3.2 Autor und Werk Die Ermittlung der Perspektive des Autors macht die Auseinandersetzung mit zusätzlichen Informationen erforderlich, die teils durch Referate eingebracht, teil aus vorgegebenen Materialien gewonnen werden können. 3.2.1 Der Roman „Irrungen Wirrungen", gelegentlich auch als Novelle bezeichnet, wurde von Th. Fontane 1882 konzipiert und 1886 beendet. Er erschien 1887 in der Vossischen Zeitung als Fortsetzungsroman, 1888 als Buchausgabe. Während der Roman Fontane für zustimmende Leser zum „modernen Autor" machte, lehnten reaktionäre Kreise die „gräßliche Hurengeschichte" ab. Um den Stellenwert des Romans im dichterischen Werk Fontanes zu ermitteln, sind Kenntnisse über den Autor eine Voraussetzung. Informieren Sie Ihre Mitschüler durch ein Referat über „Leben und Werk Theodor Fontanes"; beschränken Sie sich bei der Kennzeichnung der Thematik auf die wichtigsten Romane, und ordnen Sie „Irrungen Wirrungen" in das Gesamtwerk ein. Aufgabe für ein Kurzreferat: „Der Zeitungsroman, Entstehung und Verbreitung".— Lit.: W. Langenbucher, Der aktuelle Unterhaltungsroman, Bonn 1964 S. 66-78. Theodor Fontane: aus „Gustav Freytag,Die Ahnen I-Ill" (Vossische Zeitung vom 21.2. 1875) [...] Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte. Das etwa soll ein Roman. [...] [...] „Was soll der moderne Roman? Welche Stoffe hat er zu wählen? Ist sein Stoffgebiet unbegrenzt? Und wenn nicht, innerhalb welcher räumlich und zeitlich gezogenen Grenzen hat er am ehesten Aussicht, sich zu bewähren und die Herzen seiner Leser zu befriedigen?" Für uns persönlich ist diese Fragenreihe entschieden. Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten. Sehr charakteristisch ist es, daß selbst Walter Scott nicht mit „Ivanhoe" (1196), sondern mit „Waverley" (1745) begann, dem er eigens noch den zweiten Titel „Vor sechzig Jahren" hinzufügte. Warum griff er nicht gleich anfangs weiter in die Geschichte seines Landes zurück? Weil er die sehr richtige Empfindung hatte, daß zwei Menschenalter etwa die Grenze seien, über welche hinauszugehen, als Regel wenigstens, nicht empfohlen werden könne. 19 Theodor Fontarie: a.a.O., S. 177f. Welche Einwände erhebt Fontane gegen Kellers ästhetische Konzeption? Welche Erwartungen bezüglich Fontanes eigener Romankonzeption lassen sich aus seiner Kritik an Keller und seiner Programmatik im Zusammenhang mit der Rezension der „Ahnen" ableiten? - Welche Forderung erhebt er z. B. in bezug auf die Wahl des Gegenstandes für den Roman? - Was verlangt er hinsichtlich der Art und Weise der Darstellung dieses Gegenstandes? - Welche Freiheit der Gestaltung räumt er dem Autor ein? 3.2.3 Überprüfen Sie im Rückgriff auf Ihre Lektüre und Ihre Notizen, inwieweit Fontane in „Irrungen Wirrungen" seine eigenen Forderungen erfüllt. 3.3 Erzählstruktur und Thematik 3.3.1 Die Erzählstruktur Nach welchem Prinzip ist der Roman aufgebaut und gegliedert? Vergleichen Sie besonders die Kapitelanfänge. Auf welche Weise wird dem Leser das Geschehen vermittelt?Vergleichen Sie den Anteil und die Bedeutung der Gespräche mit dem Anteil und der Bedeutung des vom Erzähler unmittelbar Berichteten. - Untersuchen Sie vor allem, auf welche Weise die Personen des Romans eingeführt und wie sie charakterisiert werden. Was ergibt sich aus der Darstellungsweise für das Verhältnis von innerer und äußerer Handlung? Welche Position nimmt der Erzähler durch die von Ihnen ermittelte Art der Darstellung zu seinem Gegenstand ein? 3.3.2 Die Thematik Welchen gesellschaftlichen Schichten gehören die Personen des Romans an? - Welche Probleme werden aufgeworfen, und welchem Lebensbereich sind die Konflikte zuzuordnen? - Welche Konfliktlösungen ergeben sich, und welcher Zusammenhang läßt sich erkennen zwischen der Zugehörigkeit der Personen zu einer bestimmten Zeit und Gesellschaftsschicht, ihren Verhaltensweisen bis in die Sprache hinein und ihren Entscheidungen? Untersuchen Sie in diesem Zusammenhang vor allem - ggfs. in Gruppen -: - welche Personen des Romans unmittelbar in Kontakt miteinander stehen und wie der Kontakt zwischen ihnen zustande kommt, - welchen gesellschaftlichen Zwängen die Personen ausgesetzt sind und wieviel Handlungsfreiheit sie sich bewahren, - in welchem Verhältnis Botho und Lene zueinander stehen und wie sie dieses Verhältnis auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten einschätzen, - welche individuelle Vorstellung vom Glück Botho bzw. Lene haben und welchen Rang sie dem Recht auf persönliches Glück in ihrem Leben einräumen, - welche Überlegungen bei ihrer Entscheidung, auf ein gemeinsames Leben zu verzichten, den Ausschlag geben und wie sie ihre Entscheidung vor sich und dem anderen rechtfertigen, - wie die personalen Beziehungen zwischen Botho und Käthe bzw. zwischen Lene und Gideon aussehen und wie diese Romanlösung in den Rahmen der dargestellten Gesellschaft paßt. 3.3.3 Vergleichen Sie das Ergebnis Ihrer Untersuchung mit dem Urteil eines soziologisch und historisch reflektierenden Literaturwissenschaftlers. Noch befinden wir uns in der Regierungszeit Bismarcks, blicken wir auf den zeitgeschichtlichen Kontext unserer Erzählung. Der Abbau der Standesunterschiede und Klassengegensätze wird zwar von der aufbegehrenden Sozialdemokratie gefordert, aber an dem noch vorhandenen Dreiklassenwahlrecht in Preußen änderten solche Forderungen nichts. „Der Ständestaat blieb unangetastet, und mit ihm die überkommene soziale und ökonomische Ordnung"; so stellt es sich aus der Sicht heutiger Wirtschaftsgeschichte dar. Duelle als Privilegien einer Klasse sind nach wie vor an der Tagesordnung; und in der Außenpolitik wie im Militärstand hält der Adel die höheren Ränge auch weiterhin besetzt. Unbeschadet aller Verdienste, die sich Bismarck bei der Schaffung einer modernen Sozialgesetzgebung erworben hat - in dem von ihm geschaffenen Reich fehlte es an sozialen Gegensätzen keineswegs. Es gab sie zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten, zwischen dem Adel und allen anderen Ständen; aber auch zwischen allen anderen und dem vierten Stand. Die Gesellschaftsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts hatte infolge der industriellen Revolution, und erst recht infolge der wirtschaftlichen Expansion in der Zeit Bismarcks, solche Unterschiede und Gegensätze eher deutlicher hervortreten lassen, als sie in den zurückliegenden Jahrzehnten hervorgetreten waren; und auch nach dem Sturz des Kanzlers hat sich das nur vorübergehend geändert. Fontane benutzt mithin realhistorische Tatbestände. Aber er benutzt sie als Erzähler auf seine Weise, und zum Zielpunkt seiner Erzählung macht er sie nicht. Es war mit Gewißheit nicht seine Absicht, Klassengegensätze, Klassenkonflikte oder Klassenkämpfe in ihrer realhistorischen Bedeutung zu behandeln und womöglich nach Lösungen zu suchen, die man bei der Vertracktheit der Verhältnisse von einem Politiker kaum erwarten konnte, von einem Schriftsteller noch weniger. Er behandelt überdies Standesgegensätze - keine Klassenkämpfe. Die Unterschiede im Sprachgebrauchzwischen Stand und Klasse - sind nichts Nebensächliches. Unterschiede des Standes sind gegenüber dem, was Klassen voneinander trennt, weniger schroff. Sie bezeichnen den Status, dem man sich zugehörig weiß in „Symbolen", die wie das Duell, trotz Kampfunfähigkeit und Tod, etwas am Ende Belangloses darstellen. Im Kampf der Klassen gegeneinander werden „existentielle" Lebensrechte vertreten oder zu verbessern gesucht. Die Hervorkehrung des Standes dient häufig nur der „Verschönerung" des Daseins: man legt Wert darauf, etwas zu sein; man betont die Statussymbole, die an sich nichts Lebensnotwendiges sind. Die Kämpfe im Duell als Symbole solch statusbewußten Denkens sind „bloß" symbolische Kämpfe. Klassenkämpfe - berechtigt oder nicht - haben einen derart nur symbolischen Sinn nicht. Standesunterschiede sind vielfach unverbindlich; Klassenkämpfe werden mit Entschiedenheit und Erbitterung geführt. Daher können die Standesunterschiede auch innerhalb eines Standes hervortreten. „Jeder Stand hat seine Ehre", heißt es bezeichnenderweise in Irrungen, Wirrungen . Fontane ist in erster Linie an solchen Unterschieden interessiert. Seine „Interessen" sind daher weit mehr gesellschaftlicher als allgemein politischer Art. Die Klasse der arbeitenden Menschen und die Nöte dieser Menschen sind ihm gewiß nichts Nebensächliches gewesen, weil menschliche Not einem Schriftsteller niemals etwas Nebensächliches sein kann. Es gibt aber vielerlei Not, und man muß einem freien Schriftsteller schon selbst die Wahl seiner Themen überlassen. Man darf ihn nicht nach Intentionen beurteilen, die außerhalb seiner erzählten Geschichten liegen. Das in vieler Hinsicht Belanglose und Triviale in der Behandlung von Standesgegensätzen und Standesvoruteilen gilt es mithin in Rechnung zu stellen. Im Falle Fontanes sind es gerade solche Belanglosigkeiten, die ihm wichtig sind. Ob ein Adliger ein Mädchen bürgerlichen Standes ehelicht, ob man also „standesgemäß" bleibt, wenn man heiratet, das ist eine allenfalls auf Vorurteilen beruhende Bagatelle von weltgeschichtlicher Irrelevanz ohnegleichen. Auch innerhalb der Gesellschaft, die Fontane in Irrungen, Wirrungen schildert, sind solche Gegensätze etwas Nebensächliches geworden: „Unsere heut vollzogene eheliche Verbindung beehren sich anzuzeigen Adalbert von Lichterloh, Regierungsreferendar und Lieutenant der Reserve, Hildegard von Lichterloh, geb. Holtze." Ist das gewesene Fräulein Holtze, wie hier, aus gutem, will sagen: aus vermögendem Haus, so können sich die Einsprüche erledigen. Sie erledigen sich ebenso, wenn es in solchen Verhältnissen ehelich zugeht - wie es sich gehört. Man läßt in Adelskreisen mit sich reden. Und wenn man vielfach schon zu Zeiten Fontanes so dachte, wird man diesem selbst nicht unterstellen müssen, er hielte es auch weiterhin einseitig mit der überlieferten Ordnung. Er hat häufig zum Ausdruck gebracht, was er von Unterschieden wie diesen hielt: nämlich nichts. In einem Brief an seinen Sohn, der sich auf Irrungen, Wirrungen bezieht, spricht er sich darüber rückhaltslos aus: „Gibt es denn, außer ein paar Nachmittagspredigern, in deren Seelen ich auch nicht hineingucken mag, gibt es denn außer ein paar solchen fragwürdigen Ausnahmen noch irgendeinen gebildeten und herzensanständigen Menschen, der sich über eine Schneidermamsell mit einem freien Liebesverhältnis wirklich moralisch entrüstet? Ich kenne keinen und setze hinzu, Gott sei Dank, daß ich keinen kenne" (An Theodor Fontane vom 8. September 1887).20 20 Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 253-254. 3.3.4 Fontanes Zeitgenosse Paul Heyse schreibt in seiner Erzählung „Die Reise nach dem Glück" aus der Sammlung „Meraner Novellen" den Satz: „Wenn einem nicht das eigene Herz den Weg weist, läuft man immer in die Irre". Welche Haltung nimmt Fontane mit seinem Roman gegenüber dem Glauben ein, daß menschliches Glück auf der freien Herzensbestimmung gründe? 3.3.5 Diskutieren Sie die Tragweite und Gültigkeit des von Fontane entworfenen Menschenbildes auch für Sie und Ihre Zeit. Ziehen Sie dazu auch Fontanes Gedanken über Ibsens Drama „Gespenster" aus den „Causerien über Theater" heran: 3.3.6 Theodor Fontane, Realismus [...] Zögern wir nunmehr nicht länger, unsere Ansicht darüber auszusprechen, was wir überhaupt unter Realismus verstehen. Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist doch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht und dergleichen mehr) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: Die Läuterung fehlt. Wohl ist das Motto des Realismus der Goethesche Zuruf: Greif nur hinein ins volle Menschenleben, Wo du es packst, da ists interessant; aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk, und dennoch haben wir die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen " bedarf. Diese Erkenntnis, sonst nur im einzelnen mehr oder minder lebendig, ist in einem Jahrzehnt zu fast universeller Herrschaft in den Anschauungen und Produktionen unserer Dichter gelangt und bezeichnet einen abermaligen Wendepunkt in unserer Literatur. [...] Wenn wir in Vorstehendem - mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs - uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus nicht ist, so geben wir nunmehr unsere Ansicht über das, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab: er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller ; wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine „Interessenvertretung" auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre. Theodor Fontane a.a.O. S. 109 - 116 Untersuchen Sie, wie Fontane das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit sieht und welche Aufgabe er der ersten zuweist. Prüfen Sie anschließend, wie er diese Aufgabe in „Irrungen Wirrungen" gelöst hat. Das Substantiv „Novelle" leitet sich vom italienischen Nomen „novella" (Neuigkeit) ab. Ursprünglich taucht das Wort „Novelle" wohl erstmals in der altrömischen Rechtsgeschichte auf: Als Kaiser Justinian die Rechtsauffassungen und Rechtssatzungen seines Reiches aufzeichnen und vereinheitlichen ließ, wurde es immer wieder notwendig, ursprüngliche Gesetze als Ganzes zu erhalten, sie aber zu ergänzen, ihnen etwas Neues hinzuzufügen. Diese „Neue" wurde „Novelle" genannt (ein Ausdruck, der sich in der Gesetzgebung bis heute erhalten hat.) Diese Ergänzungen waren schlechthin nicht gänzlich etwas Neues, sondern lediglich ein weiterer Ausschnitt aus der gesamten Rechtswirklichkeit. Zum literarischen Schöpfer der italienischen „novella" und damit überhaupt der abendländischen Novelle als einer bewusst gepflegten dichterischen Gattung wurde Giovanni Di Boccaccio mit seinem hundert Novellen umfassenden „Decamerone" (geschrieben zwischen 1348 und 1353). Bei ihm erscheint die Novelle als eine möglichst geradlinige, gut pointierte epische Unterhaltungsform mit einer bestimmten Begebenheit im Erzählmittelpunkt. Ihrem Wesen nach ist die Novelle - trotz ihrer epischen Form - mehr mit dem Drama als dem Roman verwandt; denn nicht die Erzählung, sondern die Handlung steht im Mittelpunkt der Darstellung: Die gleich bleibende Linie der Entwicklung eines Menschen wird durch ein schicksalhaftes Ereignis jäh unterbrochen (Wendepunkt). Diese Krisis kann seine Entwicklung fördern oder hemmen, durch sie kann ihm eine bisher unbekannte Seite seines Wesens aufgezeigt werden. Er wird jedoch in jedem Falle zur plötzlichen Stellungnahme gezwungen, und die Art, wie er sich entscheidet, gibt dem Lesenden Aufschluss über seinen Charakter, und es bleibt diesem überlassen, den Charakter zu deuten und zu werten. W. Beutin u.a., a.a.O. S. 145: „Die immer wieder betonte Verwandtschaft zum Drama verweist auf einen weiteren wichtigen Zusammenhang. Als epische Kunstform mit dramatischer Struktur steht die Novelle zwischen dem Drama, das durch die Notwendigkeit der Aufführung bestimmt war, und dem Roman, der vom Leser in privater Lektüre rezipiert wurde. Den unterschiedlichen Reaktionsweisen des Lesers auf das Drama bzw. auf den Roman, die sich am besten in den Kategorien »öffentlich« und »privat« erfassen lassen, entsprechen die unterschiedlichen Wirkungsabsichten des Dramen bzw. Romanschreibers. In der Novelle vermischen sich die Wirkungsabsichten des Autors und die Reaktionsweise des Lesers in aufschlussreicher Form: Die Novelle als pseudo-dramatische Form, die ja individuell gelesen bzw. »erfahren« wurde, ermöglichte dem Leser die Inszenierung des dargestellten Geschehens in der privaten Lektüre und stellte insofern eine entscheidende Etappe auf dem Weg der Reprivatisierung des Lesens am Ende des 18. Jahrhunderts dar." Nach I. Braak sind für Wesen und Form der Novelle sechs Kriterien charakteristisch: 1. Die Zusammenziehung eines Vorgangs zu einem krisenhaften Vorfall. 2. Das Geflecht von Vorfall und Mensch; die Verknüpfung von Schicksal und Charakter und die Frage ihrer Verflechtung. 3. Kristallisation, Wendepunkt. Während der Roman mehrere Handlungsstränge und Geschehnisse verknüpft, wird in der Novelle „alles in einem einzigen Vorfall zusammengefasst, von dem aus das Leben (des Helden) dann nach rückwärts und nach vorwärts bestrahlt wird; und dieser Vorfall ist seltener und eigentümlicher Art, so dass er sich der Fantasie einprägt." (Paul Ernst) Zu diesem Wendepunkt wird meist durch das Dingsymbol, ein äußeres, gegenständliches Zeichen des Dreh- und Angelpunkts, hingeführt. 4. In der Form (Vers oder Prosa) Konzentration des Erzählten, äußerste Verdichtung und abgekürzte Darstellung. Der strukturelle Aufbau ist mit dem des Dramas verwandt: knappe Exposition, zusammenraffendes Hinführen zum Höhe- und Wendepunkt. Abfall und Ausklang. 5. Szenischer Ausschnitt statt eines breiten Gemäldes; Schauplätze werden oft wie Bühnenbilder gestaltet; keine ausführliche Milieuschilderung. 6. Die Länge der Novelle ist nicht entscheidend.