturzes oder zur Verminderung von Sturzfolgen liegt. Den betroffenen Patienten/Bewohnern, überwiegend ältere Menschen oder Menschen mit reduziertem Allgemeinzustand bzw. einer oder mehrerer Grunderkrankungen, die das Risiko zu stürzen erhöhen, gelingt es nicht mehr den Körper in Balance zu halten oder ihn bei Verlust des Gleichgewichts wieder in Balance zu bringen bzw. Sturzfolgen durch intakte Schutzreflexe zu minimieren. Physische 26 Auswirkungen von Stürzen reichen von schmerzhaften Prellungen, Wunden über Verstauchungen und Frakturen bis hin zum Tod. Psychische Folgen können vom Verlust des Vertrauens in die eigene Mobilität über die Einschränkung des Bewegungsradius bis hin zur sozialen Isolation führen. Im vorliegenden Expertenstandard wird von einem erhöhten Sturzrisiko gesprochen, wenn es sich um eine über das alltägliche Risiko hinausgehende Sturzgefährdung handelt. Sturz wird in Anlehnung an die Kellog International Work Group on the Prevention of Falls by the Elderly (1987) wie folgt definiert: „Ein Sturz ist ein Ereignis, welches darin resultiert, dass eine Person unbeabsichtigt auf den Boden oder ein tiefer gelegenes Niveau gelangt.“ Die Expertengruppe hat sich in Anlehnung an weitere Autoren darauf geeinigt, mit diesem ersten Teil der international anerkannten Definition zu arbeiten und den zweiten Teil der Definition nicht zu nutzen. Im zweiten Teil wird eingeschränkt, dass Ereignisse, die auf Grund „(...) eines starken Schlags, Verlust des Bewusstseins, plötzlich einsetzende Lähmungen oder eines epileptischen Anfalls“ eintreten, nicht als Stürze angesehen werden. Die Entscheidung auf diese Einschränkung zu verzichten wurde getroffen, da viele Stürze unbeobachtet geschehen und häufig nicht nachzuvollziehen ist, was die eigentliche Ursache des Sturzes war. Dem Expertenstandard liegt eine ausführliche nationale und internationale Literaturrecherche der letzten 20 Jahre zugrunde. Es zeigte sich, dass trotz der Fülle an Studien bislang zum Thema Sturzrisikoeinschätzung relativ wenig sichere Erkenntnisse gewonnen wurden und dass teilweise widersprüchliche Aussagen zu der Effektivität von Interventionen gemacht werden. Ein wesentlicher Grund hierfür ist sicherlich das multifaktorielle Geschehen, das zu einem Sturz führt und entsprechend komplexer Interventionen bedarf. Der vorliegende Expertenstandard hat zum Ziel, das Risiko für Stürze und Sturzfolgen zu minimieren. Die zugrunde gelegte Literatur hat aber deutlich gemacht, dass oberstes Ziel der Sturzprophylaxe weniger die konsequente Vermeidung jeden Sturzes ist, als vielmehr die Erhaltung einer größtmöglichen, sicheren Mobilität von Patienten/Bewohnern verbunden mit einer höheren Lebensqualität. Dem Trend der vergangenen Jahre zu freiheitsentziehenden Maßnahmen soll mit diesem Standard entgegengewirkt werden. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe richtet sich an alle Pflegefachkräfte4, die Patienten/Bewohner entweder in der eigenen häuslichen Umgebung oder in einer Einrichtung der stationären Gesundheitsversorgung oder der Altenhilfe betreuen. Wenn im Expertenstandard von Einrichtung die Rede ist, so ist damit auch die häusliche Pflege gemeint, wohlwissend, dass dort nicht alle Interventionen, vergleichbar mit einem Krankenhaus oder einem Altenheim, durchgeführt werden können. Da Interventionen zur Sturzprophylaxe maßgeblichen Einfluss auf die Lebensführung von Patienten/Bewohnern haben können - sei es die Umgebungsanpassung, spezielle Schuhe oder Hilfsmittel, die Aufforderung nur mit Hilfestellung auf Toilette zu gehen oder das Besuchen von Kursen zur Stärkung der Kraft und Balance – ist notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Sturzprophylaxe, das Selbstbestimmungsrecht von Patienten und Bewohnern zu achten und zu fördern. Entscheidende Grundlage dafür ist die umfassende Information und Beratung von Patienten/Bewohnern und ihren Angehörigen über das vorliegende Sturzrisiko und die möglichen Interventionen im Sinne einer partizipatorischen Entscheidungsfindung. Mit Einverständndis der Patienten/Bewohner sollten die Angehörigen grundsätzlich in die Information, Beratung und die Maßnahmenplanung eingebunden werden. Im Standard werden unter dem Begriff „Pflegefachkraft“ die Mitglieder der verschiedenen Pflegeberufe (Altenpfleger/innen, Gesundheits- und Krankenpfleger/innen, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/innen) angesprochen. Angesprochen werden darüber hinaus auch diejenigen Fachkräfte im Pflegedienst, die über eine Hochschulqualifikation in einem pflegebezogenen Studiengang verfügen. 4 27 Standardaussage: Jeder Patient/Bewohner mit einem erhöhten Sturzrisiko erhält eine Sturzprophylaxe, die Stürze und Begründung: Stürze stellen insbesondere für ältere und kranke Menschen ein hohes Risiko dar. Sie gehen häufig mit schw einher, die von Wunden und Frakturen über Einschränkung des Bewegungsradius infolge verlorenen Vertrauens in die e Lebensführung reichen. Durch rechtzeitig eingeleitete systematische Risikoeinschätzung, eine konsequente Sturzerfa Maßnahmenplanung mit Patienten/Bewohnern und Angehörigen zur Förderung einer sicheren Mobilität können Stürze und Sturz ***Struktur Prozess Erge Die Pflegefachkraft S1 - verfügt über das aktuelle Wissen zur Identifikation von Sturzrisikofaktoren. S2 - verfügt über die notwendige Beratungskompetenz in Bezug auf Sturzrisikofaktoren und wirksame Interventionen. S3 – kennt wirksame Interventionen zur Vermeidung von Stürzen und sturzbedingten Folgen. S4a Die Einrichtung ermöglicht zielgruppenspezifische Interventionsangebote. S4b - ist zur Koordination der Interventionen autorisiert. S5 Die Einrichtung sorgt für geeignete räumliche und technische Voraussetzungen sowie Hilfsmittel für eine individuelle Umgebungsanpassung. S6 Die Einrichtung gewährleistet die Informationsweitergabe über notwendige prophylaktische Maßnahmen zur Sturzvermeidung an weitere an der Versorgung beteiligte Berufsgruppen. S7 - ist zur systematischen Sturzerfassung und –analyse befähigt. Die Pflegefachkraft P1 - identifiziert unmittelbar zu Beginn des pflegerischen Auftrages systematisch die personen- und umgebungsbezogenen Risikofaktoren aller Patienten/Bewohner, bei denen ein erhöhtes Sturzrisiko nicht ausgeschlossen werden kann. - wiederholt die Erfassung der Sturzrisikofaktoren bei Veränderungen des Gesundheitszustandes oder der Pflegeabhängigkeit und nach jedem Sturz des Patienten/Bewohners. P2 - bietet dem Patienten/Bewohner und seinen Angehörigen Information und Beratung über die festgestellten Sturzrisikofaktoren sowie über wirksame Interventionen an. P3 - entwickelt gemeinsam mit dem Patienten/Bewohner und seinen Angehörigen sowie den beteiligten Berufsgruppen einen individuellen Maßnahmenplan. P4 - gewährleistet in Absprache mit den beteiligten Berufsgruppen und dem Patienten/Bewohner gezielte Interventionen auf der Grundlage des Maßnahmenplans. P5 - leitet unmittelbar nach der Erfassung der Sturzrisikofaktoren in Absprache mit dem Patienten/Bewohner und seinen Angehörigen Maßnahmen zur Umgebungsanpassung ein, die zur Förderung der sicheren Mobilität des Patienten/ Bewohners beitragen. P6 - informiert weitere an der Versorgung des Patienten/Bewohners beteiligte Berufsgruppen über die jeweils notwendigen Maßnahmen zur Sturzprophylaxe. P7- dokumentiert und analysiert systematisch jeden Sturz eines Patienten/Bewohners und schätzt auf dieser Grundlage die Sturzrisikofaktoren neu ein. Voraussetzung für die erfolgreiche Implementierung des Expertenstandards Sturzprophylaxe in den Einrichtungen ist die gemeinsame Verantwortung der leitenden Managementebene und der Pflegefachkräfte. Notwendige strukturelle Voraussetzungen, z. B. im Bereich Fortbildung, Angebot von hauseigenen Interventionen oder in Kooperation mit anderen Anbietern sowie für eine individuelle Umgebungsanpassung (Gestaltung des Bettplatzes, Hilfsmittel, Lichtverhältnisse) sind von der leitenden Managementebene (Betriebsleitung und Pflegemanagement) zu gewährleisten. Aufgabe der Pflegefachkraft ist der Erwerb aktuellen Wissens, um Patienten mit einem erhöhten Sturzrisiko identifizieren und entsprechende Interventionen einleiten zu können und bei Bedarf zusätzliche notwendige Strukturen einzufordern und fachlich zu begründen. Die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit ist maßgeblich für ein effektives Interventionsangebot. Wesentlich ist dafür die konsequente Information beteiligter Berufsgruppen über das vorliegende Sturzrisiko des Patienten/Bewohners. . Expertenstandardentwurf Sturzprophylaxe Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) Stand:24.07.04 28 Deutsches Netzwerk für E1 fakt E2 indi Stur E3 vor E4 D E5 indi E6 jewe bek E7 und In d Folg 4 Literaturstudie Heiko Fillibeck und Christine Sowinski 4.1 Methodisches Vorgehen bei der Literaturrecherche Die Grundlage der Arbeit bildete eine umfangreiche nationale und internationale Literaturanalyse. Die Literaturrecherche erfolgte in den Datenbanken Cinahl®, Medline® und The Cochrane Library. Es wurden Arbeiten aus der Pflegewissenschaft, Gerontologie und Geriatrie sowie aus dem Bereich der Medizin mit einbezogen. Ergänzende Hinweise zu dieser Recherche liefern die Literaturangaben der im Laufe der Zeit beschafften Publikationen zum Phänomen „Sturz und seine Folgen“. Außerdem wurden Internetseiten, Leitlinien, Standards sowie weitere Forschungsberichte gesichtet. Der Zeitraum der Literaturrecherche bezieht sich auf die letzten 25 Jahre (1979 - Mai 2004), wobei ein Schwerpunkt auf die letzten 10 Jahre gelegt wurde. Wenn es ältere Originalarbeiten mit besonderem Stellenwert gab, wurden auch diese in die Recherche mit einbezogen. Die Literatursichtung und -auswertung der deutsch- und englischsprachigen Literatur erfolgte anhand folgender Themen: Epidemiologie des Sturzes Folgen von Stürzen Beschreibung von Sturzrisikofaktoren Assessmentinstrumente Information und Beratung Interventionen zur Sturzprophylaxe Sturzdokumentation und Sturzanalyse Die Literaturrecherche in den Datenbanken erfolgte in den ersten Schritten mit allgemeinen Schlagwörtern wie „fall“, „falls“, „fall incident“, „accidental falls“. Im weiteren Verlauf wurde Suchbegriffe ergänzt, die dann spezifischer auf die Themen der einzelnen Abschnitte abgestimmt waren. Hinzu kamen Suchbegriffe wie „assessment“, „instruments“, „risk“, „risk factors“, „audit“, „protocol“, „monitoring“, „outcome“, „intervention“, „education“, „consulting“, „guidance“, „advice“, „schooling“, „training“. Bei der Literaturrecherche wurde nach der Methode der Evidence Based Practice vorgegangen. Es wurde zunächst nach Quellen höherer Evidenzstufen recherchiert. Zuerst wurde nach Metaanalysen und Übersichtsarbeiten (Reviews) gesucht. Danach wurden weitere (insbesondere in den Übersichtsartikeln nicht berücksichtigte) Studien recherchiert. Zunächst wurden randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) einbezogen. Konnten keine RCTs ausfindig gemacht werden, wurden weitere prospektive Studien mit mindestens einjährigem Follow-up berücksichtigt. Schließlich wurden bei den Themen, zu denen keine solchen Studien gefunden werden konnten, alle anderen Studien sowie Publikationen von anerkannten Fachleuten hinzugezogen. Die Expertengruppe hat sich der Systematik des Deutschen Cochrane Zentrums angeschlossen und weist in den Kommentierungen auf den jeweiligen Evidenzgrad hin, um den wissenschaftlich abgestützten Evidenzgrad zu den jeweiligen Themen für die Leser transparent zu machen. Stufe Ia Ib IIa IIb III IV Evidenztyp Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter, kontrollierter Studien Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie Evidenz aufgrund mindestens einer hochwertigen Studie ohne Randomisierung Evidenz aufgrund mindestens einer hochwertigen Studie eines anderen Typs (quasi-experimentelle Studie) Evidenz aufgrund von methodisch hochwertigen nichtexperimentellen Studien (z. B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien, Fallkontrollstudien) Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer 29 Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien Deutsches Cochrane Zentrum 2002, Helou, A., Kostovic-Cilic, C., Ollenschläger, G. : Nutzermanual zur Checkliste „methodische Qualität von Leitlinien“, Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung 1998 Diese Systematik wurde insbesondere bei Untersuchungen von Interventionen zugrunde gelegt. Da in der Literaturanalyse auch Themen bearbeitet wurden, bei denen diese Evidenzhierarchie nicht zugrunde gelegt werden konnte (z.B. Erfassung von Risikofaktoren), stand dabei im Vordergrund, dass ein angemessenes Studiendesign (z.B. hinsichtlich der Stichprobengröße) gewählt, die Studie gut strukturiert durchgeführt und die Ergebnisse transparent beschrieben wurde. Studien, die diesen Kriterien nicht standhielten wurden von dieser Literaturanalyse ausgeschlossen. 4.2 Einschätzung der Sturzrisikofaktoren* In der Literatur wird eine große Anzahl von unterschiedlichen Sturzrisikofaktoren diskutiert. Schon allein diese Tatsache verdeutlicht, dass ein Sturz ein komplexes und multifaktoriell bedingtes Geschehen ist. Gingen die Forscherinnen und Forscher noch bis Mitte der 1990er Jahre davon aus, dass es Risikofaktoren gibt, anhand derer eine Sturzvorhersage eindeutig möglich ist (Mayo et al. 1990, Jonsson et al. 1990, Myers et al. 1991, Lipsitz et al. 1991, Mahoney et al. 1994), so brachten Gluck et al. (1996) mit der Aussage „Die Vorhersage von Stürzen über Risikofaktoren [...] scheint weniger praktikabel als ursprünglich erhofft“ die Problematik auf den Punkt. Obgleich ein zweifelsfreier kausaler Zusammenhang zwischen Sturzrisikofaktoren und Stürzen nicht möglich ist, wurde in zunehmend spezifischeren Studien in den folgenden Jahren belegt, dass Risikofaktoren identifiziert werden können, die zweifelsfrei die Gefahr von Stürzen erhöhen. Als eindeutig belegt kann heute auch gelten, dass ein Sturzrisiko um so dramatischer zunimmt, je mehr Sturzrisikofaktoren bei einem Patient/Bewohner zusammen kommen. So zeigten Tinetti et al. (1988), dass das Risiko zu stürzen bei zu Hause lebenden Personen von 27 % bei einem oder keinem Risikofaktor auf 78% bei vier oder mehr Risikofaktoren ansteigt. Auch Nevitt et al. (1989) berichten von einem Anstieg der Sturzrate von 10 % auf 69 %, wenn die Zahl der Risikofaktoren von eins auf vier oder mehr ansteigt. Obgleich es eine hohe Evidenz dafür gibt, dass eine Sturzvorgeschichte (also zwei oder mehr Stürze im zurückliegenden Jahr), Mobilitätseinschränkungen und risikobehaftetes Verhalten als die bedeutendsten Risikofaktoren gelten, ist eine generelle Gewichtung (im Sinne einer Priorisierung) der Sturzrisikofaktoren nach dem jetzigen Stand der Forschung nicht haltbar. Sehr wohl aber können anhand der umfangreichen Studienlage modifizierbare Risikofaktoren benannt und systematisiert werden. Die Liste mit den zehn generellen Risikofaktoren (s. Tab. 1, S. 20) basiert auf den Ergebnissen der vorliegenden Literaturanalyse. Es wurden die Sturzrisikofaktoren einbezogen, deren Evidenz aufgrund mehrerer methodologisch guter Studien als belegt gelten kann. Eine Priorisierung, wie sie z. B. in der Übersichtsarbeit von Lord et al. (2001) oder Moreland et al. (2003) vorgenommen wurde, ist in dieser Literaturanalyse unterblieben. Die gesichteten Studien wurden aufgrund der verschiedenen Designs und der unterschiedlichen Untersuchungspopulationen als wenig vergleichbar eingestuft. Der Tabelle (s. S. 20) mit den modifizierbaren Risikofaktoren wurde die Unterteilung nach intrinsischen und extrinsischen Faktoren zugrunde gelegt. Unter intrinsischen Faktoren versteht man die Eigenschaften, die die sturzgefährdete Person mit sich bringt (Sensorik, Motorik, Krankheiten, körperliche Veränderungen usw.), während extrinsische Faktoren jene sind, die von außen auf die Person einwirken (Beleuchtung, Stufen, Hindernisse, Kleidung, Wetterverhältnisse, Medikamente usw.) (vgl. Rawsky und Digby 2000). Diese Faktoren werden im Folgenden näher erläutert. Da, wie bereits erwähnt, der Sturz ein multifaktorielles Geschehen ist, ist die isolierte Darstellung der einzelnen Risikofaktoren problematisch. Deshalb sollten sich die Leser in den weiteren Ausführungen zu den hier in der Übersicht dargestellten Faktoren stets vergegenwärtigen, dass nur selten 30 ein Risikofaktor für einen Sturz verantwortlich ist und gerade das Zusammenkommen mehrerer Faktoren die Gefahr für ein Sturzereignis deutlich erhöhen. *Tab. 1: modifizierbare Sturzrisikofaktoren (Anmerkung RSZ = Anamnese.- Wenn nicht geschehen = grober Pflichtverletzung) Unterteilung Intrinsische Risikofaktoren Risikofaktoren 1) Funktionseinbußen und Funktionsbeeinträchtigungen Probleme mit der Körperbalance/dem Gleichgewicht Gangveränderungen/eingeschränkte Bewegungsfähigkeit Erkrankungen, die mit veränderter Mobilität, Motorik und Sensibilität Extrinsische Risikofaktoren einhergehen - Multiple Sklerose - Parkinsonsche Erkrankung - Apoplexie/apoplektischer Insult - Polyneuropathie - Osteoathritis - Krebserkrankungen andere chronische Erkrankungen/schlechter klinischer Allgemeinzustand 2) Sehbeeinträchtigungen reduzierte Kontrastwahrnehmung reduzierte Sehschärfe ungeeignete Brillen 3) Beeinträchtigung der Kognition und Stimmung Demenz Depression Delir 4) Erkrankungen, die zu kurzzeitiger Ohnmacht führen Hypoglykämie Haltungsbedingte Hypotension Herzrhythmusstörungen TIA (Transitorische ischemische Attacke) Epilepsie 5) Inkontinenz Dranginkontinenz Probleme beim Toilettengang 6) Angst vor Stürzen 7) Sturzvorgeschichte 8) Personenbezogene Gefahren Verwendung von Hilfsmitteln Schuhe (Kleidung) 9) Medikamente Psychopharmaka Antidepressiva Neuroleptika Sedativa/Hypnotika Benzodiazepine 10) Gefahren in der Umgebung Innen: Schlechte Beleuchtung Steile Treppen Mangelnde Haltemöglichkeiten Glatte Böden Stolpergefahren (z. B. Teppichkanten, herumliegende Gegenstände, Haustiere) Außen: Unebene Gehwege und Straßen Mangelnde Sicherheitsausstattung (z. B. Haltemöglichkeiten, Beleuchtung) 31 Wetterverhältnisse 4.2.1 Funktionseinbußen und Funktionsbeeinträchtigungen Unter Funktionseinbußen subsumieren sich körperliche Veränderungen, die Auswirkungen auf das Stehen und Gehen haben. Im Einzelnen sind das: - Probleme mit der Körperbalance/dem Gleichgewicht - Gangveränderungen/eingeschränkte Bewegungsfähigkeit - Verschiedene Erkrankungen, die mit veränderter Mobilität, Motorik und Sensibilität einhergehen 4.2.1.1 Probleme mit der Körperbalance/dem Gleichgewicht Probleme mit der körperlichen Balance bzw. dem körperlichen Gleichgewicht sind häufig ermittelte Sturzrisikofaktoren (Tinetti 1988, 1993, 2000, Graafmans et al. 1996, Mahoney et al. 2000, Covinsky et al. 2001, Conner-Kerr, Templeton 2002, Cattaneo et al. 2002). Die Fähigkeit, den Körper auszubalancieren und nicht ins Schwanken zu geraten, kann daher als entscheidend zur Verhinderung von Stürzen angesehen werden. Körperschwankungen sind nach allen Seiten möglich. Sie sind abhängig von der Unterlage, auf der eine Person steht, von der Haltung der Arme und nicht zuletzt davon, ob die Augen offen oder geschlossen sind. Bezüglich der Relevanz dieser Schwankungen für die Sturzgefährdung wurden in den vorliegenden Studien verschiedene Ergebnisse erzielt: Lord et al. (1991) benennen Körperschwankungen als indirekt verantwortlich für die Erhöhung des Sturzrisikos. Schwankungen auf einem nachgiebigem Untergrund (z. B. tiefe Teppiche, Gras, Polster usw.) sind bedingt durch eine reduzierte Aufmerksamkeit, die durch den weichen Untergrund hervorgerufen werden. Sehr häufig geht diese reduzierte Aufmerksamkeit (z. B. bei älteren Menschen) mit einer Sehbeeinträchtigung einher. Diese wiederum beeinträchtigt die Kontrastwahrnehmung. Es fällt schwer, z. B. Unterschiede in der Bodenbeschaffenheit wahrzunehmen. Nach Tideiksaar (2000) ist das Sehvermögen ein „Grundpfeiler“, das Gleichgewicht zu halten, denn die Augen liefern eine Fülle von Informationen, z. B. über die Anordnung von Gegenständen und deren Abstand zum Körper oder die Art des Untergrunds, auf dem die nächste Bewegung stattfindet. Als bedeutsam für die Sturzgefährdung ermittelten Maki et al. (1994) bei Messungen von verschiedenen Arten der Körperschwankung nur das Ausmaß der seitlichen Körperschwankung. Lord et al. (1994) fanden heraus, dass Schwankungen auf einer nachgiebigen Unterlage bei geöffneten Augen zum Sturz führen können. Menschen, die dann stürzen, haben meist eine schlechte Vibrationswahrnehmung sowie Probleme mit der Eigenempfindung des Körpers (Tiefensensibilität). Meist liegt auch ein Kraftverlust in den Beinen und ein verlangsamtes Reaktionsvermögen vor. Baloh et al. (1995) fanden hingegen heraus, dass die Personen, die während ihrer Studie stürzten, kein erhöhtes Körperschwanken aufwiesen. Sie ermittelten aber, dass Körperschwanken ein Zeichen für eine schlechtere Balance ist. Dieses Ergebnis bestätigen Baloh et al. in einer weiteren Studie 1998. Stalenhoef et al. (2002) benennen jede Art einer abnormen Körperschwankung als Sturzrisikofaktor. Liegt eine Körperschwankung als einziger Risikofaktor vor, steht sie lediglich für ein niedriges Sturzrisiko. Erst in Verbindung mit den weiteren Faktoren, z. B. einer Sturzvorgeschichte (zwei oder mehr Stürze im vorangegangenen Jahr), geringer Kraft beim Greifen mit der Hand und einem depressiven Gemütszustand, kommt ein mittleres oder gar hohes Sturzrisiko zustande. Wenn man die Fähigkeit, den Körper in Balance zu halten, nicht fordert oder trainiert, (z. B. durch Stehen auf einem Bein oder Gehen über einen schmalen Steg), nimmt diese ab. Dies ist in besonderem Maße bei Menschen, die sich als sturzgefährdet empfinden, zu beobachten, da sie aus Angst vor dem Sturz bei ihren körperlichen Aktivitäten diese Balancefähigkeit nicht fördern. Dies kann so weit gehen, dass diese Menschen sich bei jeder Art der Bewegung an etwas festhalten. Derartiges Verhalten schützt zwar kurzfristig vor einem Sturz, die betreffenden Personen sind aber – wenn die Möglichkeit sich festzuhalten, 32 nicht mehr gegeben ist – in erhöhtem Maße sturzgefährdet. Maßnahmen zum Erhalt und zur Verbesserung der Körperbalance spielen daher bei den Untersuchungen zu Interventionen bei erhöhter Sturzgefährdung eine wichtige Rolle. Selbstverständlich erscheint, dass es einen Zusamenhang zwischen spezifischen Erkrankungen und einer Einschränkung bzw. Problemen im Zusammenhang mit der Körperbalance und oder dem Gleichgewicht gibt. Jedoch ist die Studienlage hier nicht zufriedenstellend. So ist beispielsweise ein Zusammenhang zwischen einem körperhaltungsbedingten Blutdruckabfall und einem erhöhten Sturzrisikos nach der derzeitigen Studienlage umstritten. Hinlänglich bekannt ist, dass es z. B. nach längerem Sitzen oder Liegen beim Aufstehen zu akutem Blutdruckabfall kommen kann, was von den betroffenen Personen als „schwarz vor Augen werden“ beschrieben wird. Dieser Zusammenhang war jedoch in keiner der vorliegenden Studien Untersuchungsgegenstand. Lediglich der Blutdruckabfall nach Einnahme einer Mahlzeit wurde in zwei Studien auf eine mögliche Relevanz für ein erhöhtes Sturzrisiko hin untersucht (Jonsson et al. 1990, Aronow & Ahn 1997). In beiden Studien kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass Personen, die diese Art des Blutdruckabfalls erfahren, als erhöht sturzgefährdet einzustufen sind. Jonsson et al. benennen zudem die Gefahr einer erhöhten Sturzgefährdung nach der Einnahme von Nitroglycerin. Hingegen konnte der körperhaltungsbedingte Blutdruckabfall nicht als signifikanter Sturzrisikofaktor ausgemacht werden (Liu et al. 1995, Lord et al. 1995). Probleme mit der Körperbalance/dem Gleichgewicht stellen einen gewichtigen Sturzrisikofaktor dar. Erkennbar sind diese Probleme meist an einer verstärkten Körperschwankung. Nicht selten führen Balancepropbleme zu einer Einschränkung der Aktivitäten und durch das damit einhergehende verringerte Training der Balancefähigkeit zu einer weiteren Verschlechterung. Die Balancefähigkeit muss ständig trainiert werden, dies ist im Rahmen von alltäglichen Aktivitäten wie z. B. beim Ankleiden oder beim Waschen möglich, sollte aber bei Patienten/Bewohnern mit Balanceproblemen (gerade im Rahmen einer Sturzprophylaxe) auch durch gezielte Übungen gefördert werden. 4.2.1.2 Gangveränderungen/eingeschränkte Bewegungsfähigkeit Wiederholt wurde durch unterschiedliche Studien bestätigt, dass eine Veränderung des Gangbildes ein Hinweis auf eine erhöhte Sturzgefährdung ist. Tinetti et al. (1993, 2000) weisen in mehreren Studien nach, dass Gangschwierigkeiten mit einer schlechten Balance in Verbindung zu bringen sind. Das bedeutet, am veränderten Gang kann eine erhöhte Sturzgefährdung erkannt werden, der Risikofaktor dahinter ist jedoch eine beeinträchtigte Balancefähigkeit. Luukinen et al. (1995) ermittelten, dass Personen, die auffallend langsam gehen, eine erhöhte Gefährdung zu Stürzen hatten. Auch Biderman et al. (2002) bestätigten eine geringe Ganggeschwindigkeit als Risikofaktor. Als Cut-off-Punkt nannten sie mehr als 10 sec für 5 Meter. Graafmans et al. (1996) und Koski et al. (1996) kommen zu dem Ergebnis, dass jede Art von Gangveränderung als Sturzrisikofaktor gilt. Auch Lundin-Olsson et al. (1997) weisen für Personen mit einem weniger sicheren Gang ein erhöhtes Sturzrisiko nach. Kiely et al. (1998) bewerten einen ungleichmäßigen Gang als Sturzrisikofaktor und auch Yap et al. (2003) kommen zu dem Schluss, dass eine allgemeine Ganginstabilität als Sturzrisikofaktor gelten kann. Einen weiteren Aspekt von Gangveränderungen ermittelten Lundin-Olsson et al. (1998). Sie stellten fest, dass Personen, die mehr als 4,5 Sekunden länger für den einfachen Timed Up & Go-Test als für den Timed Up & Go-Test verbunden mit einer manuellen Handlung benötigten, ein erhöhtes Sturzrisiko aufweisen. Beim Timed Up & Go-Test (Podsiadlo & Richardson, 1991) wird der Proband aufgefordert, mit einem normalen und sicheren Gang bis zu einer Linie zu gehen, die in drei Meter Entfernung vor seinem Stuhl auf dem Boden aufgezeichnet ist, sich dort umzudrehen, wieder zurück zum Stuhl zu gehen und sich in die Ausgangsposition zu begeben. Das Studienergebnis von Lundin-Olsson et al. (1998) zeigt eindeutig, dass Aufgaben, die einer erhöhten Aufmerksamkeit bedürfen, das Gangbild beeinträchtigen können und eine erhöhte Sturzgefährdung nach sich ziehen. 33 Wenn die Muskulatur der unteren Extremitäten nicht dauerhaft gefordert wird, kommt es zu einer Abnahme der Muskelkraft und Muskelspannung. Dies ist eine typische Folge von körperlicher Schonung, insbesondere bei längerer Bettlägerigkeit. Kiely et al. (1998) bestätigen, dass Bewohner von Altenheimen, die in ihren Tagesaktivitäten vermindert aktiv waren, eine erhöhte Sturzgefährdung aufweisen. Auch Graafmans et al. (1996) stellen fest, dass Personen mit Mobilitätseinschränkungen, die unter anderem auf reduzierte Muskelkraft bei der Streckung der Beine zurückzuführen waren, einer erhöhten Gefahr zu stürzen ausgesetzt waren. Lord et al. (1991) ergründeten eine verminderte Beugekraft des Fußgelenks zum Fußrücken hin als Kriterium einer Muskelschwäche bei sturzgefährdeten Personen. Die Verminderung der Kraft im Quadrizeps (großer Streckmuskel des Oberschenkels) war in dieser Studie bei Altenheimbewohnern, die mehrfach gestürzt waren, zwar niedriger als bei einmal oder bei nicht gestürzten Personen, aber nicht statistisch signifikant niedriger. Dass die Kraft des Quadrizeps eine Rolle bei mehrfach gestürzten zu Hause lebenden Frauen über 65 Jahre spielt, belegten Lord et al. (1994). Lipsitz et al. (1994) fanden bei ihrer Vergleichsstudie zwischen japanischen und amerikanischen gehfähigen Altenheimbewohnern heraus, dass Muskelschwäche zwar eine Bedeutung für eine erhöhte Sturzgefährdung hatte, dass diese aber abhängig von den vielen Charakteristika der Individuen, der Kultur und der jeweiligen Umgebung ist. Dass die Reduktion von Bewegungen zu einer erhöhten Gefahr bezüglich mehrfachen Stürzen führen kann, beleuchtete Gaebler (1993). Sie wies nach, dass Personen, die im Krankenhaus nach einem ersten Sturz zur Aktivitätseinschränkung aufgefordert wurden, auffällig dazu neigten, vermehrt zu stürzen. Es ist anzunehmen, dass auch Schmerzen eine indirekte Rolle bei der Sturzgefährdung spielen. Leicht vorstellbar ist, dass Schmerzen zu einer Bewegungsminderung führen, in deren Folge ein Rückgang der Muskulatur mit einer erhöhten Sturzgefährdung einher geht. Diesen Zusammenhang legt die Studie von Sherrington & Lord (1998) nahe, in der aufgezeigt werden konnte, dass Personen, die eine Hüftfraktur erlitten hatten, eine reduzierte Kraft im Quadrizeps und somit indirekt eine erhöhte Sturzgefährdung aufweisen. Veränderte (z. B. verzögerte, unsichere) Bewegungsabläufe deuten darauf hin, dass die betreffende Person Schwierigkeiten hat, sich ohne Einschränkungen zu bewegen. Sie können vielfältige Ursachen haben, z. B. körperliche Schwäche, Schmerzen, Ängste. Topper et al. (1993) stellen fest, dass Normabweichungen beim Transfer, bei Drehungen und beim Erreichen von Gegenständen Sturzrisikofaktoren darstellen. Mahoney et al. (1994) stellen fest, dass eine Verminderung der Mobilität bei der Aufnahme ins Krankenhaus zu einem erhöhten Sturzrisiko beiträgt. Auch Hendrich et al. (1995) ermitteln eine veränderte Mobilität als Sturzrisikofaktor. Graafmans et al. (1996) bestätigen bei alten Menschen, die in Altenhilfeeinrichtungen lebten, eine Mobilitätsbeeinträchtigung als Sturzrisikofaktor insbesondere für mehrmalige Stürze. Lundin-Olsson et al. (1997) stellen bei Altenheimbewohnern fest, dass jene, die in ihrer Mobilität verlangsamt waren und zudem in den Aktivitäten des täglichen Lebens Unterstützung benötigten, auch die Personen waren, die ihr Gehen unterbrachen, wenn sie zu sprechen begannen. Lundin-Olsson et al. nannten daher den Sturzrisikofaktor „stops walking when talking“. Auch Covinsky et al. (2001) nannten Normabweichungen bei der Mobilität als unabhängigen Risikofaktor. Sie wiesen jedoch darauf hin, dass die drei Risikofaktoren „Mobilitätsveränderungen“, „Sturzvorgeschichte“ und „Balanceschwierigkeiten oder Schwindel“ gemeinsam sehr viel deutlicher auf eine erhöhte Gefährdung hinweisen als einer der Faktoren alleine. Dass Veränderungen von Bewegungsabläufen, die auf eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit zurückzuführen sind, als eigenständiger Sturzrisikofaktor gelten, ist in vielen Studien belegt. Insbesondere bei Gangveränderungen, bei Muskelschwächen und bei Schmerzen im Zusammenhang mit Bewegungen ist von einer Erhöhung der Sturzgefahr auszugehen. Werden Bewegungen hingegen verlangsamt aber dennoch sicher durchgeführt, so kann dies zu einer Verminderung der Sturzgefahr führen (Maki et al. 1997). 34 4.2.1.3 Erkrankungen, die mit veränderter Mobilität, Motorik und Sensiblilität einhergehen Erkrankungen, die sich negativ auf die Mobilität, Motorik und Sensibilität auswirken, beeinträchtigen deutlich die Bewegungsfähigkeit der Patienten/Bewohner. Daher stehen folgende Krankheiten im Verdacht das Sturzrisiko zu erhöhen: Multiple Sklerose Parkinsonsche Erkrankung Apoplexie/apoplektischer Insult Polyneuropathie Osteoathritis Krebserkrankungen andere chronische Erkrankungen/schlechter Allgemeinzustand Cattaneo et al. (2002) stellten in ihrer Untersuchung fest, dass die Erkrankung Multiple Sklerose mit den drei Risikofaktoren „Balanceeinschränkung“, „Einschränkung der Gehfähigkeit“ und „Benutzung eines Gehstocks“ einher geht und die Erkrankten daher ein erhöhtes Sturzrisiko haben. Eine ganze Reihe von Untersuchungen belegen, dass die Parkinsonsche Erkrankung, aufgrund der mit ihr einhergehenden Symptome, als Sturzrisikofaktor anzusehen ist. Gray & Hildebrand (2000) machten insbesondere die Symptome Anlaufschwierigkeiten bei Bewegungen, unfreiwillige Bewegungen und Probleme mit der Kontrolle der Körperhaltung für eine erhöhte Sturzgefährdung aus. Auch Ashburn et al. (2001) fanden heraus, dass Parkinsonpatienten, die einen oder mehr Stürze innerhalb eines Jahres erfahren hatten, besonders gefährdet seien. Bloem et al. (2001) ermittelten eine 3mal höhere Rate an Stürzen bei Parkinsonpatienten gegenüber Personen, die nicht an dieser Erkrankung litten. Dies gelte auch für ein frühes Stadium der Erkrankung. Wood et al. (2002) belegten, dass die Parkinsonsche Erkrankung ganz besonders in Verbindung mit einer Demenz oder einer Depression, aber auch mit zunehmender Schwere der Krankheitssymptome als Sturzrisikofaktor an Bedeutung gewinne. Ein uneinheitliches Bild ergeben Untersuchungen des Apoplex bzw. des „apoplektischen Insults“ hinsichtlicher ihrer Bedeutung als Sturzrisikofaktor. Nachvollziehbar ist, dass Patienten mit dieser Erkrankung erhebliche Einschränkungen in der Motorik und Sensibilität erfahren und daher als erhöht sturzgefährdet gelten müssen. Diese generelle Aussage wird durch einzelne Studien spezifiziert aber auch relativiert. Das Krankheitsbild der Apoplexie wird beispielsweise von Byers et al. (1990) nicht per se als Sturzrisikofaktor bezeichnet, dies sei nur dann der Fall, wenn eine Sturzvorgeschichte, eine Beeinträchtigung beim Treffen von Entscheidungen, Unruhe, eine generelle Müdigkeit, ein abnormer Hämatokrit und eine leicht Ermüdbarkeit vorliegen. Mayo et al. (1990) ermittelten als Ursache für eine erhöhte Sturzgefährdung bei Apoplexiepatienten die langsamere Reaktionszeit auf Stimuli im beeinträchtigten Gesichtsfeld (ca. 2,5 sec). Dadurch gelinge es den Betroffenen nicht, angemessen auf sturzverursachende Situationen zu reagieren. Auch Lundin-Olsson et al. (1997) nennen neben anderen Erkrankungen auch den Apoplex als Grund für eine verlangsamte Mobilität, welche eine erhöhte Sturzgefährdung nach sich zieht. Auch bei anderen Erkrankungen finden sich deutliche Belege, dass diese als Sturzrisikofaktoren zu gelten haben. So fanden Koski et al. (1998) Belege, dass eine periphere Neuropathie bei selbständig lebenden Personen zu einer erhöhten Sturzgefährdung führte. Auch Richardson (2002) ermittelte das Krankheitsbild der Polyneuropathie als Sturzrisikofaktor, welcher mit der Schwere der Erkrankung wesentlich an Bedeutung gewinnt, insbesondere dann, wenn zusätzlich ein erhöhter BMI (Body Mass Index) vorliegt. Vereinzelt werden in weiteren Studien spezifische Gesundheitsveränderungen benannt, die als Sturzrisikofaktor identifiziert wurden. Clark et al. (1993) ergründeten beispielsweise die subjektive (Miss-)Empfindung einer verstärkten und beschleunigten Herzaktion (Herzklopfen) in der Vergangenheit als Sturzrisikofaktor. Hendrich et al. (1995) fanden eine erhöhtes Sturzrisiko bei Personen mit einer primären Krebsdiagnose, Arden et al. (1999) bei Personen mit einer Osteoathritis. Herdman et al. 35 (2000) stellten eine erhöhte Sturzgefährdung bei Personen mit einer beidseitigen Unterfunktion des Vestibularapparates (dem Gleichgewichtssinn dienende Funktionseinheit im Ohr) fest. Interessant ist in diesem Zusamenhang auch, dass Autoren das Vorliegen von chronischen Erkrankungen und verschlechtertem klinischen Allgemeinzustand als Sturzrisikofaktoren bewerten. So benannte Gaebler (1993) einen verschlechterten klinischen Zustand als Risikofaktor, einen Sturz zu erfahren, schränkte aber ein, dass dies nicht bedeute, danach weiterhin erhöht sturzgefährdet zu sein. Tinetti et al. (2000) benennen das Vorliegen von zwei oder mehr chronischen Erkrankungen als sturzrisikoerhöhend. Wallace et al. (2002) bezogen auch akute Erkrankungen mit ein und sprachen von einer oder mehrerer Zusatzerkrankungen. Lawlor et al. (2003) ermittelten ein erhöhtes Sturzrisiko bei Personen mit nur einer chronischen Erkrankung, aber auch bei multimorbiden Personen im Allgemeinen. Aus den Studien, in denen der Zusammenhang zwischen diversen Erkrankungen und einer Erhöhung der Sturzgefahr untersucht wurde, wird deutlich, dass die Symptome, die mit den Erkrankungen einher gehen, die eigentlichen Sturzrisikofaktoren darstellen. Für Pflegefachkräfte bedeutet dies, dass wenn bei Patienten/Bewohnern eine Diagnose der oben genannten Krankheiten vorliegt, sie überprüfen sollten, ob eine Einschränkung der Mobilität, der Motorik und der Sensiblilität festgestellt werden kann. Ist dies der Fall, wovon bei den genannten Erkrankungen im Regelfall ausgegangen werden muss, so ist die Erkrankung als Sturzrisikofaktor zu betrachten und die Symptome sollten pflegerisch und medizinisch behandelt werden. 4.2.2 Sehbeeinträchtigungen Dass Sehbeeinträchtigungen die Sturzgefahr erhöhen können, erscheint unmittelbar einleuchtend. Es ist leicht vorstellbar, dass Sturzgefahren zu spät erkannt oder übersehen werden können. Gaebler (1993) fand heraus, dass bei Personen, die mehrfach gestürzt waren, Sehbeeinträchtigung oder gar Blindheit fast immer als Risikofaktor vorhanden war. Lord et al. (1991) untersuchten den Zusammenhang zwischen Sehschärfe, Kontrastwahrnehmung und Stürzen bei Altenheimbewohnern. Sie kommen zu dem Schluss, dass Sehbeeinträchtigungen indirekt die Sturzgefährdung erhöhen. Sehbeeinträchtigungen sowie eine reduzierte Kontrastwahrnehmung führen auf einem nachgiebigen Untergrund zu Körperschwankungen, welche zu einem Sturz führen können. In einer weiteren Studie mit über vierhundert zu Hause lebenden Frauen bestätigten Lord et al. (1994), dass die Beeinträchtigung der visuellen Kontrastwahrnehmung einen Sturzrisikofaktor darstellt. Ivers et al. (1998) konnten aufzeigen, dass eine Verminderung der Sehschärfe, Sehfeldeinschränkungen, verminderte Kontrastwahrnehmung sowie der graue Star, deutliche Sturzrisikofaktoren darstellen. Ivers et al. (2000) untersuchten auch den Zusammenhang zwischen Sehbeeinträchtigungen und Hüftfrakturen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Sehbeeinträchtigungen das Sturzrisiko um 40% erhöht. Die höchste Gefahr ermittelten sie bei einer Sehbeeinträchtigung von mehr als 20/60 auf beiden Augen. Des Weiteren zählen sie eine Sehbeeinträchtigung beider Augen von 20/100, den Verlust der Tiefenschärfewahrnehmung, nachlassendes Räumlichkeitssehen, die subjektive Einschätzung, schlecht zu sehen, das Nichtaufsetzen der Brille und die Zeitspanne seit der letzten Augenuntersuchung als für das Sturzrisiko bedeutsam auf. Lord et al. (2002) untersuchten in diesem Zusamenhang die Folgen von Brillen mit Mehrstärkengläsern (für Kurz- und Weitsichtigkeit) in Bezug auf eine mögliche Sturzgefährdung. Sie kommen zu dem Schluss, dass diese Art Brillen die Sturzgefährdung erhöhen, da es wegen der Beeinträchtigung der Tiefensensibilität und der Sensibilität von seitlichen Kontrasten zu einer schlechteren Wahrnehmung von Hindernissen in kritischen Distanzen kommt. Sehbeeinträchtigungen stellen einen bedeutenden Sturzrisikofaktor dar. Dabei ist zu bedenken, dass die Beeinträchtigung von Sehschärfe und Tiefenschärfewahrnehmung vor allem bei schlechten Lichtverhältnissen zum Tragen kommt. Dabei kann das Erkennen von Gegenständen im Schatten, in schwach beleuchteten aber auch in extrem hellen Bereichen 36 erschwert sein und durch das Darüberfallen oder durch ungeschicktes Ausweichen zum Sturz führen. Als Sturzrisikofaktor gelten auch künstliche Sehbeeinträchtigungen durch unangepasste, ungeeignete oder der Situation nicht angemessene Brillen. 4.2.3 Beeinträchtigung der Kognition und Stimmung In der Literatur finden sich viele Belege, dass insbesondere das dementielle Syrom und die Erkrankung „Depression“ mit einer höheren Sturzgefährung einhergehen. Dies hat verschiedene Gründe, die im Folgenden näher erläutert werden. 4.2.3.1 Demenz Moreland et al. (2003) belegen in ihrer umfangreichen Übersichtsarbeit, in der 44 Studien zur Ermittlung von Sturzrisikofaktoren berücksichtigt wurden, eindeutig, dass die Erkrankung „Demenz“ für die Gruppe zuhause lebender älterer Personen ein zentraler, wenn nicht sogar der zentralste Grund für eine erhöhte Sturzgefährung ist. Leider ist dieser Zusammenhang für die Gruppe von Betroffenen, die in stationären Pflegeeinrichtungen leben, (noch) nicht ausreichend untersucht. Dennoch gibt es auch für diese Gruppe bereits deutliche Belege für einen Zusammenhang zwischen einer dementiellen Erkrankung und einer damit einhergehenden höheren Sturzgefährdung. In einer frühen Fallkontrollstudie mit 184 Personen ermittelten Myers et al. (1991) zunächst, dass das Syndrom Demenz das Risiko erhöht, sich bei einem Sturz eine Verletzung zuzuziehen. Nakamura et al. (1996) beobachteten Gangveränderungen, die aufgrund einer Demenz vom Alzheimer Typ bei 97 Altenheimbewohnern auftraten, als Sturzauslöser. Insbesondere die Variabilität der Schrittlänge stellt sich in dieser Studie als Vorhersagekriterium für Stürze heraus. Nakamura et al. stellen fest, dass die Variabilität der Schrittlänge und somit die Wahrscheinlichkeit zu stürzen in einem mittleren Stadium der Alzheimer Demenz deutlich höher ist als in einem frühen Stadium. Van Doorn et al. (2003) untersuchten in 59 Altenheimen, ob Bewohner mit dem Syndrom Demenz häufiger stürzten als Bewohner ohne Demenz. Von den 2015 neu in die Heime eingezogenen Bewohnern stürzten die Bewohner mit Demenz in Unabhängigkeit anderer Risikofaktoren fast doppelt so häufig als die Bewohner ohne Demenz. Van Doorn et al. geben mit ihrer zweijährigen prospektiven Kohortenstudie damit einen deutlichen Beleg, dass Demenz als unabhängiger Sturzrisikofaktor anzusehen ist. Auch Yap et al. (2003) ermittelten Altenheimbewohner, die neben Gangproblemen aufgrund des Syndroms Demenz oder anderer psychischer Erkrankungen Verhaltensauffälligkeiten entwickelt hatten, als am höchsten sturzgefährdet. Zu diesen Verhaltensauffälligkeiten gehörten Verwirrtheit und Desorientierung sowie Selbstüberschätzungen und Fehleinschätzungen von Situationen. Die Bedeutung des Syndroms Demenz als Sturzrisikofaktor bei Patienten im Krankenhaus ist ebenfalls noch wenig beforscht. Im Rahmen dieser Literaturanalyse wurden nur wenige Studien identifiziert, die sich mit diesem Zusamenhang beschäftigen. Nur in einer RCT konnten Salgado et al. (1994) neben den Risikofaktoren Psychopharmaka, Schlaganfall und beeinträchtigte Mobilität auch eine beeinträchtigte Orientierung als Sturzrisikofaktor ermitteln. Diese vier Risikofaktoren konnten bei 80 % der 44 untersuchten Personen, die im Rahmen ihres Krankenhausaufenthaltes gestürzt waren, nachgewiesen werden. In einer retrospektiven Datenauswertung bei 309 Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses identifizierten Tay et al. (2000) Frauen über 70 mit einer Depression oder einer Demenz, junge Epilepsiekranke und Patienten, die mehr als drei Arten von Medikamenten nahmen, als besonders sturzgefährdet. **Da das Syndrom Demenz aufgrund der damit einhergehenden Gangveränderungen, sowie der damit verbundenen Verhaltensveränderungen zu einem erhöhten Sturzrisiko führen kann, lassen sich keine plausiblen Gründe anführen, warum das Syndrom Demenz nicht auch für Patienten im Krankenhaus als eigenständiger Sturzrisikofaktor angesehen werden sollte. Insbesondere die, durch eine Einweisung ins Krankenhaus eintretende akute Veränderung der Umgebung, dürfte aufgrund der damit verbundenen Orientierungsschwierigkeiten bei Patienten mit Demenz die Sturzgefährdung höher werden lassen. 4.2.3.2 Depression 37 Häufig wird in der Fachliteratur beschrieben, dass sich die Erkrankung „Depression“ auch auf das Gangbild der Betroffenen auswirkt. Vor diesem Hintergrund ermittelten sowohl Tinetti et al. (1993) als auch Hendrich et al. (1995) bei Menschen mit der Diagnose Depression ein erhöhtes Sturzrisiko. Whooley et al. ( 1999) untersuchten, ob Frauen mit ausgeprägten depressiven Symptomen eine erhöhte Frakturengefahr aufwiesen. Obgleich sie für diese Annahme bei den 7414 Teilnehmerinnen keine Belege finden konnten, identifizierten sie bei depressiven ein 11 % höheres Sturzrisiko als bei nicht an einer Depression erkrankten Frauen. Auch Stalenhoef et al. (2002) konnten in ihrer Untersuchung einen „depressiven Gemütszustand“ im allgemeinen als Sturzrisikofaktor bei zu Hause lebenden Personen über 70 ermitteln. Biderman et al. (2002) kommen zu dem Schluss, dass eine Überprüfung des Vorliegens einiger depressiver Symptome besser geeignet ist, eine Sturzgefährdung zu erkennen, als die ohnehin schwer zu stellende Diagnose Depression abzuwarten. Sie nennen folgende Symptome zur Einschätzung: niedrige Selbsteinschätzung der Gesundheit, schlechter kognitiver Status, eingeschränkte ADLs, zwei oder mehr Krankenhausbesuche im letzten Monat, geringe Ganggeschwindigkeit (mehr als 10 Sek. für 5 Meter). Kron et al. (2003) gingen zunächst davon aus, dass eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses einen Sturzrisikofaktor darstellt, konnten aber durch die Auswertung der Daten ihrer einjährigen Beobachtung von 472 Heimbewohnern feststellen, dass depressive Symptome im Zusammenspiel mit anderen Risikofaktoren (Unterstützung beim Transfer, Urininkontinenz, Sturzvorgeschichte und freiheitseinschränkende Maßnahmen) eindeutige Prädiktoren für ein erhöhtes Sturzrisiko darstellten. Sheeran et al. (2004), die ein Unterstützungsprogramm für zu Hause lebende Personen mit depressiven Symptomen oder dauerhafter Freud- und Lustlosigkeit (Anhedonie) entwickelten, sprachen bei diesen Personen von einem dreifach erhöhten Sturzrisiko. Das Syndrom Demenz, die Erkrankung Depression, sowie eine depressive Stimmungslage wurden in mehreren Untersuchungen als Sturzrisikofaktoren identifiziert. Worin dieser Zusammenhang begründet liegt ist aber bislang kaum erforscht. Denkbar wäre, dass Gangveränderungen und eine herabgesetzte Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Bewegungen und gegenüber der Umgebung aus diesen Phänomenen resultieren, die eine erhöhte Sturzrate nach sich ziehen. Diesbezüglich besteht dringender Forschungsbedarf um die betreffenden Patienten/Bewohner durch zielgerichtete Interventionen unterstützen zu können. 4.2.4 Erkrankungen, die zu kurzzeitiger Ohnmacht führen Eine Ohnmacht wird als Ausfall bestimmter Körperfunktionen definiert, die insbesondere mit einer Minderdurchblutung im Gehirn einhergeht. Durch das zu Boden stürzen und das in die Waagerechte kommen des gesamten Körpers wird das Gehirn wieder besser durchblutet. Nach einer Untersuchung von Rubenstein et al. (2002) findet der Risikofaktor Ohnmacht (Black-Out, Synkope) bislang in Bezug auf Stürze zu wenig Beachtung. In den meisten Studien sind Stürze, die durch Ohnmachtsanfälle verursacht werden, ausgenommen. Nevitt et al. (1991) belegen, dass das Risiko für Frakturen und andere Verletzungen bei durch Ohnmacht ausgelösten Stürzen 5,9 Mal höher ist als bei Stürzen aufgrund anderer Ursachen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass kurzzeitige Ohnmachtsanfälle ein gravierender Risikofaktor für Stürze und auch für sturzbedingte Verletzungen darstellt. Da es, wenn es zu einem Ohnmachtsanfall kommt, meist schon zu spät für die Verhinderung eines Sturzes ist, sollte besonderes Augenmerk auf die Pflege und Behandlung von Patienten/Bewohnern mit folgenden Erkrankungen gelegt werden: Hypoglykämie Unterzuckerung, insbesondere bei Personen mit Diabetes mellitus, aber auch nach längerer Nahrungskarenz. 38 Haltungsbedingte Hypotension z. B. Blutdruckabfall beim Aufstehen. Herzrhythmusstörungen z. B. bei Trägern von Herzschrittmachern. TIA Transitorische ischämische Attacke = leichteste, flüchtige Form der Durchblutungsstörung einer Gehirnregion mit daraus resultierender plötzlich eintretender – von der Lokalisation abhängiger – neurologischer Symptomatik; in Bezug auf Stürze insbesondere der plötzliche Gleichgewichtsverlust. Epilepsie Anfallsleiden verschiedener Ursachen, z. B. infolge hirnorganischer Erkrankungen, Stofwechselstörungen, familiärer Belastung oder ohne nachweisbare Ursachen. Das Krankheitsbild ist charakterisiert durch das wiederholte Auftreten »zerebraler« Anfälle, die mit allgemeinen oder aber mit begrenzten, »nichtgeneralisierten« Krämpfen einhergehen. Diese führen insbesondere bei Krämpfen in den Extremitäten zu Stürzen. Da diese Erkrankungen nur bedingt pflegerisch beeinflusst werden können, ist eine enge Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten unabdingbar. 4.2.5 Inkontinenz Es existieren eine Vielzahl von Untersuchungen, die mit dem Ziel durchgeführt wurden, generelle Sturzrisikofaktoren ausfindig zu machen. In einigen dieser Studien wurde eine bestehende Inkontinenz als einer dieser Faktoren ermittelt. Dabei schien es keine Rolle zu spielen ob sich die Patienten/Bewohner zu Hause (Tromp et al. 2001, De Rekeneire et al. 2003), in einem Krankenhaus (Gluck et al. 1996, Nyberg & Gustafson 1997, Stevenson et al. 1998) oder in Einrichtungen der Altenhilfe (Kron et al. 2003) aufhielten. Stewart et al. (1992) sowie Brown et al. (2000) untersuchten explizit den Zusammenhang zwischen Inkontinenz und dem Auftreten von Stürzen. Stewart et al. (1992) kamen zu dem Schluss, dass eine durch zwei oder mehr Toilettengänge gekennzeichnete Nykturie einen bedeutenden Sturzrisikofaktor bei zu Hause lebenden Personen darstellt. Sie konnten zudem belegen, dass sich das Risiko zu stürzen nochmals bedeutend erhöht, wenn drei oder noch mehr Toilettengänge pro Nacht notwendig wurden. Brown et al. (2000) untersuchten den Zusammenhang zwischen der Form der Inkontinenz und der damit verbundenen Gefahr zu stürzen. Sie identifizierten eine wöchentlich oder häufiger auftretende Dranginkontinenz als unabhängigen Sturzrisikofaktor bei zu Hause lebenden Frauen, die älter als 75 waren. Sie beschreiben die damit verbundene Eile beim Aufsuchen der Toilette als bedeutsamen Aspekt, der letztendlich entscheidend für einen Sturz ist. Als weiteren Sturzrisikofaktor ermittelten Brown et al. häufige Toilettengänge, insbesondere wenn diese auch in der Nacht nötig waren. Andere Arten der Inkontinenz (z. B. die von den Patienten häufig genannte Stressinkontinenz) konnten durch die von Brown et al. durchgeführte Befragung nicht als unabhängige Sturzrisikofaktoren ausgemacht werden. Inkontinenz ist als Sturzrisikofaktor anzusehen. Dieser scheint aber üblicherweise erst in Kombination mit anderen Sturzrisikofaktoren wie Bewegungs- oder Sehbeeinträchtigungen an Bedeutung zu gewinnen. Als unabhängige Sturzrisikofaktoren können eine Dranginkontinenz sowie eine Nykturie bei zu Hause lebenden und nicht mit Inkontinenzmaterialien versorgten Patienten angesehen werden. Inkontinenzformen sowie die Ursachen einer Nykturie sollten daher auch im Sinne der Sturzprophylaxe diagnostisch abgesichert und pflegerisch adäquat behandelt werden. 4.2.6 Angst vor Stürzen Das Phänomen „Angst vor einem Sturz“ ist durch viele Studien als Sturzfolge und als Sturzrisiko belegt. Von einigen Forschern wurden deshalb auch Instrumente entwickelt, um das Ausmaß der Sturzangst bestimmen zu können (Tinetti et al. 1990, Hill et al. 1996, Lachman et al. 1998). Die Auswirkungen der Sturzangst wurden hinsichtlich mehrerer 39 Parameter untersucht. Es existieren Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Sturzangst und der Reduktion von Aktivitäten (Howland et al. 1998, Bruce et al. 2002, Li et al. 2003, Jamison et al. 2003, Fletcher & Hirdes 2004, Delbaere et al. 2004), einem verminderten Gesundheitszustand (Vellas et al. 1997, Lawrence et al. 1998, Howland et al. 1998, Aoyagi et al. 1998, Cumming et al. 2000), der Verminderung der Lebensqualität (Salkeld et al. 2000, Li et al. 2003), der Verminderung der Balancefähigkeit (Maki et al. 1991, Vellas et al. 1997, Binda et al. 2003) der Verminderung der körperlichen Funktionalität bzw. der Fähigkeit sich vor Stürzen zu schützen (Arfken et al. 1994, Franzoni et al. 1994, Tinetti et al. 1994, Petrella et al. 2000, Fuzhong et al. 2002, Li et al. 2003). Ob diese Phänomene jedoch eine Folge der Sturzangst oder aber die Sturzangst eine Folge dieser Phänomene ist, ist nicht eindeutig geklärt. Interessanterweise ist der direkte Zusammenhang zwischen einer Sturzangst und einer tatsächlich erhöhten Sturzgefahr kaum untersucht. Delbaere et al. (2004) beschreiben einen indirekten Zusammenhang: Die Sturzangst führe zur Vermeidung von Aktivitäten des täglichen Lebens, was auf Dauer negative Auswirkungen auf die physischen Fähigkeiten habe. Die Verminderung der physischen Fähigkeiten sei, so stellten die Autoren fest, insbesondere bei alten Frauen ein Hinweis, dass diese Personen hoch sturzgefährdet seien. Mehrfach konnte gezeigt werden, dass Personen Sturzangst in Folge eines Sturzereignisses entwickeln (Vellas et al. 1997, Howland et al. 1998, Friedman et al. 2002, Murphy et al. 2003, Fletcher & Hirdes 2004). Bei diesen Personen ist die Sturzangst also der Beleg für den Sturzrisikofaktor Sturzvorgeschichte. Andererseits ist mehrfach beschrieben, dass Personen Sturzangst haben können, ohne bereits einen Sturz erlitten zu haben (Tinetti et al. 1988, Maki et al. 1991, Tinetti et al. 1994, Burker et al. 1995, Myers et al. 1996, Lawrence et al. 1998). Legters (2002) ermittelte in ihrer Übersichtsarbeit zahlreiche Faktoren, die zur Entwicklung von Sturzangst beitragen. Die genauen Gründe seien jedoch noch unklar. In mehreren Studien wurden folgende, die Sturzangst begünstigende Faktoren aufgezeigt: schlechter Gesundheitszustand (Vellas et al. 1997, Friedman et al. 2002, Suzuki et al. 2002, Fletcher & Hirdes 2004), Gangprobleme (Vellas et al. 1997, Kressig et al. 2001, Suzuki et al. 2002, Murphy et al. 2003), Depressionen (Suzuki et al. 2002, Kressig et al. 2001), eine Sturzvorgeschichte (Vellas et al. 1997, Howland et al. 1998, Friedman et al. 2002, Murphy et al. 2003, Fletcher & Hirdes 2004) und ein Mangel an emotionaler Unterstützung nach Stürzen (Murphy et al. 2003, Fletcher & Hirdes 2004). In einzelnen Studien wurden die Benutzung von Gehhilfen (Kressig et al. 2001), ein geringer kognitiver Status (Vellas et al. 1997), geringe ökonomische Ressourcen (Vellas et al. 1997), ein hohes Alter (Murphy et al. 2003), Sehbeeinträchtigungen (Murphy et al. 2003), die Einnahme von vier oder mehr Medikamenten (Friedman et al. 2002) und ein weibliches Geschlecht (Fletcher & Hirdes 2004) als ursächlich für die Entwicklung von Sturzangst ermittelt. Da viele dieser Faktoren für sich genommen schon einen Sturzrisikofaktor darstellen, kann in den meisten Fällen davon ausgegangen werden, dass Personen mit Sturzangst insgesamt ein erhöhtes Sturzrisiko haben. Sturzangst kann demnach als Indiz für eine erhöhte Sturzgefahr interpretiert werden. Für die pflegerische Beurteilung ist es nebensächlich, ob 40 der Zusammenhang zwischen dieser Angst und der erhöhten Sturzgefahr direkt oder indirekt zustande kommt. Pflegende sollten bei der Erfassung von Sturzrisikofaktoren aber auch bedenken, dass Personen ohne Sturzangst dennoch ein sehr hohes Sturzrisiko haben können. Das kann zum einen daran liegen, dass diese Personen ihre Sturzangst verdrängen (Männer scheinen z. B. nach eigenen Angaben selten Sturzangst zu haben), zum anderen daran liegen, dass Personen durch kognitive Einschränkungen ihre Sturzangst nicht deutlich machen können. 4.2.7 Personenbezogene Gefahren Personenbezogene Gefahren zählen zu den extrinsischen Faktoren. Sie sind also Teil der Faktoren, die von außen auf die Person einwirken wie z. B. - Schuhe und Kleidung - die Verwendung von Hilfsmittel 4.2.7.1 Schuhe und Kleidung Die Kleidung kann bei der Erhöhung der Sturzgefahr eine Rolle spielen. Dies reicht von defekten Hosensäumen über offene Schnürsenkel bis hin zu Strumpfhosen, die beim Toilettengang hinderlich sein können. Insbesondere das An- und Ausziehen kann risikobehaftet sein, gerade auch beim Toilettengang. Eine schwierige Situation kann dadurch entstehen, dass z. B. ältere Menschen schnell eine Toilette aufsuchen müssen, dann Hosen, Strumpfhosen und Unterwäsche in kurzer Zeit herunterstreifen und sich in dieser körperlich belastenden Situation auch noch richtig auf die Toilette setzen müssen. Gleiches gilt beim Anziehen nach dem Toilettengang. Die Unterwäsche, Strumpfhosen und Hosen müssen vom Boden hochgezogen werden. Durch das Herunterbücken entsteht eine Instabilität durch die Verlagerung des Körperschwerpunktes. Bei Hosen und Röcken besteht die besondere Gefahr darin, dass man beim An- und Ausziehen für kurze Zeit auf einem Bein stehen muss, bei Pullovern und Kleidern darin, dass es zu Schwindel kommen kann beim Überziehen über den Kopf. Noch schwieriger ist die Situation beim Anziehen von Socken und Strümpfen, weil man auf einem Bein stehend noch feinmotorische Handgriffe durchführen muss, wie das Überstreifen der Socken und Strümpfe. Beim Anziehen von Schuhen ist die Sturzgefahr dadurch erhöht, dass man sich herunterbücken muss, wobei einem schwindlig werden kann. Ebenso muss der Fuß den Schuh treffen, was bei älteren multimorbiden Patienten/Bewohnern schwierig werden kann, denn dies bedarf einer guten Augen-Fuß-Koordination. Gerade das längere heruntergebückte Stehen beim Schnüren von Schuhen birgt eine besondere Gefahrensituation. Die Bedeutung der Kleidung bezüglich der Sturzgefährdung ist allerdings nicht durch Studien belegt. Es konnte keine Studie recherchiert werden, in der der Zusammenhang zwischen Kleidung und Sturzrisiko thematisiert wurde. Einzige Ausnahme stellt das Kleidungsstück „Schuh“ dar. Dunne et al. (1993) konstatieren, dass zwei Drittel der von ihnen befragten über 65-Jährigen feste Schuhe von Zeit zu Zeit tragen. Als Gründe, keine festen Schuhe zu tragen, wurden Fußprobleme, Schwierigkeiten beim Anziehen, die hohen Preise, die Stilfrage und geringes Wissen über deren Nutzen genannt. Dunne et al. machen keine Aussage über den Zusammenhang zwischen festen Schuhen und der Verringerung des Sturzrisikos, forderten dennoch ein Programm, um das Tragen fester Schuhe bei älteren Menschen zu erhöhen. Arnadottir & Mercer (2000) stellen fest, dass die Ergebnisse bei Mobilitätstest besser ausfielen, wenn die getesteten Personen barfuss waren oder Gehschuhe (walking shoes) im Gegensatz zu feinen Schuhen (dress shoes) trugen. Sherrington & Menz (2003) stellen fest, dass das Tragen von Slippern oder Schuhen ohne Halteriemen mit einem erhöhen Risiko zu stolpern einher geht. Des Weiteren kommen sie zu dem Ergebnis, dass Personen, die eine sturzbedingte Hüftfraktur erlitten hatten, potenziell gefährliches Schuhwerk zum Zeitpunkt des Sturzes trugen. Alle Autoren, die sich mit dem Thema Schuhe und Sturzgefährdung beschäftigten, fordern weiter Untersuchungen. So könne man sich auch vorstellen, dass Schuhe, die drücken, eine 41 negative Auswirkung auf die Sicherheit des Ganges haben können. Vorstellbar ist auch, dass eingewachsene Nägel, Hühneraugen, Wunden und Blasen zu Schmerzen führen können, die dann durch unsicheres Auftreten den Gang unsicher machen und damit die Sturzgefahr erhöhen. Dass das Schuhwerk gerade im Freien und bei winterlichen Wetterverhältnissen eine Rolle bei der Sturzgefährdung spielt, ist ebenfalls leicht vorstellbar. Es konnten aber auch bezüglich dieses Zusammenhangs keine Studien ausfindig gemacht werden. 4.2.7.2 Verwendung von Hilfsmitteln Hilfsmittel werden in der Regel von Personen benutzt, die in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt ist. Diese Hilfsmittel vermindern zwar das Sturzrisiko, es bleibt aber immer ein Restrisiko bestehen. Das Restrisiko ist immer noch höher, als bei Personen, die nur ein geringes Sturzrisiko haben. So benennen Mahoney et al. (1994) die Benutzung eines Hilfsmittels generell als Sturzrisikofaktor. Auch Kiely et al. (1998) bestätigen die Verwendung eines Gehstocks oder Gehwagens als Sturzrisikofaktor. Mahoney et al. (2000) ermittelten auch Personen, die bei einer Einweisung ins Krankenhaus einen Gehwagen benutzten, als erhöht sturzgefährdet. Wenn Personen aber aus dem Krankenhaus entlassen wurden und danach einen Stock benutzten, so senkten sie dadurch ihr Sturzrisiko. Cattaneo et al. (2002) bezeichnen bei Personen mit der Erkrankung „Multiple Sklerose“ die Benutzung eines Stocks als Sturzrisikofaktor. Denkbar ist auch, dass die Hilfsmittel selbst eine Erhöhung der Sturzgefahr darstellen, insbesondere dann, wenn sie nicht in einwandfreiem Zustand sind. Bei Stöcken können das beispielsweise defekte Gumminoppen sein, bei Gehwagen sind die Griffe zum Teil nicht fest montiert und die Räder sind nicht gängig. Viele Hilfsmittel sind nicht richtig an die Person angepasst (z. B. können die Höhenverhältnisse nicht stimmen, insbesondere bei selbstgekauften Stöcken). Man kann z. B. in der Pflege beobachten, dass die Stöcke und Gehwagen oft zu hoch (Gehstock und Gehwagen in Brusthöhe) oder zu niedrig sind, so dass die betreffenden Personen gebückt und schief gehen müssen. 4.2.8 Medikamente Betrachtet man die Hinweise zu Effekten und Nebenwirkungen von Medikamenten in der Fachliteratur, so ist plausibel, dass eine Vielzahl von Medikamenten zu einem höheren Sturzrisiko beitragen können. Leipzig et al. (1999) beschreiben in ihrer Übersichtsarbeit fünf Klassen von Medikamenten, deren Einnahme eindeutig mit einer Erhöhung des Sturzrisikos einhergeht: Psychopharmaka Antidepressiva Neuroleptika Sedativa/Hypnotika Benzodiazepine Leipzig et al. keine Aussage darüber, inwiefern die Dosierung (angemessen, über- oder unterdosiert) eine Auswirkung auf die Sturzgefährdung darstellt. Dies scheint auch in Anbetracht der Heterogenität von den verschiedenen Medikamentenklassen und Einzelmedikamenten nicht möglich. Dennoch ist auch hier plausibel nachvollziehbar, dass nicht nur der Wirkstoff, sondern eben auch die Dosierung über die Höhe der Sturzrisikogefährdung entscheiden. Des Weiteren wurde bislang in Studien nicht nachgewiesen, inwiefern die Einnahme der oben genannten Medikamente bzw. Medikamentenklassen die Sturzfolgen verschlimmern oder vielleicht sogar vermindern. Aber immerhin in fünf Studien wurde belegt, dass die Einnahme von mehr als drei Medikamenten mit einer Erhöhung des Sturzrisikos einhergeht (Cumming et al. 1991, Lipsitz et al. 1991, Lord et al. 1991, Studenski et al. 1994, Lord et al. 1995). Das bedeutet, dass insbesondere die Kombination von Medikamenten und/oder Medikamentenklassen erfasst und beachtet werden müssen, um eine Erhöhung des Sturzrisikos zu ermitteln. 42 In nur wenigen Studien wurden bestimmte/ausgewählte Medikamentenklassen gesondert im Hinblick auf ein Sturzrisiko beforscht. Die Ergebnisse zeigen kein einheitliches Bild, was die Vermutung nahe legt, dass der Forschungsbedarf in diesem Bereich immens ist. Ray et al. (2000) untersuchten, ob kurzwirksame Benzodiazepine in Bezug auf das Sturzrisiko deutlich besser abschneiden als langwirksame. Sie kommen zu dem Schluss, dass kurzwirksame Benzodiazepine zwar eine geringere Erhöhung des Sturzrisikos zur Folge haben als langwirksame, dass aber die Gefahr eines nächtlichen Sturzes bei beiden Medikamentengruppen erhöht sei. In einer weiteren Übersichtsarbeit untersuchten Leipzig et al. (1999) die Medikamentengruppen Herzmedikamente und Analgetika. Von den 14 untersuchten Arten von Herzmedikamenten und Analgetika wiesen nur Diuretika, Digoxine und die Typ IA Antiarrhythmika eine Signifikanz bezüglich des Sturzrisikos auf. Leipzig et al. (1999) kommen zu dem Schluss, dass nur ein geringer Zusammenhang zwischen der Einnahme von Herzmedikamenten und Analgetika und einem erhöhten Sturzrisiko besteht. Obgleich bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Medikamenten und der Erhöhung der Sturzgefährdung noch deutlicher Forschungsbedarf besteht, *ist davon auszugehen, dass die Einnahme von Psychopharmaka, Antidepressiva, Neuroleptika, Sedativa/Hypnotika und Benzodiazepine einen Sturzrisikofaktor darstellt. Dass Nebenwirkungen durch eine nicht individuell auf die Patienten/Bewohner abgestimmte Dosierung erhöht werden ist hinlänglich bekannt. Dies trifft sicherlich auch auf sturzrelevante Nebenwirkungen wie Schwindel, Koordinationsstörungen, Müdigkeit und Muskelschwäche oder –krämpfe zu. Pflegefachkräften kommt die Aufgabe zu Neben- und auch Wechselwirkungen zu erfassen und diese den behandelnden Ärzten umgehend zu melden, um eine Anpassung der Medikation zu initiieren. 4.2.9 Gefahren in der Umgebung Stürze ereignen sich stets in einem räumlichen Umfeld. Dass Gefahren in der Umgebung zu Stürzen führen können, wird nicht angezweifelt. Darüber hinaus gehört es zu einer allgemeinen Lebenserfahrung, einmal über etwas gestolpert zu sein oder auf einer glatten Oberfläche ausgerutscht zu sein. Auch das Stolpern auf einer Treppe sowohl beim Hinaufals auch beim Hinuntergehen gehört zu den Erfahrungen des Alltagslebens. Tinetti (1988) stellte fest, dass bei 44 % der von ihr untersuchten Stürze identifizierbare Gefahren in der Umgebung vorhanden waren. Fleming & Pendergast (1993) werteten die Ursachen von 294 Stürzen in einem Pflegeheim aus mit dem Ergebnis, dass die Hälfte der Situationsbeschreibungen auf einen Zusammenhang mit der Umgebung schließen lässt. In Anlehnung an die Arbeit von Woolf und Åkesson (2003) können die folgenden zentralen Gefahren in der Umgebung, die mit einer Erhöhung des Sturzrisikos einher gehen können, genannt und systematisiert werden. Innerhalb von Räumen und Gebäuden Schlechte Beleuchtung Steile Treppen Mangelnde Haltemöglichkeiten Glatte Böden Stolpergefahren ( z. B. lose Teppiche, Haustiere, herumliegende Gegenstände) Außerhalb von Räumen und Gebäuden Unebene Gehwege und Straßen Mangelnde Sicherheitsausstattung Wetterverhältnisse Doch trotz der vermeintlichen Eindeutigkeit der Bedeutung der räumlichen Umgebung als Sturzrisikofaktor muss festgestellt werden, dass die Forschunglage diesbezüglich nicht sehr umfangreich ist. Nur in wenigen Studien wurden direkte Zusammenhänge zwischen Gefahren in der Umgebung und damit verbundenen Stürzen untersucht. Clemson et al. (1996) stellen beispielsweise fest, dass in Wohnungen von gestürzten Personen insgesamt nicht mehr Sturzgefahren vorhanden waren, als in anderen Wohnungen. Bei Personen mit kognitiven Einschränkungen, die gestürzt waren, fanden sie aber signifikant mehr 43 Sturzgefahren, als in den Wohnungen von kognitiv beeinträchtigten Personen, die nicht gestürzt waren. Bei wie vielen Personen aber Gefahren in der Umgebung allein ursächlich für Stürze waren, wurde implizit noch nicht untersucht. Auch Gill et al. (2000) konnten in ihrer Studie bei 1088 Personen keinen konsistenten Zusammenhang zwischen den gefundenen Sturzgefahren im Haushalt und den beobachteten Sturzereignissen feststellen. Dass Gefahren in der Umgebung zu Stürzen führen können, wird niemand ernstlich anzweifeln. Dass Patienten/Bewohner in einer Umgebung, in der viele Sturzgefahren vorhanden sind, aus diesem Grund häufiger stürzen, ist jedoch nicht durch Untersuchungen belegt. Vielmehr kommt den Gefahren in der Umgebung eher eine sekundäre Bedeutung zu. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei Vorhandensein von Risikofaktoren eine Gefahr in der Umgebung den letztlichen Auslöser eines Sturzes darstellt. Ein Sturz ist stets multifaktoriell bedingt. Bei einer retrospektiven Analyse von Stürzen kann daher auch eine unbegrenzte Anzahl von Ursachen ermittelt werden. Viele dieser Ursachen können anhand identifizierter Risikofaktoren vorausgesehen werden. Werden diese Risikofaktoren dann durch zielgerichtete Interventionen modifiziert, so können einzelne Sturzereignisse vermieden werden. Obgleich korrelierend zu den Ursachen auch eine unbegrenzte Anzahl von Sturzrisikofaktoren diskutiert werden, ist es in der Regel ausreichend sich auf die Erfassung der wesentlichen, modifizierbaren Sturzrisikofaktoren zu konzentrieren. Dabei wird offensichtlich, dass insbesondere alte und multimorbide Patienten/Bewohner überwiegend mehrere Sturzrisikofaktoren mitbringen. Es ist also davon auszugehen, dass gerade diese Personen stets ein erhöhtes Sturzrisiko haben. 4.2.10 Einschätzung des Sturzrisikos Mit einer formalisierten Überprüfung der Sturzrisikofaktoren eines Patienten/Bewohners, kann grundsätzlich festgestellt werden, ob eine Sturzgefährdung vorliegt. Wie hoch dieses Risiko tatsächlich ist, kann damit aber nicht ermittelt werden. Um eine Quantifizierung des Sturzrisikos vorzunehmen, wäre ein Instrument notwendig, welches den einzelnen Risikofaktoren Werte zuordnet. Die Höhe des Sturzrisikos (z. B. niedrig, mittel, hoch) könnte sich dann aus dieser Bewertung ableiten lassen. In den vergangenen zwanzig Jahren wurden zu diesem Zweck weltweit eine ganze Reihe von Assessmentinstrumenten zur Einschätzung des Sturzrisikos entwickelt und in unterschiedlichen Settings erprobt. Es handelt sich dabei in der Mehrzahl um Instrumente, die für die Anwendung durch Pflegefachkräfte entwickelt wurden. Erprobungen dieser Instrumente fanden in drei Pflegebereichen statt: 1. Krankenhäusern (Morse et al. 1987, Berryman et al. 1989, Schmid 1990, Hendrich et al. 1995, MacAvoy et al. 1996, Oliver et al. 1997, Conley et al. 2000, Gardner et al. 2001, Izumi et al. 2002, Hendrich et al. 2003), 2. Einrichtungen der Altenpflege (Spellbring et al. 1988, Berg et al. 1992, Lundin-Olsson et al. 2000, Izumi et al. 2002) 3. und in der häuslichen Pflege (Tinetti 1986, Vellas et al. 1997, Cwikel et al. 1998, Mackenzie et al. 2000, Clemson et al. 2003). Bewertungen dieser Instrumente werden in Übersichtsarbeiten von Whedon & Shedd (1989), Eagle et al. (1999), Perell et al. (2001), Myers (2003) sowie Rogers et al. (2003) vorgenommen. Alle Autoren vertreten die Ansicht, dass als Kriterien für die Qualität eines Sturzrisikoassessmentinstruments eine hohe Sensitivität, eine hohe Spezifität, eine hohe Reliabilität und Validität zu gelten haben. Es wird bemängelt, dass bei vielen Studien zu diesen Parametern keinerlei Angaben gemacht werden (z. B. Spellbring et al. 1988; Hendrich 1988, Berryman et al. 1989). Myers (2003) kritisiert zudem, dass die Instrumente nur für eng umgrenzte Zielgruppen konzipiert und validiert wurden (z. B. Oliver et al. 1997; Conley et al. 1999). Perell et al. (2001) benennen neben der Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität noch weitere Kriterien für die Entscheidung, ob ein Instrument einer Situation angemessen ist: Gleichartigkeit der Patientenpopulation, für die das Instrument entwickelt wurde 44 Vorliegen von Veröffentlichungen, die die angemessene Verwendung des Instruments beschreiben zumutbarer Zeitaufwand für die Handhabung des Instruments bewährte Grenzwerte, ab wann eine Intervention initiiert werden sollte Im Rahmen der vorliegenden Literaturanalyse wurden 23 Sturzrisiko-Assessmentinstrumente näher betrachtet und die Ergebnisse in der Expertengruppe diskutiert: “Tinetti mobility score” Tinetti 1986 “Morse Fall Scale” Morse et al. 1987 “Assessment for high risk to fall” Spellbring et al. 1988 “Point by point” Berryman et al. 1989 “Functional reach“ Duncan et al. 1990 Instrument von Schmid 1990 “Timed „Up & Go“-test” Podsiadlo & Richardson 1991/Shumway-Cook et al. 2000 “Berg Balance Scale” Berg et al. 1992 Instrument von Rapport et al. 1993 “Hendrich Fall Risk Model” Hendrich et al. 1995 “Fall risk assessment tool” McAvoy et al. 1996 “One-leg-stand” Vellas et al. 1997 “Stops walking when talking” Lundin-Olsson et al. 1997 “STRATIFY” Oliver et al. 1997 “Elderly Fall Screening Test” Cwikel et al. 1998 “Conley Scale” Conley et al. 1999 “Home Fast” Mackenzie et al. 2000 “The Mobility Interaction Fall chart” Lundin-Olsson et al. 2000 “Simple assessment of strength and balance” Gardner et al. 2001 “Fall risk-assessment tool” Kinn & Hood 2001 „Screening zur Sturzabklärung“ Geriatrisches Zentrum Ulm/Alb-Donau und AOK Bundesverband 2002 “Fall risk assessment“ Izumi et al. 2002 “Hendrich II Fall Risk Model” Hendrich et al. 2003 “Falls Behavioral Scale for Older People” Clemson et al. 2003. Weitere Sturzrisikoassessmentinstrumente wurden ausgeschlossen, da diese entweder nicht oder nur in methodologisch fragwürdigen Studien untersucht wurden. Von den analysierten Sturzrisikoassessmentinstrumenten konnte kein Instrument die geforderten Kriterien in zufriedenstellendem Maße erfüllen. Insbesondere die Werte der Spezifität und der Sensitivität sind bei den meisten Assessmentinstrumenten als kritisch zu werten. Das heißt, mit keinem der Instrumente ist es möglich, die wirklich sturzgefährdeten Patienten/Bewohner verlässlich zu identifizieren. Entweder werden zu viele Patienten/Bewohner als sturzgefährdet identifiziert, (Sensitivität<80%), (Tinetti 1986, Berryman et al. 1989, Conley et al. 1999, McAvoy et al. 1996, Berg et al. 1992, LundinOlsson et al. 1997) oder es werden zu viele fälschlicherweise als nicht sturzgefährdet eingestuft (Spezifität <80%) (Tinetti 1986, Berryman et al. 1989, Schmid 1990, Hendrich et al. 1995, Morse et al. 1987, Conley et al. 1999, Oliver et al. 1997, McAvoy et al. 1996, Cwikel et al. 1998). Dieser Umstand kann dazu führen, dass bei Patienten/Bewohnern interveniert wird, bei denen es gar nicht notwendig wäre. Und dass auf der anderen Seite Patienten/Bewohner keine Sturzprophylaxe erhalten, obwohl dies dringend notwendig wäre. Bei den Assessmentinstrumenten, deren Validität für andere als die ursprünglich gewählten Zielgruppen getestet wurde, konnten die in der jeweiligen Basisuntersuchung für die originäre Zielgruppe ermittelten Ergebnisse nicht bestätigt werden (“Hendrich Fall Risk Model”, “Morse Fall Scale”, “STRATIFY”, “Timed Up & Go-Test”). Insofern bleibt es sehr fraglich, ob mit einem Assessmentinstrument verlässliche Ergebnisse bei verschiedenen 45 Zielgruppen (z.B. bei sehr mobilen und weniger mobilen Patienten/Bewohnern) zu erreichen sind. Problematisch scheint auch, dass allen Assessmentinstrumenten eine quantifizierende Bewertung der Risikofaktoren zugrunde liegt. Welche Risikofaktoren aber die Sturzgefahr stärker erhöhen als andere ist bislang nicht bekannt. Schon die Reduktion auf meist vier bis fünf Risikofaktoren ist vor diesem Hintergrund fragwürdig. Eine aus wenigen Risikofaktoren abgeleitete Differenzierung der Sturzgefährdung, kann daher nicht als verlässlich gelten. Es existieren auch Untersuchungen, in denen geklärt werden konnte, ob die klinische Beurteilung des Sturzrisikos durch Pflegefachkräfte den mit einem SturzrisikoAssessmentinstrument ermittelten Ergebnissen unterlegen, gleichwertig, oder sogar überlegen ist (50 Treffer im Rahmen dieser Literaturanalyse). Im Rahmen dieser Literaturanalyse wurden daraus vier prospektive Studien berücksichtigt, bei denen die Vorhersagekraft (Sensitivität und Spezifität) sowohl der pflegerischen Beurteilung als auch von Sturzrisikoskalen bezüglich Sturzrisiko untersucht und dargestellt wurden (Moore et al. 1996, Eagle et al. 1999, Myers & Nikoletti 2003, Boulgarides 2003). Zusätzlich wurde eine Dissertation zur Auswertung herangezogen (Lundin-Olsson 2000). Die Ergebnisse der fünf genannten Studien verdeutlichen, dass durch die Nutzung eines Sturzrisikoassessmentinstruments die Vorhersagekraft von Stürzen nur minimal gesteigert wird. Aufgrund dieser Überlegungen ist es nicht haltbar, standardisierten Instrumenten gegenüber der Beurteilung von erfahrenen Pflegekräften den Vorzug zu geben. In der Untersuchung von Lundin-Olsson (2000) übertrifft die Beurteilung des Sturzrisikos durch Pflegefachkräfte sogar die Beurteilung mithilfe der standardisierten „Mobility Interaction Fall Chart“. In dieser Studie, die im Pflegeheim stattfand, ist aber davon auszugehen, dass das Personal die Bewohner sehr gut kannte. Von daher sind diese Befunde sicher nicht auf eine Klinik mit kurzen Aufenthaltsperioden zu übertragen. Myers et al. (2003) belegten, dass die Berufserfahrung der Pflegekräfte in der Genauigkeit der Sturzrisikobeurteilung eine herausragende Rolle spielt. Dieser Fragestellung lohnt es sich in Zukunft nachzugehen. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die bisher entwickelten Assessmentinstrumente zur Bewertung des Sturzrisikos keine Ergebnisse liefern, anhand derer erhöht sturzgefährdete Patienten/Bewohner zweifelsfrei identifiziert werden können. Es spricht daher aus wissenschaftlicher Sicht nichts für den Einsatz solcher Instrumente, zumal deren Implementierung sowie deren Einsatz mit Zeitaufwand seitens der Pflegefachkräfte verbunden ist. Der Ansatz, durch eine Quantifizierung und Bewertung von Sturzrisikofaktoren bei Patienten/Bewohnern das individuelle Sturzrisiko einzuschätzen, kann generell in Frage gestellt werden. Vielversprechender ist es, alle vorhandenen Sturzrisikofaktoren zu identifizieren und, so weit möglich, darauf ausgerichtete Interventionen einzuleiten. Sowohl erfahrene als auch weniger erfahrene Pflegefachkräfte sollten dieses Vorgehen aber strukturiert und nicht nur intuitiv angehen. Hilfreich ist dabei (wie schon oben erwähnt) eine Liste mit den zielgruppenspezifischen Sturzrisikofaktoren. 4.3 Information und Beratung ** Pflegende haben eine verantwortungsvolle und anspruchsvolle Aufgabe in der Sturzprophylaxe (insbesondere innerhalb des therapeutischen Teams). Dies betrifft sowohl das Erkennen von Sturzrisikofaktoren als auch die Minimierung dieser Faktoren duch geeignete Interventionen. Bais pflegerischer Arbeit sind (inter-)national konsensual verabschiedett ethische Grundprinzipien und Werthaltungen. Ein zentrales ethisches Prinzip bezieht sich auf die Verpflichtung, Patienten/Bewohner umfassend über die pflegerelevanten Aspekte zu informieren und zu beraten, um ihnen die notwenige Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zu eröffnen. Dies umfasst insbesondere das Aufzeigen von mehreren Handlungsalternativen und deren Folgen, damit Patienten/Bewohner eigene Entscheidungen sorgfältig abwägen und begründen können. Diese Prinzipien zur Förderung der autonomen und selbstbestimmten Entscheidung sollten auch ihren Niederschlag im Vertragsrecht finden. So schlägt der ICN (Internatinal Council of Nursing) vor, dass die Pflegekraft beim Eingehen 46 eines Behandlungsvertrages, Heim- oder Pflegevertrages gewährleistet, „(…), dass der Pflegebedürftige ausreichende Informationen erhält, auf die er seine Zustimmung zu seiner pflegerischen Versorgung und Behandlung gründen kann.“ (ICN 2000). Der Patient hat dabei das Recht und den „(…) Anspruch auf angemessene Aufklärung und Beratung sowie auf eine sorgfältige und qualifizierte Behandlung. Diagnostische und therapeutische Maßnahmen sind mit dem Patienten abzustimmen.“ (BMGS 2003). Pragmatisch betrachtet ist eine Information eine semantische Mitteilung über etwas, das wieder erkannt wird oder Neuigkeitswert hat. Ein wesentliches Kriterium der Informationweitergabe ist dabei die mögliche Veränderung der Bedeutung einer Mitteilung durch die Person, die die Information aufnimmt. Das bedeutet, dass es wichtig ist, nicht nur über Informationsinhalte, sondern vielmehr auch über mögliche und angemessene Vermittlungsformen nachzudenken, damit ein Bedeutungsverlust oder eine Bedeutungsverschiebung vermieden wird. Informationen stellen regelmäßig einen Gewinn an Wissen und eine Verringerung von Ungewissheit dar. Insbesondere schriftliche Patienten/Bewohnerinformationen sollten in ihrer Aufarbeitung den jeweils modernsten Kriterien folgen (vgl. z. B. www.patienteninformation.de). Im Wesentlichen bedeutet dies, dass eine schriftliche Information (z. B. eine Broschüre) folgende Mindeststandards erfüllen sollte: Klare Zielsetzung Benennung der Zielgruppe Relevanz sowohl für die Zielgruppe als auch für die Thematik Ausgewogene Information (Umfassende Benennung von Optionen, Darstellung des Nutzens, Aufwands und des fehlenden Nutzens) Richtigkeit und Transparenz der Angaben (Quellenangaben) Verständlichkeit Transparenz „Beratung ist definiert durch die Trennung zwischen Berater und Ratsuchendem bzw. Klienten. Beratung ist Unterstützung des Ratsuchenden bei Entscheidungen, ohne die Entscheidung für ihn zu treffen“ (König/Volmer 1996, S. 122). Beratung ist demnach keineswegs direktiv, d.h., es werden keine Handlungsanweisungen gegeben, sondern Handlungsalternativen aufgezeigt. Dies deckt sich mit den modernen Konzepten zur Patienteninformation und partizipatorischen Entscheidungsfindung (Scheiblern & Paff 2003). Professionelle Beratung unterteilen Scheiblern & Paff (2003) wiederum in eine Experten- und eine Prozessberatung. Bei der Expertenberatung zeigt jemand Fachkundiges fachlich begründetete Handlungsalternativen zu einem bestehenden Problem auf (eine geschulte Pflegefachkraft schlägt z. B. spezifische Hüftprotektoren für ein Pflegeheim vor). Die Kompetenz des Beraters liegt hier also primär im fachlichen Bereich. Die Prozessberatung hingegen unterstützt den Ratsuchenden bei der selbständigen Problemlösung. Die Kompetenz des Beraters liegt primär im kommunikativen Bereich. Experten- und Prozessberatung sind wichtige Bausteine für eine gelungene Sturzprophylaxe. Zum einen darf angenommen werden, dass viele Patienten/Bewohner sich nicht über ihr individuelles Sturzrisiko und den vorliegenden Sturzrisikofaktoren im vollen Umgang im Klaren sind und somit den eigenen Gedfärhdungsgrad nicht einschätzen können. Zum anderen benötigen die Patienten/Bewohner umfangreiche Informationen zu möglichen Interventionen, denn auch hier ist nicht zu erwarten, dass Patienten/Bewohner den wissenschaflich begründeten Stand kennen. Hervorgeben sollte man in diesem Zusammenhang auch, dass es viele unterschiedliche Interventionen gibt, die mitunter mit einer Einschränkung der Lebensqualität verbunden sein können (z. B. das Tragen von Hüftprotektoren). Pflegende sollten hier im Rahmen einer Prozessberatung Patienten/Bewohnern in ihrer Abwägung von Folgen und Gefahren unterstützen. Bei der Sturzprophylaxe und der Minimierung sturzbedingter Verletzungen geht es also sowohl bei der Erkennung der generellen Risikofaktoren als auch der Durchführung von Interventionen auch darum, mit allen Beteiligten eng zusammen zu 47 arbeiten. Dabei spielen drei Gruppen eine entscheidende Rolle, die wiederum in unterschiedlicher Weise eingebunden werden können: Patienten/Bewohner, Angehörige, Pflegende und andere an der Versorgung der Patienten/Bewohner beteiligte Berufsgruppen. Information und Beratung wurde auch als Bestandteil von multifaktoriellen Interventionen untersucht (Tinetti et al. 1994, Steinberg et al. 2000, Jensen et al. 2002, Becker et al. 2003). Neben den Patienten/Bewohnern erhielt in diesen Studien auch das Pflegepersonal Informationen und Beratungen bezüglich der Durchführung einer strukturierten Sturzprophylaxe. In keiner dieser Studien wurde jedoch der spezifische Nutzen einer Information und Beratung von Angehörigen untersucht. Jedoch konnten deutliche positive Effekte von Information und Beratung aufgezeigt werden. In der Studie von Tinetti et al. (1994) erhielten die Patienten/Bewohner neben Instruktionen zur Verhaltensveränderungen eine Anpassung ihrer Medikamente und sie nahmen an einem körperlichen Übungsprogramm teil. Es konnte mit der Kombination dieser drei Methoden eine signifikante Reduktion der Sturzrate erreicht werden. Bei Steinberg et al. (2000) wurden die Teilnehmer über ihre Sturzrisikofaktoren informiert und erhielten zusätzlich eine Beratung zur Umgebungsanpassung. Ferner nahmen sie an Übungsstunden zur Steigerung der Kraft und Balance teil und ihre Medikation wurde angepasst. Auch in dieser Studie berichteten die Autoren über den Erfolg, dass Ausrutschen, Stolpern und Stürzen reduziert werden konnten. Bei Jensen et al. (2002) war neben der Information und Beratung der Pflegeheimbewohnern auch die Anleitung des Personals zur Sturzprophylaxe ein Bestandteil des Interventionsprogramms. Die Bewohner nahmen zusätzlich an einem Übungsprogramm teil, Hilfsmittel wurden instandgesetzt oder neu beschafft, die Medikation wurde angepasst, Hüftprotektoren wurden bereit gestellt, die Umgebung wurde angepasst und Stürze wurden im Nachhinein analysiert. Auch in dieser Studie konnte eine Reduktion von Stürzen verzeichnet werden. Becker et al. (2003) informierten Heimbewohner und Pflegepersonal über die Durchführung von prophylaktischen Maßnahmen. Beide Gruppen wurden auch hinsichtlich der Verminderung von umgebungsbedingten Sturzgefahren beraten. Die Heimbewohner erhielten zusätzlich ein Balance- und Ausdauertraining sowie Hüftprotektoren. Obgleich die Sturzrate bei der Interventionsgruppe geringer war, konnten aus dieser Studie aufgrund der geringen Teilnehmerzahl keine eindeutigen Schlüsse gezogen werden. In mehreren RCTs wurde der Effekt von Informations- und Beratungsmaßnahmen hinsichtlich der Modifikation der identifizierten Risikofaktoren auf die Sturzrate untersucht (Carpenter et al. 1990, Vetter et al 1992, Fabacher et al. 1994, El-Faizy et al. 1994, Gallagher et al. 1996, Close et al. 1999, Lightbody et al. 2002). Feder et al. (2000) fassen zusammen, dass Hausbesuche verbunden mit Beratungen hinsichtlich eines sturzvermeidenden Verhaltens und umgebungsbedingter Sturzgefahren kaum einen positiven Einfluss auf die Sturzrate haben, es sei denn diese Maßnahme wird mit weiteren (z. B. ärztlichen) Interventionen kombiniert. Information und Beratung stellen eine wichtige Intervention bei sturzgefährdeten Patienten/Bewohnern dar. Der positive Effekt von Information und Beratung in Bezug auf eine Reduktion von Stürzen ist in Verbindung mit weiteren Interventionen mehrfach belegt. Eine Beratung von Patienten/Bewohnern hinsichtlich ihrer Sturzrisikofaktoren ohne weitere Interventionen scheint hingegen nicht geeignet die Sturzrate zu vermindern. Die Erfassung von Sturzrisikofaktoren sowie die Planung und Durchführung von sturzprophylaktischen Maßnahmen kann nur effektiv sein, wenn Patienten/Bewohner auch vom Nutzen überzeugt sind und sich aktiv daran beteiligen. Daher stellen Information und Beratung von Patienten/Bewohner die Grundlage für eine Sturzprophylaxe dar. Obwohl dies (noch) nicht auchreichend durch wissenschaftliche Forschungen belegt ist, darf davon ausgegangen 48 werden, dass die Einbeziehung von Angehörigen bei der Sturzprophylaxe hilfreich ist. Zur Vermeidung von Diskontinuität und der damit verbundenen erhöhten Sturzgefahr ist es zudem unabdingbar, dass andere an der Versorgung der Patienten/Bewohner beteiligte Berufsgruppen über die vorliegenden Sturzrisikofaktoren und dem daraus resultierenden Umgang mit den Patienten/Bewohnern informiert werden. *** 4.4 Interventionen und Hilfsmittel zur Sturz- und Frakturprophylaxe Obgleich es nicht möglich ist, alle Stürze zu verhindern, haben Pflegende dennoch die Möglichkeit, durch gezielte Interventionen die Sturzrate der Patienten/Bewohner zu verringern. Dabei ist es von elementarer Bedeutung, dass die Pflegenden die bisher untersuchten und als wirksam eingestuften Interventionsformen kennen und soweit es sich um pflegerische Interventionen handelt, diese auch anwenden können. Interventionen, die nicht in den pflegerischen Aufgabenbereich gehören, sollten Pflegende anregen oder sogar einleiten können. Es existieren gererell zwei mögliche Vorgehensweisen, um die Sturzgefahr zu reduzieren und sturzbedingte Verletzungen zu vermindern: Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, bereits erfolgreich (wissenschaftlich) erprobte Interventionsprogramme in einer Einrichtung zu implementieren und es den Patienten/Bewohnern zu ermöglichen an diesen Programmen teilzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit, einzelne Risikofaktoren durch spezielle Einzelinterventionen zu modifizieren. 4.4.1 Multifaktorielle Interventionen Interventionsprogramme zeichnen sich dadurch aus, dass mehrere Interventionen für sturzgefährdete Patienten/Bewohnern der Einrichtung angeboten werden. Interventionsprogrammen tragen der Erkenntnis Rechnung, dass der Sturz ein multifaktorielles Geschehen ist und ihm daher mit einem Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen/Interventionen begegnet werden muss. In Interventionsprogrammen werden deshalb diejenigen Interventionen gebündelt, die generelle Risikofaktoren ansprechen (z. B. Kraft- und Balacetraining, Überprüfung der Medikation). Deutlich wird hier, dass es sich um Interventionen handelt, die auch als individualisierte Einzelinterventionen möglich sind. Interessant ist an der aktuellen Forschungslage, dass zum Teil Einzelinterventionen im Rahmen von Interventionsprogrammen genutzt wurden und das gesamte Interventionsprogramm Sturzanzahl und Sturzfolgen signifikant vermindern konnten, jedoch der gezielte Nachweis über die Effektivität der Einzelintervention (noch) nicht in Studien nachgewiesen werden konnte. Inwieweit also Einzelinterventionen außerhalb der wirksamen Interventionsprogramme auch tatsächlich effektiv sind, kann oftmals nicht festgestellt werden. Im Folgenden werden bereits beforschte Interventionsprogramme und ihrer jeweilige Effektivität beschrieben. Dabei sind aber die anhand von RCTs untersuchten Interventionsprogramme untereinander schwer vergleichbar, da sie aus unterschiedlichen Kombinationen von Einzelinterventionen bestehen. In erster Linie handelt es sich um körperliche Übungen zur Steigerung der Kraft und der Balance, um Überprüfung und Anpassung der Medikation, Verbesserung der Sehfähigkeit und Anpassung der Umgebung. Viele Interventionsprogramme beinhalteten darüber hinaus noch weitere Einzelinterventionen, deren Wirksamkeit für sich alleine teils gut belegt ist (z. B. Einsatz von Hüftprotektoren, Balance- und Krafttraining), teils aber auch für sich allein bisher kaum untersucht wurde (z. B. Modifikation von umgebungsbedingten Sturzgefahren). Unter allen Interventionen, die in dem systematischen Review von Chang et al (2004) berücksichtigt werden, zeigt der Einsatz von multifaktoriellen Interventionsprogrammen die größte Effektivität hinsichtlich der Reduktion von Stürzen! Gillespie et al. (2003) kommen in ihrer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass multifaktorielle Interventionsprogramme bei zu Hause Lebenden die Sturzrate senken können. Demgegenüber ist die Evidenz multifaktorieller Programme bei Personen, die in Einrichtungen der stationären Altenhilfe leben, jedoch eingeschränkt. Dass multifaktorielle Interventionsprogramme auch bei 49 Personen im Krankenhaus positive Effekte auf die Verringerung von Stürzen haben können, ermittelten Oliver et al. (2000). Auch Hill-Westmoreland et al. (2002) bestätigen mit ihrer Metaanalyse, dass multifaktorielle Interventionsprogramme einen positiven Effekt auf die Verminderung von Stürzen haben. Sie ermittelten bei der Auswertung zwölf RCT-gestützter Interventionsprogramme allerdings nur eine Senkung der Sturzrate um 4%. Shaw (2002) verdeutlicht in ihrer Übersichtsarbeit, dass die Wirksamkeit von multifaktoriellen Interventionsprogrammen bei Patienten/Bewohnern mit kognitiven Einschränkungen kaum untersucht worden ist. Die einzige im Rahmen dieser Literaturanalyse ausfindig gemachte RCT, in der diese Problematik explizit untersucht wurde, liegt von Shaw et al. (2003) vor. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass das untersuchte multifaktorielle Interventionsprogramm nur einen geringen Effekt auf die Sturzrate bei kognitiv beeinträchtigten Menschen, die nach einem Sturz in einer Notfallklinik behandelt wurden, hatte. Jensen et al. (2003) vermuten, dass Sturzinterventionsprogramme einen um so geringeren Effekt haben, je stärker die kognitive Beeinträchtigung ausgeprägt ist. Dies liegt aus ihrer Sicht möglicherweise an der geringen Compliance von Patienten/Bewohnern mit ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen. Diesen Zusammenhang legen auch Shaw et al. (2003) nahe, denn sie erzielten in ihrer Studie bei denjenigen Personen, die das gesamte Interventionsprogramm ohne Unterbrechungen mitmachten, die höchste Verringerung der Sturzrate. 4.4.1.1 Interventionsprogramme bei zu Hause lebenden Personen Die Effektivität mehrerer multifaktorieller Interventionsprogramme hinsichtlich einer Verringerung der Sturzrate ist für zu Hause lebende Personen vielfach untersucht worden. Im Folgenden werden beispielhaft drei RCT-gestützte Programme beschrieben, deren Effektivität nachgewiesen werden konnte. Tinetti et al. (1994) untersuchten ein multifaktorielles Interventionsprogramm bei 301 älteren zu Hause lebenden Personen, bei denen mindestens ein Sturzrisikofaktor ermittelt werden konnte. Bei den Personen der Interventionsgruppe wurden die Medikamentenverordnung überprüft und so angepasst, dass die Neben- und Wechselwirkungen minimiert wurde. Sie erhielten Instruktionen, wie sie durch ihr Verhalten die Sturzgefahr mindern können, und sie nahmen an Übungen teil, die auf eine Verminderung der individuellen Risikofaktoren (z.B. Bewegungseinschränkungen, Blutdruckabfälle bei Haltungsveränderungen) abzielte. Tinetti et al. konnten mit diesem Interventionsprogramm die Sturzrate um 12% senken im Vergleich zu den Personen, die die sonst übliche Pflege und sozialen Hausbesuche erhielten. Tinetti et al. (1996) erklärten die Senkung der Sturzrate in ihrer Untersuchung von 1994 durch Verbesserungen der Blutdruckstabilität, der Schrittlänge, des Badewannen- und Toilettentransfers und einer Verbesserung des Gesundheitsstatus durch eine Reduktion der Medikamenteneinnahme. Steinberg et al. (2000) konnten eine deutliche Verminderung des Ausrutschens (61 %), des Stolperns (56 %) und auch der Stürze (29 %) bei 252 zu Hause lebenden aktiven Personen über 50 Jahre erreichen. Das von ihnen untersuchte Interventionsprogramm beinhaltete eine Schulung zur Bewusstmachung der eigenen Sturzrisikofaktoren, Übungen zur Verbesserung der Kraft und der Balance, eine Beratung zur Modifizierung der wohnraumbedingten Sturzgefahren und eine Anpassung der Medikation um den Gesundheitsstatus zu verbessern. Day et al. (2002) untersuchten 1090 über Siebzigjährige, die ihren Gesundheitsstatus als gut bis sehr gut einschätzten. Sie kombinierten Kraft- und Balancetraining in einer Trainingsgruppe mit der Modifikation von wohnungsbedingten Sturzgefahren und der Verbesserung der Sehprobleme. Sie erreichten dadurch eine Reduktion der Sturzrate um 14 %. Bei der Kontrollgruppe, bei der nur die Sturzgefahren reduziert und die Sehprobleme behoben wurden, konnten sie hingegen keine signifikante Verbesserung der Sturzrate feststellen. 4.4.1.2 Interventionsprogramme bei Altenheimbewohnern 50 Die Effektivität multifaktorieller Interventionsprogramme in Bezug auf die Senkung der Sturzrate bei in Einrichtungen der stationären Altenhilfe lebenden Personen ist in zwei RCTs belegt (Jensen et al. 2002, Becker et al. 2003). Jensen et al. (2002) untersuchten die Auswirkungen eines 11 Wochen dauernden Interventionsprogramm bei 439 Altenheimbewohnern. Dieses Programm beinhaltete sowohl generelle als auch auf die spezifischen Bedarfe ausgerichtete Vorgehensweisen. Dazu zählten eine Schulung und Begleitung des Personals der Altenheime, eine Modifizierung der Räumlichkeiten, körperliche Übungsprogramme, die Bereitstellung und Instandsetzung von Hilfsmitteln, die Anpassung der Medikamentenverordnung, das Angebot von kostenlosen Hüftprotektoren sowie organisierte Nachbesprechungen von Sturzereignissen. Jensen et al. konnten mit diesem umfassenden Interventionsprogramm die Sturzrate um 12 % senken im Vergleich zu den Personen, die die sonst übliche Pflege und Versorgung erhielten. Ein solch umfassendes Interventionsprogramm ist allerdings mit großem Aufwand verbunden. Der erfolgreiche Einsatz setzt ein ausführliches Training des Pflegepersonals und die Unterstützung durch externe Spezialisten voraus. Becker et al. (2003) untersuchten 981 Altenheimbewohner in sechs verschiedenen Altenheimen. Das Interventionsprogramm beinhaltete die Schulung des Personals und der Bewohner bei der Umsetzung der Interventionen, Hinweise zur Verminderung umgebungsbedingter Sturzgefahren, progressives Balance- und Ausdauertraining und die Bereitstellung von Hüftprotektoren. Mit diesem Gesamtprogramm konnten Becker et al. die Sturzrate im Vergleich zur Kontrollgruppe um 15,4 % senken. Auch die Rate der Mehrfachstürze (mehr als 2 pro Jahr) konnte um 11,4 % gesenkt werden. In den RCTs, in denen multifaktorielle Interventionsprogramme keinen Effekt auf die Sturzrate bei Heimbewohnern hatten, lagen besondere Gründe vor. McMurdo et al. (2000) machten für den mangelnden Nachweis der Effektivität des von ihnen untersuchten Interventionsprogramms (Blutdruckstabilisation, Medikamentenanpassung, Verbesserung von Sehbeeinträchtigungen, Verbesserung der Beleuchtung und Balancetraining im Sitzen) die hohe Abbrecherquote ( 30 %) in der sechsmonatigen Laufzeit verantwortlich. Kerse et al. (2004) zeigten in ihrer Untersuchung (628 Heimbewohner in 14 verschiedenen Einrichtungen), dass die Durchführung eines Interventionsprogramms ohne die Anpassung der vorhandenen Ressourcen keine Verminderung der Sturzrate mit sich brachte. Die Autoren kommen sogar zu der Aussage, dass ein mit geringem Engagement durchgeführtes Interventionsprogramm möglicherweise zu mehr Stürzen führe als die sonst übliche Pflege. 4.4.1.3 Interventionsprogramme in Krankenhäusern Multifaktorielle Interventionsprogramme in Krankenhäusern sind bislang nur wenig in RCTs untersucht. Im folgenden werden beispielhaft zwei Interventionsprogramme beschrieben, deren Eignung durch eine RCT bei Patienten im Krankenhaus belegt wurden. Haines et al. (2004) untersuchten die Wirkung eines multifaktoriellen Interventionsprogramms bei 626 Personen in einer Rehabilitationsabteilung für ältere Patienten. Das Programm beinhaltete eine Information der Patienten über Sturzgefahren unter Verwendung einer Sturzrisiko-Checkliste sowie einer Informationsbroschüre, einem Kraft- und Balance-Übungsprogramm, einem Beratungsprogramm und der Aushändigung von Hüftprotektoren. Die Patienten die an diesem Interventionsprogramm teilgenommen hatten, stürzten 30 % weniger als die Patienten in der Kontrollgruppe, die weiterhin die übliche Pflege erhalten hatten. Vassallo et al. (2004) untersuchten die Wirkung eines Interventionsprogramms bei 825 Patienten in drei vergleichbaren geriatrischen Abteilungen. Das Interventionsprogramm hatte keine festgelegten Parameter, sondern einmal wöchentlich traf sich ein multidisziplinäres Team, welches die bei den Patienten identifizierten Risikofaktoren diskutierte und daraus einen zielgerichteten Interventionsplan ableitete. Dieser beinhaltete ein Armband für Personen mit hohem Sturzrisiko, einer Korrigierung der Risikofaktoren sowie eine Veränderung der Umgebung zur Erhöhung der Sicherheit. Zwar stürzten die Interventionsteilnehmer 6 % weniger als die Patienten aus den beiden Kontrollgruppen, 51 dieser Wert verlor aber seine Aussagekraft, nachdem die Verweildauer auf den Abteilungen vergleichend herangezogen wurde. Vassallo et al. schliessen daraus, dass eine Verminderung der Sturzrate durch ihr multidisziplinäres Interventionsprogramm zwar anzunehmen, aber als nicht sicher belegt gelten könne. In Bezug auf den Einsatz multifaktorieller Interventionsprogramme in Krankenhäusern liegen zwei Übersichtsartikel vor (Oliver et al. 2000 und Schwendimann 2000). In beiden Arbeiten wird die begrenzte Forschungslage bezüglich der Umsetzung von Sturzinterventionsprogrammen in Krankenhäusern bemängelt. Schwendimann (2000) berichtet, dass die Wirksamkeit einer Sturzprävention nach Meinung der meisten Autoren von der Zuverlässigkeit des Personals bei der Durchführung der Interventionen sowie der Aufmerksamkeit gegenüber den gefährdeten Patientengruppen bestimmt ist. Er fordert daher, dass mit weiteren Untersuchungen die Wirksamkeit von Interventionsprogrammen durch nachweisbare Zusammenhänge aufgezeigt werden sollte. Als ideale Zielgruppe für den Einsatz von Interventionsprogrammen nennt Schwendimann (2000) Personen mit dem höchsten Sturzrisiko, der besten Compliance und dem besten Ansprechen auf die Interventionen. 4.4.2 Einzelinterventionen Neben der konsequenten Durchführung von multifaktoriellen Interventionsprogrammen besteht die Möglichkeit, eine Verringerung der Sturzrate durch gezielte Einzelinterventionen zu erreichen. Sie versprechen den größten Erfolg, wenn die bei den Patienten/Bewohnern erfassten Risikofaktoren durch gezielte Interventionen angegangen werden. Auf diese Art und Weise wird für jeden einzelnen Patienten/Bewohner ein individuelles Interventionsangebot zusammen gestellt. Im folgenden werden häufig untersuchte Einzelinterventionen beschrieben. Es handelt sich dabei um Modifikation von umgebungsbedingten Sturzgefahren Balance- und Kraftübungen Anpassung der Medikation Modifikation von Sehbeeinträchtigungen Einsatz von Hilfsmitteln - Gehhilfen - Hüftprotektoren - freiheitseinschränkende Hilfsmittel - andere Hilfsmittel Auswahl der Schuhe Anpassung der Ernährung weitere Einzelinterventionen 4.4.2.1 Modifikation umgebungsbedingter Sturzgefahren Hindernisse im Wohnumfeld und in der Umgebung können Stürze begünstigen. Vorschläge für die Anpassung der Umgebung sind vielfältig und reichen über die Entfernung von „Stolperfallen“ und Hindernissen über Toilettensitzerhöhungen und Badewanneneinstieghilfe bis hin zu Bewegungsmatten und Falldetektoren. Auch die Anpassung der Beleuchtung an die visuellen Fähigkeiten der Patienten/Bewohner wird diskutiert. Die Modifikation umgebungsbedingter Sturzgefahren wurde im Rahmen mehrerer Interventionsprogramme untersucht (Steinberg et al. 2000, Day et al. 2002, Jensen et al. 2002, Vassallo et al. 2004). Aussagen über die Wirksamkeit der Umgebungsanpassung als alleinige Intervention sind aus diesen Untersuchungen jedoch nicht abzuleiten. Trotzdem ist der Stellenwert dieser Interventionen plausibel und sollte deshalb auch weiter untersucht werden. Im Folgenden werden zentrale Studien und Erkenntnisse zur Umgebungsanpassung dargestellt. Interessant ist hier unter anderem die Verbindung der Umgebungsanpassung mit anderen Einzelinterventionen. 52 Stevens et al. (2001) und Pardessus et al. (2002) zeigen, dass es nicht ausreicht, Patienten/Bewohnern lediglich eine Information und Beratung über Sturzgefahren in der Umgebung anzubieten. In beiden RCTs konnten zu Hause lebende Personen durch eine einmalige Beratung über mögliche Modifikationen umgebungsbedingter Sturzgefahren kaum veranlasst werden, entsprechende Modifikationen vorzunehmen. Cumming et al. (2001) untersuchten, wann Personen überhaupt eine Veränderung ihrer häuslichen Umgebung zulassen. Sie fanden heraus, dass es dafür nur zwei Gründe gibt: Erstens die Hoffnung, dass Verwandte dann eher Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags leisten, und zweitens der Glaube, dass solche Veränderungen vor Stürzen schützen. Nur zwei Untersuchungen zum Nutzen der Erfassung umgebungsbedingter Sturzgefahren verbunden mit einer Unterstützung bei der Modifikation konnten identifiziert werden. Cumming et al. (1999) konnten mit ihrer RCT mit 530 älteren Personen zeigen, dass die Beratung über umgebungsbedingte Sturzgefahren verbunden mit einer Unterstützung bei deren Beseitigung nur bei denjenigen Personen effektiv war, die im Jahr zuvor einen oder mehrere Stürze erlitten hatten. Die Autoren schlossen aus dieser Erkenntnis, dass die Umgebungsmodifikation nicht allein ursächlich für den Rückgang der Sturzrate gewesen war. Vielmehr sei der Effekt, den die therapeutische Beratung auf die Fähigkeit sich sicherer zu verhalten hat, mit ausschlaggebend gewesen. Nikolaus und Bach (2003) untersuchten 360 Personen im Alter von 75 Jahren und älter. Im Rahmen von zwei Besuchen im häuslichen Bereich wurden der allgemeine Gesundheitsstatus der Teilnehmer ermittelt, wohnraumbedingte Sturzgefahren erfasst, Vorschläge zur Modifizierung gemacht und Unterstützung bei der Umsetzung geleistet. Des Weiteren erhielten die Teilnehmer ein Training zum Umgang mit Hilfsmitteln und Gehhilfen. Nikolaus und Bach konnten durch die Kombination dieser beiden Interventionen eine Senkung der Sturzrate um 31 % erzielen. Auch in dieser Untersuchung profitierten Personen, die zwei oder mehr Stürze im vorangegangenen Jahr erlitten hatten, in höherem Ausmaß von der Intervention. Dass der Bodenbelag eine Rolle bei der Verhinderung von Stürzen spielen kann, verdeutlichten Donald et al. (2000). Sie fanden heraus, dass ein Vinylbelag besser geeignet ist als Teppichboden. Das Ergebnis sei aber als nicht ohne weiteres übertragbar auf Situationen außerhalb einer Rehabilitationseinrichtung. Bei Patienten im Krankenhaus hat sich in einer RCT gezeigt, dass sich die Installation eines Alarmsystems am Bett bewähren kann. Tideiksaar et al. (1993) stellten bei einem System, welches dem Krankenhauspersonal meldet, wenn jemand vom Bett aufsteht, einen Trend zur Reduktion von Stürzen fest. Der Nutzen der Alarmsysteme ist kaum in methodisch angemessenen Studien beforscht. Mayo et al. (1994) untersuchten den Effekt eines Identifikationsarmbandes für sturzgefährdete Krankenhauspatienten. Die Annahme, dass sich die Sturzrate durch eine durch das Armband hervorgerufene erhöhte Aufmerksamkeit der Träger und des Personals bezüglich sturzauslösenden Verhaltens reduzieren ließe, bestätigte sich jedoch nicht. Dass die Modifikation von umgebungsbedingten Sturzgefahren einen Effekt auf die Reduktion der Sturzrate hat, ist nur unzureichend in wissenschaftlichen Untersuchungen belegt. Als sehr wahrscheinlich anzunehmen ist hingegen, dass dabei der Effekt des Erkenntnisgewinns bezüglich der Reduktion ihres sturzrelevanten Verhaltens für die Patienten/Bewohner von größerer Bedeutung ist, als die Umgebungsanpassung selbst. Die Bedeutung umgebungsbedingter Sturzrisiken ist sicherlich unstrittig. Der wissenschaftlich schlüssige Beweis, dass umfangreiche Raumanpassungsmaßnahmen einen bedeutsamen Einfluss auf die Sturzrate haben, wurde hingegen bislang nicht erbracht. Aus pragmatischer Sicht sollten leicht vermeidbare umgebungsbedingte Sturzgefahren reduziert werden. Pflegende sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass eine Entfernung von umgebungsbedingten Sturzgefahren allein das Sturzrisiko nicht in dem Maße reduziert, wie es allgemein hin angenommen wird. Die alleinige Reduktion der umgebungsbedingten Sturzrisiken stellt keine ausreichende Intervention dar. 4.4.2.2 Balance- und Kraftübungen 53 Beeinträchtigung der Balance und reduzierte Muskelkraft insbesondere in den Beinen und daraus resultierende Haltungs- und Gangveränderungen sind wie bereits beschrieben ein entscheidender Risikofaktor für Stürze. Daher ist es naheliegend, dass in/für Studien Übungen konzipiert wurden, die eine Verbesserung dieser Beeinträchtigungen erzielen sollten. Trotz umfangreicher Forschungen ist die wissenschaftliche Beweislage für die Effektivität von Balance- und Kraftübungen hinsichtlich einer Vermeidung von Stürzen nach wie vor begrenzt. Dass Balance- und Kraftübungen die nicht auf die individuelle Problemlage der Patienten/Bewohner zugeschnitten sind, jedoch keinen Effekt hinsichtlich der Verminderung von Sturzereignissen haben, ist mehrfach belegt (Lord et al. 1995, Buchner et al. 1997, McMurdo et al. 1997, Pereira et al. 1998, Cerny et al. 1998, Rubenstein et al. 2000, Day et al. 2002). Wohingegen in drei RCTs (Campbell et al. 1997, Campbell et al. 1999, Robertson et al. 2001) belegt wird, dass durch individuell zugeschnittenes Bewegungsprogramm zum Muskelaufbau, Gleichgewichts- und Gangtraining eine Reduktion von Stürzen bis zu 20 % erreicht werden kann. Dabei wurden die Personen allerdings von einem speziell dafür ausgebildeten Therapeuten im eigenen Haushalt aufgesucht. Day et al. (2002) identifizierten in ihrer RCT Gruppenübungen zur Verbesserung der Balance und der Kraft des Quadrizeps als die effektivste Einzelintervention bei zu Hause lebenden Personen, die ihren Gesundheitsstatus als gut einstuften, im Vergleich mit einer Umgebungsanpassung und Verbesserung der Sehfähigkeit. Day et al. betonen aber, dass die größte Reduzierung der Sturzrate bei den Personen erreicht wurde, bei denen alle drei Interventionen zusammen durchgeführt wurden. Lord et al. (2003) untersuchten in ihrer RCT den Effekt von Gruppenübungen zur Verbesserung der Körperhaltung bei leicht oder nicht pflegebedürftigen Personen, die in einer Siedlung für ältere Menschen lebten. Sie konnten eine Senkung der Sturzrate um 22 % und bei den Personen mit einer Sturzvorgeschichte sogar eine Senkung um 31 % während der Interventionsphase erzielen. Ein halbes Jahr nach diesen Übungen waren allerdings keine Unterschiede bezüglich der Muskelkraft und der Balance gegenüber der Kontrollgruppe mehr messbar. Barnett et al. (2003) konnten bei Personen, die als sturzgefährdet eingestuft wurden, durch wöchentlich durchgeführte Gruppenübungen und zusätzliche Einzelübungen zu Hause nach einem Jahr eine Reduktion der Sturzrate um 40% erzielen. Auch in der RCT von Nitz & Choy (2004) konnten zu Hause lebende Personen mit einer Sturzvorgeschichte ihre Sturzrate durch einmal in der Woche durchgeführte Übungseinheiten über einen Zeitraum von zehn Wochen signifikant verringern. Aufgrund der niedrigen Teilnehmerzahl von 73 Personen ist das Ergebnis, dass ein spezifisches Balancetrainingsprogramm bessere Ergebnisse bringt als ein allgemeines Kraft- und Balancetraining, noch nicht ausreichend verifiziert. Als eine effektive Übung zur Senkung der Sturzrate bei zu Hause lebenden Personen konnten Wolf et al. (1996) einen 15-wöchigen moderaten Tai Chi-Kurs ermitteln. Sie erzielten bei den Teilnehmern eine Reduktion des Sturzrisikos um fast 50 %. Bei gebrechlich werdenden Personen konnten Wolf et al. (2003) in einer weiteren RCT durch ein 48wöchiges intensives Tai Chi-Training allerdings keine Senkung des Sturzrisikos erreichen. Hinsichtlich der Erprobung von Übungsprogrammen in Altenheimen konnte nur eine RCT ausfindig gemacht werden. Schoenfelder & Rubenstein (2004) konnten nachweisen, dass ein dreimonatiges Training zur Stärkung der Kraft im Fußgelenk verbunden mit einem Gehtraining die beiden mit Stürzen in Verbindung gebrachten Parameter Balance und Angst vor Stürzen verbessern konnte. Dass ein regelmäßiges Kraft- und Balancetraining, welches mindestens einmal wöchentlich durchgeführt wird, bei zu Hause lebenden Personen die Sturzrate senkt, ist durch mehrere Studien belegt. Aus der Tatsache, dass solche Übungen in Altenheimen und Krankenhäusern noch kaum untersucht sind, sollte nicht geschlossen werden, dass sie dort nicht zu einer Reduktion der Stürze führen. Am praktikabelsten erscheint die Möglichkeit, Balance- und Kraftübungen im Rahmen von bereits angebotenen speziellen Aktivitäten (z. B. Seniorentanz, Gymnastikangeboten) durchführen zu lassen. 54 Beschreibungen von Kraft- und Balanceübungen finden sich in einschlägigen Veröffentlichungen zur Sturzprophylaxe. Becker et al. (2003) beschreiben Übungen, wie z. B. Hüftkreisen, über die Schulter schauen, verschiedene Gehvariationen, Übungen mit Hilfsmitteln wie Handtüchern u.ä., Übungen im offenen und geschlossenen Stand. Tideiksaar (2000) beschreibt Übungen zur Stärkung der Beinmuskulatur, dazu zählt er Gehübungen (30 - 45 Minuten am Tag), das Gehen im Rollstuhl (Tippeln), Beinbewegungen im Sitzen und im Stehen am Stuhl, Armkreisen und Schulterübungen. Runge & Rehfeld (2001) beschreiben das langsame Aufstehen vom Stuhl ohne Zuhilfenahme der Arme, das mehrmals während des Alltagsablaufs durchgeführt werden sollte, als die beste aller möglichen Kraft- und Balanceübung. ***4.4.2.3 Anpassung der Medikation Leipzig et al. (1999) konnten anhand ihrer Übersichtsarbeit nachweisen, dass die Einnahme von Psychopharmaka, Antidepressiva, Neuroleptika, Sedativa/Hypnotika und Benzodiazepine mit einer Erhöhung des Sturzrisikos einher geht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Absetzung oder Anpassung der Medikation Bestandteil der meisten multifaktoriellen Interventionsprogramme darstellte (Ray et al. 1997, Newbury et al. 2001, Steinberg et al. 2000, Jensen et al. 2002). Gezielte Untersuchungen zu den konkreten Auswirkungen einer Medikamentenanpassung auf die Sturzrate sind dennoch rar. Bezüglich der Absetzung von Medikamenten konnte nur eine kontrollierte Studie ausfindig gemacht werden: Campbell et al. (1999) zeigen, dass die schrittweise Absetzung von Psychopharmaka das Sturzrisiko signifikant vermindert. 4.4.2.4 Modifikation von Sehbeeinträchtigungen Das Sehvermögen ist neben der Wahrnehmung der eigenen Körperstellung der zweitwichtigste Informationskanal für die Kontrolle der eigenen Körperhaltung. Des Weiteren kann ein eingeschränktes Sehvermögen dazu führen, dass Hindernisse oder Sturzgefahren, wie z. B. glatte Oberflächen, nicht ausreichend wahrgenommen werden. Es ist daher leicht verständlich, dass die Verbesserung des Sehvermögens eine plausible Intervention im Rahmen einer Sturzprophylaxe darstellt. Gleichwohl ist die Studienlage zu dieser Intervention überaus unzureichend. Es konnte nur eine RCT gefunden werden, in der die Auswirkung einer Verbesserung des Sehvermögens als Einzelintervention auf die Sturzrate bei zu Hause lebenden älteren Personen untersucht wurde. Day et al. (2002) ermittelten zwar, dass durch die Kombination der drei Einzelinterventionen Verbesserung von Sehbeeinträchtigungen, Balanceübungen in Gruppen und einer Anpassung der Umgebung eine geschätzte Verringerung der Sturzrate um 14 % erzielt werden kann, bei den Personen, die aber ausschließlich eine Intervention zur Verbesserung des Sehvermögens erhielten, konnte aber keine signifikante Verbesserung der Sturzinzidenz nachgewiesen werden. Die Modifikation von Sehbeeinträchtigungen spielt wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle bei Verhinderung von Stürzen. Dass aber andere Intervention dadurch mehr Wirkung zeigen, kann angenommen werden. So ist leicht nachvollziehbar, dass eine verbesserte Mobilität sicherer gemacht wird, wenn Sehbeeinträchtigungen minimiert wurden. Dazu gehört unter anderem, dass Brillen auch getragen werden. Diese müssen der Situation angemessen sein (z. B. keine Lesebrille beim Umhergehen), auf das Sehvermögen des Patienten/Bewohner abgestimmt und immer entsprechend gereinigt sein. 4.4.2.5 Hilfsmittel Aus der Literatur lassen sich Untersuchungen zu folgenden Hilfsmitteln, die bei der Sturzprophylaxe eine Rolle spielen können, finden: Gehhilfen, Hüftprotektoren, freiheitseinschränkende Hilfsmittel, Identifikationsarmband. Gehhilfen 55 Dass Gehhilfen dazu beitragen, Stürze zu vermeiden, wird nicht angezweifelt. (Herdman et al. 2000, Sloan et al. 2001, Jensen et al. 2002). Jensen et al. (2002) gehen z. B. davon aus, dass Hilfsmittel eine Rolle bei der Sturzprävention spielen können. Nicht anders ist es zu erklären, dass sie die Beschaffung und Instandsetzung von Hilfsmitteln zu einem Bestandteil ihrer multifaktoriellen Intervention gemacht hatten. Ob der Einsatz von Gehhilfen wie Stöcken und Rollatoren die Sturzhäufigkeit vermindert, ist dennoch wenig untersucht worden. Graafmans et al. (2003) untersuchten in einer Querschnittstudie bei 694 in Wohn- und Pflegeheimen lebenden Personen den Effekt der Benutzung von Gehhilfen in Abhängigkeit von den körperlichen Aktivitäten. Sie fanden heraus, dass die Benutzung von Gehhilfen insbesondere Personen mit einem hohen Aktivitätsgrad vor Stürzen schützt, wohingegen bei Personen mit einem mittleren Aktivitätsgrad keine Reduktion der Sturzrate durch Gehhilfen zu verzeichnen war. In mehreren Studien wurde der Effekt einer Benutzung von Gehstöcken auf die Körperstabilität untersucht. In einer kleinen Fallkontrollstudie bei 14 Patienten mit einer Halbseitenlähmung weisen Milczarek et al. (1993) eine signifikante Verbesserung der Körperschwankungen bei Benutzung eines Stocks nach. Das Ergebnis war unabhängig davon, ob die Probanden einen herkömmlichen oder einen Vierpunktgehstock benutzt hatten. Ashton-Miller et al. (1996) konnten in einer kleinen kontrollierten Studie (8 Altenheimbewohner mit peripherer Neuropathie und 8 Altenheimbewohner als Kontrollgruppe) nachweisen, dass die Benutzung eines Stocks auf der nicht dominanten Körperseite eine signifikante Verbesserung hinsichtlich des Balanceverlusts auf einem schwankenden Untergrund mit sich brachte. Maeda et al. (2001) untersuchten die quantitative Verbesserung von Körperschwankungen bei Verwendung eines Gehstocks bei 41 zu Hause lebenden Schlaganfallpatienten und bei 36 gesunden und selbstständigen älteren Personen. Bei beiden Gruppen bewirkte die Benutzung eines Gehstocks eine deutliche Reduktion der Körperschwankungen um mehr als die Hälfte, wobei sich bei den Schlaganfallpatienten die Verbesserung wesentlich deutlicher auswirkte. Laufer (2003) verglich in einer RCT die unterschiedlichen Auswirkungen eines Vierpunktgehstocks und eines herkömmlichen Stocks auf die Balance und die Körperhaltung bei 40 Patienten mit einer Halbseitenlähmung. Die Verwendung eines Vierpunktgehstocks führte zu einer deutlichen Verbesserung der Körperschwankungen wohingegen die Verwendung eines herkömmlichen Stocks keine signifikanten Effekte im Vergleich zum freien Stehen brachte Es wurde eine Gewichtsverlagerung zum Vierpunktgehstock hin gemessen, die jedoch die Stabilität der Körperhaltung nicht nachteilig beeinflusste. In zwei Studien wurde die Abhängigkeit der Mobilität von der Beschaffenheit der verwendeten Gehstöcke untersucht. Dean & Ross (1993) konnten bei 144 zu Hause lebenden Personen keinen Zusammenhang zwischen einer korrekten Anpassung von Stöcken (Länge, Griffbeschaffenheit, Tauglichkeit) und einer Mobilitätsverbesserung inklusive einer Sturzreduktion feststellen. Für den festgestellten Effekt der Verbesserung der Mobilität machten sie vielmehr eine geeignete Indikation (z. B. Gelenksprobleme, Balanceschwierigkeiten oder beides), die Tauglichkeit der Stöcke (z. B. Komfort, unproblematische Benutzbarkeit) sowie einen Vertrauenszuwachs in die eigene Mobilität verantwortlich. Lu et al. (1997) untersuchten die Auswirkung der Stocklänge bei 10 Schlaganfallpatienten. Sie stellten fest, dass die Verwendung eines Stocks die Stabilität beim Stehen erhöht. Allerdings konnten sie keine signifikanten Auswirkungen auf die Gangstabilität feststellen. Die Länge des Stocks sollte nach den Ergebnissen von Lu et al. (1997) vom Boden bis zur Außenseite des Handgelenks bei herabhängendem Arm reichen. Sloan et al. (2001) vertreten die Ansicht, dass eine falsche Benutzung von Gehhilfen häufig zu Stürzen beiträgt. Sie plädieren daher dafür, dass sowohl Physiotherapeuten als auch Pflegende die Aufgabe wahrnehmen, den Patienten/Bewohnern bei Fragen zur Benutzung von Gehhilfen weiter zu helfen. Es konnte nur eine Untersuchung ausfindig gemacht werden, in der der direkte Zusammenhang zwischen der Benutzung von Gehhilfen und einer Reduktion der Sturzrate 56 Untersuchungsgegenstand war (Graafmans et al. 2003). Darin wurde festgestellt, dass sehr aktive Personen durch die Verwendung von Gehhilfen Stürze vermeiden können. Es liegt aber Evidenz dafür vor, dass die Verwendung von Gehstöcken durch die Verminderung von Körperschwankungen und dem damit verbundenen Zugewinn an Balance indirekt eine Vermeidung von Stürzen unterstützt. Insbesondere die Verwendung eines Vierpunktgehstocks trägt zur indirekten Verminderung von Stürzen bei. Stöcke sollten immer individuell angepasst sein und die Patienten/Bewohner sollten in deren Gebrauch eingewiesen sein und Ansprechpartner haben, wenn Fragen zum Gebrauch auftauchen. Hüftprotektoren Hüftprotektoren scheinen die einzige nichtmedikamentöse Intervention darzustellen, die effektiv hüftgelenksnahen Frakturen vorzubeugen vermag (Parker et al. 2003). Im Rahmen mehrerer internationaler RCTs wurden verschiedene Hüftprotektor-Modelle untersucht (Parker et al. 2003). Alle Hüftprotektoren haben zum Ziel, dass bei einem Sturz möglichst wenig Kraft den Trochanter major belastet (Warnke 2002). Einige Hüftprotektoren haben den Effekt, die Aufprallenergie vom Trochanter aus auf das umliegende Weichteilgewebe umzuleiten und somit das Aufprallareal zu vergrößern. Andere Hüftprotektoren dienen als energieaufnehmende Polsterung (Heikinheimo et al. 1996) oder vereinen beide Wirkprinzipien (Lauritzen et al. 1993, Kannus et al. 2000). In den gesichteten Studien kam es beim Tragen eines Hüftprotektors nur zu wenigen Hüftfrakturen (Parker et al. 2003, Meyer et al. 2003, Cameron et al. 2003). Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist der wissenschaftliche Beweis für die Wirksamkeit von Hüftprotektoren bei Alten- und Pflegeheimbewohnern erbracht. Dass dies auch für Hochrisikopatienten für hüftgelenksnahe Frakturen in anderen Settings der Fall ist, ist als sehr wahrscheinlich anzunehmen, ist aber bis dato noch nicht durch aussagekräftige Studien belegt. Trotz ihrer Wirksamkeit ist die Akzeptanz der Patienten/Bewohner, den Hüftprotektor zu tragen, begrenzt (Parker et al. 2003, Cameron et al. 2003, Birks et al. 2004, Warnke et al. 2004). Ein Hüftprotektor kann jedoch nur wirksam werden, wenn er während des Sturzereignisses auch getragen wird. Um dies zu gewährleisten, benötigen Patienten/Bewohner, die hochgradig gefährdet sind, eine Hüftfraktur zu erfahren, in Abhängigkeit vom Kontinenzstatus zeitgleich drei bis fünf Exemplare. Eine niederländische Studie (van Schoor et al. 2003) zeigt aber, dass die alleinige Bereitstellung von Hüftprotektoren für pflegabhängige und teilweise kognitiv beeinträchtigte Personen ohne begleitende systematische Einbindung der Pflegenden keinen Nutzen verspricht. Eine strukturierte Schulung der Patienten/Bewohner unter Einbeziehung der Pflegenden kann hingegen zu einer bedeutsamen Verbesserung der Akzeptanz von Hüftprotektoren führen (Meyer et al. 2003). Meyer et al. konnten die Rate der hüftgelenksnahen Frakturen durch einmalige Schulung der Pflegenden, Information der teilnehmenden Altenheimbewohner durch die geschulten Pflegekräfte verbunden mit dem Angebot von Hüftprotektoren um etwa 40 % reduzieren. Freiheitseinschränkende Hilfsmittel Die nach wie vor in der Praxis häufig durchgeführte Intervention bei einer ermittelten Sturzgefährdung sind freiheitseinschränkende Maßnahmen bei den betreffenden Personen. Bei den verwendeten freiheitseinschränkenden Hilfsmitteln handelt es sich in erster Linie um das Anbringen von Bettgittern aber auch um das Festbinden ans Bett und an Sitzmöbel unter Verwendung eines Bauchgurts. Dass der Einsatz von freiheitseinschränkenden Maßnahmen aller Art (Bettgitter meist ausdrücklich eingeschlossen) nicht zu einer geringeren Anzahl an Stürzen führt, ist durch zahlreichen Studien nachgewiesen (Capezuti et al. 1996, Karlsson et al. 1997, Shorr et al. 2002, Capezuti et al. 2002). Arbesman & Wright (1999) sprechen sogar davon, dass sich das Sturzrisiko durch freiheitseinschränkende Maßnahmen verdoppelt. Ganz im Gegenteil zur gutgemeinten Intention führt der Einsatz von Bettgittern, wenn es trotzdem zu einem Sturz kommt, zu einer Verschlimmerung der Sturzfolgen (Tinetti et al. 1992, Hanger et al. 1999). Dies ist zum einen durch die vergrößerte Fallhöhe, aber auch 57 durch die Körperhaltung beim Überklettern des Bettgitters, die ein Abfangen des Körpers erschwert, bedingt. In einer Reihe von Studien wurden die Folgen einer Beendigung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen untersucht. In den meisten dieser Studien war die Anzahl der Stürze bei den Personen, bei denen diese Maßnahmen abgesetzt worden waren, nicht höher, als bei allen anderen Patienten/Bewohnern auch (Ejaz et al. 1994, Capezuti et al. 1998, Hanger et al. 1999, Dunn 2001, Weintraub & Spurlock 2002). Neufeld et al. (1999) ermittelten zwar eine geringfügige Erhöhung von folgenlosen Stürzen bei der erstgenannten Gruppe; eine Auswirkung auf die Anzahl von schweren Stürzen sowie sturzbedingten Verletzungen wurde hingegen nicht festgestellt. Die Verwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen einschließlich Bettgittern zur Sturzprävention sollte unbedingt vermieden werden. Bei sturzgefährdeten Personen ist darauf zu achten, dass diese – wenn sie aufstehen oder aus dem Bett steigen – Haltemöglichkeiten zur Verfügung haben und dass sie im Falle eines Sturzes weich fallen, z. B. auf einen weichen Sessel oder auf eine den Aufprall abdämpfende Matte. Aber auch allein die Schaffung von möglichst geringen Höhen bei Liege- und Sitzmöbeln kann einen Sturz oder aber die Folgen eines Sturzes deutlich vermindern. Ist der Einsatz eines Bettgitters unbedingt notwendig (z. B. bei Personen die im Schlaf aus dem Bett fallen, oder aus eigenem Sicherheitsbedürfnis ein Bettgitter wünschen), kann ein Gitter eingesetzt werden, welches nur bis zur Mitte des Bettes reicht. Identifikationsarmband Diese Interventionsmöglichkeit wurde bislang wissenschaftlich kaum beforscht. Nur Mayo et al. (1994) untersuchten den Effekt eines Identifikationsarmbandes für sturzgefährdete Krankenhauspatienten. Die Annahme, dass sich die Sturzrate durch eine durch das Armband hervorgerufene erhöhte Aufmerksamkeit der Träger und des Personals bezüglich sturzauslösenden Verhaltens reduzieren ließe, bestätigte sich jedoch nicht. Auswahl der Schuhe Es konnte keine Studie ausfindig gemacht werden, in der der direkte Zusammenhang zwischen der Auswahl der Schuhe und einer damit verbundenen Verringerung der Sturzrate untersucht wurde. In drei RCTs wurde der Zusammenhang zwischen der Qualität der Balance und des Gangs und der Art des Schuhwerks untersucht. Robbins et al. (1992) untersuchten, ob Schuhe mit dicken und weichen Zwischensohlen (in der Art von modernen Laufschuhen) zu einer besseren Stabilität führten als Schuhe mit einer dünnen und harten Zwischensohle. Sie untersuchten 25 gesunde Männer über 60, die über keine Sturzvorgeschichte berichteten. Im Gegensatz zu der anfänglichen Annahme stellten sich Schuhe mit dünnen, harten Sohlen als am besten tauglich zur Schaffung einer größtmöglichen Balance heraus. In Schuhen mit dicken und/oder weichen Zwischensohlen sowie barfuss war die Stabilität deutlich niedriger. Zudem wurde ermittelt, dass je bequemer die Schuhe waren, desto negativer wirkte sich dies auf die Balance aus. Lord et al. (1999) untersuchten, ob die Schafthöhe von Schuhen und der Härtegrad der Sohlen Auswirkungen auf die Balance von älteren Frauen hat. Sie bezogen in diese Untersuchung 42 selbständig lebende Frauen im Alter zwischen 60 und 90 Jahren ein. Sie untersuchten die Körperschwankungen im Stehen und den Grad der maximalen Balancefähigkeit bzw. der Stabilität bei Bewegungen. Getestet wurden die Kriterien in Bowlingschuhen mit weichen Sohlen, in Bowlingschuhe mit harten Sohlen, in Slippern, in Slippern mit einem hohen Schaft und barfuß. Lord et al. ermittelten, dass die besten Ergebnisse in den Schuhen mit einem hohen Schaft erzielt wurden. Die Härte der Sohlen brachte im Vergleich zur Barfüßigkeit keine Verbesserung der gemessenen Parameter. Lindemann et al. (2003) untersuchten, ob speziell für Senioren entwickelte Schuhe bei Altenheimbewohnern eine Verbesserung der Balance und des Gangs mit sich bringen. Diese Annahme konnte in dieser Studie nicht verifiziert werden. Die Autoren konstatierten, dass es hinsichtlich der statischen und der dynamischen Balance ein breites Spektrum an akzeptablen Schuhen gibt; Entscheidend sei, dass die Absatzhöhe unter einer noch zu ermittelnden kritischen Marke liege. 58 Hinsichtlich der Rutschfestigkeit von Sohlen konnten zwei Studien gefunden werden, in denen aber nur zurückhaltend Schlüsse hinsichtlich der Reduzierung von Stürzen gezogen wurden. Bei Menz et al. (2001) erzielte kein Schuh gute Ergebnisse auf nassen Flächen und mit der Höhe des Absatzes erhöhte sich die Rutschgefahr. Manning & Jones (2001) ermittelten, dass die beste Rutschfestigkeit Schuhe mit einer aus dem mikrozellulären Polyurethan AP66033 bestehenden Sohle aufwiesen. Aufgrund der Rutschanfälligkeit von handelsüblichen Schuhen empfahlen die Forscher, alle neuen Schuhe mit einem Schleifpapier 100ter-Körnung abzuschmirgeln. Bei polierten Böden und gefrorenem Untergrund und besonders auf Eisflächen existierten aber bislang keine Schuhe, die eine akzeptable Sicherheit gegen Ausrutschen ermöglichten. Huhn (2004) empfiehlt daher die Verwendung von Eiskrallen oder ähnlichen Hilfsmitteln bei winterlichen Ausflügen. In Situationen, in denen aus welchen Gründen auch immer keine Schuhe getragen werden, wird die Verwendung von Stoppersocken (Socken mit Gumminoppen an der Sohle) von Meddaugh et al. (1996), Becker et al. (2003) sowie Huhn (2004) als geeignete Intervention genannt. Anpassung der Ernährung Da der Zusammenhang zwischen Stürzen und einem Mangel an Muskelkraft ununstritten ist, spielt in indirekter Weise der Ernährungszustand eines Patienten/Bewohners hinsichtlich der Sturzgefährdung eine Rolle. Gray-Donald et al. (1995) untersuchten die Effektivität einer 12-wöchigen hochkalorischen Ernährung bei Personen mit einem erhöhten Risiko der Unterernährung (BMI < 24). Sie stellten fest, dass die Sturzhäufigkeit bei diesen Personen geringer war als in einer Kontrollgruppe. Die Forscher vermuten, dass ein längerer Zeitraum mit einer hochkalorischen Ernährung zu besseren Ergebnissen geführt hätte. Nahrungsergänzung mit Vitamin D3 Eine physiologische Erklärung dafür, dass die Aufnahme von Vitamin D3 einen Effekt auf das Sturzrisiko hat, ist, dass 1,25-Hydroxivitamin D (der aktive Vitamin D Metabolit) zu einer Verbesserung der Muskeltätigkeit führt und damit das Risiko für Stürze mindert (Simpson et al. 1985, Bischoff et al. 2001). Der direkte Zusammenhang zwischen einer Vitamin D3-Einnahme und deren Auswirkungen auf die Sturzrate wurde in mehreren RCTs untersucht (Pfeifer et al. 2000, Bischoff et al. 2003, Latham et al. 2003, Dukas et al. 2004, Harwood et al. 2004). Pfeifer et al. 2000 konnten durch die tägliche Gabe von 20g Vitamin D3 und 1200mg Kalzium Verbesserungen von haltungsbedingten Körperschwankungen um 9 % gegenüber der Kontrollgruppe, die ausschließlich Kalzium erhalten hatte, erreichen. Auch konnten die Autoren eine Verminderung der Sturzrate im Laufe eines Jahres nach einer 8-wöchigen Kurzzeittherapie bei Personen, die Vitamin D und Kalzium eingenommen hatten, registrieren. Die Rate der Stürze war um etwa 50 % reduziert im Vergleich zu der Rate in der Kalzium-Kontrollgruppe. Bischoff et al. 2003 erreichten durch die dreimonatige Gabe von 20g Vitamin D3 und 1200mg Kalzium bei 122 Altenheimbewohnerinnen eine deutlich verbesserte Muskelfunktion. Während des Therapiezeitraums wurde mit der Kombination von Vitamin D und Kalzium eine Reduktion der Sturzrate um etwa 50 % gegenüber der Gruppe, die nur Kalzium eingenommen hatten, erzielt. Latham et al. (2002) konnten keine Verbesserung der Mobilität durch die einmalige Gabe von 7500g Vitamin D erreichen. Das zusätzliche 10-wöchige Training zur Stärkung des Quadrizeps zeigte ebenfalls keine rehabilitativen Effekte bei den untersuchten 243 alten Personen. Dukas et al. (2004) untersuchten bei 378 zu Hause lebenden Personen die Wirksamkeit einer täglichen Gabe von 1g Vitamin D3. Sie stellten in den 9 Monaten der Therapiedauer eine Senkung der Sturzrate um ca. 30 % bei den Personen fest, die durch ihre Ernährung mindestens 512mg Kalzium zu sich genommen hatten. Harwood et al. (2004) verglichen verschiedene Arten der Applikation von Vitamin D3 bei 150 Frauen in einer Rehabilitationsabteilung. Eine Gruppe erhielt eine einmalige Injektion von 59 7500g Vitamin D3. Eine andere erhielt zusätzlich zu dieser Injektion noch oral 1g Kalzium täglich. Die dritte Gruppe erhielt täglich 20g Vitamin D3 oral in Kombination mit 1g Kalzium und eine vierte Gruppe keinerlei Intervention. Harwood et al. erzielten unabhängig von der Applikationsart durch die Verabreichung von Vitamin D3 eine Reduktion der Sturzrate um mehr als die Hälfte, wobei die besten Ergebnisse in der dritten Gruppe erzielt wurden (Vitamin D in Kombination mit Kalzium). Die Konzentration des 25-hydroxivitamins D war allerdings bei den Personen, die eine einmalige Injektion Vitamin D3 pro Jahr erhielten, geringer als bei den Personen, die dieses Vitamin in täglichen Einzeldosen oral aufgenommen hatten. In den RCTs, in denen der direkte Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Vitamin D3 und einer Senkung der Sturzrate untersucht wurde, zeichnet sich der Nutzen einer kombinierten Gabe von Vitamin D3 und Kalzium ab. Dabei sollte die tägliche Dosis mindestens 1g Vitamin D3 und mehr als 512mg Kalzium betragen. In ihrer Übersichtsarbeit kommen Bischoff-Ferrari et al. (2004) zu dem Ergebnis, dass das Sturzrisiko sowohl bei zu Hause lebenden Patienten als auch bei institutionalisierten Patenten/Bewohnern durch die Einnahme von Vitamin D3 um etwa 22 % gesenkt werden kann. Die Bedeutung, die Vitamin D in Bezug auf sturzbedingte Verletzungen zukommt, hängt mit der Verbesserung der Knochenstruktur zusammen. Vitamin D3 wirkt mit bei der Differenzierung der Knochen-Stammzellen, bei der Regelung des Kalzium-Haushalts und beim Stoffwechsel der Minerale Kalzium und Phosphat, die beim Aufbau der Knochen eine wichtige Rolle spielen. Dementsprechend liegen eine große Zahl von Studien vor, in denen die Wirkung von Vitamin D3 auf die Knochendichte untersucht wurde. In einigen dieser Studien, wurde auch die Wirkung von Vitamin D auf die Frakturrate untersucht. Chapuy et al. (1992) berichten von einer Senkung der Frakturenrate um 43 % durch die tägliche Gabe von 20g Vitamin D3 und 1,2g Kalzium bei 3270 gesunden und gehfähigen Frauen. Orimo et al. (1994) verzeichneten 75 % weniger Frakturen bei den zu Hause lebenden Frauen, die ein Jahr lang täglich 1g Vitamin D3 und 300mg Kalzium einnahmen, als bei den Frauen, die ausschließlich 300mg Kalzium zu sich genommen hatten. Dass eine alleinige Gabe von täglich 10g Vitamin D3 keine Auswirkungen auf die Rate der Frakturen hat, belegen Lips et al. (1996) in einer Gruppe von 2578 Teilnehmern aus Altenwohnanlagen sowie Meyer et al. (2002) bei 1144 Altenheimbewohnern. Trivedi et al. (2003) konnten durch die alleinige hochdosierte Gabe von 7500g Vitamin D3 alle vier Monate über fünf Jahre eine Reduktion von erstmaligen Frakturen um 20% erreichen. Gillespie et al. (2004) kommen in ihrer Übersichtsarbeit zu dem Schluss, dass die Evidenz für die Effektivität einer Behandlung mit Vitamin D3-Präperaten allein oder in Kombination mit Kalzium in Bezug auf die Vermeidung von Frakturen als limitiert einzustufen ist. In mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass sich die mineralische Knochendichte bei einer kombinierten Gabe von Vitamin D3 und Kalzium erhöht. Ob die Erhöhung der Knochendichte jedoch mit einer Senkung der Frakturrate einhergeht, muss offen bleiben. Des Weiteren lässt die Studienlage keine eindeutige Aussage darüber zu, ob die alleinige Gabe von Vitamin D3 zu einer Verminderung der Frakturinzidenz führt. 4.4.2.6 Weitere Einzelinterventionen Herzschrittmacher Ein genereller Sturzrisikofaktor ist die Ohnmacht. Diese kann unter anderem durch eine Störung der Herzfunktion ausgelöst sein. Von daher liegt es nahe, dass die Aufrechterhaltung der physiologischen Herzfunktion auch für die Sturzprophylaxe von Bedeutung ist. Zu dieser Thematik liegen allerdings kaum Untersuchungen vor. In einer einzigen RCT überprüften Kenny et al. (2001), ob der Einsatz eines Herzschrittmachers eine Reduzierung von ohnmachtbedingten Stürzen mit sich bringen kann. Sie untersuchten Personen mit einer hypersensiblen Hemmung der Herztätigkeit aufgrund einer Ausweitung an der Karotisgabel oder im Anfangsteil der Karotisarterie (Sinus 60 carotis). Sie konnten eine Verminderung der ohnmachtbedingten Stürze um zwei Drittel (ca. 66 %) durch Einsatz eines Herzschrittmachers erreichen. Stellen Pflegende Ohnmachtsanfälle bei Patienten/Bewohnern fest, sollten sie dafür sorgen, dass die Ursachen medizinisch abgeklärt werden. Gerade bei Trägern von Herzschrittmachern ist auf die korrekte Funktion (einschl. der periodischen Funktionskontrolle) zu achten. Kognitives Verhaltenstraining Durch Anpassung des Bewegungsverhaltens an die motorischen und visuellen Fähigkeiten können sturzauslösende Situationen umgangen werden. Ein gefahrenvermeidendes Verhalten muss aber in der Regel erst erlernt und dann auch trainiert werden, bis es ohne große Reflexion/Überlegung eingehalten wird (in Fleisch und Blut übergehen). Aus diesem Grunde ist kognitives Verhaltenstraining Bestandteil mehrerer komplexer Interventionsprogramme (Reinsch et al. 1992, Hornbrook et al. 1994, Carter et al. 1997, Nowalk et al. 2001). Dafür, dass diese Intervention für sich genommen eine positive Auswirkung auf das Sturzrisiko hat, konnten allerdings keine eindeutigen Belege gefunden werden (Gallagher & Brunt 1996, Ryan & Spellbring 1996). Das Schulen und Einüben von sturzvermeidendem Verhalten sollte immer begleitend zu anderen Interventionen von Pflegenden durchgeführt werden. 4.5 Sturzdokumentation und Sturzanalyse Eine strukturierte Erfassung von Stürzen kann dazu führen, die Sensibilität für Situationen, in denen es zu Stürzen kommen kann, sowohl bei den Patienten/Bewohnern als auch bei den Pflegenden zu erhöhen. Zudem ähneln sich die Abläufe von Stürzen, so dass mit Hilfe einer Sturzanalyse zielgerichtet Maßnahmen eingeleitet werden können, um weitere Stürze zu verhindern. Becker et. al. (2003) sprechen in diesem Zusammenhang sogar von „typischen Sturzmustern“. Da die Dokumentation von Stürzen für sich alleine keine Intervention zur Verminderung von Stürzen und deren Folgen darstellt, existieren auch keine Studien, in denen ausschließlich die Auswirkungen von Sturzdokumentationen auf die Sturzrate untersucht wurden. Dass die strukturierte Erfassung von Stürzen die Grundlage für zielgerichtete Interventionen darstellt, wird von mehreren Autoren unterstrichen, die in den letzten Jahren Formulare zur Dokumentation von Stürzen veröffentlicht haben (Schwendimann 1998, Tideiksaar 2000, Runge & Rehfeld 2001, Huhn 2002, Becker et al. 2003). Diese Formulare unterscheiden sich jeweils nur in wenigen Details. Allen ist gemeinsam, dass damit folgende zentrale Aspekte von Sturzereignissen erfasst werden: Zeitpunkt des Sturzes Der Zeitpunkt des Sturzes kann einen Hinweis auf die sturzauslösenden Faktoren geben. Stürzen Patienten/Bewohner z. B. nachts könnte die Beleuchtung nicht ausreichend sein. Situationsbeschreibung Die Beschreibung des Sturzhergangs gibt Aufschluss über das multifaktorielle Geschehen. Es kann ermittelt werden, ob der Patient/Bewohner ausgerutscht, gestolpert, irgendwo herunter oder über etwas drüber gefallen ist. Wichtig ist auch, ob andere Personen beteiligt oder zugegen waren. Aktivitäten während des Sturzes Bei welcher Aktivität der Sturz erfolgte spielt eine große Rolle hinsichtlich der Anpassung des zukünftigen Verhaltens. So kann z. B. ein langsames und sicheres Aufstehen, ein sicherer Gang, das richtige Festhalten oder die Nutzung eines Hilfsmittels trainiert werden. Es können aber auch Alternativen entwickelt werden um Aktivitäten, die zu einer erhöhten Sturzgefahr führen, zu vermeiden. Ort des Sturzes 61 Der Ort, an dem der Sturz geschah, kann einen Hinweis auf die umgebungsbezogenen Sturzrisiken geben; z. B. ob der Boden rutschig ist, ob Bewegungen durch Hindernisse eingeschränkt werden, ob Barrieren bestehen, ob die Beleuchtung ausreichend ist. Zustand während des Sturzes Darunter gehört der körperliche und der psychische Zustand aber auch der Zustand der Kleidung. Die Erfassung kann anhand der Gliederung der Sturzrisikofaktoren erfolgen. Folgen des Sturzes Häufige Sturzfolgen sind Prellungen, Verstauchungen, Platz- oder Schnittwunden, Brüche und dadurch bedingte Schmerzen. Eine sorgfältige Erfassung dieser Folgen beinhaltet das Ausmaß und die genaue Lokalisation. Nicht zuletzt haben Stürze auch psychische Folgen wie Angst, Verzweiflung, Desorientierung. Die Folgen von Stürzen haben einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das zukünftige Geschehen. eingeleitete Maßnahmen Dabei kann es sich um eine weitergehende Abklärung von Sturzfolgen aber auch um Behandlungsmaßnahmen (z. B. Kühlung von Prellungen, Wundverbände, Lagerungen) handeln. Pflegefachkräfte müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Dokumentation von Stürzen allein keine ausreichende Maßnahme darstellt, um das Auftreten von Sturzereignissen zu vermindern. Eine strukturierte und umfassende Dokumentation und eine darauf aufbauende Analyse einzelner Sturzereignisse stellen aber die Basis für die (Neu-)Erfassung von Sturzrisikofaktoren bei den betreffenden Patienten/Bewohnern dar. Darüber hinaus hat die Sturzdokumentation eine Absicherungsfunktion in haftungsrechtlicher Hinsicht. Literaturliste A Alcée D: The Experience of a Community in Quantifying and reducing Patient Falls. J Nurs Care Qual 2000, 14 (3): 4353 Allison, S. (1993): Cost benefits of nutritional support. 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