Brüder Mann in der Weimarer Republik

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Brüder Mann in der Weimarer Republik
Mann, (Paul) Thomas, * 6. 6. 1875 Lübeck, † 12. 8. 1955
Mann, (Luis) Heinrich, * 27. 3. 1871 Lübeck, † 12.3. 1950 Santa Monica/Kalifornien.
Die Popularität der Familie Mann kann man an der Zahl der Biographien und Filmdokumente
ablesen, die aus den letzten 10 Jahren stammen
Stefan Ringel: Heinrich Mann. Ein Leben wird besichtigt. Primus Verlag, Darmstadt 2000.
schrieb eine durchaus kritische Biographie: Nach Ringel wollte Heinrich Mann weniger
schreiben als sich vielmehr eine "schriftstellerische Existenz" sichern.
Nach Hermann Kurzke (1999 "Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk" ) strebte auch
Thomas Mann vor allem Mythos seiner Persönlichkeit und stilisierte sein Leben danach.
Am Höhepunkt des Interesses für die Familie Mann drehten Heinrich Breloer und Horst
Königstein einen dreiteiligen Spiel- und Dokumentarfilm. Zuletzt erschien in der neuen
Reihe "Biographische Passionen" im Claassen Verlag ein Band zu Thomas Mann von Edo
Reents. Reents Kollege Martin Meyer von der NZZ hat vor kurzem in seinem Buch über
Thomas Manns Tagebücher die Behauptung aufgestellt (aber nicht belegt), Thomas Mann
hätte leicht ein Mitspieler im faschistischen System werden können, wenn die Nazis ihn nur
ausreichend hofiert hätten ("Tagebuch und spätes Leid", München 1999).
Es gibt einen Tagebuch-Eintrag vom 27.11.1937, in dem Thomas Mann sich fragt, ob er an
den "demokratischen Idealismus", den er vertritt, tatsächlich glaube, oder ob er ihn nicht
vielmehr wie eine Rolle spiele. Doch mit Ironie hat dieser Tagebucheintrag nichts zu tun. Er
deutet vielmehr an, dass sich Thomas Mann nicht sicher war, ob der demokratische
Optimismus, den er verbreitete, tatsächlich angemessen und ob sein humanistischer
Idealismus von der Weltlage nicht längst überholt war. Denn er fügt hinzu: "Es ist jedenfalls
gut, diese Welt zu erinnern" ( selbst wenn die europäischen Diktaturen sie bereits überrollt
haben sollten). Daraus spricht ein politischer Pessimismus, der Thomas Mann trotz allem
Aktionismus im Exil immer wieder befällt. Das mag tragisch sein, ironisch ist es nicht.
Mit dem Verhältnis der Literatur zur Öffentlichkeit hat sich schon der Essay Geist und Tat
(1911) von Heinrich Mann befaßt und vor allem die Wirkung Rousseaus und Zolas auf die
politische Öffentlichkeit als vorbildlich hervorgehoben. Heinrich Mann erinnert die deutschen
Schriftsteller an ihre gesellschaftlich-politische Verantwortung. Ihre bisherige politische
Unwirksamkeit und Entfremdung vom Volk sieht er als Folge von ihrem tragischen Ehrgeiz,
ihrer albernen Sucht, besonders zu sein und ihrem Schrecken vor Vereinsamung. Er
distanziert sich so auch von eigenen literartischen Anfängen in Geiste des Ästhetizismus von
Hermann Bahr oder Paul Bourget. Der 1915 in den »Weißen Blättern« veröffentlichte Essay
Zola entwarf im Bild des frz. Naturalisten das Muster des oppositionellen Intellektuellen, der
zur Zeit eines allg. herrschenden Chauvinismus die Prinzipien der Moral gegen eine sich
absolut setzende staatl. Macht verteidigt. HM griff hier die geistigen Mitläufer an, die neben
dem Volk herlaufen und ihm Mut zu dem Unrecht machen, zu dem es verführt wird. Er
machte Unterschied zwischen dem verführten Volk und der bürgerlichen Nation. Er bleibt
aber noch bei allgemeinen Begriffen wie Fortschritt, Rechtlichkeit und Wahrheit und trennt
dabei nicht Literatur von Politik. Mit seinem moralischen Appell an die Literatur hat er den
linken Flügel des Expressionismus beeinflußt. Der Essay als HMs „Programmschrift“ wurde
zum Anlaß für den jahrelangen »Bruderzwist« mit Thomas, der freilich schon zu Beginn des
Ersten Weltkriegs in extrem gegensätzl. Positionen zur dt. Politik u. Kultur offensichtlich war.
Mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (Bln. 1918) führte Thomas Mann ein
widersprüchl. Rückzugsgefecht gegenüber dem von ihm als »Zivilisationsliteraten«
bezeichneten Bruder. Die öffentliche Wirkung der Literatur war nun der Wertungsmaßstab, an
dem gemessen auch Goethe kritisiert wird, da sein Werk nach Meinung Heinrichs Manns „in
Deutschland nichts verändert, keine Unmenschlichkeit ausgemerzt“ habe. Dem auf dem
bürgerlich-humanistischen Bildungsideal begründeten klassisch-romantischen Dichtertypus
setzt Heinrich Mann den gesellschaftllich-rhetorischen entgegen wie er schon im Vormärz
gefordert wurde.
In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" wird Zola als Gestalt des internationalistischen
"Zivilisationsliteraten" gesehen, der als polemisches Gegenbild zum deutschen Künstler
aufgebaut wird. Hiermit lieferte Thomas Mann eine seiner das ganze Werk durchziehenden
Antithesen: …der Demokrat gegen den Monarchisten, der aktivistische Neopathetiker gegen
den demütig aufnehmenden Pathoskritiker, der expressionistische Satiriker gegen den
impressionistischen Ironiker, der Politiker gegen den Unpolitischen.
Thomas Mann nannte sich hier selber antidemokratisch und konservativ, obwohl der Text
keine so eindeutige Zuordnung zuläßt. Der Kerngedanke liegt allerdings darin, daß die
deutsche Kultur sich gegen die übrige zivilisierte Welt behaupten müsse und der Krieg sei das
große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur. Der Standpunkt , von
dem aus die Kriegsblinden und –verletzten beobachtet werden, wird so gewählt, daß die
Kriegsschrecken in den Hintergrund treten. Die Welt lag schon immer im Argen, aber der
Schmerz ist auch „Folie der Lust“. Es ist ein Kompendium konservativer Haltungen und
Anschauungen bis in ihre Verkürzungen und Vereinfachungen hin.1 So wird der Dichtung die
Literatur, der Menschlichkeit die Demokratie, dem Mythos die Aufklärung, dem Volk die
Massen und der Kultur die Zivilisation gegenübergestellt und der zweite Pol als Bedrohung
der Sonderstellung der deutschen Eigenart beschrieben. Während Kultur poetisch, heroisch,
germanisch ist, schläfert die Zivilisation ein, ist zersetzend, intellektuell, französisch. Die
Betrachtungen enden mit einer kausalen Verknüpfung von Fruchtbarkeitsrückgang (von 35
auf 27 auf 1000 Personen berechnet) und Verwestlichung. Diese Gedankengänge fand er
zuerst in Spenglers Untergang des Abendlandes bestätigt, den er 1922 bespricht.2 Die
Rezension gelangt aber zur Ablehnung der Fatalität der historisch-sozialen Entwicklung. Er
distanziert sich davon nicht zuletzt deshalb, weil er das Verführerische daran erkennt. Damit
eröffnet sich Mann einen Zugang zur positiven Wahrnehmung der Weimarer Republik, die
dann seinen Essay Die deutsche Republik (1922) prägt. In seinem Aufsatz Kultur und
Sozialismus (1928) kommt (ThM) auf seine Betrachtungen zurück und bekennt sich wieder
zur Republik: Zur demokratischen Staatsform stehen, an ihre Möglichkeit und Zukunft in
Deutschland glauben kann nur, wer die Wandlung der deutschen Kulturidee in
weltversöhnlich-demokratischer Richtung für möglich und wünschenswert hält. Sein BdU
charakterisiert er als schwerfälliges Erzeugnis unvergeßlicher Leidensjahre bzw.
Rückzugsgefecht großen Stils. Die deutsch-romantische Bürgerlichkeit ist dermaßen einem
Zersetzungsprozeß ausgesetzt worden, daß man den kulturellen Ideenkomplex von Volk und
1
Bernhard Weyergraf, Konservative Wandlungen. Hansers Sozialgeschichte der dt. Lit..275.
2
Über die Lehre Spenglers. 1922.Der erste Teil des UdA erschien 1918, der zweite 1924. Nach Spengeler ist die
Zivilisation der biologisch-unvermeidliche Endzustand jeder Kultur.
Gemeinschaft heute als bloße Romantik anzusprechen hat und das Leben mit all seinen
Gehalten an Gegenwart uind Zukunft ohne allen Zweifel auf Seiten des Sozialismus ist.
Erst 1922 mit dem Wandel Th. M.s vom nationalkonservativen Polemiker zum Verteidiger
der Weimarer Republik kann der Zwist zwischen den Brüdern Mann beigelegt werden und
eine – nicht zuletzt durch die schwere Erkrankung Heinrichs beschleunigte Versöhnung
folgen. Bis zum Untergang der Republik repräsentieren die Brüder gemeinsam dt. Literatur.
1929 erhält M. den Nobelpreis3, ausdrücklich für Buddenbrooks. 1933 wird die Rede zum 50.
Todestag Wagners zum Anlaß einer Kampagne; M. kehrt nicht mehr nach Deutschland
zurück. Nach anfängl. Zurückhaltung erteilt M. 1936/37 auch vor der Weltöffentlichkeit dem
Hitlerregime die schneidende Absage. Die Stationen des Emigranten führen über Europa nach
den USA; in Kalifornien glaubt er mit dem Bau eines Hauses die neue Heimat gefunden zu
haben.
Thomas Mann trat nach 1912 wenig als Erzähler hervor. 1922 erschien das erste Fragment
seines Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Erfolg brachte ihm der Roman
Der Zauberberg, der nur in Deutschland schon 1928 eine Auflage von 100.000 erreichte.
Als satirisches Gegenstück zur Erzählung Der Tod in Venedig war Der Zauberberg (Bln.
1924) geplant u. 1913 begonnen worden. Noch ehe das Ende des Weltkriegs abzusehen war,
plante Mann bereits, die Erzählung vom kleinen Tannhäuser aus Hamburg, der ins Reich
von Frau Venus gerät4, in den Ausbruch des Kriegs münden zu lassen. Für sieben Jahre
(1907-1914) kommt der verwaiste Schiffsbauingenieur aus einer einst reichen Hamburger
Familie, also aus dem Flachland, dem tätigen Leben abhanden, obwohl er nur den
soldatischen, aber leider tuberkulösen Vetter im Hochgebirgssanatorium besuchen wollte.
Hier oben gerät er auch in den Hades mit den Ärzten als Totenrichtern.
Dadurch, dass die Handlung vor 1914 spielt, ist sie schon ganz mit historischem Edelrost
überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. Sie sei viel
älter als ihre Jahre.
Die tausend Seiten sind in sieben Kapitel gegliedert, die weiterhin Unterkapitel enthalten.
Erstes Kapitel beschreibt die Ankunft des Hamburger Patriziersohns im Sanatorium Berghof
in Davos, wo seit 5 Monaten sein Vetter Joachim Ziemßen sich aufhält. Er will nur 3 Wochen
bleiben. Es herrschen hier andere Begriffe von Zeit und Sinn der Existenz:
Joachim Ziemßen über einige übermütige Patienten:
Gott, sie sind so frei … Ich meine, es sind ja junge Leute, und die Zeit spielt keine
Rolle für sie, und dann sterben sie womöglich5. Warum sollten sie da ernste
Gesichter schneiden. Ich denke manchmal: Krankheit und Sterben sind eigentlich
nicht ernst, sie sind mehr so eine Art Bummelei, Ernst gibst es genaugenommen
nur im Leben da untern.
3
Hauptmann schon 1912.
4
Hörselbergidee: Wagners Tannhäuser:
Die Zeit, die ich hier verweil,
ich kann sie nicht ermessen.
Tag, Monde – gibt´s für mich nicht mehr
5
vielleicht. möglicherweise
Zweites Kapitel: Die bisherige Hamburger Geschichte Castorps nachgeholt. Es wird sein
Lebensstil beschrieben und die großen Erwartungen, die seine Umgebung ihm
entgegenbringt.
Denn namentlich darin war er echt, dass er gern gut lebte, ja seines dünnblütig
verfeinerten Äußern ungeachtet, innig und fest, wie ein schwelgerischer Säugling
an der Mutterbrust, an des Leben derben Genüssen hing. Bequem und nicht ohne
würde trug er auf seinen Schultern die hohe Zivilisation, welche die herrschende
Oberschicht der handeltreibenden Stadtdemokratie ihren Kindern vererbt.
Drittes Kapitel bringt die erste Erfahrung mit dem Tod im Berghof, als er den Pfarrer mit
dem Viaticum sieht, und vor allem Castorps Treffen mit Settembrini – im Unterkapitel Satana
– und den tiefen Eindruck, der bei ihm Madam Chauchat hinterlässt. Alle diese Motive
weisen auf das Genre des Bildungsromans hin. Chauchat, dieses junge Mädchen vom guten
Russentisch, speziell ihre Hand, wird von ihm folgendermaßen wahrgenommen:
Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so
gepflegt und veredelt, wie Frauenhände in des jungen Hans Castorp
gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig hatte sie
etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmädchens […]
noch
Viertes Kapitel enthält Castorps Erfahtung mit Dr. Krokowski, der Frau Oberin und mit einer
Untersuchung bei Behrens, die über seinen weiteren Aufenthlat im Berghof entscheidet.
Hans Castorp zeigt sich empfänglich6, aufnahmelustig für die Infektion, wie die Frau Oberin
beim Katarrh seiner Luftwege feststellt.
Fünftes Kapitel hält Castorps Reaktion auf das Egebnis der Untersuchung fest:
Bald erschütterte … ein tolles, tief aufsteigendes Triumphgelächter von innen her
seine Brust, und sein Herz stockte und schmerzte von einer nie gekannten,
ausschweifenden Freude und Hoffnung; bald wieder erblasste er vor Schrecken
und Bangen, und es waren die Schläge des Gewissens selbst, mit denen sein Herz
in raschem, fliegendem Takt gegen die Rippen pochte.7
In dem Unterkapitel Totentanz werden die Weihnachtstage und der Tod des Patienten
Herrenreiter behandelt:
Die Augen waren auf eine gewissen unnatürliche Weise geschlossen – zugedrückt,
musste Hans Castorp denken, nicht zugemacht: den letzten Liebesdienst nannte
man das, obgleich es im Sinne der überlebenden mehr als um des Toten willen
geschah. Auch musste es beizeiten, gleich nach dem Tode geschhehen; denn wenn
erst die Myosinbildung in den Muskeln vorgeschritten war, so ging es nicht mehr,
und er lag und starrte, und um die sinnige Vorstellung des „Schlummers“ war es
getan. 8
6
bestimmten Krankheiten gegenüber nicht widerstandsfähig; anfällig: e. für Erkältungen sein;
7
Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit, V. Kap., 263.
8
416
In dem abschließenden Unterkapitel Walpurgisnacht dann die Liebesnacht mit Claudia
Chauchat. Das wichtigste Requisit ist dabei ein Crazon mit einem Ring, den man aufwärts
schieben musste, damit der rotgefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. […]
ein kleines silberness Crayon, dünn und zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu
enrsthafter Tätigkeit kaum zu gebrauchen.9[…]
Die Unterhaltung yieht sich über mehrere Seiten hin in franz. Sprache. A´oubliez pas de me
rendre mon crayon.
Übrigens vollzog sich die Rückgabe in den einfachsten Formen.
Französisch beschwört er die Dreieinigkeit von Körper, Liebe und Tod:
Le corps, l´amour, la mort, c´est trois ne font qu´un. Car le corps c´est la maladie et la
volupté, et c´est lui qui fait la mort.
auf französisch preist Castorp ihre Körperteile .
Sechstes Kapitel befasst sich mit Leo Naphta, einem jüdischen Konvertiten zum katholischen
Glauben. Castorp schwankt zwischen den Argumenten des liberalen Settembrini und des
religiösen demokratiefeindlichen Naphta. Selbst dann noch, wenn die Figuren Ideologien
vertreten, sind sie keine Lautverstärker mehr, sondern lebendige Personen. So Settembrini,
der fortschrittsgläubige Demokrat10, oder Naphta11, der terrorlüsterne Reaktionsrevolutionär.
Das Unterkapitel Schnee bedeutet für Castorp einen Wendepunkt – er überwindet im
Schneesturm seine todbringende Müdigkeit und entscheidet sich ins Leben zurückzukehren:
Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft
einräumen über seine Gedanken. Und damit wach´ ich auf.12
Sein schwerkrannker Vetter Joachim kehrt todkrank in den Berghof zurück.
Siebentes Kapitel
berichtet über die Rückkehr Claudia Chauchats, die Mynheeer Peperkorn, die dritte
Erziehergestalt in Hans Castorps Bildungsroman, in die Schweizer Berge mitbringt. Der
energievolle Plantagenbesitzer ist ein Genussmensch. Als er erkrankt, vergiftet er sich lieber,
als zusehen zu müssen, wie seine Kräfte nachlassen.
Im Kapitel Fragwürdigstes wird eine okkultistische Seance des Psychoanalytiker Krokowski
beschrieben, bei der der Greist des verstorbenen Vetters Joachim Ziemsee herbeizitiert wird.13
9
473
10
mit einem Schwarz-Weiß-Schemea- hie Macht, da das Recht, hie die Tyrannei, da die Freiheit, hie Asien und
und da Europa. Er hege eine politische Abneigung gegen die Musik, weil er sie des Quietismus (philosophisch,
religiös begründete Haltung totaler Passivität) verdächtige.
11
Zuletzt bedeutete es ein liebloses Missverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit.
Ihre tiefste Lust ist Gehorsam. Das Ziel der Kirche - die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des
idealen, des komunistischen Gottesstaates.
12
701
13
955-966
Hans Castorp spürte den Atem Ellen Brands14 auf seinen Händen. Neben sich
hörte er den der Kleefeld, der beschleunigt ging. Sonst war nichts zu vernehmen,
als das unaufhörlich wetzende Geräusch der abgelaufenen, unter der Nadel
weiter ritierenden Platte, die niemand stoppte. Er sah sich nach keinem seiner
Kumpane um, wollte nichts von ihnen sehen und wissen. Schräg hin, über die
Hände, den Kopf auf seinen Kniene, starrte er weit vorgebeugt durch das
Rotdunkel auf den Besuch im Seseel. Einne Augenblick schien seni Magen sich
umkehren zu wollen. Es zog ihm die Kehle zusammen, und ein vier- oder
fünffaches Schluchzen stieß ihn innig-krampfhaft. „Verzeih!“ flüsterte er in sich
hinein; und dann gingen die Augen ihm über, so dass er nichts mehr sah. er hörte
raunen: „Reden Sie ihn an!“ Er hörte Dr. Krokowskis baritonale Stimme feierlich
und heiter seinen Namen nennen und die Auffürderung widerholen. Statt ihr
nachzukommen, zog er seine Hände unter Ellys Gesicht fort und stand auf. […]
nickte dem Doktor mehrmals drohend ins Gesicht, machte kehrt und ging aus dem
Zimmer.
Die Rivalität zwischen Naphta und Settembrini gipfelt in einem Pistolenduell. Als Settembrini
hochherzig in die Luft schießt, jagt sich Naphta eine Kugel durch den Kopf.15
Beim Ausbruch des Krieges zieht Castorp in die Schlachten im Flachland.
Zum Genre:
Seine Einstellung zum Leben – placet experiri, dass es angenehm sei, Versuche anzustellen –
bildet eine klasssiche Ausgangssituation des Bildungsromans. Thomas Mann nannte den
Roman selbst (4. 9. 1922 an A. Schniztler) eine Art von Bildungsgeschichte und Wilhelm
Meisteriade. Der Schluss – Castorp zieht in den Krieg – widerspricht allerdings dem Genre.
Das eventuelle Ziel – die Hinwendung zum Leben – wurde schon im 6. Kapitel., 300 Seiten
vor dem Schluss, präsentiert und von dem weiteren Aufenthalt im Berghof quasi verschüttet.
Eine andere Lesart des Romans wäre die Darstellung eines Auflösungs- und Verfallprozesses.
Die Warnungen Settembrinis werden in den Wind geschlagen:
Meiden Sie diesen Sumpf, dies Eiland der Kirke, auf dem ungestraft zu hausen Sie
nicht Odysseus genug sind. Sie werden auf allen vieren gehen, Sie neigen sich
schon auf ihre vorderen Extremitäten, bald werden Sie zu grunzen beginnen, hüten Sie sich!
Thomas Mann (im Gespräch mit Bernard Guillemin, 1925) betont Castorps Willen
alles zu Ende zu experimentieren. Doch wie bei allen Abenteuern ist sein
Verhältnis zu den Prinzipien ein vorbehaltvolles, verschmitztes.16 Er will sich
nicht festlegen.
Die Vision von einem Traum schöner Menschlichkeit bleibt Traum und ist nur eine flüchtige
Erscheinung. Der Relativismus behält die Oberhand. Jede Doktrin wird irgendwie
ironisiert. Diese lebensfreundliche Ironie überwindet den Nihilismus. Mit dem Ausbruch
des Krieges tritt der Tod die Herrschaft über die Gedanken der Menschen an.
14
des jungen Mediums
15
1000
16
auf lustige Weise listig u. pfiffig
Auf dem Schlachtfeld in stierer17, gedankenloser Erregung18 singt er Schuberts Lied aus der
Winterreise vor sich hin. Dann liegt er, das Gesicht im kühlen kot, die Beine gespreizt, die
Füße gedreht, die Absätze erdwärts, während seine Mitkämpfer von einem Schrapnell oder
einer Granate, dem Produkt einer verwilderten Wissenschaft, zerrissen werden. Der Erzähler
verabschiedet sich von ihm ohne Hoffnung, er könnte dieses Gemetzel überleben.
In der geschlossenen Gesellschaft des zaubertollen Berges wird die Vorkriegsgesellschaft
imVorschein des Untergangs erkennbar. Für Hans Castorp aber wird die Zeitverlorenheit zur
Einweihung in das Geheimnis des Todes u. der Liebe. In Clawdia Chauchat, der
Reinkarnation aller weiblichen Verführungsmuster von der Bibel und der antiken Mythologie
an bis zu Wagner, entdeckt er an blaublühendem, also hochromantischen Ort, den geliebten
Knaben aus Schülertagen mit dem sprechenden Namen Hippe19 wieder. Indessen ist das in
der Walpurgisnacht von ihm angestimmte Preislied auf die Dreieinigkeit des von Krankheit
zur Wollust bereiteten Leibes, der Liebe u. des Todes nicht das Ende lang gehegter Sympathie
mit dem Abgrund. Vielmehr wird als Maxime des Autors, gar sperrgedruckt, der
Lebensbefehl verkündet: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode
keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.«
Insgeheim ist der wißbegierige Waisenknabe auf der Suche nach einem Vater. Als der ihm
schließlich in Gestalt des Mynheer Peeperkorn begegnet, wird dem Jüngling die Probe der
Güte abverlangt. Der Greis mit der mythischen Doppelmaske des Dionysos und des
Gekreuzigten, als dessen Begleiterin die Geliebte der Walpurgisnacht zurückkehrt. Sein
Reden ist ein zerrissenes Stammeln, seine Vitalität und Daseinfreude beeindrucken Castorp.
Erst diese Figur lässt HC selbstständiger erscheinen. Peeperkorn ist weit mehr als nur die
Karikatur von Gerhart Hauptmann, ist in seiner erbarmungswürdigen Größe die grandioseste
Figur unter all den Totentänzern.
Der Zauberberg ist Manns Versuch, seine weniger an den Franzosen als an Tolstoj und
Dostojewskij gewonnene Vorstellung des nichtsatirischen Gesellschaftsromans mit der
Tradition des deutschen Bildungsromans zu verschmelzen. Das konnte nur als hohe Parodie
gewagt werden. Das »Wilhelm Meisterchen« geht zudem in Fausts Spuren. Im Roman gibt es
zahlreiche offene, sogar wörtliche Anspielungen auf Faust I im ersten Teil des Romans und
kryptische auf Faust II im zweiten Teil. Auch die zahlreichen Schopenhauer-, Nietzsche- u.
Wagner-Reminiszenzen prägen die Romanaussage.
Der Zauberberg ist nicht nur ein Bildungsroman, sondern auch ein Zeitroman: im historischen
Sinn, weil er die Spanne, in der er spielt (1907-1914), wie auch die politischen und geistigen
Umbrüche der Jahre seiner Vollendung spiegelt; im philosophischen Sinn, weil die Zeit selbst
»Gegenstand« ist.
Anspielungen auf Mythos und auf Werke der Weltliteratur und Märchen- und Sagenmotive
wirken mit, um aus dem Einzelschicksal Hans Castorps ein exemplarisches zu machen.
wie ein orientalischer Teppichmacher: ein so dichtes Kompositionsgewebe hatte ich vorher
nur im Tod in Venedig versucht.
Eingewoben in die Textstruktur ist die Zahlensymbolik 7:
7 Buchstaben Castorp, clawdia
Zimmer 34 (HC), Zimmer 7 (CC)
7 Tische im Speisesaal
17
starr, ausdruckslos [ins Leere] blickend:
18
1013
19
(in allegorischen bildlichen Darstellungen) Sense als Attribut des Todes.
Das Neuartige an dem Roman war Manns Konzeption, die Handlung durch Gespräche über
die Weltanschauung und wissenschaftliche Themen abzulösen und einen neuen Romantyp zu
prägen.
Als Unterbrechung der Arbeit an der Joseph-Tetralogie während eines Urlaubs entstand die
Novelle Mario und der Zauberer.
Georg Lukács hatte als erster diese Novelle als eine kritische Diagnose der deutschen
Verhältnisse und somit als eine Warnung nicht nur vor dem italienischen, sondern auch vor
dem deutschen Faschismus interpretiert hatte (G. Lukács, 1964). Diese These stand im
Mittelpunkt der bisherigen Mario-Debatte. Dabei konnten sich sowohl die Verfechter einer
politischen (H. Mayer, 1980, S. 162-170; E. Schwarz, 1976) als auch die Befürworter einer
eher ethischen (H. Kurzke, 1980) Leseweise auf den Autor selbst berufen. Thomas Mann
unterstrich zunächst meist das »Ethisch-Symbolische« (XI, 140) der Fabel gegenüber allen
politischen Aktualisierungsversuchen; in späteren Jahren jedoch räumte er ein, daß die
Novelle im Grunde wohl doch als »eine erste Kampfhandlung« (DüD II, 372) aufzufassen sei.
Das »Reiseerlebnis«, von dem im Mario erzählt wird, gehört zu einem Ferienaufenthalt in
Forte dei Marmi vom 31. August bis 13. September 1926. Dort erlebte Thomas Mann den
Auftritt eines »Zauberkünstler[s]« (DüD II, 368), bei dem es sich wohl um den im Italien der
20er Jahre wohl bekannten und von G. d'Annunzio gefeierten Hypnotiseur Cesare Gabrielli
handelt. (Gleichzeitig registrierte er gewisse Veränderungen in Italien, nämlich einen
»fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand«, den er auf den »blähenden Einfluß des
Duce« zurückführte. Für Thomas Mann waren diese Dinge zunächst nicht mehr als »kleine[ ]
Widerwärtigkeiten« (BrAu, 215 f.), und so blieb das Erlebnis vorläufig liegen, obgleich Erika
Mann ihn auf dessen novellistische Verwendbarkeit aufmerksam gemacht hatte: erst der
»letale Ausgang« mache aus dem »Erlebte[n] eine Novelle« (Br I, 299f.). Entscheidend ist
nun, daß das »Reiseerlebnis« drei Jahre lang bereit lag und Zeit hatte, sich mit weiterem
geschichtlichen Gehalt zu füllen, bevor die Konzeption reifte und Thomas Mann im August
1929, an der Ostsee, mit der Niederschrift begann. Es sind die publizistischen Schriften jener
Jahre - die Rede über Lessing (1929), Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte
(1929) sowie Ein Appell an die Vernunft (1930) -, die erkennen lassen, welche politischen
Sorgen ihn damals bewegten: die Befürchtung, auch Deutschland könnte sich einem finsteren
Zauberer à la Cipolla überantworten.
Die zweiteilige Strukturierung der Erzählung ermöglicht, dass die widerwärtige Stimmung
draußen am Strand ihre Erklärung durch den finsteren Zauber drinnen im Saal findet und mit
einer detaillierten Publikumsbeschreibung, die eine soziologische Differenzierung der
Anfälligkeit gegen Cipolla leistet (E. Schwarz, 1976).
Die Erzählung bietet erhellende Einblicke in die Wirkungsweise des Faschismus, wenig zur
Erhellung seiner Genese (E. Schwarz, 1976). Hier rekurriert Thomas Mann in der Hauptsache
auf Nietzsches Typus des im Leben Schlechtweggekommenen. Im übrigen leistet die Novelle
bis zu einem gewissen Grad der Dämonisierung des Faschismus Vorschub, wie sie später im
Doktor Faustus betrieben wird.
Die Anknüpfungen an den Tod in Venedig sind sowohl äußerlicher als auch substantieller
Natur. Die atmosphärische Unzuträglichkeit Italiens hat hier eine politische Dimension und
das Schwanken zwischen dem Wunsch, abzureisen, und dem Zwang, zu bleiben, ist breiter
ausgeführt. Beiden Novellen gemeinsam ist das eminent homoerotische Ganymed-Motiv,
doch hat die Thematik der Homoerotik generell in Mario eine andere Funktion (K. Müixer-
Salget, 1983). Aschenbach und Cipolla gehen an ihrer latenten Homoerotik zugrunde, doch
während in dem einen Fall die homoerotische Passion etwas von der beseligenden Erlösung
zum Tode hat, markiert das heimliche homoerotische Begehren des anderen seine
Achillesferse, an der seine Macht zuschanden wird.
Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung, die Mario zum Zauberberg unterhält. Beide
Werke enden mit einem Donnerschlag. Während jedoch der Roman den Leser mit der
düsteren Aussicht auf die Schlammfelder des Weltkrieges und mit abgerissenen LindenbaumEchos entläßt, brechen die beiden »flach schmetternde[n] Detonationen« den Bann des
sinistren Zauberers und führen ein wirklich »befreiendes Ende« (VIII, 711) herbei. An die
Stelle der verwischten politischen Perspektive des Zauberbergs tritt hier die Einsicht in die
notwendige Frontstellung der Menschenwürde zum Faschismus. Es ist, als ob die Novelle in
einem kritischen Antwort-Verhältnis zum Roman stünde.
Nicht anders als im Tod in Venedig ist Selbstkritik ein verborgenes Hauptanliegen dieser
Erzählung. Sie konkretisiert sich, abgesehen von den – werkinternen Bezügen, am
deutlichsten in der Figur des Erzählers, genauer gesagt, in den diskreten Spiegelungen
zwischen Cipolla und dem Erzähler. Thomas Mann, der in seiner Familie Zauberer hieß,
projiziert sich in einen Erzähler, der seine Vaterpflichten vernachlässigt, weil er selbst dem
Zauberer ein wenig verfallen ist. Statt von einem unzweideutigen Antagonismus ist auch seine
Position von der Faszination durch Cipolla gekennzeichnet, um nicht zu sagen kompromittiert
(H. Böhme, 1985). Hier manifestiert sich eine kollegiale Ansprechbarkeit des Erzählers auf
die Täuschungsstrategien des Zauberers und ein Eingeweihtsein in das Metier des
Hypnotiseurs. Dafür liefert der Text eine Reihe von Belegen: der Erzähler ahmt unwillkürlich
das Geräusch der Reitpeitsche Cipollas nach; »Faszination« und »Neugier« (VIII, 695) lassen
den einen Zauberer von dem anderen nicht los; »Ansteckung« (VIII, 703) ist die Erklärung für
die Willenslähmung des Erzählers, wodurch eine gewisse Empfänglichkeit, wenn nicht
Empfängnisbereitschaft, für die Wirkungen des sinistren Zauberers einbekannt wird. Insofern
zwischen dem Erzähler und Zauberer Gegnerschaft herrscht, gründet sie auf einem latenten
Konkurrenzverhältnis. Schon hier zeichnet sich also der für Thomas Manns ganze
Faschismuskritik grundlegende Ansatz ab, der in Bruder Hitler und Doktor Faustus zum
Tragen kommt. Sein Zugang zum Faschismus führt über die Psychologie des Führers, der als
Zauberer beziehungsweise Künstler vorgestellt wird - als Künstler auf der Stufe der
Verhunzung; und den Zugang zur Psyche des faschistischen Zauberers eröffnet die eigene
Künstlerpsyche, will sagen die Selbstkritik und Selbstanalyse. Diese von Nietzsche inspirierte
Psychologie im Geiste der protestantischen Selbsterforschung sollte - in Umkehrung der
Maxime: »Zeitkritik im Grunde Selbstkritik« - auch eine objektive Analyse des Faschismus
leisten. Sie leistet diese Analyse jedoch nur in einem beschränkten Sinn. Künstlerpsychologie
- in Mario und der Zauberer wie auch sonst bei Thomas Mann - bezeichnet sowohl die
Hellsichtigkeit als auch die Grenzen dieser literarischen Faschismuskritik.
Auch bei der Tetralogie Joseph und seine Brüder steht am Anfang der Plan einer Novelle.
Beim Erscheinen des »ersten Romanes«, Die Geschichte Jaakobs (1933), war die Dimension
dieses nicht nur dem Umfang nach größten Werks von Mann selbst für den Autor noch nicht
überschaubar. Der »zweite Roman«, Der junge Joseph (1934), ließ noch eine Trilogie
vermuten. Mit Joseph in Ägypten (1936 schon bei Bermann Fischer in Wien, nicht mehr im
NS-Deutschland) wurde endlich die den Autor unbewußt leitendeVorstellung erkennbar: mit
der Sprache allein ein Gegenwerk zu Wagners Ring-Tetralogie zu schaffen. Mit dem
»vierten Roman«, Joseph der Ernährer (Stockholm 1943), war dieses Ziel erreicht. Auf der
Höhe seines Könnens setzte Mann alle formalen u. sprachlichen Mittel ein, die er vom 19. Jh.
übernommen und mit Hilfe der Ironie ins 20. Jh. hinübergerettet hatte. Es wird in der Art
älterer Chronik berichtet, es werden biblische u. außerbiblische Quellen zitiert, die
Kommentare der Jahrtausende mit einbezogen; der konventionelle Wechsel zwischen Dialog,
Beschreibung und Erzählung wird an dramatischen Höhepunkten zum Opernlibretto; mit
Assonanzen und Alliterationen wird, nicht zum Selbstzweck, experimentiert; wenn gar
Stabreime auftauchen, hat solche Wagner-Parodie stets funktionale Bedeutung.
Lautmalerei, Wortklänge, Archaismen, Neologismen, gruppenspezifische Sprechweisen,
wie etwa der snobistische Jargon der dekadenten Oberschicht Ägyptens, von Bachofen
entlehnte Metaphorik zur Charakterisierung greisenhafter Regression - all dies schafft,
zusammen mit der Polyperspektivität einer zwischen Autor, Erzähler, einbezogenem
Leser und kalkulierter Figurenoptik wechselnden Darstellungsstrategie das
Instrumentarium für die Inszenierung des »Festes der Erzählung«. So kann im
»Tempeltheater«, statt in dem als »Tempelbude« apostrophierten Bayreuth, wieder Ereignis
werden, was einmal sich selbst erzählte, indem es geschah. Es wird der Mythos beschworen,
daß er sich abspiele »in genauer Gegenwart«. Darum gilt nicht der biblische Bericht (1 Mos
37-50) als der eigentl. Urtext, sondern das durch die Genesis lapidar verkürzte Urgeschehen.
Die Verbindung von Mythos und Psychologie ist die leitende Idee. Man wird ihr nur gerecht,
wenn man die beiden Grundbegriffe im Sinne Manns zumindest heuristisch akzeptiert. Die
Festrede Freud und die Zukunft (Wien 1936), zum 80. Geburtstag des Forschers zwischen
die Vollendung von Joseph in Ägypten geschoben, parallelisiert unverblümt Freuds
Lebenswerk mit der eigenen Auffassung von Psychologie, amalgamiert Schopenhauer,
Nietzsche, Freud und Jung. Und wie schon Wagner den Mythos für das
Allgemeinmenschliche erklärt hatte, sieht auch Mann darin das »Immer-Menschliche«, die
»Urgründe der Menschenseele«. Deshalb ist Mythos stets auch »Lebensgründung«, zeitloses
Schema u. »fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine
Züge reproduziert«. Als das Zeitlose ist der Mythos aber das Geschichtslose, wenn er nur als
stete Wiederholung gelebt oder zelebriert wird; geschieht doch auf Erden nur, was sich am
Himmel ereignet. Bei Alfred Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients
(Lpz. 1916), fand Mann, was er am nötigsten brauchte. In diesem Hauptwerk der
panbabylonischen Schule wurde die Astral-Religion des Zweistromlandes als Quelle des
Mythen- u. Bilderschatzes des Alten Testaments wie auch der antiken Kultur
aufgedeckt. Der Streit, ob damit nicht das Fundament der Offenbarungsreligion zerstört
würde, scherte Mann nicht, ihm lag daran, jene Versöhnung von Mythos und Vernunft zu
demonstrieren, als deren Inkarnation ein Träumer, ein Künstler also auch, zum Täter und zum
Retter der Menschheit wird. Nicht Mythensynkretismus, sondern »Einheit des
Menschengeistes« bot sich bei Jeremias dem Material suchenden Dichter, und er fand solche
Einheit in Motivketten aufbereitet, von den außerbiblischen Kosmogonien u. dem biblischen
Schöpfungsmythos über Paradies, Sündenfall, Sintflut, Turmbau, Abrahamserzählungen,
rollende Sphäre, Tammuz-Adonis-Osiris-Schema des getöteten u. auferstandenen Gottes,
Analogie der zwölf Söhne Jaakobs mit den Tierkreiszeichen, Ägypten als Unterwelt usw. Der
Roman erzählt, wie sich die Abrahamssippe aus der kollektiven Gebundenheit des
zeitlosen Mythos herausarbeitet und wie aus Wiederholung fortschreitende Geschichte,
»Gottesklugheit« werden kann. Aber er zeigt es nicht als Überwindung des Mythischen.
Die humane Auserwähltheit verrät sich nicht durch Verleugnung des Mythos. Daher
gelingt Joseph allein die volle Integration, auch die des Weiblich-Mütterlichen mit dem
Vater-Männlichen, und nicht obwohl, sondern gerade weil ihm der geistlichen Erbsegen
verweigert wird. Nur auf weltliche Weise sei er erhöht worden, raunt ihm der sterbende
Jaakob zu, das Heil trage er nicht. Dem Dichter liegt freilich nicht so sehr am geistlichen Heil
als am »gesitteten Leben«. Ohne den Ernährer wäre Jaakobs Stamm so gut wie das ägyptische
Volk verhungert: Zum Ernährer jedoch konnte der kindliche Narziß, der sich
Auferstehung und Erhöhung nach dem Tammuz20-Adonis-Schema geträumt und später
in die Hermes-Rolle geschlüpft war, nur werden kraft des Doppelsegens. Dessen
biblische Formel, im Roman hundertfach variiert, lautet in Manns kürzester Übertragung:
»Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns
bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei.«
Auch Lotte in Weimar (Stockholm 1939) war als Novelle begonnen worden, als Erholung
gedacht zwischen dem dritten u. vierten Josephs-Band. Die Tagebücher verraten, daß von
1933 an zwei lange schlummernde Ideen virulent wurden und sich ins Hauptgeschäft des bibl.
Romans zu drängen versuchten: eine Goethe- u. eine Faust-»Novelle«. Daß der Goethe-Stoff
vorgezogen wurde, verlängerte die Inkubationszeit des Doktor Faustus u. bot die Möglichkeit,
das Leiden an Deutschland (Los Angeles 1946) noch als Nebenthema des psycholog. Spiels
mit dem Mythos Goethe zu behandeln. Der Goethe der Lotte konnte vorhersagen, wohin es
mit den Deutschen kommen werde, ohne daß zur Tragödie geriet, was, entsprechend zur
hohen Komödie von Josephs imitatio Gottes, imitatio Goethes, d.h. »Identifizierung und unio
mystica mit dem Vater«, bleiben sollte. Ein sehr früher Goethe-Plan hatte die Entwürdigung
des alten Dichters durch Liebesleidenschaft zum Gegenstand, jetzt wurde statt dessen der auf
1816 zu datierende Aufenthalt von »Werthers Lotte« in Weimar gewählt. Mann verbindet
novellistische Rahmentechnik und traditionelles Lustspielschema. In wechselnden
Konstellationen wird mit Lotte auch der Leser auf Goethe vorbereitet. Kaum hat sich der
Besuch der alten Dame herumgesprochen, drängen sich die Neugierigen, der Reigen der
Privilegierten läßt die Szene zwischen dem Burlesken u. dem Tragikomischen wechseln.
DieVermischung von Urbild, Abbild u. Lebensmodell, die Lotte seit dem Werther verfolgt,
aber stets auch erhöht hat, bringt sie nun ganz in die Nähe der Opfer Goethes. Riemer, der
rebellierende, von der ambiguosen Größe traumatisierte Famulus, wird, in Anspielung
auf den myth. Urgrund der antiken Tragödie, als »tragische Maske« vorgeführt. Doch tönt
durch diese Maske, wenn auch verzerrt, schon der ganze Goethe, der dann erst wirklich auf
dem Höhepunkt, dem siebenten Kapitel, durch gewaltige Monologe leibhaftig wird u.
trotz einer ingeniösen Montagevon Goethe-Zitaten die M. eigenen Lebens- u.
Werkthemen durchführt. Doch nicht Lotte, der Leser allein nimmt teil am
Schöpfungsvorgang als dem geglückten ineinander von dionysischem Rauschzustand u.
apollinischer Traumvision. Mit anderem Bangen als Lotte sieht er danach der »wirklichen«
Begegnung beim Mittagessen entgegen, droht sie doch durch die Schmeichlerrunde der
gebildeten, aber servilen Vertrauten Goethes zur satirischen Enthüllung des Hof haltenden
Geistesfürsten zu werden. Gerade hier gewinnt die Matrone mit der Distanz das Format, das
die Figur tauglich macht für das Gegenstück zum inneren Monolog des siebenten Kapitels:
das imaginäre Gespräch mit der »Erscheinung« Goethes während der einsamen
Rückkehr vom Theater im Wagen Seiner Exzellenz. - Es muß an der Goethe-Ferne u.
Bildungsscheu liegen, daß dieser Roman nur den Kennern als Juwel gilt.
20
Im babylonischen Mysterienkult galt DUMU.ZI-Tammuz als Sohn und Geliebter der Ischtar zugleich, der auf
übernatürliche Weise gezeugt worden war und eines gewaltsamen Todes starb.
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