Brüder Mann in der Weimarer Republik Mann, (Paul) Thomas, * 6. 6. 1875 Lübeck, † 12. 8. 1955 Mann, (Luis) Heinrich, * 27. 3. 1871 Lübeck, † 12.3. 1950 Santa Monica/Kalifornien. Die Popularität der Familie Mann kann man an der Zahl der Biographien und Filmdokumente ablesen, die aus den letzten 10 Jahren stammen Stefan Ringel: Heinrich Mann. Ein Leben wird besichtigt. Primus Verlag, Darmstadt 2000. schrieb eine durchaus kritische Biographie: Nach Ringel wollte Heinrich Mann weniger schreiben als sich vielmehr eine "schriftstellerische Existenz" sichern. Nach Hermann Kurzke (1999 "Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk" ) strebte auch Thomas Mann vor allem Mythos seiner Persönlichkeit und stilisierte sein Leben danach. Am Höhepunkt des Interesses für die Familie Mann drehten Heinrich Breloer und Horst Königstein einen dreiteiligen Spiel- und Dokumentarfilm. Zuletzt erschien in der neuen Reihe "Biographische Passionen" im Claassen Verlag ein Band zu Thomas Mann von Edo Reents. Reents Kollege Martin Meyer von der NZZ hat vor kurzem in seinem Buch über Thomas Manns Tagebücher die Behauptung aufgestellt (aber nicht belegt), Thomas Mann hätte leicht ein Mitspieler im faschistischen System werden können, wenn die Nazis ihn nur ausreichend hofiert hätten ("Tagebuch und spätes Leid", München 1999). Es gibt einen Tagebuch-Eintrag vom 27.11.1937, in dem Thomas Mann sich fragt, ob er an den "demokratischen Idealismus", den er vertritt, tatsächlich glaube, oder ob er ihn nicht vielmehr wie eine Rolle spiele. Doch mit Ironie hat dieser Tagebucheintrag nichts zu tun. Er deutet vielmehr an, dass sich Thomas Mann nicht sicher war, ob der demokratische Optimismus, den er verbreitete, tatsächlich angemessen und ob sein humanistischer Idealismus von der Weltlage nicht längst überholt war. Denn er fügt hinzu: "Es ist jedenfalls gut, diese Welt zu erinnern" ( selbst wenn die europäischen Diktaturen sie bereits überrollt haben sollten). Daraus spricht ein politischer Pessimismus, der Thomas Mann trotz allem Aktionismus im Exil immer wieder befällt. Das mag tragisch sein, ironisch ist es nicht. Mit dem Verhältnis der Literatur zur Öffentlichkeit hat sich schon der Essay Geist und Tat (1911) von Heinrich Mann befaßt und vor allem die Wirkung Rousseaus und Zolas auf die politische Öffentlichkeit als vorbildlich hervorgehoben. Heinrich Mann erinnert die deutschen Schriftsteller an ihre gesellschaftlich-politische Verantwortung. Ihre bisherige politische Unwirksamkeit und Entfremdung vom Volk sieht er als Folge von ihrem tragischen Ehrgeiz, ihrer albernen Sucht, besonders zu sein und ihrem Schrecken vor Vereinsamung. Er distanziert sich so auch von eigenen literartischen Anfängen in Geiste des Ästhetizismus von Hermann Bahr oder Paul Bourget. Der 1915 in den »Weißen Blättern« veröffentlichte Essay Zola entwarf im Bild des frz. Naturalisten das Muster des oppositionellen Intellektuellen, der zur Zeit eines allg. herrschenden Chauvinismus die Prinzipien der Moral gegen eine sich absolut setzende staatl. Macht verteidigt. HM griff hier die geistigen Mitläufer an, die neben dem Volk herlaufen und ihm Mut zu dem Unrecht machen, zu dem es verführt wird. Er machte Unterschied zwischen dem verführten Volk und der bürgerlichen Nation. Er bleibt aber noch bei allgemeinen Begriffen wie Fortschritt, Rechtlichkeit und Wahrheit und trennt dabei nicht Literatur von Politik. Mit seinem moralischen Appell an die Literatur hat er den linken Flügel des Expressionismus beeinflußt. Der Essay als HMs „Programmschrift“ wurde zum Anlaß für den jahrelangen »Bruderzwist« mit Thomas, der freilich schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs in extrem gegensätzl. Positionen zur dt. Politik u. Kultur offensichtlich war. Mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (Bln. 1918) führte Thomas Mann ein widersprüchl. Rückzugsgefecht gegenüber dem von ihm als »Zivilisationsliteraten« bezeichneten Bruder. Die öffentliche Wirkung der Literatur war nun der Wertungsmaßstab, an dem gemessen auch Goethe kritisiert wird, da sein Werk nach Meinung Heinrichs Manns „in Deutschland nichts verändert, keine Unmenschlichkeit ausgemerzt“ habe. Dem auf dem bürgerlich-humanistischen Bildungsideal begründeten klassisch-romantischen Dichtertypus setzt Heinrich Mann den gesellschaftllich-rhetorischen entgegen wie er schon im Vormärz gefordert wurde. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" wird Zola als Gestalt des internationalistischen "Zivilisationsliteraten" gesehen, der als polemisches Gegenbild zum deutschen Künstler aufgebaut wird. Hiermit lieferte Thomas Mann eine seiner das ganze Werk durchziehenden Antithesen: …der Demokrat gegen den Monarchisten, der aktivistische Neopathetiker gegen den demütig aufnehmenden Pathoskritiker, der expressionistische Satiriker gegen den impressionistischen Ironiker, der Politiker gegen den Unpolitischen. Thomas Mann nannte sich hier selber antidemokratisch und konservativ, obwohl der Text keine so eindeutige Zuordnung zuläßt. Der Kerngedanke liegt allerdings darin, daß die deutsche Kultur sich gegen die übrige zivilisierte Welt behaupten müsse und der Krieg sei das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur. Der Standpunkt , von dem aus die Kriegsblinden und –verletzten beobachtet werden, wird so gewählt, daß die Kriegsschrecken in den Hintergrund treten. Die Welt lag schon immer im Argen, aber der Schmerz ist auch „Folie der Lust“. Es ist ein Kompendium konservativer Haltungen und Anschauungen bis in ihre Verkürzungen und Vereinfachungen hin.1 So wird der Dichtung die Literatur, der Menschlichkeit die Demokratie, dem Mythos die Aufklärung, dem Volk die Massen und der Kultur die Zivilisation gegenübergestellt und der zweite Pol als Bedrohung der Sonderstellung der deutschen Eigenart beschrieben. Während Kultur poetisch, heroisch, germanisch ist, schläfert die Zivilisation ein, ist zersetzend, intellektuell, französisch. Die Betrachtungen enden mit einer kausalen Verknüpfung von Fruchtbarkeitsrückgang (von 35 auf 27 auf 1000 Personen berechnet) und Verwestlichung. Diese Gedankengänge fand er zuerst in Spenglers Untergang des Abendlandes bestätigt, den er 1922 bespricht.2 Die Rezension gelangt aber zur Ablehnung der Fatalität der historisch-sozialen Entwicklung. Er distanziert sich davon nicht zuletzt deshalb, weil er das Verführerische daran erkennt. Damit eröffnet sich Mann einen Zugang zur positiven Wahrnehmung der Weimarer Republik, die dann seinen Essay Die deutsche Republik (1922) prägt. In seinem Aufsatz Kultur und Sozialismus (1928) kommt (ThM) auf seine Betrachtungen zurück und bekennt sich wieder zur Republik: Zur demokratischen Staatsform stehen, an ihre Möglichkeit und Zukunft in Deutschland glauben kann nur, wer die Wandlung der deutschen Kulturidee in weltversöhnlich-demokratischer Richtung für möglich und wünschenswert hält. Sein BdU charakterisiert er als schwerfälliges Erzeugnis unvergeßlicher Leidensjahre bzw. Rückzugsgefecht großen Stils. Die deutsch-romantische Bürgerlichkeit ist dermaßen einem Zersetzungsprozeß ausgesetzt worden, daß man den kulturellen Ideenkomplex von Volk und 1 Bernhard Weyergraf, Konservative Wandlungen. Hansers Sozialgeschichte der dt. Lit..275. 2 Über die Lehre Spenglers. 1922.Der erste Teil des UdA erschien 1918, der zweite 1924. Nach Spengeler ist die Zivilisation der biologisch-unvermeidliche Endzustand jeder Kultur. Gemeinschaft heute als bloße Romantik anzusprechen hat und das Leben mit all seinen Gehalten an Gegenwart uind Zukunft ohne allen Zweifel auf Seiten des Sozialismus ist. Erst 1922 mit dem Wandel Th. M.s vom nationalkonservativen Polemiker zum Verteidiger der Weimarer Republik kann der Zwist zwischen den Brüdern Mann beigelegt werden und eine – nicht zuletzt durch die schwere Erkrankung Heinrichs beschleunigte Versöhnung folgen. Bis zum Untergang der Republik repräsentieren die Brüder gemeinsam dt. Literatur. 1929 erhält M. den Nobelpreis3, ausdrücklich für Buddenbrooks. 1933 wird die Rede zum 50. Todestag Wagners zum Anlaß einer Kampagne; M. kehrt nicht mehr nach Deutschland zurück. Nach anfängl. Zurückhaltung erteilt M. 1936/37 auch vor der Weltöffentlichkeit dem Hitlerregime die schneidende Absage. Die Stationen des Emigranten führen über Europa nach den USA; in Kalifornien glaubt er mit dem Bau eines Hauses die neue Heimat gefunden zu haben. Thomas Mann trat nach 1912 wenig als Erzähler hervor. 1922 erschien das erste Fragment seines Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Erfolg brachte ihm der Roman Der Zauberberg, der nur in Deutschland schon 1928 eine Auflage von 100.000 erreichte. Als satirisches Gegenstück zur Erzählung Der Tod in Venedig war Der Zauberberg (Bln. 1924) geplant u. 1913 begonnen worden. Noch ehe das Ende des Weltkriegs abzusehen war, plante Mann bereits, die Erzählung vom kleinen Tannhäuser aus Hamburg, der ins Reich von Frau Venus gerät4, in den Ausbruch des Kriegs münden zu lassen. Für sieben Jahre (1907-1914) kommt der verwaiste Schiffsbauingenieur aus einer einst reichen Hamburger Familie, also aus dem Flachland, dem tätigen Leben abhanden, obwohl er nur den soldatischen, aber leider tuberkulösen Vetter im Hochgebirgssanatorium besuchen wollte. Hier oben gerät er auch in den Hades mit den Ärzten als Totenrichtern. Dadurch, dass die Handlung vor 1914 spielt, ist sie schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. Sie sei viel älter als ihre Jahre. Die tausend Seiten sind in sieben Kapitel gegliedert, die weiterhin Unterkapitel enthalten. Erstes Kapitel beschreibt die Ankunft des Hamburger Patriziersohns im Sanatorium Berghof in Davos, wo seit 5 Monaten sein Vetter Joachim Ziemßen sich aufhält. Er will nur 3 Wochen bleiben. Es herrschen hier andere Begriffe von Zeit und Sinn der Existenz: Joachim Ziemßen über einige übermütige Patienten: Gott, sie sind so frei … Ich meine, es sind ja junge Leute, und die Zeit spielt keine Rolle für sie, und dann sterben sie womöglich5. Warum sollten sie da ernste Gesichter schneiden. Ich denke manchmal: Krankheit und Sterben sind eigentlich nicht ernst, sie sind mehr so eine Art Bummelei, Ernst gibst es genaugenommen nur im Leben da untern. 3 Hauptmann schon 1912. 4 Hörselbergidee: Wagners Tannhäuser: Die Zeit, die ich hier verweil, ich kann sie nicht ermessen. Tag, Monde – gibt´s für mich nicht mehr 5 vielleicht. möglicherweise Zweites Kapitel: Die bisherige Hamburger Geschichte Castorps nachgeholt. Es wird sein Lebensstil beschrieben und die großen Erwartungen, die seine Umgebung ihm entgegenbringt. Denn namentlich darin war er echt, dass er gern gut lebte, ja seines dünnblütig verfeinerten Äußern ungeachtet, innig und fest, wie ein schwelgerischer Säugling an der Mutterbrust, an des Leben derben Genüssen hing. Bequem und nicht ohne würde trug er auf seinen Schultern die hohe Zivilisation, welche die herrschende Oberschicht der handeltreibenden Stadtdemokratie ihren Kindern vererbt. Drittes Kapitel bringt die erste Erfahrung mit dem Tod im Berghof, als er den Pfarrer mit dem Viaticum sieht, und vor allem Castorps Treffen mit Settembrini – im Unterkapitel Satana – und den tiefen Eindruck, der bei ihm Madam Chauchat hinterlässt. Alle diese Motive weisen auf das Genre des Bildungsromans hin. Chauchat, dieses junge Mädchen vom guten Russentisch, speziell ihre Hand, wird von ihm folgendermaßen wahrgenommen: Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so gepflegt und veredelt, wie Frauenhände in des jungen Hans Castorp gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig hatte sie etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmädchens […] noch Viertes Kapitel enthält Castorps Erfahtung mit Dr. Krokowski, der Frau Oberin und mit einer Untersuchung bei Behrens, die über seinen weiteren Aufenthlat im Berghof entscheidet. Hans Castorp zeigt sich empfänglich6, aufnahmelustig für die Infektion, wie die Frau Oberin beim Katarrh seiner Luftwege feststellt. Fünftes Kapitel hält Castorps Reaktion auf das Egebnis der Untersuchung fest: Bald erschütterte … ein tolles, tief aufsteigendes Triumphgelächter von innen her seine Brust, und sein Herz stockte und schmerzte von einer nie gekannten, ausschweifenden Freude und Hoffnung; bald wieder erblasste er vor Schrecken und Bangen, und es waren die Schläge des Gewissens selbst, mit denen sein Herz in raschem, fliegendem Takt gegen die Rippen pochte.7 In dem Unterkapitel Totentanz werden die Weihnachtstage und der Tod des Patienten Herrenreiter behandelt: Die Augen waren auf eine gewissen unnatürliche Weise geschlossen – zugedrückt, musste Hans Castorp denken, nicht zugemacht: den letzten Liebesdienst nannte man das, obgleich es im Sinne der überlebenden mehr als um des Toten willen geschah. Auch musste es beizeiten, gleich nach dem Tode geschhehen; denn wenn erst die Myosinbildung in den Muskeln vorgeschritten war, so ging es nicht mehr, und er lag und starrte, und um die sinnige Vorstellung des „Schlummers“ war es getan. 8 6 bestimmten Krankheiten gegenüber nicht widerstandsfähig; anfällig: e. für Erkältungen sein; 7 Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit, V. Kap., 263. 8 416 In dem abschließenden Unterkapitel Walpurgisnacht dann die Liebesnacht mit Claudia Chauchat. Das wichtigste Requisit ist dabei ein Crazon mit einem Ring, den man aufwärts schieben musste, damit der rotgefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. […] ein kleines silberness Crayon, dünn und zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu enrsthafter Tätigkeit kaum zu gebrauchen.9[…] Die Unterhaltung yieht sich über mehrere Seiten hin in franz. Sprache. A´oubliez pas de me rendre mon crayon. Übrigens vollzog sich die Rückgabe in den einfachsten Formen. Französisch beschwört er die Dreieinigkeit von Körper, Liebe und Tod: Le corps, l´amour, la mort, c´est trois ne font qu´un. Car le corps c´est la maladie et la volupté, et c´est lui qui fait la mort. auf französisch preist Castorp ihre Körperteile . Sechstes Kapitel befasst sich mit Leo Naphta, einem jüdischen Konvertiten zum katholischen Glauben. Castorp schwankt zwischen den Argumenten des liberalen Settembrini und des religiösen demokratiefeindlichen Naphta. Selbst dann noch, wenn die Figuren Ideologien vertreten, sind sie keine Lautverstärker mehr, sondern lebendige Personen. So Settembrini, der fortschrittsgläubige Demokrat10, oder Naphta11, der terrorlüsterne Reaktionsrevolutionär. Das Unterkapitel Schnee bedeutet für Castorp einen Wendepunkt – er überwindet im Schneesturm seine todbringende Müdigkeit und entscheidet sich ins Leben zurückzukehren: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach´ ich auf.12 Sein schwerkrannker Vetter Joachim kehrt todkrank in den Berghof zurück. Siebentes Kapitel berichtet über die Rückkehr Claudia Chauchats, die Mynheeer Peperkorn, die dritte Erziehergestalt in Hans Castorps Bildungsroman, in die Schweizer Berge mitbringt. Der energievolle Plantagenbesitzer ist ein Genussmensch. Als er erkrankt, vergiftet er sich lieber, als zusehen zu müssen, wie seine Kräfte nachlassen. Im Kapitel Fragwürdigstes wird eine okkultistische Seance des Psychoanalytiker Krokowski beschrieben, bei der der Greist des verstorbenen Vetters Joachim Ziemsee herbeizitiert wird.13 9 473 10 mit einem Schwarz-Weiß-Schemea- hie Macht, da das Recht, hie die Tyrannei, da die Freiheit, hie Asien und und da Europa. Er hege eine politische Abneigung gegen die Musik, weil er sie des Quietismus (philosophisch, religiös begründete Haltung totaler Passivität) verdächtige. 11 Zuletzt bedeutete es ein liebloses Missverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist Gehorsam. Das Ziel der Kirche - die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des komunistischen Gottesstaates. 12 701 13 955-966 Hans Castorp spürte den Atem Ellen Brands14 auf seinen Händen. Neben sich hörte er den der Kleefeld, der beschleunigt ging. Sonst war nichts zu vernehmen, als das unaufhörlich wetzende Geräusch der abgelaufenen, unter der Nadel weiter ritierenden Platte, die niemand stoppte. Er sah sich nach keinem seiner Kumpane um, wollte nichts von ihnen sehen und wissen. Schräg hin, über die Hände, den Kopf auf seinen Kniene, starrte er weit vorgebeugt durch das Rotdunkel auf den Besuch im Seseel. Einne Augenblick schien seni Magen sich umkehren zu wollen. Es zog ihm die Kehle zusammen, und ein vier- oder fünffaches Schluchzen stieß ihn innig-krampfhaft. „Verzeih!“ flüsterte er in sich hinein; und dann gingen die Augen ihm über, so dass er nichts mehr sah. er hörte raunen: „Reden Sie ihn an!“ Er hörte Dr. Krokowskis baritonale Stimme feierlich und heiter seinen Namen nennen und die Auffürderung widerholen. Statt ihr nachzukommen, zog er seine Hände unter Ellys Gesicht fort und stand auf. […] nickte dem Doktor mehrmals drohend ins Gesicht, machte kehrt und ging aus dem Zimmer. Die Rivalität zwischen Naphta und Settembrini gipfelt in einem Pistolenduell. Als Settembrini hochherzig in die Luft schießt, jagt sich Naphta eine Kugel durch den Kopf.15 Beim Ausbruch des Krieges zieht Castorp in die Schlachten im Flachland. Zum Genre: Seine Einstellung zum Leben – placet experiri, dass es angenehm sei, Versuche anzustellen – bildet eine klasssiche Ausgangssituation des Bildungsromans. Thomas Mann nannte den Roman selbst (4. 9. 1922 an A. Schniztler) eine Art von Bildungsgeschichte und Wilhelm Meisteriade. Der Schluss – Castorp zieht in den Krieg – widerspricht allerdings dem Genre. Das eventuelle Ziel – die Hinwendung zum Leben – wurde schon im 6. Kapitel., 300 Seiten vor dem Schluss, präsentiert und von dem weiteren Aufenthalt im Berghof quasi verschüttet. Eine andere Lesart des Romans wäre die Darstellung eines Auflösungs- und Verfallprozesses. Die Warnungen Settembrinis werden in den Wind geschlagen: Meiden Sie diesen Sumpf, dies Eiland der Kirke, auf dem ungestraft zu hausen Sie nicht Odysseus genug sind. Sie werden auf allen vieren gehen, Sie neigen sich schon auf ihre vorderen Extremitäten, bald werden Sie zu grunzen beginnen, hüten Sie sich! Thomas Mann (im Gespräch mit Bernard Guillemin, 1925) betont Castorps Willen alles zu Ende zu experimentieren. Doch wie bei allen Abenteuern ist sein Verhältnis zu den Prinzipien ein vorbehaltvolles, verschmitztes.16 Er will sich nicht festlegen. Die Vision von einem Traum schöner Menschlichkeit bleibt Traum und ist nur eine flüchtige Erscheinung. Der Relativismus behält die Oberhand. Jede Doktrin wird irgendwie ironisiert. Diese lebensfreundliche Ironie überwindet den Nihilismus. Mit dem Ausbruch des Krieges tritt der Tod die Herrschaft über die Gedanken der Menschen an. 14 des jungen Mediums 15 1000 16 auf lustige Weise listig u. pfiffig Auf dem Schlachtfeld in stierer17, gedankenloser Erregung18 singt er Schuberts Lied aus der Winterreise vor sich hin. Dann liegt er, das Gesicht im kühlen kot, die Beine gespreizt, die Füße gedreht, die Absätze erdwärts, während seine Mitkämpfer von einem Schrapnell oder einer Granate, dem Produkt einer verwilderten Wissenschaft, zerrissen werden. Der Erzähler verabschiedet sich von ihm ohne Hoffnung, er könnte dieses Gemetzel überleben. In der geschlossenen Gesellschaft des zaubertollen Berges wird die Vorkriegsgesellschaft imVorschein des Untergangs erkennbar. Für Hans Castorp aber wird die Zeitverlorenheit zur Einweihung in das Geheimnis des Todes u. der Liebe. In Clawdia Chauchat, der Reinkarnation aller weiblichen Verführungsmuster von der Bibel und der antiken Mythologie an bis zu Wagner, entdeckt er an blaublühendem, also hochromantischen Ort, den geliebten Knaben aus Schülertagen mit dem sprechenden Namen Hippe19 wieder. Indessen ist das in der Walpurgisnacht von ihm angestimmte Preislied auf die Dreieinigkeit des von Krankheit zur Wollust bereiteten Leibes, der Liebe u. des Todes nicht das Ende lang gehegter Sympathie mit dem Abgrund. Vielmehr wird als Maxime des Autors, gar sperrgedruckt, der Lebensbefehl verkündet: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« Insgeheim ist der wißbegierige Waisenknabe auf der Suche nach einem Vater. Als der ihm schließlich in Gestalt des Mynheer Peeperkorn begegnet, wird dem Jüngling die Probe der Güte abverlangt. Der Greis mit der mythischen Doppelmaske des Dionysos und des Gekreuzigten, als dessen Begleiterin die Geliebte der Walpurgisnacht zurückkehrt. Sein Reden ist ein zerrissenes Stammeln, seine Vitalität und Daseinfreude beeindrucken Castorp. Erst diese Figur lässt HC selbstständiger erscheinen. Peeperkorn ist weit mehr als nur die Karikatur von Gerhart Hauptmann, ist in seiner erbarmungswürdigen Größe die grandioseste Figur unter all den Totentänzern. Der Zauberberg ist Manns Versuch, seine weniger an den Franzosen als an Tolstoj und Dostojewskij gewonnene Vorstellung des nichtsatirischen Gesellschaftsromans mit der Tradition des deutschen Bildungsromans zu verschmelzen. Das konnte nur als hohe Parodie gewagt werden. Das »Wilhelm Meisterchen« geht zudem in Fausts Spuren. Im Roman gibt es zahlreiche offene, sogar wörtliche Anspielungen auf Faust I im ersten Teil des Romans und kryptische auf Faust II im zweiten Teil. Auch die zahlreichen Schopenhauer-, Nietzsche- u. Wagner-Reminiszenzen prägen die Romanaussage. Der Zauberberg ist nicht nur ein Bildungsroman, sondern auch ein Zeitroman: im historischen Sinn, weil er die Spanne, in der er spielt (1907-1914), wie auch die politischen und geistigen Umbrüche der Jahre seiner Vollendung spiegelt; im philosophischen Sinn, weil die Zeit selbst »Gegenstand« ist. Anspielungen auf Mythos und auf Werke der Weltliteratur und Märchen- und Sagenmotive wirken mit, um aus dem Einzelschicksal Hans Castorps ein exemplarisches zu machen. wie ein orientalischer Teppichmacher: ein so dichtes Kompositionsgewebe hatte ich vorher nur im Tod in Venedig versucht. Eingewoben in die Textstruktur ist die Zahlensymbolik 7: 7 Buchstaben Castorp, clawdia Zimmer 34 (HC), Zimmer 7 (CC) 7 Tische im Speisesaal 17 starr, ausdruckslos [ins Leere] blickend: 18 1013 19 (in allegorischen bildlichen Darstellungen) Sense als Attribut des Todes. Das Neuartige an dem Roman war Manns Konzeption, die Handlung durch Gespräche über die Weltanschauung und wissenschaftliche Themen abzulösen und einen neuen Romantyp zu prägen. Als Unterbrechung der Arbeit an der Joseph-Tetralogie während eines Urlaubs entstand die Novelle Mario und der Zauberer. Georg Lukács hatte als erster diese Novelle als eine kritische Diagnose der deutschen Verhältnisse und somit als eine Warnung nicht nur vor dem italienischen, sondern auch vor dem deutschen Faschismus interpretiert hatte (G. Lukács, 1964). Diese These stand im Mittelpunkt der bisherigen Mario-Debatte. Dabei konnten sich sowohl die Verfechter einer politischen (H. Mayer, 1980, S. 162-170; E. Schwarz, 1976) als auch die Befürworter einer eher ethischen (H. Kurzke, 1980) Leseweise auf den Autor selbst berufen. Thomas Mann unterstrich zunächst meist das »Ethisch-Symbolische« (XI, 140) der Fabel gegenüber allen politischen Aktualisierungsversuchen; in späteren Jahren jedoch räumte er ein, daß die Novelle im Grunde wohl doch als »eine erste Kampfhandlung« (DüD II, 372) aufzufassen sei. Das »Reiseerlebnis«, von dem im Mario erzählt wird, gehört zu einem Ferienaufenthalt in Forte dei Marmi vom 31. August bis 13. September 1926. Dort erlebte Thomas Mann den Auftritt eines »Zauberkünstler[s]« (DüD II, 368), bei dem es sich wohl um den im Italien der 20er Jahre wohl bekannten und von G. d'Annunzio gefeierten Hypnotiseur Cesare Gabrielli handelt. (Gleichzeitig registrierte er gewisse Veränderungen in Italien, nämlich einen »fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand«, den er auf den »blähenden Einfluß des Duce« zurückführte. Für Thomas Mann waren diese Dinge zunächst nicht mehr als »kleine[ ] Widerwärtigkeiten« (BrAu, 215 f.), und so blieb das Erlebnis vorläufig liegen, obgleich Erika Mann ihn auf dessen novellistische Verwendbarkeit aufmerksam gemacht hatte: erst der »letale Ausgang« mache aus dem »Erlebte[n] eine Novelle« (Br I, 299f.). Entscheidend ist nun, daß das »Reiseerlebnis« drei Jahre lang bereit lag und Zeit hatte, sich mit weiterem geschichtlichen Gehalt zu füllen, bevor die Konzeption reifte und Thomas Mann im August 1929, an der Ostsee, mit der Niederschrift begann. Es sind die publizistischen Schriften jener Jahre - die Rede über Lessing (1929), Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929) sowie Ein Appell an die Vernunft (1930) -, die erkennen lassen, welche politischen Sorgen ihn damals bewegten: die Befürchtung, auch Deutschland könnte sich einem finsteren Zauberer à la Cipolla überantworten. Die zweiteilige Strukturierung der Erzählung ermöglicht, dass die widerwärtige Stimmung draußen am Strand ihre Erklärung durch den finsteren Zauber drinnen im Saal findet und mit einer detaillierten Publikumsbeschreibung, die eine soziologische Differenzierung der Anfälligkeit gegen Cipolla leistet (E. Schwarz, 1976). Die Erzählung bietet erhellende Einblicke in die Wirkungsweise des Faschismus, wenig zur Erhellung seiner Genese (E. Schwarz, 1976). Hier rekurriert Thomas Mann in der Hauptsache auf Nietzsches Typus des im Leben Schlechtweggekommenen. Im übrigen leistet die Novelle bis zu einem gewissen Grad der Dämonisierung des Faschismus Vorschub, wie sie später im Doktor Faustus betrieben wird. Die Anknüpfungen an den Tod in Venedig sind sowohl äußerlicher als auch substantieller Natur. Die atmosphärische Unzuträglichkeit Italiens hat hier eine politische Dimension und das Schwanken zwischen dem Wunsch, abzureisen, und dem Zwang, zu bleiben, ist breiter ausgeführt. Beiden Novellen gemeinsam ist das eminent homoerotische Ganymed-Motiv, doch hat die Thematik der Homoerotik generell in Mario eine andere Funktion (K. Müixer- Salget, 1983). Aschenbach und Cipolla gehen an ihrer latenten Homoerotik zugrunde, doch während in dem einen Fall die homoerotische Passion etwas von der beseligenden Erlösung zum Tode hat, markiert das heimliche homoerotische Begehren des anderen seine Achillesferse, an der seine Macht zuschanden wird. Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung, die Mario zum Zauberberg unterhält. Beide Werke enden mit einem Donnerschlag. Während jedoch der Roman den Leser mit der düsteren Aussicht auf die Schlammfelder des Weltkrieges und mit abgerissenen LindenbaumEchos entläßt, brechen die beiden »flach schmetternde[n] Detonationen« den Bann des sinistren Zauberers und führen ein wirklich »befreiendes Ende« (VIII, 711) herbei. An die Stelle der verwischten politischen Perspektive des Zauberbergs tritt hier die Einsicht in die notwendige Frontstellung der Menschenwürde zum Faschismus. Es ist, als ob die Novelle in einem kritischen Antwort-Verhältnis zum Roman stünde. Nicht anders als im Tod in Venedig ist Selbstkritik ein verborgenes Hauptanliegen dieser Erzählung. Sie konkretisiert sich, abgesehen von den – werkinternen Bezügen, am deutlichsten in der Figur des Erzählers, genauer gesagt, in den diskreten Spiegelungen zwischen Cipolla und dem Erzähler. Thomas Mann, der in seiner Familie Zauberer hieß, projiziert sich in einen Erzähler, der seine Vaterpflichten vernachlässigt, weil er selbst dem Zauberer ein wenig verfallen ist. Statt von einem unzweideutigen Antagonismus ist auch seine Position von der Faszination durch Cipolla gekennzeichnet, um nicht zu sagen kompromittiert (H. Böhme, 1985). Hier manifestiert sich eine kollegiale Ansprechbarkeit des Erzählers auf die Täuschungsstrategien des Zauberers und ein Eingeweihtsein in das Metier des Hypnotiseurs. Dafür liefert der Text eine Reihe von Belegen: der Erzähler ahmt unwillkürlich das Geräusch der Reitpeitsche Cipollas nach; »Faszination« und »Neugier« (VIII, 695) lassen den einen Zauberer von dem anderen nicht los; »Ansteckung« (VIII, 703) ist die Erklärung für die Willenslähmung des Erzählers, wodurch eine gewisse Empfänglichkeit, wenn nicht Empfängnisbereitschaft, für die Wirkungen des sinistren Zauberers einbekannt wird. Insofern zwischen dem Erzähler und Zauberer Gegnerschaft herrscht, gründet sie auf einem latenten Konkurrenzverhältnis. Schon hier zeichnet sich also der für Thomas Manns ganze Faschismuskritik grundlegende Ansatz ab, der in Bruder Hitler und Doktor Faustus zum Tragen kommt. Sein Zugang zum Faschismus führt über die Psychologie des Führers, der als Zauberer beziehungsweise Künstler vorgestellt wird - als Künstler auf der Stufe der Verhunzung; und den Zugang zur Psyche des faschistischen Zauberers eröffnet die eigene Künstlerpsyche, will sagen die Selbstkritik und Selbstanalyse. Diese von Nietzsche inspirierte Psychologie im Geiste der protestantischen Selbsterforschung sollte - in Umkehrung der Maxime: »Zeitkritik im Grunde Selbstkritik« - auch eine objektive Analyse des Faschismus leisten. Sie leistet diese Analyse jedoch nur in einem beschränkten Sinn. Künstlerpsychologie - in Mario und der Zauberer wie auch sonst bei Thomas Mann - bezeichnet sowohl die Hellsichtigkeit als auch die Grenzen dieser literarischen Faschismuskritik. Auch bei der Tetralogie Joseph und seine Brüder steht am Anfang der Plan einer Novelle. Beim Erscheinen des »ersten Romanes«, Die Geschichte Jaakobs (1933), war die Dimension dieses nicht nur dem Umfang nach größten Werks von Mann selbst für den Autor noch nicht überschaubar. Der »zweite Roman«, Der junge Joseph (1934), ließ noch eine Trilogie vermuten. Mit Joseph in Ägypten (1936 schon bei Bermann Fischer in Wien, nicht mehr im NS-Deutschland) wurde endlich die den Autor unbewußt leitendeVorstellung erkennbar: mit der Sprache allein ein Gegenwerk zu Wagners Ring-Tetralogie zu schaffen. Mit dem »vierten Roman«, Joseph der Ernährer (Stockholm 1943), war dieses Ziel erreicht. Auf der Höhe seines Könnens setzte Mann alle formalen u. sprachlichen Mittel ein, die er vom 19. Jh. übernommen und mit Hilfe der Ironie ins 20. Jh. hinübergerettet hatte. Es wird in der Art älterer Chronik berichtet, es werden biblische u. außerbiblische Quellen zitiert, die Kommentare der Jahrtausende mit einbezogen; der konventionelle Wechsel zwischen Dialog, Beschreibung und Erzählung wird an dramatischen Höhepunkten zum Opernlibretto; mit Assonanzen und Alliterationen wird, nicht zum Selbstzweck, experimentiert; wenn gar Stabreime auftauchen, hat solche Wagner-Parodie stets funktionale Bedeutung. Lautmalerei, Wortklänge, Archaismen, Neologismen, gruppenspezifische Sprechweisen, wie etwa der snobistische Jargon der dekadenten Oberschicht Ägyptens, von Bachofen entlehnte Metaphorik zur Charakterisierung greisenhafter Regression - all dies schafft, zusammen mit der Polyperspektivität einer zwischen Autor, Erzähler, einbezogenem Leser und kalkulierter Figurenoptik wechselnden Darstellungsstrategie das Instrumentarium für die Inszenierung des »Festes der Erzählung«. So kann im »Tempeltheater«, statt in dem als »Tempelbude« apostrophierten Bayreuth, wieder Ereignis werden, was einmal sich selbst erzählte, indem es geschah. Es wird der Mythos beschworen, daß er sich abspiele »in genauer Gegenwart«. Darum gilt nicht der biblische Bericht (1 Mos 37-50) als der eigentl. Urtext, sondern das durch die Genesis lapidar verkürzte Urgeschehen. Die Verbindung von Mythos und Psychologie ist die leitende Idee. Man wird ihr nur gerecht, wenn man die beiden Grundbegriffe im Sinne Manns zumindest heuristisch akzeptiert. Die Festrede Freud und die Zukunft (Wien 1936), zum 80. Geburtstag des Forschers zwischen die Vollendung von Joseph in Ägypten geschoben, parallelisiert unverblümt Freuds Lebenswerk mit der eigenen Auffassung von Psychologie, amalgamiert Schopenhauer, Nietzsche, Freud und Jung. Und wie schon Wagner den Mythos für das Allgemeinmenschliche erklärt hatte, sieht auch Mann darin das »Immer-Menschliche«, die »Urgründe der Menschenseele«. Deshalb ist Mythos stets auch »Lebensgründung«, zeitloses Schema u. »fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert«. Als das Zeitlose ist der Mythos aber das Geschichtslose, wenn er nur als stete Wiederholung gelebt oder zelebriert wird; geschieht doch auf Erden nur, was sich am Himmel ereignet. Bei Alfred Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients (Lpz. 1916), fand Mann, was er am nötigsten brauchte. In diesem Hauptwerk der panbabylonischen Schule wurde die Astral-Religion des Zweistromlandes als Quelle des Mythen- u. Bilderschatzes des Alten Testaments wie auch der antiken Kultur aufgedeckt. Der Streit, ob damit nicht das Fundament der Offenbarungsreligion zerstört würde, scherte Mann nicht, ihm lag daran, jene Versöhnung von Mythos und Vernunft zu demonstrieren, als deren Inkarnation ein Träumer, ein Künstler also auch, zum Täter und zum Retter der Menschheit wird. Nicht Mythensynkretismus, sondern »Einheit des Menschengeistes« bot sich bei Jeremias dem Material suchenden Dichter, und er fand solche Einheit in Motivketten aufbereitet, von den außerbiblischen Kosmogonien u. dem biblischen Schöpfungsmythos über Paradies, Sündenfall, Sintflut, Turmbau, Abrahamserzählungen, rollende Sphäre, Tammuz-Adonis-Osiris-Schema des getöteten u. auferstandenen Gottes, Analogie der zwölf Söhne Jaakobs mit den Tierkreiszeichen, Ägypten als Unterwelt usw. Der Roman erzählt, wie sich die Abrahamssippe aus der kollektiven Gebundenheit des zeitlosen Mythos herausarbeitet und wie aus Wiederholung fortschreitende Geschichte, »Gottesklugheit« werden kann. Aber er zeigt es nicht als Überwindung des Mythischen. Die humane Auserwähltheit verrät sich nicht durch Verleugnung des Mythos. Daher gelingt Joseph allein die volle Integration, auch die des Weiblich-Mütterlichen mit dem Vater-Männlichen, und nicht obwohl, sondern gerade weil ihm der geistlichen Erbsegen verweigert wird. Nur auf weltliche Weise sei er erhöht worden, raunt ihm der sterbende Jaakob zu, das Heil trage er nicht. Dem Dichter liegt freilich nicht so sehr am geistlichen Heil als am »gesitteten Leben«. Ohne den Ernährer wäre Jaakobs Stamm so gut wie das ägyptische Volk verhungert: Zum Ernährer jedoch konnte der kindliche Narziß, der sich Auferstehung und Erhöhung nach dem Tammuz20-Adonis-Schema geträumt und später in die Hermes-Rolle geschlüpft war, nur werden kraft des Doppelsegens. Dessen biblische Formel, im Roman hundertfach variiert, lautet in Manns kürzester Übertragung: »Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei.« Auch Lotte in Weimar (Stockholm 1939) war als Novelle begonnen worden, als Erholung gedacht zwischen dem dritten u. vierten Josephs-Band. Die Tagebücher verraten, daß von 1933 an zwei lange schlummernde Ideen virulent wurden und sich ins Hauptgeschäft des bibl. Romans zu drängen versuchten: eine Goethe- u. eine Faust-»Novelle«. Daß der Goethe-Stoff vorgezogen wurde, verlängerte die Inkubationszeit des Doktor Faustus u. bot die Möglichkeit, das Leiden an Deutschland (Los Angeles 1946) noch als Nebenthema des psycholog. Spiels mit dem Mythos Goethe zu behandeln. Der Goethe der Lotte konnte vorhersagen, wohin es mit den Deutschen kommen werde, ohne daß zur Tragödie geriet, was, entsprechend zur hohen Komödie von Josephs imitatio Gottes, imitatio Goethes, d.h. »Identifizierung und unio mystica mit dem Vater«, bleiben sollte. Ein sehr früher Goethe-Plan hatte die Entwürdigung des alten Dichters durch Liebesleidenschaft zum Gegenstand, jetzt wurde statt dessen der auf 1816 zu datierende Aufenthalt von »Werthers Lotte« in Weimar gewählt. Mann verbindet novellistische Rahmentechnik und traditionelles Lustspielschema. In wechselnden Konstellationen wird mit Lotte auch der Leser auf Goethe vorbereitet. Kaum hat sich der Besuch der alten Dame herumgesprochen, drängen sich die Neugierigen, der Reigen der Privilegierten läßt die Szene zwischen dem Burlesken u. dem Tragikomischen wechseln. DieVermischung von Urbild, Abbild u. Lebensmodell, die Lotte seit dem Werther verfolgt, aber stets auch erhöht hat, bringt sie nun ganz in die Nähe der Opfer Goethes. Riemer, der rebellierende, von der ambiguosen Größe traumatisierte Famulus, wird, in Anspielung auf den myth. Urgrund der antiken Tragödie, als »tragische Maske« vorgeführt. Doch tönt durch diese Maske, wenn auch verzerrt, schon der ganze Goethe, der dann erst wirklich auf dem Höhepunkt, dem siebenten Kapitel, durch gewaltige Monologe leibhaftig wird u. trotz einer ingeniösen Montagevon Goethe-Zitaten die M. eigenen Lebens- u. Werkthemen durchführt. Doch nicht Lotte, der Leser allein nimmt teil am Schöpfungsvorgang als dem geglückten ineinander von dionysischem Rauschzustand u. apollinischer Traumvision. Mit anderem Bangen als Lotte sieht er danach der »wirklichen« Begegnung beim Mittagessen entgegen, droht sie doch durch die Schmeichlerrunde der gebildeten, aber servilen Vertrauten Goethes zur satirischen Enthüllung des Hof haltenden Geistesfürsten zu werden. Gerade hier gewinnt die Matrone mit der Distanz das Format, das die Figur tauglich macht für das Gegenstück zum inneren Monolog des siebenten Kapitels: das imaginäre Gespräch mit der »Erscheinung« Goethes während der einsamen Rückkehr vom Theater im Wagen Seiner Exzellenz. - Es muß an der Goethe-Ferne u. Bildungsscheu liegen, daß dieser Roman nur den Kennern als Juwel gilt. 20 Im babylonischen Mysterienkult galt DUMU.ZI-Tammuz als Sohn und Geliebter der Ischtar zugleich, der auf übernatürliche Weise gezeugt worden war und eines gewaltsamen Todes starb.