Prosa der Jahrhundertwende frei nach Leiß/Stadler Wie sah die Genrehierarchie in der Prosa um 1900 aus? Kurze Formen wie Studie, Skizze, novellistische Darstellung wurden bevorugt. Man legte Wert auf Vermittlung von Atmosphäre. Die tradierten Grenzen zwischen einzelnen Erzählgattungen wurden kaum mehr beachtet. Mischformen waren Mode: Hofmannsthal schrieb damals seinen fiktiven Lord-Chandos-Brief (Ein Brief, 1902) oder den essayistischen Dialog Das Gespräch über Gedichte (1903). Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht ist eigentlich kein Märchen, was das Genre betrifft, sondern eine Erzählung mit einem für den Haupthelden tragischen Ausgang. Ein Ästhet, der sich in eine zeitlose Stadtkulisse verirrte, findet zufällig Tod auf einem Kasernenhof, in einem Milieu, das seinem abgeschirmten Dasein in einem Landhaus voll von Kunstgegenständen gegenübergesteltt wird. Peter Altenberg weigerte sich, seinen zwischen Skizzen und Studien angesiedelten Prosastücken eine Genrebezeichnung zu geben und nannte sie Extracte des Lebens ...( in 2-3 Seiten eingedämpft, vom Überflüssigen befreit wie das Rindvieh im Liebig-Tigel!). Ins Tschechische wurden sie von 1958 von Jan Hanč unter dem Titel Minutové romány übersetzt. Wie ändert sich die Erzähltechnik der Prosa der Moderne? Die auktoriale Erzählhaltung wird aufgegeben, man verwendet den inneren Monolog bzw. die erlebte Rede, um die interne Fokalisierung zum Ausdruck zu bringen. Eine geschlossene Romanwelt mit ihren verbindlichen Sinnzusammenhängen, Handlungslogik und verbürgter Kausalität wurden gilt als überholt. Bildungsziele, wie sie der Bildungsroman traditionell vermittelte, wirken altmodisch. Rilke zertrümmerte die traditionelle Romanform 1910 in seinem Roman Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge. Und wenn schon Handlungsabläufe, Figurenkostellationen und die Erzählweise konkret und scheinbar traditionell sind, bleibt die gestaltete Wirklichkeit selbst rätselhaft. Wie bei Kafka. Welche Autoren dominieren auf dem Büchermarkt? Der Hauptstrom der Romanliteratur bleibt aber dem Realismus des 19. Jh. verpflichtet: Hesses Frühwerk1, Richarda Huch, Ludwig Thoma, Lena Christ2 (1881-1920): Erinnerungen einer Überflüssigen3, Rumplhanni (E., 1916). 1877 – 1962, Peter Camenzind, 1904, an Gottfried Keller orientiert; Unterm Rad, 1906, eine autobiographisch grundierte Schulgeschichte. 2 Lena Christ (1881-1920), die uneheliche Tochter einer Gastwirtin, wurde von der Mutter und ihrem Stiefvater ausgebeutet. sue musste in der Gastwirtschaft ihrer Mutter in München hart arbeiten. Ihre musikalische. Begabung konnte sich nicht entfalten. Mit Ohnmachten, Depressionen und schweren Krankheiten reagierte sie auf den Entzug jeglicher Zuwendung, auf die sie stets aufs neue hoffte. Durch ihre Heirat mit Anton Leix 1901 geriet sie in eine Ehe mit einem Trinker von brutalstem Charakter, die, als sie nach acht Jahren u. sechs Geburten (nur drei Kinder überlebten) mit der Trennung endete, ihr gesamtes Vermögen u. ihre Gesundheit aufgezehrt hatte. 1912 erscheinen mit Hilfe von Ludwig Thoma ihre "Erinnerungen einer Überflüssigen". Das Buch hat großen Erfolg auf dem Markt und erzielte gute Kritiken. 1913 verfasste sie - aufgrund der Erinnerungen an ihre Mädchenjahre - das Buch "Lausdirndlgeschichten", dessen Titel an L. Thomas Lausbubengeschichten erinnert.. 3 Durch die Vermittlung Ludwig Thomas erschien 1912 im Verlag Albert Langen in München ihr autobiographisches Werk EeÜ, das ihr ermöglichte eine bessere Existenz aufzubauen. Der Titel des Buchs und das Pseudonym Lena Christ waren Vorschläge von Peter Benedix, einem Lyriker, dessen Frau sie wurde. Ihr direkter Zugriff auf konkrete Dinge, der Erzählstil, der nicht kommentiert, nicht anklagt, nicht verklärt, machten den Erfolg aus. 1 Das Handlungsgerüst von Peter Camenzind bildet eine Lebensgeschichte, die den Stereotypen der Heimatliteratur gar nicht so fern ist: ein Dickschädel aus einem Gebirgsdorf, der nach allerlei Irrfahrten durch die zweifelhafte große Welt auf das problematische Dasein eines kleinen Literaten verzichtet, bescheidet sich letztendlich mit einem Winkelglück als Gastwirt. Brecht erinnerte sich nicht ohne Ironie an dieses Buch: Es ist einer darin, der am Schluss nur mehr roten Wein trinkt und verkommt und Jahreszeiten anschaut und den Mond aufgehen lässt, das ist eine Beschäftigung! Die Abneigung gegen die Großstadt, die Opferbereitschaft des Helden und seine franziskanische Einstellung zur Welt gewannen dem Buch viele Leser, die auch Probleme mit dem Verlust der dörfllichen bzw. kleinstädtischen Gemeinschaft und den Eingliederungsversuchen in der Großstadt hatten. Obwohl Peter Camenzind ein Riesenerfolg war, mehr massenwirksam waren vor allem Trivial- und Unterhaltungsromane von Karl May, Hedwig Courths-Mahler und Ludwig Ganghofer, deren Gesamtauflage bis heute über 50 bzw.32 Millionen bei Courths Mahler und Ganghof ererreichte. Voraussetzung des Erfolgs waren Identifikationsmöglichkeiten, einfache Handlungsmuster (die Bösen beanspruchen einen Besitz, den ihnen der Held streitig macht, ohne ihn für sich haben zu wollen), der Reiz der Wiedererkennbarkeit der sich stets wiederholenden Redewendungen und die strenge Verteilung von Licht und Schatten, wie sie z. B. bei Karl May findet: Der Erfolg Mays4 basiert zusätzlich auf der Attraktivität des exotischen Milieus seiner Abenteuerromane. Sie schildern Reisen zu exotischen Schauplätzen - in den Wilden Westen und oder in den vorderen Orient. Wie viele massenwirksame Romane sind sie aus der IchPerspektive des Protagonisten geschrieben, in einer Form, die die Identifizierung des Leser mit der Hauptgestalt erleichtert. Seine Romane wie "Winnetou", "Durchs wilde Kurdistan" oder "Und Friede auf Erden!" enthalten neben der positiven Darstellung der Apachen und einiger Ausnahmegestalten auch einige pauschale abwertende Aussagen über Iren, Juden, Armenier, Chinesen und Mestizen. In seinem Spätwerk löste May sich von der Abenteuerschriftstellerei und schrieb symbolische Romane mit weltanschaulich-religiösem Inhalt und pazifistischer Tendenz. Für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Karl May ist es nötig, eine verlässliche Ausgabe zu finden. Die Aufdeckung massiver Texteingriffe in den früheren Ausgaben entdeckte im Jahr 1963 Arno Schmidt. Der Karl-May-Verlag legte 1982-1984 einen Reprint der Erstausgaben in 33 Bänden nebst Ergänzungsbänden vor und im Jahr 2005 begann eine „Kritische Ausgabe nach den Manuskripten“ zu erscheinen, in der die Alterswerke neu ediert werden. Seit 1987 erscheint eine auf 120 Bände ausgelegte historisch-kritische Ausgabe, die von Hermann Wiedenroth (eine Zeitlang zusammen mit Hans Wollschläger) herausgegeben wird; sie erschien zunächst im Greno-Verlag, zwischenzeitlich bei Haffmans in Zürich und seit 1993 im Eigenverlag des Herausgebers (Bücherhaus, Bargfeld). Diese philologisch zuverlässige Ausgabe bemüht sich um den Abdruck des authentischen Wortlaut in den Erstausgaben und, wo möglich, auch in den Autorhandschriften und gibt Auskunft über die Textgeschichte. Nach den jahrelangen Auseinandersetzungen und den mehrmaligen Verlagswechseln wird die Ausgabe - vorläufig nur des Spätwerks - vom Karl-May-Verlag übernommen. Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Leben, Werk & Wirkung Karl Mays ist eine Studie Arno Schmidts (1963), in der er das Werk Karl Mays aus Sicht der Psychoanalyse Sigmund Freuds untersucht und analysiert. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet "Stern". Sitara besteht aus einem tiefgelegenen, sümpfereichen Niederland und einem der Sonne kühn entgegenstrebenden 4 (1842 - 1912), gest. in Radebeul bei Dresden. Die als Konderlektüre beaknnten Bände heißen Der Sohn des Bärenjägers (1887), Der Geist des Llano estakado (1888), Der Schatz im Silbersee (1894) Hochland, welche beide durch einen steil aufwärts steigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön, sonnenbeschienen, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen. Empor ins Reich der Edelmenschen hieß auch Karl Mays Vortrag im März 1912 in Wien, der als Ausdruck seiner Verehrung für Bertha von Suttner und die von ihr ins Leben gerufene Friedensbewegung entstand. May skizzierte das kommnede Reich des Friedens schon im Märchen vom Stern Sitara, wo es ausdrücklich heißt, Körperbau, Hautfarbe u s. w. … verändern nicht im geringsten den Werth oder Unwerth des .. Menschen. Bei diesem Vortrag war Adolf Hitler in ausgeliehenen Schuhen dabei. 10 Tage danach starb Karl May und der damalige Bewohner des Wiener Männerheims Adolf Hitler war von Mays Tod sehr getroffen. Er mochte ihn als einen charismatischen quasi Religionsstifter und als Beweis, das man als Deutscher allen anderen als Kenner der Völkerpsychologie überlegen sei. Mays Ablehnung des Rassismus verdränte er. Von dem Pazifissus des späten Karl May ließ er sich kaum beeindrucken. Er las allerdings Karl May wie andere Bibel lesen, um sich daran innerlich aufzurichten. 1943 ließ Hitler noch – trotz Papiermangel – 300 000 Exemplare von Winnetou drucken – als Feldpostausgabe. Nach Albert Speers Erinnerungen fand Hitler in Winnetou ein Musterbeispiel eines Kompanieführers und ein Vorbild eines edlen Menschen.5 5 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. Múnchen, Piper, 2001. S. 544-548. Welche Autorinnen zählten um 1900 zu den profiliertesten? Die intensive Lektüre der Frauen um 1900 ergab sich aus dem besseren Zugang der Frauen zu Bildung einerseits und der immer noch patriarchalisch geprägten Lebensweise in den Familien andererseits. Die Lektüre eröffnete den Frauen weitere Horizonte und Erfahrungsmöglichkeiten, steigerte ihre Unzufriedenheit mit realen Lebensbedingungen und begünstigte – bei wenig Chancen sie zu ändern – ihre Flucht in fiktive Welten der Lektüre. Schon oben wurde wurde Hedwig Courths-Mahler erwähnt. 1905, nach den ersten Veröffentlichungen, zieht sie mit ihrem Mann nach Berlin, wo sie vor allem in der Zeitschrift "Berliner Hausfrau" veröffentlicht und einen kleinen Salon führt. 1912 gelingt ihr mit ihrem wohl bekanntesten Roman "Ich lasse Dich nicht!" der Durchbruch. Allein in Deutschland werden über eine Million Exemplare verkauft. Sie ist bis heute die meistübersetzte deutsche Autorin, aber gleichzeitig eine symbolische Figur der Schema-Literatur. Sie hatte aber wichtige Vorgängerinnen, die nicht nur als Unterhaltungsschriftstellerinnen galten. 1899 würdigte die Rundschauzeitschrift »Die Gegenwart« Nataly von Eschstruth als »unsere beliebteste deutsche Schriftstellerin«. Eschstruths leicht humoristischer Erzählton und ihre naiv-idealisierende Charakterzeichnung erweckten in ihrem nationalgesinnten Lesepublikum den Eindruck, unmittelbaren Einblick in Alltagsleben und Familiengeschichte der höchsten Kreise zu gewinnen. Am Anfang der ernst zu nehmenden künstlerisch ambitionierten Romane und Erzählungen steht Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1895). Die Autorin (1859-1941) verkehrte im Kreis um die Berliner Freie Bühne und ihr »Antifamilienblattroman«, weil er nicht mit Happy-End, sondern mit Enttäuschung endet, erschien bei S. Fischer. Er sicherte ihr ein Publikum für weitere Erzählwerke emanzipatorischer Tendenz, in denen die psychische Verkrüppelung und physische Not der Frau, der »höheren Töchter«, der weiblichen Arbeiterschaft, der ledigen Mutter (die sie selber war), im Mittelpunkt stehen. In Aus guter Familie (wie auch im Novellenband Frauenseelen. Bln. 1902) macht die Mischung von objektiver und subjektiver Erzählperspektive (explizit deutender Erzählkommentar, erlebte Rede) auch der unerfahrenen Leserin den Grad an weiblicher Selbstentfremdung als Folge des zeitgenössischen Erziehungsprinzips deutlich. Aus der Kuratel der Eltern in die Kuratel eines Eheherrn sollten die Mädchen überstellt werden. Die seit frühester Kindheit eingeübte Gefühlsverdrängung und deren psychische und physische Kosten zeigt Reuter an der Lebensgeschichte von Agnes Heidling - von der Konfirmarion, über ihr Pensionatsleben bis zur gescheiterten Verehelichung, als ihr Vater nicht die übliche Mitgift aufbringen kann. Als sie sich danach noch von ihrer Jugendliebe trennt, weil sich der inzwischen leichtfertig gewordene Schriftsteller nicht mit ihrem alten Idealbild von ihm deckt, bricht sie zusammen. Der letzte Satz des Buches lautet: „Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt.“ Ihr restliches Leben wird sie aber vermutlich in geistiger Abstumpfung mit Patiencen und einer Sammlung von Häkelmustern verbringen. Wie Fontanes Effi Briest behandelt auch Reuters Roman Aus guter Familie das Problem der Stellung der berufslosen Frau aus der höheren Schicht. Während Reuters Roman den Fontanes an Auflagenhöhe und Verbreitung zunächst übertraf (bis 1931 wurden insgesamt 28.000 Stück verlegt) und auch die politische Frauenbewegung beeinflusste, führten spätere Kanonisierungsprozesse dazu, dass „Effi Briest“ bis heute einen Platz im schulischen und universitären Kanon behauptet hat, während Reuter in Vergessenheit geriet. Einen Skandal verursachte Reuters Roman Das Tränenhaus (1908), in dem sie auf recht drastische Weise die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende schilderte. Isolde Kurz (1853-1944) lebte 1877-1910 in Italien. Sie bezog die Stellung gegen Naturalismus und Expressionismus. Ihr Stilkonservatismus und ihre apolitische »ideale« Weltsicht gilt um die Jahrhundertwende neben Moderne und Heimatkunst als dritte Literaturströmung. Ihre Biogrpahie zeigt, wie schwer es für Frauen war, sich eine mit Männern vergleichbare Bildung anzueignen. »In den bürgerlichen Kreisen, auch in den gebildeten, soweit sie nicht wohlhabend waren, begnügte man sich oft genug damit, ihnen die häuslichen Arbeiten beizubringen und sie zu unbezahlten Dienstmädchen heranzuziehen, besonders wenn das Studium der Söhne die elterlichen Mittel erschöpfte.« So wurde sie Autodidaktin und eine stolze Außenseiterin, die mit ihren Geschlechtsgenossinnen nichts gemeinsam haben wollte. Vor ihrem Umzug nach Italien verdient sie sich ihren Lebensunterhalt mit Sprachunterricht und Übersetzungen. Ihr ältester Bruder Edgar wurde Arzt in Florenz und ließ Isolde, ihre Mutter und der jüngste, schwerkranke Bruder Balde in den Süden ziehen. Die Sitte« verbietet es damals jungen Frauen in Italien, sich ohne Begleitung auf der Straße zu bewegen. Überall erregt sie - nicht zuletzt weil sie blond ist - Aufsehen, wenn sie allein durch die Gegend streift. George Sand, die in Paris unter denselben Bedingungen lebte, zog sich Männerkleidung an, wenn sie durch die Stadt lief oder die Oper und das Theater besuchte. Isolde Kurz, so scheint es, ist dieser Gedanke nicht gekommen.Tag für Tag sitzt sie in der Bibliotheca Nazionale am »Damentisch« und macht Auszüge. Aus der ursprünglich wissenschaftlichen Arbeit werden zwei Erzählbäde: Florentiner Novellen 6(1890) und Italienische Erzählungen (1902). Sie empfindet Dichtung als einen »schöpferischen Auftrag«. Sie ist ein Medium; »Stimmen« kommen zu ihr. Für sie als kreative Frau bedeutet das Verzicht auf Liebe zum anderen Geschlecht. Männer, so führt Isolde Kurz aus, die schöpferisch tätig sein wollen, brauchen eine »sorgliche Frauenhand, umhüllende Liebe«. Für Frauen aber gilt: »Zwei Götter können sich nicht nebeneinander vertragen. Der Eros will seine Beute ganz und der Genius ebenfalls... Und der Eros bringt für die Frau unausweichlich die Dienstbarkeit mit, das Wesen des Genius aber ist Freiheit.« Später stellte sie allerdings ihr Prestige als Autorin in den Dienst für nationalistische bzw. nationalsozialistische Propaganda im Ersten bzw. im Zweiten Weltkrieg und ihre stolz deklarierte apolitische Einstellung nahm schnell ein Ende. Aus einer prominenten Familie wie die Tochter von Hermann Kurz – Isolde – stammte auch Helene Böhlau (1856-1940). Ihr Vater besaß den Hermann Böhlau Verlag in Weimar, in dem u. a. die »Sophienausgabe« der Werke Goethes erschien. 1886 heiratete sie den Privatgelehrten Friedrich Arndt, der deshalb zum Islam konvertierte, um seine zweite Ehe eingehen zu können. Sein neuer Namen war Omar Al Raschid Bey und der schriftstellerischen Arbeit seiner Frau brachte er viel Verständnis entgegen. Sie lebten zuerst 1886-1888 in Konstantinopel, danach in Ingolstadt u. München. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Auseinandersetzung um das 1896 vom Reichstag verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1. 1. 1900 in Kraft treten sollte, schrieb sie ihren Roman Das Halbtier! (1899). Sie wollte die Aufmerksamkeit des 6 Die Vermählung der Toten zählt nach Reich-Ranicki zum Kanon Erzählliteratur der Jahrhundertwende. Lesepublikums auf die seelische Degradierung auch der bürgerlichen Frau durch die wirtschaftliche Abhängigkeit ihrer Ehe zwingen. Diese frauenrechtlichen Romane wirkten von der Autorin gemütlicher Humoresken wie Rathsmädelgeschichten (1888) um so provokativer. Isolde Hey, die Heldind des Romans Das Halbtier! ist demselben Druck der Konvention ausgesetzt wie Agathe Heiling bei Gabriele Reuter: sie soll in ihrer Mutterrolle ganz aufgehen. Von ihrer Mutter weiß sie jedoch von der Gefahr, die Ehe degradiere die Frau zu einer Haustierrolle, zu einem Geschlechtswesen. Die Handlung kulminiert darin, dass Isolde ihren früher von ihr verehrten Schwager Mengersen tötet, der sich ihr in der Absicht einer Vergewaltigung nähert und dabei selbst zum Tier wird, für das er Frauen immer gehalten hat: „Waren das Henry Mengersens kühle Augen? Diese gierigen Raubtierblicke?“ (S. 193). Als sie ihn erschießt, schreit sie: „Wie einen Hund!“. Mit dieser Exekution sind alle sich gegen Frauen versündigenden Männer gemeint. Am Ende steht Isoldes Freitod, eine einzige Möglichkeit über sich selbst zu bestimmen. Als 1915 die erste Werkausgabe in 6 Bänden erscheint, verfasst Helene Böhlau ein distanzierendes Vorwort zu Halbtier!, in der zweiten Werkausgabe 1927/29 fehlt der Roman gar – ihre eigene Radikalität scheint ihr selbst nicht mehr geheuer gewesen zu sein. Clara Viebig, verh. Cohn, (1860–1952), eine der Lieblingsautorinnen von Arne Novák, verbrachte ihre frühe Kindheit in Trier und zog dann mit ihrer Familie nach Düsseldorf. Die von hier in die Eifel unternommenen Ausflüge dienten als Stoff in ihrem späteren Werk. Nach dem Abitur und dem Tod des Vaters kam sie 1880 zu Verwandten auf deren Landgut bei Posen. 1883 siedelte sie über nach Berlin und besuchte dort die Musikhochschule, um ein Gesangstudium zu absolvieren. In der Eifel hatte Viebig den Verleger Fritz Theodor Cohn (= Egon Fleischel) kennengelernt, den sie 1896 heiratete. Cohn war Mitinhaber der Berliner Verlagsbuchhandlung Fontane & Co. (ab 1901 Fleischel & Co.), in der bis 1914 alle ihre Romane erschienen. Nur mit Theodor Fontanes Hilfe konnte das Paar die konfessionsübergreifende Heirat gegen die antisemitischen Vorbehalte insbesondere von Viebigs Mutter, aber auch gegen die Bedenken von Cohns Eltern durchsetzen.Wegen ihres (1936 verstorbenen) jüdischen Mannes ist sie während der NS-Zeit mißliebig geworden. Beim Aufstig des Nationalismus haben jedoch beide wenig Weitsicht gezeigt. Auch Cohn gab sich der Illusion hin, dass er als assimilierter Jude vor Angriffen der Nazis sicher sei. Zuerst emigirierte sie 1937 zu ihrem Sohn nach Brasilien, kehrte aber bald nach Deutschland zurück und ihre Werke wurden wieder aufgelegt. 1892 wurde die Lektüre von Emile Zolas Roman „Germinal” für sie zum Schlüsselerlebnis für die künftige literarische Arbeit, sie wollte wie Zola schreiben: Ohne Rücksicht, ohne Furcht, ohne Bedenken. Die »deutsche Zolaïde«, die Spätnaturalistin Viebig, hatte 1897 einen ersten Erfolg mit der Novellensammlung Kinder der Eifel. Als Charakteristika ihres Erzählstils findet man hier schon die um Lebensechtheit bemühte exakte Milieubeschreibung; die stimmungsvollen Bilder einer düsteren, rückständigen Landschaft, trotz Verbundenheit mit ihren Figuren ein nüchterner, direkter erzählerischer Zugriff. Die Erzählung Das Miseräbelchen gab auch den Titel einem modernen Auswahlband aus ihrem Werk7. Die Eifel, von Viebig erstmals als Literaturregion zur Geltung gebracht, gibt auch den Hintergrund ihres humoristischen Romans Das Weiberdorf (1900), dessen derb7 Das Miseräbelchen und a. Erzählungen. Hg. Bernd Jentzsch. Mit Nachw. v. Norbert Oellers. Olten/ Freib. i. Br. 1981. drastischer Realismus beanstandet wurde. Aufgrund des zur Neige gehenden Rohstoffes Eisenerz in der Umgebung von Eisenschmitt wurden die arbeitsfähigen Männer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Gastarbeitern im Ruhrgebiet. Sie verdienten den Unterhalt für sich und ihre Familien in den aufstrebenden Stahlwerken. Zurückgeblieben sind die Frauen, die während der langen Abwesenheit ihrer Männer alle Arbeiten in Haus und Feld alleine erledigen mussten – daher der Name des Romans Das Weiberdorf. Peter Miffert, der mit seinem lahmen Bein nicht in die Ferne zum Geldverdienen ziehen kann, bleibt als Hahn im Korb zurück, alle Frauen bemühen sich um ihn. Auch wenn sie alle Arbeiten im Haus und auf den Feldern allein erledigen müssen, kommen sie doch auch noch auf andere Gedanken,die "Das Weiberdorf" seinerzeit auf den Index der katholischen Kirche gebracht haben. Das schlafende Heer (1904)8 schildert die Germanisierung der (polnischen) preußischen Provinz in den 80er Jahren. Die Neuromantikerin Richarda Huch (1864-1947) wurde durch ihre essayistschen Werke Blütezeit der Romantik, 1899, und Ausbreitung und Verfall der Romantik, 1902, berühmt. Huch entstammte einer wohlhabenden, kulturell aufgeschlossenen Kaufmannsfamilie aus Braunschweig. Deren wirtschaftlicher Verfall und Huchs Liebesbeziehung zu dem mit ihrer Schwester verheirateten Vetter Richard Huch bewogen sie 1887 zur Übersiedlung nach Zürich. Dort holte sie das Abitur nach, schloß ihr Geschichtsstudium 1891 mit der Promotion ab und war anschließend Bibliothekarin und Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Ab 1897 lebte sie allein ihren schriftstellerischen Neigungen, seit 1900 (mit Unterbrechungen) in München. 1905 wurde ihre Ehe mit einem iztalienischen Zahnarzt gelöst, Huch heiratete ihre frühe Liebe, ihren Vetter Richard Huch und lebte drei Jahre, bis zum Scheitern auch dieser Ehe, mit ihm in Braunschweig. 1911 kehrte sie nach München zurück und lebte dort bis 1927. 1933 trat Huch aus Protest gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung als erstes Mitglied aus der Preußischen Akademie der Künste aus. Trotz Anfeindung und Unterbindung der Verbreitung ihrer Bücher blieb sie in Deutschland. Autobiograpphische Züge weist ihr Roman Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren (Bln. 1893) Ihr Roman Vita somnium breve9, 1903, trägt seit 1913den Titel Michael Ungar. Michael Ungar entstammt einem reichen norddeutschen Patrizierhaus und beginnt seine Schicht zu hassen: die auch mit Arbeit und Sorge Geld errungen haben, eine schöne Frau und hochmütige Kinder! Die vor mir die Überzeugung voraus haben, daß dies das Wichtigste und Größte ist, was man dem Leben abgewinnen kann. Unter dem Einfluß der Begegnung mit der Malerin Rose Sarthorn kommt dem etwa 30jährigen Kaufmann sein bisheriges Leben wertlos vor, und er bricht auf im Zeichen der romantischen Sehnsucht. Der Satz O leben, o Schönheit! kehrt mehrmals wieder. Er verlässt seine Frau und seinen Sohn, um Medizin zu studieren und der Geliebten nahe sein. In den Studentenkreisen werden die Musik Richard Wagners und die Grenzen des Erlaubten in der Kunst diskutiert. Stefan George wird hier als Dichter Aristos deutlich kritisiert, indem ihm folgende elitäre Vorstellungen in den Mund gelegt werden: In früheren Zeiten wurde die gelderzeugende Arbeit von Sklaven und Leibeigenen besorgt; können wir diese Einrichtung auch nicht wiedre einfführen, so wird es doch immer natürliche Arbeiter und Sklaven wie natürliche Herren geben, und die ersten Josef Poláček: Deutsche soziale Prosa zwischen Naturalismus und Realismus. Zu C. Viebigs Romanen ›Das Weiberdorf‹ und ›Das tägl. Brot‹. In: Philologica Pragensia 6 (1963), S. 245257. 8 9 Böcklins gleichnamiges Bild werden stets in der Überzahl sein. Meine Meinung ist, daß diese als Packträger, Kesselflicker, Bankdirektoren oder was sonst ihrem angeborenene Beruf nachgehen und für die Bedürfnisse der wenigen Sorgen, die ihren Träumen leben wollen. Der Vater Ungar, um die Berufswahl desen Sohnes geht es in dem Gespräch, hält es nicht mehr aus und ruft: Ich glaube, dass es meinem Sohne eben recht wäre, wenn ich zeitlebens den Packträger für ihn machte, damit er träumen, oder besser gesagt faulenzen könnte. … Der Monist und Darwinist Ernst Haeckel10 (1834 – 1919) dürfte für den Freiherrn v. Recklingen Pate gestanden haben. Weltall und Weltseele waren ihm nicht bloße Worte, sondern innerstes Glaubensbekenntnis, und in der Überzeugung vom Zusammenhang aller Erscheinungen und ihrer Wesenhaftigkeit war ihm das Große wie das Kleine gleich heilig und wichtig. Die Anklänge an die Romantiker sind bis in die Bilderwahl spürbar. So heißt es über Michael Ungar: Es tat ihm wohl, wenn der Mantel seines Begleiters sich hinter ihm aufblähte und in der Luft stand wie ein sausender Fittich; auch meine Seele wird die Flügel regen, dachte er, und sie werden mich über Hügel und Berge tragen, dahin, wo die Gedanken schweigen, dahin, wo Götter wohnen. In dem Goldnen Topf von E. T. A. Hoffmann heißt es über den sich verabschiedeten Archivarius Lindhorst: da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein paar großer Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittiche aus zum raschen Fluge. Michael Ungars Bindung an den Sohn Mario läßt ihn seinen schönen Traum an der Seite von Roses nicht austräumen. Zwölf Jahre später ist die Euphorie des Aufbruchs vorbei, die Liebesbeziehung zu Rose Sarthorn endet fast banal – sie entscheidet sich für den Freiherrn und Michael Unger kehrt zu siener Familie zurück und erkennt seine Schuld an der problematischen Entwicklung seines Sohnes Mario. Huch thematisiert aber die Brüchigkeit des Romanschlusses und die Unmöglichkeit, den klassisch-romantischen Bildungsroman ins zwanzigste Jahrhundert zu verpflanzen: Diese Bierbrauer und Kommerzienräte glauben, wenn sie ihre Wände mit Teppichen behängt, ein paar Kübel mit grünen Pflanzen davorgestellt und ihre schönen Weiber recht herausgeputzt haben, sie hätten Italien und das Alter der Renaissance leibhaftig gemacht. Sie wissen nicht, daß die Götter alles Große um Schmerzen und 10 Die Welträtsel, 1899, meint die Frage nach dem Wesen von Materie u. Kraft, dem Ursprung der Bewegung, des Lebens, der Naturordnung, des Bewußtseins, der Sprache u. der Willensfreiheit. H. glaubte, alle diese Fragen seien »durch unsere moderne Entwicklungslehre endgültig gelöst«. Es bleibe nur eine Frage: »Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder«, das »Natur«, »Substanz« oder »Gott« genannt werde? H.s polem. u. gleichzeitig mystizierende Gewißheit zeigt, daß seine »einfache Naturreligion« der dogmat. u. totalitären Religiosität verfallen war, die er als kritischer, erfahrungsorientierter Wissenschaftler urspr. bekämpft hatte. Theorie u. moralische u. polit. Weltanschauungslehre prägnant zusammenfaßte. In seiner älteren Schrift Natürliche Schöpfungsgeschichte (Jena 1868) stellte H. höchst eklektizistische u. widersprüchliche moralische Überlegungen an. So erklärte er einerseits, daß alle Tiere unsere »Brüder« seien u. beklagte die Formen, die »der Kampf ums Dasein [...] in dem herrschenden Militarismus und [...] der Börsenspekulation« angenommen habe; andererseits dozierte er rassistisch, daß der »Unterschied zwischen den höchst entwickelten Tierseelen und den tiefstehenden Menschenseelen [...] viel geringer [...] sei als der zwischen den niedersten und höchsten Menschenseelen«. Daher glaubte er vorhersagen u. legitimieren zu können, daß die meisten Rassen den Europäern »im Kampf ums Dasein früher oder später gänzlich erliegen werden«. Mühen verkaufen, und ebensowenig, daß die Erinnerung erst Fleisch und Knochen von der Seele wegschmelzen und Traumgewänder darüberhängen muß, damit die Menschen und Dinge so schön werden, wie wir die längstvergangenen sehen. Je mehr sie sich mit allem Zubehör der Jahrhunderte ausstaffieren und mit vollen Backen zechen, um etwas Dionysisches vorzustellen, desto mehr verfallen sie der Zeitlichkeit, die wie ein hungriger Hund nach den fettesten Beinen schnappt. Der Roman schließt in Ernüchterung und Resignation. Der ursprüngliche Romantitel Das Leben ist (nur) ein kurzer Traum enthält gleich das Zugeständnis, die ästhetizistische Flucht ist nur eine Scheinlösung, die Entscheidung für das Sich-Ausleben eine Äußerung des Egoismus. Eduard von Keyserling und Jakob Wassermann Was verbindet die beiden Autoren? Dass sie wohl heute beide zu Unrecht in unseren Tagen in Vergessenheit geraten unnd beide eine aufregende und wertvolle Lektüre darstellen, die z. T. auch recht vordergründig rezipiert wurde. Beide beschäftigten sich mit ihren Wurzeln – Keyserling stammte aus dem baltischen Adel, Wasssermann aus einer armen jüdischen Familie in Franken – und waren im Münchner Literaturleben verwurzelt. Aber während Wassermann vor einem ethischen Pathos nicht zurückschreckt, bleibt Keyserling immer mehr auf Distanz zu dem etwas reißerisch wirkenden Stoff seiner Schlossgeschichten. Nach 1900 wurde der aus Kurland stammende Graf Eduard von Keyserling (1855-1918), dessen erzählende Werke in manchem mit Schnitzlers Novellen vergleichbar sind, von den Zeitgenossen als besonders bezeichnend für die literarische Kunst des Impressionismus empfunde. Größere Beachtung fand unter seinen kleinen Romanen (oder umfangreichen Erzählungen) als erster die bei S. Fischer erschienene »Schloßgeschichte« Beate und Mareile (1903), über die Frau Günters, die fein und vornehm ist (eine kühle, klare Luft ist um sie her) und der nicht adeligen Inspektorentochter Mareile, mit der er sich einlässt. Beide wurden zusammen im Schlosse erzogen. Wie bei Schnitzler ist auch bei Keyserling ein Widerstand gegenüber der impressionistischen Auflösung der Syntax erkennbar: man braucht nur Schnitzler mit Altenberg zu vergleichen, oder Keyserling mit Johannes Schlaf (In Dingsda etwa). Für Keyserling konnte, auch in stofflicher Hinsicht, Fontane richtungsweisend sein. Auch die verhaltene Kunst des dänischen Zeitgenossen Herman Bang erschien ihm sicherlich nahe verwandt. Keyserlings Welt setzt sich aus subjektiven Sinneseindrücken zusammen, die Sprache bemüht sich, die Vielfalt der Farben, Töne, Düfte einzufangen, die Flüchtigkeit der Stimmungen, den Reiz des Augenblicks. Den Augenblick auszukosten, noch bevor die Wehmut der Vergänglichkeit sich einstellt, darauf kommt es an: »Ja, ja«, sagt die männliche Hauptgestalt des erwähnten Romans, »über sich hingehen lassen, eine Welle, eine blanke warme Welle«, wobei die »Welle« jeder Lebensaugenblick ist. Der auf einem gepflegten Wahrnehmungsvermögen beruhende Sensualismus bei Keyserling ist ein typisches Merkmal des Fin de siecle; er erscheint hier jedoch ohne Mystizismen und esoterische Verstiegenheiten. Der Sensualismus, der namentlich die Intensität der erotischen Erlebnisse spürbar macht, ist in Keyserlings Werken ein Zeichen reduzierten Lebens: der Adel, der seinen geschichtlichen Untergang ahnt, vermag der Realität keinen anderen Sinn abzugewinnen als ein »carpe diem«. In Beate und Mareile steht ein Mann, der Graf Tarniff, zwischen zwei Frauen, seiner adeligen Ehefrau Beate und der Sängerin Mareile, deren Vater Aufseher auf dem herrschaftlichen Gut ist. Während der Graf seiner Frau nur konventionelle Achtung entgegenbringt, weil er in der Ehe insgesamt nicht viel mehr sieht als ein standesgemäßes Arrangement, gilt sein sinnliches Verlangen Mareile, die als Bürgerliche (und als Künstlerin!) für das mehr oder minder kavallierartig zu absolvierende »Abenteuer« in Betracht kommt. Es ist nur folgerichtig, daß in einem durch Konventionen gekennzeichneten, im übrigen leichtfertigen Dasein der Liebesepisode mit einem kurzen Abschiedsbillett ein Ende gesetzt wird. Das bei Mareile zurückbleibende Gefühl ist aus Liebe und Haß gemischt. Das alles ist mit sparsamsten Mitteln erzählt, eindrucksvoll vor allem in der Diskretheit, aber auch Schärfe, mit der gesellschaftliche Bezüge ins Blickfeld gelangen. Mareile erinnert sich an die mit Beate verbrachte Kindheit: Schon damals erschien es ihr als das Höchste im Leben, ganz zu denen auf dem Schlosse zu gehören. Mit wunderlicher Reizbarkeit empfand sie alles, was an den Unterschied zwischen ihr und Beate gemahnte. Sie selbst verstand es zu vergessen, daß sie die Tochter des Inspektors Ziepe war; daß die anderen es nicht vergaßen, brachte Gefühlsstürme in ihr hervor, die von ihrer Umgebung kaum begriffen wurden. In solchen Krisen hatte sie es geliebt, auf die Heide hinauszulaufen, zu laufen, zu laufen, bis ihr die Wangen brannten und sie müde an einem Wacholderbusch niederfiel. Dort, platt auf das Heidekraut hingestreckt, das Gesicht in die harten Stengel gedrückt, die Zöpfe voller Mittagsfalter, hatte sie unbändig geweint, weil sie kein Baroneßchen war. Später kam Berlin mit dem Konservatorium, das Wohnen bei der Hauptmannswitwe, der Tante Oberau, die Reisen nach London und Wien, der Ruhm, endlich die Berliner Gesellschaft, in der Mareile durch Tarniffs eingeführt wurde. »Ich liebe sie wie meine Jugend«, sagte die Fürstin Elise Kornowitz von Mareile, und das war viel. Das Gefühl, daß dieses königliche Wesen eine gesellschaftliche Schöpfung der Fürstin Elise und ihrer Freundinnen war, begeisterte die Aristokratinnen für Mareile. Nach den Affären Günters, nach einem Duell, bleibt er doch bei seiner Frau. Der Text endet mit der Enttäuschung Mareiles, die jedoch einen Selbstmord – ähnlich wie Eve, Günters frühere Geliebte, die er auch am grausamsten behandelte. Zu den bei S. Fischer veröffentlichten kleinen Romanen (Dumala, 1908; Abendliche Häuser, 1914; Fürstinnen, 1917) gehört auch das bisher wenig beachtete Meisterwerk Wellen (1911). In einer mit Čechovs und Thomas Manns Erzählkunst vergleichbaren, diskret ironisch getönten Prosa wird mit einem Mindestmaß an Aufwand ein Höchstmaß an ästhetischer Wirkung erzielt. Ferientage an der Ostsee bilden den Rahmen eines Geschehens, das – bis auf den Schluß – ganz auf den inneren, kaum wahrnehmbaren Spannungen zwischenmenschlicher Beziehungen beruht. Zwei Familien lernen einander kennen, allein die Ferienbekanntschaft ist mehr als flüchtige Begegnung: die Berührung unterschiedlicher Lebenswege läßt soziale und psychologische Konflikte erkennbar werden, und nach der Trennung gehen diese Menschen mit Erfahrungen auseinander, die weiterwirken. Einprägsam ist als erzählerische Leistung besonders die Dichtheit in der Schilderung der Landschaft sowie die Verquickung der Stimmungswerte der Farben und Formen mit dem Auf und Ab der psychischen Regungen. Bestechend ist – auch in anderen Werken – die Nüchternheit, mit der sozialkritische Einsichten integriert werden: der schreibende Adelige, für den die epische Vergegenwärtigung der baltischen Heimat eine Suche nach der verlorenen Zeit ist, blickt auf die versinkende Welt des Adels ohne die geringste Sentimentalität zurück. Trotz der Intensität impressionistischer Stimmungskunst ist bei Keyserling zugleich eine Distanziertheit spürbar, für die er selbst ein zutreffendes Bild fand: eine seiner Romangestalten sagt einmal, sie sehe die Menschen wie durch ein verkehrt gehaltenes Fernrohr – genau, scharf, und doch entrückt. Einige Werke Keyserlings erschienen nach 1908 auch in »Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane«, der berühmten gelben Reihe, die dem Versuch entsprach, moderne Literatur einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen. Die einheitlich ausgestatteten kleinen Bände erzielten bei einem Einheitspreis von 1 Mark (für die Pappband-Ausgabe) sehr bald einen beachtlichen Erfolg. Einer Verlagsstatistik zufolge erreichte Beate und Mareile um die Mitte der zwanziger Jahre eine Auflage von 68 Tausend. Diese Zahl nimmt sich innerhalb der Aufstellung vergleichsweise bescheiden aus, bedenkt man, daß die Titel an der Spitze bei 180 bis 250 Tausend Exemplaren lagen. Der verschwommene Begriff »Mode« gewinnt Anschaulichkeit, vergleicht man das Erfolgsbuch Yester und Li von Bernhard Kellermann (1879-1951) mit Keyserlings »Schloßgeschichte«. Der erstmals 1904 erschienene kleine Roman, laut Untertitel die »Geschichte einer Sehnsucht«, konnte zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen eine fast dreimal so hohe Auflageziffer verzeichnen. Die Gunst des Publikums galt in diesem Fall einem Produkt, das eine Art Trivialimpressionismus darstellt, versetzt mit weiteren offenbar wirksamen Elementen. Jugendstilhaft erscheint das Thema einer gleichsam ins Dekorative stilisierten, zeremoniell-preziösen Liebesbeziehung, die sich hauptsächlich darin erschöpft, als Anregung für literarische Träumereien zu wirken. Das Motiv des Schriftstellers, der die Wirklichkeit als eine besondere Form von Literatur erlebt, teilt Kellermann übrigens mit einigen Zeitgenossen: in Keyserlings Erzählung Seine Liebeserfahrung begegnet man einer Variante des Motivs, in satirischer Sicht erscheint es bei Schnitzler, so in den Dichter-Episoden im Reigen. Der Erfolg stellte sich auch bei Kellermanns zweitem »lyrischen Roman« ein, Ingeborg (1906), dessen von Naturbildern umrahmte Liebesgeschichte die stilisierte Einfalt von Knut Hamsuns Pan zu wiederholen versucht. Der einzige namhafte Erzähler der Jahrhundertwende, der versuchte, im Roman ein breites Gesellschaftspanorama in Vergangenheit und Gegenwart zu entwerfen, war Jakob Wassermann (1873-1934). Die epischen Traditionen, an die er anknüpfte, sind bei Balzac, Dickens und Dostojevski zu suchen, in der deutschen Literatur eher bei Gutzkow und Spielhagen als etwa bei Gottfried Keller. Schon in seinem ersten bedeutenden Roman, Die Juden von Zirndorf (1897, Neufassung 1906), schildert der aus jüdischem Kleinbürgertum stammende Autor einen Lebenslauf, der in seiner individuellen Anlage zugleich auch exemplarisch im geschichtlichen Sinn ist. Der auf privater Ebene spielenden Handlung, in deren Mittelpunkt die Emanzipationsbestrebungen eines jungen Juden in der Gegenwart stehen, geht ein historisches Vorspiel voraus, das den Auszug der Juden aus dem Fürther Getto in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zum Gegenstand hat. Das Einzelschicksal soll damit vor einem breiteren historischen Hintergrund gesehen werden. Am Ende des Vorspiels entwirft der Erzähler in einer verallgemeinernden Betrachtung eine Typologie des Judentums: eine auf der Zusammenschau krasser Widersprüche beruhende Wesensdeutung. »Hat ihn [den Juden] die Zeit dazu gemacht, die Geschichte, der Schmerz oder der Erfolg? Gott allein weiß es. Vor den Blicken tut sich ein unermeßliches Bild auf, denn das Wesen eines Volkes ist wie das Wesen einer einzelnen Person: sein Charakter ist sein Schicksal.« Es ist höchst bezeichnend für Wassermann, daß historische Fragen letztlich doch aus einer psychologisch einengenden Sicht behandelt werden und ein abstrakter Volkscharakter als unwandelbares Fatum erscheint. So bleibt auch die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft punktuell und moralisierend, der Schluß des Romans, der den Helden als Siedler aufs Land führt, aufgesetzt und schematisch: eine ideologische Apotheose. Ähnlich angelegt ist das Ende des Romans Die Geschichte der jungen Renate Fuchs (1900), der eine Frau in verschiedenen sozialen Rollen zeigt und damit einen querschnittartigen Einblick in das Gesellschaftsgefüge anstrebt. Charakteristisch ist – auch im Hinblick auf Wassermanns späteres Schaffen – eine stellenweise mit sehr groben, fast schon trivialliterarischen Mitteln arbeitende Erzählweise, namentlich aber die jähen, ruckartigen Wandlungen im Verhalten der Romanhelden, die inneren »Erleuchtungen«. Zählt man auch die zahlreichen Passagen mit philosophischem Anspruch hinzu, die Versuche der Gestalten, ihre Weltanschauung mitzuteilen, so überrascht es nicht, daß Wassermann nicht selten als Vorläufer des Expressionismus bezeichnet wird. Sein idealistisches Menschenbild und sein ethisches Pathos nehmen zweifellos Themen der ekstatischen »Menschheitsdichtung« vorweg. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Roman Alexander in Babylon (1905) zu nennen. Sein bestes erzählerisches Werk ist, trotz mancher reißerischer Züge, Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (1908), ein Roman, der in historischem Gewand eine komplexe, unschwer aktualisierbare Problematik abhandelt und wohl unter allen Werken des Autors heute die größten Aussichten hat, erneut kritisches Interesse für dessen Schaffen zu wecken. »In den ersten Sommertagen des Jahres 1828«, so beginnt der Roman, »liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. – Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu er teilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen, und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahintersteckte und sie nur unverstandene Zeichen seiner Angst oder seiner Lust wären.« Die Vermutungen des heutigen Lesers, der Peter Handkes Sprechstück Kaspar (1968) kennt, treffen nicht zu: Wassermanns Werk ist kein anthropologischer Versuch in Romanform, auch keine sprachkritische oder pädagogische Erzählung, sondern ein Roman, der ein in manchen Zügen kritisches Gesellschaftsbild anstrebt, d. h. mit dem zweiten Teil des Titels seine eigentliche Absicht ausdrückt. Die »Trägheit des Herzens«, erkennbar in Teilnahmslosigkeit, Vorurteil, Härte, ist viel mehr der epische Gegenstand als die Hauptgestalt selbst. Diese ist hauptsächlich ein Reagens, das Bewegungen von gesellschaftlicher Bedeutsamkeit auslöst, politische Machenschaften, psychologisches Interesse, Ehrgeiz, Haß, Furcht. Da es dem Autor um ein Zeitbild zu tun ist, bleibt er stofflich weitgehend im Rahmen der authentischen Überlieferung über den historischen Caspar Hauser, übernimmt freilich auch manche kolportagehaften Elemente aus der literarischen Tradition des Stoffes, so die stark auf Spannung zugeschnittenen Schilderungen der Suche nach der geheimnisvollen Identität des Fremdlings – einer Suche, in der sich alle Anzeichen von der Herkunft Caspars als Hinweise auf eine mysteriöse Verschwörung erweisen und die dann doch als ein Kriminalfall ohne Auflösung endet. In seinen besten Teilen beeindruckt der Roman durch seine – allerdings nicht folgerichtig durchgeführte – distanzierende Erzählweise, die versteckte Motive in der Verhaltensweise der Gestalten leicht verfremdet hervortreten läßt. In der Gestaltung der Atmosphäre im Zeitalter der Restauration erinnert der Roman stellenweise an Büchners Woyzeck. Zu den Hauptwerken Wassermanns zählt auch der 1915 veröffentlichte Musikerroman Das Gänsemännchen, der bei der Kritik später den Vergleich mit Thomas Manns Doktor Faustus (1947) provoziert hat. Eher wäre freilich ein Vergleich mit einzelnen Bänden von Romain Rollands Jean-Christophe sinnvoll. Im Gegensatz zu Thomas Manns geschichts- und kunstphilosophischer Konzeption beschränkt sich das ältere Werk, das ja in einem ganz anderen historischen Kontext entstanden ist, auf eine mehr oder minder private, individualpsychologische Sicht. Das Werk unterscheidet sich damit kaum von anderen Künstlerromanen der Zeit nach 1900. Bestimmend bleibt die Spannung zwischen dem begabten, herausragenden, aber zugleich auch problematischen einzelnen und der Umwelt, die zumeist als beschränkt oder gehässig dargestellt wird. »Und es graute Daniel vor diesen Menschen«, heißt es im Kapitel ›Erinnerung an eine Traumgestalt‹, »vor ihren Geschäften, ihren Vergnügungen und den Kadavern ihrer Ideale. Es graute ihm vor ihrem Lachen und vor ihrer Trübseligkeit, vor den Stuben, aus denen sie krochen, vor den Spionen an ihren Fenstern, vor ihren Metzgerläden und Gasthäusern und Zeitungen, vor ihren Sonntagen und ihren Werktagen.« Trotz Wassermanns Versuch, den zeitgeschichtlichen Hintergrund erkennbar zu machen, bleiben viele Episoden und Details unanschaulich, bloß behauptet, abstrakt wie das gesamte Künstlerdasein Daniel Nothaffts. Auch am Ende erkennt man nicht die Notwendigkeit der moralischen Katharsis, die den Helden dazu führt, sein bisheriges Leben als exzentrisch und eitel zu verdammen: seine Rückkehr in den stillen Alltag seines Heimatortes bedeutet nur Verzicht auf Künstlerruhm; durch seine Schüler, die ihm gefolgt sind, bleibt er jedoch im Bannkreis der Musik. Eine Antwort auf die Frage, worin der Sinn der resignierenden Versöhnung mit der – im Kern unveränderten – Umwelt liegt, bleibt der Roman schuldig. Die Schlußwendung im Zeichen des Verzichts und einer symbolhaften Heimkehr drängt den Vergleich mit Hesses Peter Camenzind auf – wobei sich eine für die Romankunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts typische Schlußformel deutlich abzeichnet. Unter Wassermanns essayistischen Arbeiten der Vorkriegszeit verdient die Schrift Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit (1910) besondere Beachtung, weil darin eine kulturphilosophische Theorie des Gegensatzes zwischen »Dichter« und »Schriftsteller« versucht wird. Der große Essay ist eines der wichtigsten neueren Zeugnisse in der Geschichte der für die deutsche literarische Tradition seit Schiller so bezeichnenden Typologie. Auch Wassermann – der von nationalkonservativen Kritikern selbst als bloßer Literat abgetan wurde – sieht den Gegensatz in der Spannung zwischen aufklärerischem Rationalismus und mythenbildendem Künstlertum begründet und beurteilt das Ideale setzende »Dichtertum« als die höhere schöpferische Leistung. Die nur wenige Jahre später entstandenen Betrachtungen eines Unpolitischen Thomas Manns nehmen dieses Thema wiederum auf, bekunden aber trotz aller Abneigung gegenüber dem »Literaten« eine differenziertere Haltung. Nach dem Krieg versuchte Wassermann in einer autobiographischen Schrift (Mein Weg als Deutscher und Jude, 1921) die gesellschaftliche Problematik der Integration aus persönlicher Sicht zu behandeln.