Epik Epik, neben Lyrik und Dramatik eine der drei Grundgattungen der fiktionalen Literatur. Sie umfasst alle Formen des mündlichen und schriftlichen Erzählens vom Epos der antiken Literatur bis zum Comicstrip der Gegenwart. Die Literaturwissenschaft untersucht epische Werke vor allem unter den Aspekten der Erzählhaltung, was die Frage nach dem Erzähler, der Erzählperspektive oder der Zeitgestaltung mit einschließt. Als epische Gattungen bezeichnet man die Großformen Epos, Sage oder Roman sowie Klein- oder Kurzformen wie Novelle, Kurzgeschichte, Anekdote oder Parabel, aber auch die so genannten einfachen Formen, darunter Märchen, Rätsel und Witz. Die Erforschung der Epik beginnt mit der Poetik des Aristoteleles und hat heute in der Narrativik ein Forschungsfeld, welches das Studium der Erzählformen mit der Erzählpsychologie und kommunikation zu einer komplexen Literaturtheorie verbindet. Epos I. EINFÜHRUNG Epos (griechisch: Wort, Rede, Erzählung, Gedicht), lange, erzählende Dichtung, erhaben in Thematik und Stil. Das Epos ist eine bereits in der Antike ausgebildete Großform narrativer Dichtung, oft als Versepos realisiert. Epen entstanden vor dem Hintergrund archaischer Gesellschaften mit mythischem Weltbild und religiös legitimierten Herrschaftsformen (Gottkönigtum etc.). Entsprechend sind Inhalt und Sprache des Epos von feierlichem, gehobenem Charakter, z. B. als Götter- oder Heldenepos, und von starker formaler Geschlossenheit (stetes Versmaß, Strukturierung durch Gesänge, Aventiuren etc.). Inhaltlich befasst sich das Epos zumeist mit Leben und Taten großer historischer Persönlichkeiten oder Sagengestalten. Man unterscheidet zwischen Volksepik und literarischer Epik. II. VOLKSEPIK Die Volksepik entwickelt sich aus der Tradition der mündlichen Erzählung und des Erzählliedes, das in der höfischen Poesie der Barden noch im Hochmittelalter präsent ist. Dieses überlieferte Erzähl- und Sagengut wird mit beginnender Literaturfähigkeit der Sprache im jeweiligen Kulturkreis von unbekannten Dichtern niedergeschrieben und lebt in literarischer Form weiter. Als ältestes Zeugnis der Volksepen gilt das babylonische Gilgamesch-Epos (2. Jahrtausend v. Chr.), gefolgt von den indischen Mahabharata (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) und Ramayana (4. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr.). Die frühesten westlichen Beispiele sind die Homer zugeschriebenen Heldenepen Ilias und Odyssee (8. Jahrhundert v. Chr.), die zugleich den Ursprung der abendländischen Dichtung überhaupt bilden. Vergils Aeneis (1. Jahrhundert v. Chr.) knüpft stofflich an Homer an; dieser Sagenkreis erfährt noch in der byzantinischen Antike zahlreiche Bearbeitungen. Neue Formen des Epos, wie die Herrschervita, die Chronik und Heiligenlegende und die französischen Chansons de geste, bilden sich erst im Mittelalter heraus. Ungefähr seit dem 9. Jahrhundert entstehen Heldenepen, die stofflich auf die nordisch-altgermanische Mythologie und auf teils noch ältere Quellen zurückgreifen, wie der Zyklus des keltischen Helden Ossian (9./10. Jahrhundert), das Waltharilied (9./10. Jahrhundert) und das altenglische Stabreimepos Beowulf (10. Jahrhundert). Der Beowulf ist das älteste vollständig erhaltene Epos dieses Kulturkreises und beschreibt die Heldentaten eines schwedischen Fürsten, wie seine Kämpfe gegen den Riesen Grindel. Meisterwerke des mittelalterlichen Epos sind auch das mittelhochdeutsche Nibelungenlied (um 1200) und das altfranzösische Rolandslied (um 1100) sowie das spanische Poema del Cid (um 1140). Als literarisch eminent fruchtbar erweist sich der Komplex der Artussage, der im normannischen Roman de brut (1155) erstmals schriftliche Form erhält und noch im gesamten europäischen Roman des Mittelalters präsent ist (Chrétien de Troyes, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg u. a.). Um die mit Artus verbundenen Helden der "Tafelrunde" (Tristan, Parzival etc.) entstehen wiederum zahlreiche eigene Abenteuerepen. Das Volksepos geht - wie auch das literarische Epos - später in der Form des Romans auf, doch die Attraktivität der vor allem im Heldenepos geschilderten magischen Welt und ihres typischen Personals (Könige, Helden, Hexen, Zauberer, Drachen und andere Monster) ist bis heute ungebrochen. Der eher triviale Traditionsstrang setzt sich fort über die Ritter-und-Räuber-Romane des Barock bis in die Welt der Comics und Fantasy-Romane und -Filme, ein poetischmythologisches Interesse ist dagegen in den Musikdramen Richard Wagners wirksam. III. LITERARISCHE EPIK Literarische Epen oder Kunstepen stammen, im Gegensatz zu den anonym verfassten Volksepen, von bekannten Autoren, die sich dabei stilistisch meist eng an ältere Vorbilder des Volksepos anlehnen und sich häufig aus dessen Stoff- und Motivfundus bedienen. Die Ilias und die Odyssee gelten als Vorform des literarischen Epos wie auch Vergils lateinische Nachfolgedichtung Aeneis. Mit zunehmender Differenzierung der nachmittelalterlichen Gesellschaft verliert sich allmählich auch das Interesse am Epos. Miltons Das verlorene Paradies (1667-1674) und Klopstocks Messias (1748-1773) lassen das Genre noch einmal erfolgreich aufleben, aber die lyrisch-epische Versdichtung der Romantik (vor allem England und Russland: Byron, Keats, Shelley, Puschkin) und erst recht die späteren Dichtungen Whitmans und Pounds weisen zwar noch eine Affinität zum Epos auf, gattungsmäßig sind sie ihm aber nicht mehr zuzurechnen. Roman I. EINFÜHRUNG Roman, nach heutigem Verständnis ein erzählender, im Vergleich zu Kurzgeschichte und Novelle relativ umfangreicher Prosatext. Neben Epos und Sage stellt der Roman eine Großform der Epik dar. Untergattungen lassen sich nach Aussageart bzw. Wirkungsabsicht (didaktisch, erbaulich, satirisch, idealistisch, empfindsam, realistisch etc.), nach Form bzw. Erzählperspektive (Briefroman, Tagebuchroman, Ich-Roman, auktorialer Roman, personaler Roman etc.) sowie nach inhaltlich-stofflichen Aspekten bestimmen (Bildungsroman, Abenteuerroman, Ritterroman, Schelmenroman, Schauerroman, Kriminalroman, Künstlerroman, Reiseroman, Heimatroman, Staatsroman, Großstadtroman, Kriegsroman, Liebes- oder Eheroman, Familienroman, historischer Roman, philosophischer Roman etc.). Grenzen sind allerdings zumeist nur schwer zu ziehen; eine reine Untergattung existiert nirgends. Der Begriff Roman entwickelte sich im 12. Jahrhundert in Frankreich (aus altfranzösisch: romanz, zu lateinisch romanicus: römisch) und bezeichnete zunächst jede Schrift in der lingua romana, also der Volkssprache im Gegensatz zur lingua latina, dem lateinischen gelehrten Schrifttum. Im ausgehenden 13. Jahrhundert fand er dann ausschließlich für Prosaliteratur Verwendung. Im Deutschen existiert das Wort Roman in der heutigen Bedeutung erst seit dem 17. Jahrhundert. Der Roman profilierte sich erst zu Beginn der Neuzeit als eigenständige Gattung, gewann aber seit seiner Akzeptanz als "hohe" Literatur im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung und entwickelte bis heute eine gewaltige Vielfalt des Erscheinungsbildes. Mit dem Beginn der industriellen Buchproduktion um 1800 und der Formierung einer modernen, d. h. extensiv konsumierenden Literaturgesellschaft avancierte er zur populärsten Prosa- und Literaturgattung überhaupt. Einerseits als triviales "Lesefutter" in Fülle verbreitet (siehe Trivialliteratur), demonstriert er andererseits als Sprachkunstwerk beständig seinen experimentellen Charakter, wobei in der Moderne und der Postmoderne die Handlung als strukturbildendes Element zunehmend in den Hintergrund tritt zugunsten multiperspektiver, häufig am Film orientierter Darstellungsweisen (Montage, Simultantechnik etc.) . II. ANTIKE UND MITTELALTERLICHE URSPRÜNGE Bereits in der Antike entstanden in Indien, Japan, China und Ägypten sowie in der arabischen Welt und im griechisch-römischen Raum zahlreiche längere Prosaerzählungen, die später Bestandteil der europäischen Literaturtradition wurden, darunter Teile der Schriften Herodots, Anabasis und Kyru paideia (4. Jh. v. Chr.) von Xenophon und die um 100 v. Chr. entstandene populäre Sammlung erotischer Erzählungen Miles des Aristides von Milet. Aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. stammt das älteste überlieferte griechische Zeugnis der Gattung, der Liebesroman Chaireas und Kallirhoe von Chariton von Aphrodiasias, der die Muster folgender Werke der Zeit vorgab; dazu gehören die exotische Kulisse, phantastische Fahrten, pathetisch ausgemalte Liebesverstrickungen, eingefügte Reden, dramatisch ausgefeilte Wortwechsel im Stil der Tragödie bzw. der damals gerade neuen attischen Komödie nachempfundene Dialoge. Weitere bedeutende antike Beispiele der Gattung sind Ovids Metamorphosen (ca. 10 n. Chr.), das mit Kulturkritik durchwobene Satyricon des Petronius (um 50 n. Chr.) sowie der für die römische Romanproduktion typische, da satirische Goldene Esel von Apuleius (um 170 n. Chr.). In der für den Roman äußerst produktiven Nachfolgezeit folgten u. a. die Aithiopica des Heliodor (ca. 240 n. Chr.), Leukippe und Kleitophon (Ende des 2. Jahrhunderts) des Achilleus Tatios, die Ephesiaka des Xenophon von Ephesos und der Longos zugeschriebene bukolische Roman Daphnis und Chloe (beide im 2. oder 3. Jahrhundert). Von der immer wieder kolportierten Urfassung der Liebesromane um die Figur des Apollonius von Tyrus aus dem 3. Jahrhundert ist der Verfasser nicht bekannt. Besonders einflussreich waren spätantike Varianten des Apollonius-Romans in lateinischer Sprache (4. bis 6. Jahrhundert) sowie Troja-Romane und Volksbücher, etwa der so genannte Alexanderroman. Weitere Vorläufer - und vor allem wichtige Quellen - des modernen Prosaromans waren das mittelalterliche Versepos (die isländische Edda, der englische Beowulf, das Nibelungenlied usw.) und, ab dem 12. Jahrhundert, die altfranzösischen Fabliaux, schwank- bzw. märchenartige Verserzählungen erotischsatirischer Prägung, die auch der Märe ihre Gestalt verliehen. Erste, teils von der griechischen Tradition beeinflusste mittelalterliche Versromane mit antiken Stoffen und Entlehnungen aus der keltischen Mythologie entstanden im Frankreich des 12. Jahrhunderts. Paradigmatisch für die Zeit ist das von höfischen Idealen geprägte Werk des Chrétien de Troyes, das die hohe Minne und ritterliche Abenteuer thematisierte und um 1180 als roman courtois den mittelhochdeutschen Raum beeinflusste; Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach empfingen vom roman courtois wichtige Impulse. Nach 1190 entstand mit Tristan et Iseult von Bérol der erste tragische Roman spezifisch europäischer Provenienz; Bérol griff die unglückliche Liebesgeschichte von Tristan und Isolde wieder auf, die bereits den anglonormannischen Dichter Thomas von Bretagne 1160 und 1165 zu einer Fassung inspiriert hatte. Zwischen 1230 und 1240 verfasste Guillaume de Lorris den ersten Teil des Roman de la Rose in 4 068 Versen, der die Form der Allegorie innerhalb der Romangattung kultivierte. Im 14. Jahrhundert wurden nur noch wenige Versromane verfasst; erst im 15. und 16. Jahrhundert kam es in Italien durch Ludovico Pulci und Matteo Maria Boiardo bzw. durch Ludivico Ariosto und Torquato Tasso zu einer gewissen formalen Neubelebung. Unter den wenigen asiatischen Romanen ragt Genji-monogatori (Die Geschichte vom Prinzen Genji) der japanischen Hofdame Murasaki Shikibu aus dem 11. Jahrhundert heraus; generell aber blieb der Roman bis ins 18. Jahrhundert ein gesamteuropäisches Phänomen. Hier vollzog sich auch die Herausbildung seiner Formenvielfalt, wenn auch gelegentlich einzelne Nationalliteraturen bevorzugt bestimmte Romantypen hervorbrachten. III. 16. JAHRHUNDERT: DIE EMANZIPATION DER PROSA Ausgehend von Frankreich begann gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine verstärkte Emanzipation der Prosa innerhalb der europäischen Literatur. Da der Roman jedoch weiterhin höfische Ideale propagierte und auch als Form mit diesen gleichgesetzt wurde, kam er beim zunehmend bürgerlichen Publikum in den Verruf, einer neuen, urbaner werdenden Wirklichkeit entgegenzustehen. (Der Vorwurf einer idealisierttrivialisierten Weltsicht durch den Roman hielt sich bis ins 18. Jahrhundert.) 1485 erschien mit Thomas Malorys Le Morte Darthur in England erstmals eine Druckfassung eines Prosaromans - sie war von William Caxton bearbeitet und bevorwortet worden; Thema war die Artussage. Die galante Weltanschauung seiner Zeit kultivierte der in Italien begründete Schäferroman, der in Iacopo Sannazaros Arcadia (vollständig erstmals 1504) einen frühen Glanzpunkt fand. In Deutschland etablierte sich der Prosaroman erst zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wobei die Wiederentdeckung griechischer Klassiker des Genres im Zuge des Buchdrucks maßgeblich wurde. Herausragende Werke sind die Volksbücher Till Eulenspiegel, das bereits 1515 erschien, und das Lalebuch; beide griffen die vom Stricker initiierte Tradition des Schwankromans wieder auf. Einen frühen Höhepunkt der Gattung des Prosaromans stellt Rabelais' fabulierfreudiges Buch Gargantua und Pantagruel dar, das zwischen 1532 und 1564 erschien und die phantastischen Abenteuer zweier Riesen zum Thema hat. Er beeinflusste u. a. Johann Fischart zu seiner Affentheuerlich Naupenheuerlichen Geschichtklitterung (1582). Mit dem so genannten Schelmenroman trat im Spanien des 16. Jahrhunderts erstmals ein Typ des Prosaromans mit relativ differenzierter Psychologie der Figuren und realistischer Wiedergabe ihres gesellschaftlichen Umfelds auf, darunter der anonym veröffentlichte Lazarillo de Tormes (1554) und Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1559-1604). Aus der Perspektive vagabundierender Helden der sozialen Unterschicht und ihrer verwickelten Abenteuer zeichnete er ein lebendiges, bisweilen sozialkritisches Sittenbild des zeitgenössischen Spanien. Nach dem Protagonistentypus, dem pícaro (spanisch für: Gauner, Schelm), werden diese Romane auch pikarische Romane genannt. Ihr Vorbild ist bis hin zu Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1668), René Lesages Gil Blas (1715-1735) und William Makepeace Thackerays Vanity Fair (1848) spürbar. Noch populärer als die Schelmenromane jedoch war das Genre der damals weit verbreiteten Ritterromane, die alte Ritterepen für ein am Sensationellen interessiertes Massenpublikum aufzubereiten suchten. Der populärste Stoff war zweifellos der des Amadis (Amadis von Gaula, 1569 ff.), der seit 1350 bis Ende des 16. Jahrhunderts immer neue Bearbeitungen und Erweiterungen erfuhr und innerhalb der französischen Literatur gar bis ins 17. Jahrhundert wirkte. In England verfasste Philipp Sidney mit The Countesse of Pembrooke's Arcadia (1590; Arcadia der Gräfin Pembrock) eine pastoral-chevalereske Prosaromanze, die später ebenfalls als Vorbild für Schäferdichtungen diente und etwa Thomas Nashe beeinflusste. Nashes The Unfortunate Traveller, or The Life of Jack Wilton (1594; Der unglückliche Reisende oder Die Abenteuer des Jack Wilton) wiederum ist das früheste Beispiel eines Schelmenromans in englischer Sprache. IV. 17. JAHRHUNDERT: DER BEGINN DES MODERNEN ROMANS Ursprünglich als Parodie auf die grassierende Mode der Ritterbücher verfasst, markiert Miguel de Cervantes' Don Quijote de la Mancha (1605 und 1612) den eigentlichen Beginn des modernen Romans. Rein vordergründig ein Abenteuerroman über einen Landedelmann, der durch exzessive Lektüre der Ritterbücher und Identifikation mit deren Helden zusehends in eine Traumwelt und in Konflikt mit der Wirklichkeit gerät, gelang dem Autor hier ein Werk von enormem Erfindungsreichtum, Sprachwitz und psychologischem Einfühlungsvermögen, dessen Qualitäten noch der deutschen Romantik als Richtschnur dienten. Ein umfassendes Panorama der anthropologischen und weltanschaulichen Positionen des Barock entwarf Gracian y Morales in seiner philosophischen Romanallegorie El criticón (3 Bde., 1651-1657). Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden in Frankreich die monumentalen Liebesromane der Madame de Scudéry. Antoine Furetière, Charles Sorel und Paul Scarron nutzten die Gattung zur Satire. In Deutschland beginnt zur Jahrhundertmitte ein selbständiges Romanschaffen; namentlich Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und Daniel Caspar von Lohenstein machten sich hier verdient. Die Tendenz zum psychologischen und sozialen Realismus im Roman setzte sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts fort, gelangte aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts voll zur Entfaltung. Frühes Beispiel hierfür ist Marie-Madeleine Marquise de La Fayettes La Princesse de Clèves (1678). Die religiöse Allegorie The Pilgrim's Progress (1678-1684; Die Pilgerreise) von John Bunyan variiert die Form. 1670 erschien mit Piere Daniel Huets Traité de l'origine des romans die erste Untersuchung zur Geschichte der Gattung. Christian Weise übertrug ein politisch-satirisches Romanschaffen in die deutsche Dichtung (Der politische Näscher, 1676). Im Bereich der Unterhaltungsliteratur ragt Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1636-1651) klar heraus und schlägt mit seinem bürgerlichen Impuls eine Brücke vom Barock zur Aufklärung. V. 18. JAHRHUNDERT: DER AUFSTIEG DES ROMANS Seinen Ursprung nahm die Etablierung des Romans als ernstzunehmender Kunstform des aufstrebenden Bürgertums innerhalb der englischen Literatur. Daniel Defoe, Samuel Richardson, Henry Fielding, Tobias Smollett und Laurence Sterne setzten hierbei für lange Zeit international die Maßstäbe. So legte Defoe mit seinem The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, (3 Bde., 1719/20; Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe) den Grundstein der zeitgenössischen Robinsonade. Richardson verband in den Briefromanen Pamela (1740) und Clarissa (1747/48) das traditionelle Gattungssujet der jungen Frau, die ihre Keuschheit verteidigt, mit minutiöser Figurenpsychologie. In ihrer Nachfolge entstand etwa Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** (2 Bde., 1747/48), das wesentlich zur Popularisierung des Briefromans im deutschen Sprachraum beitrug. Unter anderem in The History of Tom Jones, A Foundling (1749; Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes) schuf Fielding ein farbiges, humorvolles Tableau des zeitgenössischen Lebens, wobei er den Leser zum lächelnden Komplizen seines allwissend-überlegenen Erzählers machte. Smolletts Roderick Random (1748) profilierte diesen Zeithintergrund aus der sozialen Froschperspektive des pikaresken Titelhelden. Zudem parodierte er den moralisierenden Gestus von Richardsons Pamela in An apology for the life of Mrs. Shamela Andrews (1741) und The Adventures of Joseph Andrews and his Friend, Mr. Abraham Adams (1742). In The Adventures of Roderick Random (1748; Die Abenteuer Roderick Randoms), The Adventures of Peregrine Pickle (1751; Die Abenteuer des Peregrine Pickle) und Ferdinand Count Fathom (1753; Die Abenteuer des Grafen Ferdinand Fathom) verband Smollet meisterhaft detaillierte Milieuschilderungen, karikaturistische Charakterporträts und Gesellschaftssatire in einer Weise, die später auf Charles Dickens wirkte. Zwischen 1759 und 1767 legte Sterne in den neun Bänden von The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys) das ultimative - und innovativste - Meisterwerk der Epoche vor. Während der Titel einen herkömmlichen biographischen Roman vermuten lässt, stellte Sterne die Chronologie einfach um (so wird der Held erst im 3. Band geboren), durchbrach sie durch Abschweifungen (digressions) oder fügte Kapitel ein, die nur aus einem einzigen Satz oder einer leeren Seite bestehen. Die hier vorgebildete Technik der Einschübe und Rückblenden wurde viel bewundert, in Deutschland z. B.von Goethe und Jean Paul, ohne zunächst nachgeahmt zu werden (Ausnahmen waren Denis Diderots Jacques le fataliste von 1773 und Theodor Gottlieb von Hippels Lebensläufe nach aufsteigender Linie, die zwischen 1778 und 1781 in drei Bänden erschienen); erst im 20. Jahrhundert konnte James Joyce sie adäquat fortführen und weiterentwickeln. Auch Sternes autobiographisch gefärbter Reisebericht A Sentimental Journey through France and Italy (1768; Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien) fand Eingang in die Weltliteratur und gab zusammen mit Richardsons Pamela und Oliver Goldsmiths The Vicar of Wakefield (1766; Der Vikar von Wakefield) das Modell für den deutschen Roman der Empfindsamkeit ab. Der Einfluss reicht von Marie Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1769-1773) über die Reiseberichte Freiherr von Knigges bis hin zu Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774), dem ersten Romanerfolg der deutschen Literatur. In Friedrich Hölderlins Hyperion (1797-1799) wirkt vor allem der Einfluss Richardsons nach. 1774 entstand mit Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman die erste deutsche Romantheorie. Allerdings hatte die Gattung in Deutschland noch keine eigenständige Tradition ausgeformt und zeigte sich daher besonders offen für den Einfluss fremdsprachiger Literaturen. Zudem war ihre Akzeptanz innerhalb des Literaturkanons noch gering. Auch der französische Roman gewann erst im 19. Jahrhundert an Geltung, abgesehen von einigen Meisterwerken wie Antoine François Prévost d'Exiles Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (1731; Geschichte des Manon Lescaut und des Ritters Grieux), Voltaires grandios-pessimistischer Zeitsatire Candide ou l'optimisme von 1759 (dem Vorbild für Johann Karl Wezels Belphegor), Choderlos de Laclos' erotischem Briefroman Les liaisons dangereuses (1782; Die gefährlichen Liebschaften) oder der Nouvelle Heloïse (1761) von Jean-Jacques Rousseau. Als Antwort auf den Vernunftkult des aufklärerischen Rationalismus entwickelte sich wiederum in England das eigenständige Genre des Schauerromans bzw. der Gothic Novel, ein in allen westlichen Literaturen häufig kopiertes Muster. Mit Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764) begann die Traditionslinie; das Buch wies bereits die meisten der charakteristischen Genremerkmale auf, darunter ein düsteres mittelalterliches Schloss oder Kloster bzw. nächtlicher Kirchhof als Schauplatz und Furcht erregende übernatürliche Erscheinungen. Unter anderem Matthew Lewis' The Monk (1796) oder Ann Radcliffes The Mysteries of Udolpho (1794) bedienten sich der Vorgabe. Literarisch anspruchsvoller präsentieren sich Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein (1818) und Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer (1820; Melmoth der Wanderer), während William Beckfords Vathek (1786) den Schauerroman bereits persifliert. Noch in Emily Brontës Wuthering Heights (3 Bde., 1847) dient das Schema der Gothic Novel zur Beschreibung der dämonischen Abgründe des Unbewußten. In Deutschland trat der Schauerroman hauptsächlich in seinen trivialen Formen in Erscheinung; eine Ausnahme bildet E. T. A. Hoffmanns Doppelgängerroman Die Elixiere des Teufels (1815/16), der stofflich und motivisch auf Lewis' Monk zurückgreift. Von großem Gewicht waren im 18. Jahrhundert der Erziehungsroman rousseauscher Prägung (Émile ou De l'éducation, 1762) und der deutsche Bildungsroman, vor allem - bereits mit negativem Impuls - Anton Reiser von Karl Phillip Moritz (1787) und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). VI. 19. JAHRHUNDERT: ROMAN UND MODERNE Mitte des 19. Jahrhunderts bildete vor allem die französische Literatur mit ihren Vertretern Stendhal, Honoré de Balzac und Gustave Flaubert neue Romanformen aus, die bis ins 20. Jahrhundert hinein verbindlich blieben. England war nach wie vor einflussreich, vor allem bei der prononcierten Darstellung einer Verstrickung von Individuen in ein tragisches Schicksal (Emily Brontë, Thomas Hardy, George Eliot) sowie auf dem Gebiet des historischen Romans; wichtigste Autoren waren hier Walter Scott, Charles Dickens, William Makepeace Thackeray und Anthony Trollope. Besonders Scotts Waverley-Romane (1814-1828) fanden ein starkes Echo, so in Frankreich bei Victor Hugo und Prosper Mérimée, in Italien bei Alessandro Manzoni und in Deutschland, wo sie bis hin zu Theodor Fontane fortwirkten (nach Scotts Vorbild begründete James Fenimore Cooper später den historischen Roman der USA); Jane Austen griff den Detailreichtum von Scotts Büchern wieder auf und bereicherte ihn um psychologische Präzision. Der Feuilleton- bzw. Kolportageroman gewann durch neue Verbreitungsmethoden an Popularität und trug entscheidend zur Trivialisierung des historischen Romans bei. Ein vorherrschendes Thema der Schriftstellergenerationen des 19. Jahrhunderts war die Gesellschaftskritik, die sich in zahlreichen Zeitromanen niederschlug. Wichtig wurden die in den Klassikern des 18. Jahrhunderts entwickelten Techniken der Dialogführung und der pointierten Charakterzeichnung: So kritisierte Dickens die viktorianische Gesellschaft weniger durch eine realistische Darstellung als durch einen phantasievollen Reigen komischer Charaktere und Situationen mit meist versöhnlicher, zuweilen polemischer Tendenz. Die entscheidenden Impulse erhielt der europäische Roman hierbei von den oftmals unter dem Begriff des Realismus subsumierten französischen Autoren. Die Darstellung einer Verflechtung des persönlichen Schicksals mit der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft sowie der Antagonismus von Trieb und sozialer Norm sollte zum Panorama des individuellen und öffentlichen Lebens entfaltet werden. Mit Julien Sorel stellte Stendhal in Le rouge et le noir (1830; Rot und Schwarz) den Typus des sozialen Außenseiters ins Zentrum des Interesses, der als rücksichtsloser Emporkömmling gegen die Zwänge der nachnapoleonischen Gesellschaft opponiert, Fabrice del Dongo in La chartreuse de Parme (1839; Die Kartause von Parma) repräsentierte den amoralisch-machthungrigen Abenteurer schlechthin. In ähnlicher Weise machte sich Balzac in La comédie humaine (18311848; Die menschliche Komödie) zum Geschichtsschreiber des zeitgenössischen Frankreich: Mit den 47 Bänden, die eine von skrupellosem Gewinnstreben sowie von technologischer und wirtschaftlicher Ausbeutung gezeichnete Gesellschaft vorführen, avancierte er zum Gestalter der überzeitlichen ebenso wie der historisch konditionierten Konflikte von Subjekt und System. Deutlich spielt die Comédie humaine in ihrem Titel an auf Dantes Divina Commedia; ursprünglich sollte die Sammlung 137 Bände umfassen. Sie enthält so bekannte Romane wie La peau de chagrin (1831; Das Chagrinleder) und Splendeurs et misères des courtisanes (1838-1847; Glanz und Elend der Kurtisanen). Mit seiner fast wissenschaftlichen Analyse der psycho-sozialen Konditionen menschlicher Existenz nahm Flaubert bereits Züge des Naturalismus vorweg. Hinzu trat ein stetes Ringen um den adäquaten sprachlichen Ausdruck, der bisher der Handlungskomposition untergeordnet gewesen war. Nicht von ungefähr bezeichnete Jean-Paul Sartre den Autor später als den "Heiligen des Romans" und zielte damit vor allem auf dessen Konzeption als Sprachkunstwerk, die in dieser Rigorosität erst wieder im 20. Jahrhundert auftrat. In dem Ehedrama Madame Bovary (1857) und in L'éducation sentimentale (1869; Lehrjahre des Gefühls) versuchte Flaubert das Alltagsleben mit der Gewichtigkeit und Präzision eines klassischen Epos zu schildern und nahm dabei nahezu alle Erzähltechniken der Moderne vorweg. Der Naturalist Émile Zola bereicherte Flauberts quasiwissenschaftlichen Stil um akribische Milieustudien, in denen er die Abhängigkeit des Individuums von Vererbung und Umwelt herauszustellen suchte, wie in seiner fiktiven Familienchronik Les Rougon-Macquart, die ab 1871 als Folge von 20 Romanen erschien. Darunter finden sich so berühmte Romane wie die mehrmals verfilmte Dirnengeschichte Nana (1879/80) und Germinal (1885), der im Kohlebergbaurevier Nordfrankreichs spielt. Während das Industrieproletariat noch Mitte des Jahrhunderts literarisch kaum in Erscheinung trat - Dickens' Hard Times (1854) bilden eine Ausnahme -, rückte es mit dem steigenden Interesse der Romanciers an sozialen Fragen zunehmend ins Blickfeld; in Frankreich stellten es auch die Brüder Goncourt in den Mittelpunkt. In Italien zeigt sich diese Verlagerung des Romansujets etwa bei Giovanni Verga und Antonio Fogazzaro (1842-1911), die mit dem so genannten Verismo eine Variante naturalistischen Schreibens schufen, in Spanien u. a. bei Vicente Blasco Ibáñez. In Deutschland war Naturalistisches mehr im Drama präsent, etwa bei Gerhard Hauptmann; die Arbeiter- und Milieuromane von Karl Bleibtreu und anderen sind heute zu Recht vergessen. Erfolgreicher und von teils internationalem Rang präsentieren sich die Romane Theodor Fontanes, der ohne das sozialanklägerische Pathos der Naturalisten feinsinnige Porträts des märkischen Adels und des Berliner Bürgertums an der Schwelle zur modernen Massengesellschaft zeichnete, so im Ehebruchroman Effi Briest (1896) und im autobiographisch gefärbten Altersroman Der Stechlin (1899). In manchen Zügen schimmert hier bereits die filigran-ironische Prosa Thomas Manns durch. Der russische Roman des 19. Jahrhunderts war formal stark von französischen Vorbildern geprägt, die er thematisch auf russische Verhältnisse übertrug. Häufig geriet er so zur Waffe gegen den feudalen Despotismus des Zarenreiches und lag in beständigem Konflikt mit der rigorosen Zensur. So attackierte Nikolaj Gogol in Die toten Seelen (1842) die desolaten Lebensumstände der leibeigenen Bauern und die erbärmliche Rückständigkeit der russischen Provinz. Sein Generationsgefährte Iwan Gontscharow schuf mit der Titelgestalt des talentierten, jedoch an seiner Antriebslosigkeit scheiternden Oblomov 1859 einen Typus, der in Russland sprichwörtliche Bedeutung erlangte, und zugleich den ersten nationalen Romanklassiker. Iwan Turgenjew, der lange in Deutschland lebte, beschrieb den russischen Landadel und das Bürgertum aus "westlicher" Perspektive, wobei ihm feinfühlige, atmosphärisch dichte Tableaus gelangen (Väter und Söhne, 1862; Neuland, 1877). Der erste russische Romancier von Weltgeltung jedoch war Fjodor Dostojewskij. Mit bis dahin nicht gekannter Intensität durchdrang er psychologisch meisterhaft die Welt der Verzweifelten, Kranken und Verbrecher (Schuld und Sühne, 1866; Der Idiot und Die Dämonen, 1868; Die Brüder Karamasow, 1879/80), ohne erzählerisch zu einer der gestalteten Figurenperspektiven Stellung zu beziehen . Lew Tolstoj teilte mit Dostojewskij die überreiche Figuren- und Ereignisfülle, übertraf ihn aber in der epischen Breite der Darstellung bei weitem. Seine mehrmals verfilmten Hauptwerke Krieg und Frieden (1865-1869) und Anna Karenina (1875-1877) markieren einen Höhepunkt der europäischen Erzählliteratur des späten 19. Jahrhunderts. Mitte des 19. Jahrhunderts legte Hermann Melville mit Moby Dick (1851) einen der bedeutendsten Romane der amerikanischen Literatur vor; das Buch war seinem Freund Nathaniel Hawthorne gewidmet, der etwa zur gleichen Zeit mit seinen Historical Romances hervortrat. Einen volksnahen Realismus wußte Mark Twain in Tom Sawyers Abenteuer (1876) mit Humor zu verknüpfen; darüber hinaus schuf er mit den Romanen über Tom Sawyer und Huckleberry Finn zwei Klassiker der Kinderund Jugendliteratur. Den Naturalismus innerhalb der USA etablierte Frank Norris. Nachdem die (Künstler-)Romane der Romantik etwa von Novalis und Ludwig Tieck noch stark märchenhaft-abstrakte Züge trugen, fand die Gattung bei Joseph von Eichendorff und Karl Leberecht Immermann, dezidiert aber bei den Autoren des Jungen Deutschland wie Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Friedrich Spielhagen u. a. zum konkreten, oftmals politisch-sozialen Zeitbezug. Dies spiegelte sich formal in einem um Authentizität bemühten Schreiben. Bedeutende deutschsprachige Realisten des 19. Jahrhunderts waren neben Fontane die Romanciers Wilhelm Raabe, Gottfried Keller, Gustav Freytag, Jeremias Gotthelf und Adelbert Stifter. Innerhalb der nordischen Literatur begann sich der Realismus bzw. Naturalismus mit den Romanen Arne Garborgs, Knut Hamsuns, Carl Jonas Love Almqvists und Jens Peter Jacobsens durchzusetzen. Bei letzterem zeigten sich später - wie auch bei Hermann Bang - Züge des Impressionismus. Zur Jahrhundertwende prägte Gabriele D'Annunzio den Roman des Ästhetizismus. VII. 20. JAHRHUNDERT: TRADITION UND EXPERIMENT Der im 19. Jahrhundert ausgebildete psychologisch-philosophische Romantypus erlebte zur Jahrhundertwende im Werk von Marcel Proust und Thomas Mann seinen Höhepunkt. In À la recherche du temps perdu (1913-1927; Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) präsentierte Proust eine Phänomenologie der Liebe und den Konflikt ihrer tabuisierten Erscheinungsformen mit einer einerseits in Konventionen erstarrten, andererseits immer komplexer werdenden Gesellschaft. An das Motiv der verlorenen Zeit knüpft sich ein Netzwerk kleinster und minutiös rekapitulierter Erinnerungspartikel. Das in der Erinnerung erlebte fiktive Dasein der Figuren hat ein Äquivalent in der eigenen Realitätsebene der Sprache. Hier kündigt sich bereits die Autonomie des Sprachkunstwerkes an, die zum Signum moderner Dichtung avancierte (l'art pour l'art).Während sein Bruder Heinrich Mann vor allem das Bürgertum der Weimarer Republik karikierte (Der Untertan, 1916), verbinden Thomas Manns Romane (Buddenbrooks, 1901; Der Zauberberg, 1924; Doktor Faustus, 1947) die Darstellung der Probleme des modernen Europa und seines kulturellen Erbes mit profundem psychologischem Einfühlungsvermögen und bildungsbürgerlicher Ironie. Das Niveau seines Romanwerkes ist im deutschen Sprachraum ohne Parallele. Dem gegenüber wurde die individualpsychologische Durchdringung des Figurenpersonals im Romanschaffen von Dadaismus, Surrealismus, Futurismus und Expressionismus konsequent destruiert. Jedoch stützen sich diese Bewegungen zumeist auf die Kurzprosaform oder das unmittelbarere Drama. Weitere bedeutende deutschsprachige Romanciers der Moderne waren Rainer Maria Rilke mit Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und Joseph Roth mit Gesellschaftsromanen wie Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938). Franz Kafka zeigte in seinen posthum herausgegebenen Fragmenten Der Prozeß (1925) und Das Schloß (1926) den Menschen in der Verstrickung einer labyrinthischen Bürokratie. Mit Ulysses (1922) schuf der Ire James Joyce den Prototyp des modernen Bewusstseinsromans. Dabei bezog sich der Titel bewußt auf Homers Odyssee, deren abenteuerliche Reise Joyce auf den 16. Juni 1904 ins zeitgenössische Dublin verlegte. Dabei stellte der Autor den Tagesablauf des Protagonisten Leopold Bloom und anderer Figuren mit der neuen literarischen Technik des Stream of consciousness dar, dem unaufhörlichen Fluss bewusster und halbbewusster Gedanken und Assoziationen. Darüber hinaus ist Ulysses ein von der enzyklopädischen Bildung seines Verfassers geprägtes Meisterwerk der komischen Literatur, das den Realismus über seine bisherigen Grenzen hinausträgt. Der neuen Erzählweise widmeten sich u. a. auch Miguel de Unamuno y Jugo und Cesare Pavese. Innovativ wirkten auch der Amerikaner John Dos Passos mit seinem Roman Manhattan Transfer (1925), der eine perspektivisch gebrochene Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft der USA in Form schlaglichtartiger Skizzen zeigte, und Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz (1929). In ähnlicher Weise wie Dos Passos montierte Döblin Momentaufnahmen des urbanen Alltagslebens und verknüpfte die Biographie seines Romanhelden Franz Biberkopf über eine quasi "filmische" Schnitttechnik mit Umgangs- und Reklamesprache; auf diese Weise machte er auch formal die Großstadt zum Helden des Buchs. Der englische Roman der Bloomsbury group orientierte sich stark an der Psychologie Sigmund Freuds und provozierte die bigotte viktorianische Moral mit freizügigen Darstellungen der Sexualität; dies galt vor allem für D. H. Lawrences Lady Chatterley (1928). Abgesehen von Joyce und Virginia Woolf (Orlando, 1928) blieben sprachliche Experimente selten. Weltweite Beachtung fanden die meisterhaften Kriminalromane und psychologischen Texte Graham Greenes (Am Abgrund, 1938; Unser Mann in Havanna, 1958), die zum großen Teil auch verfilmt wurden. Zu den auch in Europa einflussreichen amerikanischen Romanciers der ersten Jahrhunderthälfte gehörten neben Sinclair Lewis (Babbitt, 1922) und John Steinbeck (Früchte des Zorns, 1939) vor allem F. Scott Fitzgerald (Der große Gatsby, 1925) und Ernest Hemingway (Wem die Stunde schlägt, 1940) mit seiner lakonischen Prosa. Weitere Impulse gingen von Thomas Wolfe und William Faulkner aus, dessen spezifisch polyphone Erzähltechnik in den achtziger Jahren u. a. auf Uwe Johnson wirkte. Mit Thomas Pynchon brachte die amerikanische Literatur auf dem Gebiet des experimentellen Romans später nochmals ein (postmodernes) Erzählgenie hervor. Besonders nach dem 2. Weltkrieg war der europäische Roman stark auf amerikanische Vorbilder fixiert, was sich u. a. bei Heinrich Böll niederschlug. Nur in Frankreich entwickelten der Roman des Existentialismus, so Albert Camus mit Die Pest (1947), und später der Nouveau roman mit seinem Hauptvertreter Alain Robbe-Grillet (Der Augenzeuge, 1955) ein jeweils eigenständiges Profil. In Westeuropa gewann der Roman an analytischer Schärfe, wie bei Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften, 1930-1943), der wie Robert Müller und Hermann Broch an der Essayisierung der Form interessiert war, oder bei Thomas Mann (Doktor Faustus, 1947). Zu den wenigen Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich der experimentellen Prosa verschrieben, gehörten Wolfgang Koeppen und später, aber auch radikaler - Arno Schmidt; Martin Walser hingegen wandte sich verstärkt dem realistischen Gesellschaftsroman zu. 1956 stellte Max Frisch mit dem grandiosen Einleitungssatz seines Romandebüts Stiller ("Ich bin nicht Stiller") die gesamte Tradition der auf Individualitätsstiftung bedachten Gattung in Frage. Heimito von Doderer trat mit den Monumentalepen Die Strudelhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956) hervor. Günter Grass brillierte mit seiner sprachbarock ausufernden Blechtrommel (1959), die, orientiert am Muster des Schelmenromans, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte als absurdes Panoptikum beleuchtete und für die der Autor den Preis der Gruppe 47 erhielt. Ab den späten sechziger Jahren zeigte der deutsche Roman eine starke Tendenz zur autobiographischen Innerlichkeit der Neuen Subjektivität (etwa bei Peter Handke), andererseits aber auch zu Politisierung und Gesellschaftskritik. Das wichtigeste Beispiel für letzteres - und einer der bedeutendsten Romane der deutschen Literatur nach 1945 überhaupt - ist Die Ästhetik des Widerstands (1975-1981) von Peter Weiss. Mit seinem vierbändigen Jahrhundertwerk Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl (1970-1983) schuf Uwe Johnson den wichtigsten Romanzyklus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. International kamen neue Impulse in den sechziger und siebziger Jahren vorrangig von den lateinamerikanischen Autoren des Magischen Realismus wie Carlos Fuentes (Terra Nostra, 1975), Mario Vargas Llosa (Das grüne Haus, 1965) und dem Nobelpreisträger Gabriel García Márquez (Hundert Jahre Einsamkeit, 1967). Mit Der junge Mann (1984) versuchte Botho Strauß 1984 eine Neubelebung des deutschen Bildungsromans in der Tradition Goethes. Seit den achtziger Jahren konnten auch deutschsprachige Autoren wieder internationales Renommee erringen, so Patrick Süskind mit Das Parfüm (1985) und der Österreicher Christoph Ransmayr mit Die letzte Welt (1988). Novelle Novelle, Prosa-, selten auch Verserzählung von mittlerem Umfang, die sich durch straffe Handlungsführung, formale Geschlossenheit und thematische Konzentration auszeichnet. Gegenstand ist, nach einer Definition Johann Wolfgang von Goethes, "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit", eine Begebenheit also, die einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erhebt und von etwas Neuem oder Außergewöhnlichem erzählt. Als charakteristische Merkmale novellistischen Erzählens gelten, ohne jedoch normative Verbindlichkeit beanspruchen zu können, die Zuspitzung auf einen "Wendepunkt" hin (entsprechend der Peripetie im Drama) und die Strukturierung durch ein sprachliches Leitmotiv oder durch ein Dingsymbol (Paul Heyses "Falkentheorie"). Häufig werden Novellen zu Zyklen verbunden oder einzelne Novellen in Rahmenerzählungen eingebettet: Techniken, die es ermöglichen, die Erzählsituation sowie die jeweiligen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zu beleuchten. Die Gattungsgeschichte der europäischen Novelle beginnt um 1350 mit Giovanni Boccaccios Decamerone, einer durch Rahmenhandlung verknüpften Sammlung von 100 Erzählungen ("Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wirkliche Begebenheiten, wie wir sie nennen wollen"). Die Konzeption des Decamerone wurde für Jahrhunderte Vorbild der europäischen Novellendichtung. In England nahm Geoffrey Chaucer die zyklische Form Boccaccios auf, allerdings zum Teil in Versen (Canterbury Tales, Ende 14. Jahrhundert), in Frankreich folgten die anonymen Cent nouvelles nouvelles (um 1460) sowie Marguerite de Navarres Heptaméron (1559) dem Modell. Matteo Bandello (Novelle, 1553/54) und Miguel de Cervantes (Novelas ejemplares, 1613, Exemplarische Novellen) setzten durch den Verzicht auf eine Rahmenhandlung neue Akzente. Darüber hinaus entfernte sich Cervantes in einem Teil seiner Novellen mit satirischen Sittenbildern und realistischen Gesellschaftsschilderungen entschieden von der italienischen Tradition. Die Rezeption seiner Werke in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts wirkte stark auf die Novellistik der Romantik. Nach Vorläufern in Humanismus, Barock und Aufklärung begann mit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), nach dem Vorbild Boccaccios als Zyklus mit Rahmenhandlung angelegt, die Geschichte der deutschen Novelle. Auch Christoph Martin Wieland folgte mit dem Hexameron von Rosenhain (1805) der italienischen - und französischen - Tradition. Bis hin zu Gottfried Kellers Sinngedicht (1881) entstanden weitere Novellenzyklen, doch trat seit der Romantik und den Novellen Heinrich von Kleists die Einzelnovelle immer stärker in den Vordergrund. Auch Goethes Novelle (1828) gehört in diesen Zusammenhang. Neue Ausdrucksmöglichkeiten gewann die Novelle in der Romantik durch die Integration märchenhafter, phantastischer und dämonischer Elemente (so bei Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Joseph von Eichendorff). Nach der Novellistik der Biedermeierzeit (Annette von Droste-Hülshoff, Jeremias Gotthelf, Franz Grillparzer, Eduard Mörike, Adalbert Stifter) erreichte die deutsche Novelle im Realismus ihren künstlerischen Höhepunkt (Gottfried Keller, Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer). Im Kontext des Naturalismus beginnt mit Gerhart Hauptmanns "novellistischer Studie" Bahnwärter Thiel (1888) die Geschichte der modernen, Anregungen von Émile Zola, Anton Tschechow, Guy de Maupassant und anderen aufnehmenden deutschen Novelle, die sich über Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Arthur Schnitzler oder Alfred Döblin bis zu Günter Grass und Martin Walser als äußerst fruchtbar erwiesen hat. Charakteristisch für die Entwicklung im 20. Jahrhundert ist eine Erweiterung der formalen Ausdrucksmöglichkeit, nicht zuletzt durch eine Annäherung an andere Formen des Erzählens. Kurzgeschichte I. EINFÜHRUNG Kurzgeschichte, Lehnwort des amerikanischen short story. Im Gegensatz zu den großen Prosaformen Roman und Novelle bezeichnet der Begriff eine kurze, verdichtete literarische Erzählung. Die Kurzgeschichte verwendet meist ein schmales Figureninventar in einer komprimierten, geradlinigen Handlung und zielt auf eine dramatische, effektvolle Klimax. Die in der epischen Prosa häufige thematische Vielfalt tritt zurück zugunsten einer zentralen Aussage. So gesehen steht sie einem eher anekdotischen Erzählen nahe (siehe Anekdote). II. VORLÄUFER Die Kurzgeschichte, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich im 19. Jahrhundert und ist eng verbunden mit der Veränderung der Lesegewohnheiten und der Umstrukturierung des Buch- und Zeitschriftenmarktes. Die seit 1800 populären literarischen Taschenbücher, Kalender, Almanache und Zeitschriften entwickelten einen steigenden Bedarf an kurzen, unterhaltsamen Erzählungen, der durchaus auch von angesehenen Autoren gedeckt wurde, denn für das seinerzeit entstehende Berufsschriftstellertum eröffnete sich hier eine lukrative Einnahmequelle und ein leichter Zugang zu einem breiten Publikum. Besonders die Romantik entwickelte großes Interesse an literarischen Kurzformen, wie sie z. B. Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann meisterhaft beherrschten. Außerhalb Deutschlands ist die Kurzgeschichte im 19. Jahrhundert z. B. in den USA durch Edgar Allan Poe und Nathaniel Hawthorne repräsentiert, in Frankreich durch Guy de Maupassant und durch Nikolaj Gogol in Russland. Vorherrschend waren spannende oder komische Erzählungen; mit Poe schlug außerdem die Geburtsstunde der Kriminal- und Detektivgeschichten (siehe Kriminalliteratur; Detektivgeschichte). Maupassants Texte zeigen, welche Meisterschaft des knappen Ausdrucks und der Ausgewogenheit für eine vollkommen gebaute Erzählung erforderlich ist. Im Laufe des Jahrhunderts verschob sich die Erzählintention allmählich vom Handlungsablauf zur Figurenpsychologie. Zugleich machte sich ein steigendes Interesse an einer Verfeinerung und Ökonomisierung der Erzähltechnik bemerkbar: kunstvolle Differenzierung der Ereignisfolge, Weglassen alles Überflüssigen, exakte Abwägung der Erzählhaltung sowie sorgfältige Wahl der Stilmittel wurden immer wichtiger. Poe definierte in seiner Besprechung (1842) von Hawthornes Twice-Told Tales (1837) als erster Schriftsteller die Kurzgeschichte mit entsprechenden Kriterien und demonstrierte ihre Eigenarten in vielen seiner eigenen Erzählungen. In The Cask of Amontillado beispielsweise sind Figurenkonstellation, Handlungsführung und Dialoge so geschickt angelegt, dass der Leser unausweichlich in die adäquate Gemütslage zu dem die Geschichte beschließenden Mord gerät. Für Henry James, einen der Meister der Kurzgeschichte, dessen Erzähltheorien Generationen von Autoren beeinflusst haben, war das Wirken einer "central intelligence" beim Formen und Filtern eines Erzählstoffes maßgeblich. So verwendete James in der Geistergeschichte The Jolly Corner den Erzähler, um ein Gefühl der unmittelbaren psychologischen Nähe zum Geschehen zu bewirken, und schrieb mit The Turn of the Screw den Prototyp der modernen phantastischen Erzählung, in der auch am Schluss unklar bleibt, ob es sich um tatsächliche Ereignisse handelt oder nur um hysterische Phantasien der Protagonistin. (siehe auch phantastische Literatur). III. DIE MODERNE KURZGESCHICHTE Nach 1900 wurde jährlich in fast allen Sprachen eine enorme Zahl von Kurzgeschichten veröffentlicht, viele davon in Zeitungen und Zeitschriften. Experimente mit Stoffen und Erzähltechniken wetteiferten mit Geschichten traditionellen Zuschnitts (William Somerset Maugham, Katherine Mansfield, Sylvia Plath u. a.). Nirgendwo entfaltete sich die Gattung so fruchtbar wie unter den Dichtern der USA, die mit "short story" auch ihre moderne Benennung prägten und eine stattliche Reihe von "short story writers" von weltliterarischem Rang hervorbrachten: Dazu gehörten etwa Ambrose Bierce, Mark Twain, O. Henry, Stephen Crane, Thomas Wolfe und Ernest Hemingway (siehe amerikanische Literatur). Hemingways Kurzgeschichten stecken trotz des knappen Stiles scheinbar voll unwichtiger Details. Sie dienen indessen nur dazu, das Seelenleben seiner Figuren in feinsten Nuancen darzustellen. Neben der von James Joyce (Dubliners, 1914) und Franz Kafka (Die Verwandlung, 1915) begründeten modernen Kurzform ist im Nachkriegsdeutschland vor allem Hemingways lapidare Prosa Vorbild für die Kurzgeschichte, die sich, wie bei Wolfgang Borchert, Günter Eich und Heinrich Böll, der Stilmittel im Zuge einer Kahlschlag-Vorstellung der deutschen Literatur um 1945 bediente. Jedoch reichten die deutschen Nachahmer nur selten an das amerikanische Original heran. Weitere deutschsprachige Verfasser von Kurzgeschichten sind und waren Elisabeth Langgässer, Günter Weissenborn, Ernst Kreuder, Gerd Gaiser, Wolfdietrich Schnurre, Marie Luise Kaschnitz, Hans Bender, Martin Walser, Wolfgang Hildesheimer, Siegfried Lenz, Ilse Aichinger, Peter Bichsel, Günter Kunert und Hermann Kant.