SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Botschafter Dr. Rostislav Sergeev Durchbruch bei den Moskauer Verhandlungen im April 1955 Zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages Der 11. April 1955 war trüb und kalt. Der Regen, der fiel, war mit Schnee vermischt. Der Himmel über dem, an der Leningrader Chaussee gelegenen Zentralflughafen Moskaus war mit einem grauen Dunstschleier überdeckt. In der Nähe der kleinen, meteorologischen Station, in deren Erdgeschoß sich der Empfangssaal für Regierungsdelegationen befand (an diesem Standort befindet sich heute ein modernes Hotel) hatten sich die Mitglieder der Regierungsdelegation der UdSSR zum Empfang der Regierungsdelegation Österreichs versammelt. Unter den Wartenden befanden sich die Mitglieder des Präsidiums des ZK der KPdSU und Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, W.M. Molotow und A.I. Mikojan, der Minister für Außenhandel I.G. Kabanow, der Stellvertreter des Außenministers W.S. Semjenow, der sowjetische Oberste Kommissar in Österreich, I.I. Iljitschow, der Leiter der Europäischen Abteilung im MID (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten) der UdSSR S.G. Lapin und andere verantwortliche Mitarbeiter der MID. Das aus Wien ankommende Flugzeug IL14 fuhr langsam zur Gruppe der Wartenden. Von Bord des Flugzeuges kamen der Bundeskanzler Österreichs J. Raab, der Vizekanzler A. Schärf, der Außenminister L. Figl, der Staatssekretär B. Kreisky und andere begleitende Personen. Die Wartenden begrüßten die Ankommenden. Unter Marschmusik schritten J. Raab, W.M. Molotow und A.I. Mikojan eine angetretene Ehrenwache der Einheiten der Moskauer Garnison ab. Es wurden die Nationalhymnen Österreichs und der UdSSR gespielt. Nach der feierlichen Zeremonie fand ein kurze Beratung über den Ablauf der Verhandlungen statt. Nach einem sechsstündigen Flug (damals dauerte ein Flug von Wien nach Moskau so lange) wurde den Gästen vorgeschlagen, sich etwas zu erholen und die offiziellen Gespräche am nächsten Tag zu beginnen. Am Morgen des 12. April fanden die Besuche der österreichischen Delegation bei dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR N.A. Bulganin und bei W.M. Molotow statt. So begannen die Verhandlungen, die zur Unterschrift des Österreichischen Staatsvertrages führten. Bis 1955 befand sich die österreichische Frage schon 8 Jahre im Gespräch, in dieser Zeit fanden ungefähr 400 Treffen und Sitzungen statt. Auf der Berliner Konferenz der Außenminister der UdSSR, Großbritanniens, der USA und Frankreichs unter Teilnahme Österreichs im Februar 1954 wurde keine Einigung über die österreichische Frage erreicht. Die Westmächte wollten keinen Friedensvertrag mit Deutschland unterschreiben und waren gegen eine Wiedervereinigung, die Sowjetunion hielt eine Lösung der österreichischen Frage ohne Lösung des deutschen Problems, das auch ein Verbot einer Annexion Österreichs beinhaltete, für unmöglich. Sergejev, Rostislav Alexandrowitsch, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter, Vorsitzender des Rates für Umweltsicherheit der Außenpolitischen Assoziation, von 1953 bis 1959 Teilnehmer and den Verhandlungen und Gesprächen zur Beilegung der Nachkriegsprobleme der österreichischen und deutschen Fragen. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 1 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Hitlerdeutschland und an der Befreiung Österreichs teilnahm, und auf seinem Territorium die Schaffung von ausländischen Militärbasen nicht zuzulassen. Zur schnellsten Beilegung der österreichischen Frage schlug die sowjetische Regierung die Einberufung einer Beratung der Vier-Mächte vor, die den Abschluss des österreichischen Staatsvertrages behandeln sollte. In der Mitteilung wurde darauf verwiesen, dass die Ratifizierung der Pariser Abkommen, die einen Weg für die Wiedergeburt des Militarismus Westdeutschlands darstellt, eine ernsthafte Gefahr für eine Annexion darstellen würde. Der österreichische Botschafter N. Bischoff bat sofort nach dem Bericht Molotows um Erläuterung der sowjetischen Vorschläge im MID der UdSSR. In Unterredungen mit W.M. Molotow im Februar und März wurden diese Erläuterungen gegeben. Im Einzelnen teilte der Minister mit, dass die sowjetische Seite die Lösung der Frage über Österreich nicht von der Lösung der deutschen Frage abhängig macht, und nur auf den Zusammenhang hinweise, der natürlich zwischen diesen beiden Fragen bestehe. In Wien hatte man verstanden, dass somit die sowjetische Seite einen wichtigen Schritt vorwärts gemacht hatte. Mitte März teilte die Regierung Österreichs mit, dass das Land nicht die Absicht hat, sich einer militärischen Vereinigung anzuschließen oder die Gründung von Militärbasen auf seinem Territorium zuzulassen. Gleichzeitig mit der Sondierung, welche der Botschafter Österreichs im MID der UdSSR durchführte, wurde im ZK der KPdSU die Frage von zweiseitigen Gesprächen mit Österreich und der Einladung einer österreichischen Regierungsdelegation nach Moskau besprochen. Von Februar bis April 1955 richtete das MID der UdSSR mehrere Denkschriften zur österreichischen Frage an das ZK der KPdSU. Im Präsidium des ZK der KPdSU wurde die Frage über die Frist des Abzuges der Truppen erörtert. In der ersten Denkschrift wurde ein Zeitraum von 36 Monaten vorgeschlagen. Später wurde er gekürzt. Außerdem wurde die Möglichkeit des Einmarsches von Streitkräften im Falle der Gefahr einer Annexion oder der Verwendung des Territoriums Österreichs zu militärischen Zielen gegen einen der Staaten der Antihitlerkoalition vorgesehen, aber auch die Aufrechterhaltung eines begrenzten Kontingents sowjetischer Streitkräfte für 7 Jahre. Die gegenseitigen sowjetisch-österreichischen Sondierungen setzten sich fort, unabhängig davon, dass in der BRD und Frankreich im Februar-März 1955 die Ratifizierung der Pariser Abkommen erfolgte. Das Präsidium des ZK der KPdSU beschloss Ende Februar, im Falle des positiven Ausgangs der Sondierungstreffen mit der österreichischen Seite zweiseitige Gespräche mit Einladung einer Regierungsdelegation nach Moskau zu beginnen. Die Die österreichische Seite nahm nicht sofort den sowjetischen Vorschlag an. Mitte März teilte Wien mit, dass „eine endgültige Lösung der österreichischen Frage durch eine Konferenz aller interessierten Staaten unter Teilnahme Österreichs gefunden werden kann“. Gleichzeitig hat man sich dafür ausgesprochen, die durch die sowjetische Seite aufgeworfenen Fragen zu klären (über die Gefahr eines Anschlusses, über den Nichtbeitritt zu militärischen Bündnissen und die Nichtzulassung von Militärbasen). Die Westmächte sperrten sich wie früher gegen bilaterale sowjetisch-österreichische Gespräche, da sie befürchteten, dass ein möglicher erfolg in der österreichischen Frage Einfluss auf das deutsche Problem hat. Trotzdem setzte sich der zweiseitige Meinungsaustausch zwischen Moskau und Wien fort. Am 24. März 1955 überreichte Molotow den österreichischen Botschafter N. Bischoff ein Dokument der Regierung der UdSSR, in welchem das Einverständnis mit den Positionen erklärt wurde, die in der Erklärung der Regierung Österreichs von Mitte März zum Ausdruck gebracht wurden. Im Laufe des stattgefundenen Gespräches wurde dem Bundeskanzler J. Raab und anderen Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 2 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Repräsentanten Österreichs der Vorschlag gemacht, nach Moskau zu kommen „um den persönlichen Kontakt zwischen den führenden Persönlichkeiten der Sowjetunion und Österreich herzustellen“. Es wurde bestätigt, dass die „sowjetische Regierung bereit ist die Frage über den österreichischen Vertrag auf einer Viermächtekonferenz mit Beteiligung Österreichs gesondert behandelt werde“. Am 29. März 1955 wurde in Wien der Beschluss gefasst, eine Regierungsdelegation zu Gesprächen nach Moskau zu entsenden. Anfang April rief mich der Assistent des Ministers I.M. Lawrow an und teilte mir mit, dass die Führung mich zu sich rief. Nach einigen Minuten trat ich in das Büro des Ministers ein, welches in der siebten Etage im Haus am Smolensker Platz gelegen ist. W.M. Molotow sagte mir, dass ich zum Dolmetscher der sowjetischen Delegation bei den sowjetisch-österreichischen Verhandlungen berufen bin, die am 11. April beginnen. An den verbleibenden Tagen machte ich mich mit den Materialien für die Verhandlungen vertraut, besonders mit denen, die die Aussagen der österreichischen Staatsmänner und Führer anderer Staaten hinsichtlich der Neutralität Österreichs betrafen. Darüber sprach im einzelnen J. Raab im Gespräch mit dem Botschafter der UdSSR zu Österreich I.I. Iljitschew am 5. März 1955. Der Bundeskanzler bemerkte unter anderem, bei der österreichischen Regierung „gewinne die Idee der Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz zunehmend Anhang“. Der sowjetischen Verwaltung war es bekannt, dass die Einsprüche gegen die Aufstellung des Status eines neutralen Staates Österreich nicht von der österreichischen Seite und nicht von der österreichischen Regierung stammten, sondern von der Seite der Westmächte. Die Staatsbeamten Österreichs, insbesondere die führenden Kräfte der Sozialistischen Partei befürchteten, dass sie die Unterstützung des Westens verlieren könnten. Die erste Sitzung der Regierungsdelegation der UdSSR und Österreichs fand am 12. April im Kabinett Molotows im Kreml statt. Auf der einen Seite des großen Tisches saßen W.M. Molotow, A.I. Mikojan, I.G. Kabanow, W.S. Semjenow, I.I. Iljitschow, S.G. lapin, M.G. Gribanow (Stellvertreter des Leiters der III. Europäischen Abteilung). Auf österreichischer Seite befanden sich am Tisch J. Raab, A. Schärf, L. Figl, B. Kreisky, Botschafter N. Bischoff, Gesandter K. Schöner, Gesandter S. Verosta. Dolmetscher der österreichischen Delegation war W. Kindermann. Während der Gespräche war das Nachbarzimmer den Referenten für Österreich der II. Europäischen Abteilung des Außenministeriums MID mit A.M. Alexandrow - Agentow an der Spitze zugeteilt. Nach der Begrüßung richtete Molotow einleitende Worte an die Anwesenden. Er sagte, dass die Angelegenheit der Beilegung der österreichschen Frage hinreichend vorbereitet ist. Obwohl die Unterzeichnung des Staatsvertrages mit Österreich Sache der vier Mächte und Österreichs ist und nicht nur der zwei Seiten UdSSR und Österreich, erleichtert dies den Abschluss eines Vertrages, wenn die Vertreter der Sowjetunion und Österreichs eine gemeinsame Grundlage in dieser Frage finden. Der Minister unterstrich, dass die Sowjetunion davon überzeugt sein muss, dass Österreich nicht Aufmarschbasis für irgendwelche Arten von Militärmanövern wird, da die historische Erfahrung an das Streben anderer Staaten in der Vergangenheit erinnert, dieses Land in ihre Waffe für das Betreiben einer aggressiven Politik umzuwandeln. Sich zu Wort meldend stellte J. Raab fest, dass der vorhandene Vertragsentwurf früher als Grundlage genommen wurde. Wie auf der Berliner Konferenz als auch nach ihr hat die österreichische Regierung offiziell mitgeteilt, setzte J. Raab fort, dass sich Österreich auch nicht irgendeinem Militärbündnis anschließen würde und wünscht von Militärkoalitionen frei zu sein. Die Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 3 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA österreichische Seite würde gern wissen wollen, wie die sowjetische Delegation sich die Frage der Sicherheit Österreichs und die Garantie der Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen vorstelle. Molotow verwies auf den Bericht der sowjetischen Regierung von 8. Februar 1955, den er auf der Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR vortrug. In den Vorgesprächen mit dem österreichischen Botschafter N. Bischoff, bemerkte er, wurden einige Fragen, die mit den sowjetischen Fragen vom 8. Februar verbunden sind, präzisiert. Ein Teil der Fragen blieb unbeantwortet und die sowjetische Delegation würde gern die Meinung der österreichischen Seite zu diesen Fragen erfahren. Der Minister hatte die Garantie und die Gewährleistung der Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs gegen den Anschluss und die Ergreifung entsprechender Maßnahmen gegen diese im Auge, darunter auch die Neutralität. J. Raab bezog sich auf Artikel 17 des Vertragsentwurfes, welcher ein bestimmtes Kontingent an Streitkräften vorsah, die dem Schutz der Unabhängigkeit Österreichs dienen sollen. Der österreichische Kanzler stellte fest, dass Österreich zur Remilitarisierung Westdeutschlands keinerlei Beziehungen hat. Die Frage des Anschlusses war auch Inhalt des Saint-Germain-Vertrages (1919), aber er enthielt keine Angaben über Garantien bei einem Anschluss. Als 1938 Deutschland Österreich überfiel, unterstrich J. Raab, haben der englische und der französische Botschafter „nur mit den Achseln gezuckt“ und nichts zum Schutz der Unabhängigkeit Österreichs unternommen. Wenn sich jetzt die vier Mächte zur Frage über die Garantien bei einem Anschluss Österreichs verabreden, so kann die Regierung Österreichs auch für die Festlegung eines genauen Zeitraumes des Abzugs der Streitkräfte eintreten. Darauf antwortete seinerseits der sowjetische Minister, dass die Zeiträume des Abzuges der Streitkräfte Gegenstand der gegenwärtigen Verhandlungen sind. Weiter wurde die Frage der Garantien beraten. W. Molotow brachte die Meinung zum Ausdruck, dass die österreichische Regierung eine konkrete Mitteilung machen könnte, dass sie an der Neutralität festhalten wird und keine Errichtung von Militärbasen auf seinem Territorium zulassen wird. Die vier Mächte könnten ihrerseits auch die Garantie geben, dass sie solch einen Status Österreichs anerkennen werden. J. Raab sagte, dass die österreichische Regierung mitteilen könnte, dass sein Land keinem Militärbündnis beitritt und dass sie gegen ausländische Militärbasen auf dem Territorium Österreichs ist. Dabei machte er wieder eine Bemerkung, dass die Delegation die Frage über die Mitteilung einer Gesamtansicht hinsichtlich der Neutralität noch beraten muss. „Wir versuchen eine Formulierung zu finden und sie möglicherweise schon morgen darzulegen“, sagte er. W. Molotow äußerte die Meinung, dass „wenn eine Übereinkunft über eine konkrete Erklärung über Wahrung der Neutralität erfolgt, könnten alle übrigen Fragen ohne Schwierigkeiten gelöst werden.“ Die Seiten streiften danach die Fragen der Streichung einiger veralteter Thesen aus dem Entwurf des Staatsvertrages oder wie J. Raab sie nannte „alter Möbel“. Mit diesem und damit einverstanden, dass die österreichische Regierung an die vier Mächte einen Vorschlag zum Treffen und zur endgültigen Vorbereitung eines Staatsvertrages richten würde, unterstrich W. Molotow, dass vor diesem Treffen die vier Mächte eine gemeinsame Plattform finden müssen. Die sowjetische Regierung ist sehr interessiert an einer entsprechenden Mitteilung, sowohl von der österreichischen Regierung als auch von den vier Mächten. Die Sitzung wurde damit beendet, dass die sowjetische Seite die Frage zur Übergabe des Deutschen Eigentums, welches sich auf dem Territorium Österreichs befindet, an die österreichische Regierung unter der Bedingung der Zahlung von 150 Mio. Dollar und der Nichtzulassung der Rückgabe dieses Eigentums an Deutschland, wie es im Entwurf des Staatsvertrages lautet, stellte. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 4 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Die sowjetische Seite teilte auch mit, dass sie bereit ist, die Frage der Übergabe von Erdölquellen und der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft an Österreich zu beraten, die Eigentum der UdSSR sind, zu Bedingungen, die noch festgelegt werden müssen. Zum Abschluss der ersten Sitzung äußerten beide Seiten die Meinung, dass die Gespräche einen guten Anfang gefunden hätten. Abends (um 18 Uhr) am 12. April wurde ein großer Empfang zu Ehren der österreichischen Delegation in der Villa des MID gegeben, auf dem sowjetische Staatsmänner und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Gelehrte sowie Persönlichkeiten aus der Kultur anwesend waren. Unter den Gästen war auch der Marschall der Sowjetunion I.S. Konjew, andere sowjetische Militärführer, die an der Befreiung Österreichs teilnahmen. Anschließend gab es am gleichen Tag um 20:30 Uhr in der österreichischen Botschaft ein Essen zu Ehren der sowjetischen Delegation. Normalerweise versendet der Botschafter für eine solche Art von Veranstaltung Einladungen an alle Mitglieder der obersten Führung des Aufenthaltslandes, besucht wird solch eine Protokollveranstaltung aber nur von Personen, welche an den Gesprächen teilnehmen. Für dieses Mal geschah für den österreichischen Botschafter etwas Unerwartetes. In die Botschaft kamen neben W.M. Molotow und A.I. Mikojan der Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR N.A. Bulganin, die Mitglieder des Präsidiums des ZK der KPdSU L.M. Kaganowitsch, M.G. Perwuchin und A.I. Kossygin. Aus dem ovalen Saal der Botschaft, wo sich die Gäste einfanden, konnte man sehen, wie der österreichische Botschafter und der Protokollattaché im Nachbarsaal eilig Änderungen in der Sitzordnung am Esstisch vornahmen, in dem sie Namenskarten mit den unerwarteten Gästen und Bestecke ergänzten. An diesem Abend sprachen die Hausherren und die Gäste über den Verlauf der Gespräche. Schwerpunkt war die Wichtigkeit des Beschlusses über den Neutralitätsstatus Österreichs. In irgendeinem Moment entfernten sich J. Raab, N. Bulganin und N. Bischoff aus dem ovalen Saal in ein Kabinett. Nach ungefähr 20 Minuten kamen sie zu den Gästen zurück und Bulganin sagte zu den Gästen im ovalen Saal hinwendend „Alles läuft gut“. Am nächsten Tag, dem 13. April, versammelten sich die Delegationen in voller Zusammensetzung in der Villa des MID der UdSSR in der A. Tolstoi Strasse (heute Spiridonowka Strasse). Hauptsache waren die Fragen der Neutralität Österreichs und die Bedingungen bei der Rückgabe der Erdölquellen an das Land. Die österreichische Seite brachte erneut Formulierungen ein: „Freiheit von Militärbündnissen“ und „Nichtzulassung von ausländischen Militärstützpunkten auf dem österreichischen Territorium“. Ungeachtet der allgemeinen Aussagen hinsichtlich der Neutralität, die am Vorabend von der österreichischen Seite gemacht wurden, erwähnte die österreichische Delegation dieses Mal am Anfang nichts davon. W.M. Molotow zitierte ein gewichtiges Argument zugunsten der Neutralität Österreichs erklang in einer Erklärung von J.F. Dulles auf der Berliner Konferenz am 13. Februar 1954: „Im österreichischen Staatsvertrag in der Form, in der er bisher verfasst war, würde Österreich die Freiheit haben, die Stellung eines neutralen Staates ähnlich der Schweiz zu wählen. Selbstverständlich würden die Vereinigten Staaten diese Wahl anerkennen, wie sie auch solch eine Wahl der schweizer Nation honoriert. Herr Dulles Dulles hat weiter festgestellt, dass eine von außen aufgezwungene Neutralität nicht annehmbar sei. Die Sowjetunion schlägt so etwas auch nicht vor, unterstrich W. Molotow. Sie wünscht, dass die österreichische Regierung von sich aus eine Erklärung abgibt. Molotow zitierte die Aussagen des amtierenden Präsidenten Österreichs T. Körner, die noch im Jahre 1952 in der Zeitung „Journal de Genéve“ gemacht wurden und der sagte: „Was die endgültige Befreiung Österreichs anbelangt, so ist die Schweiz ein Beispiel politischer Weisheit.“ Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 5 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Der Verweis Molotows auf die Aussage J.F. Dulles und T. Körner war wichtig für einen Teil der Mitglieder der österreichischen Delegation, welche eine negative Reaktion der Westmächte vor Augen hatten. A. Schärf und L. Figl stellten eine Reihe präzisierender Fragen. Die Österreicher fragten, ob nicht Schwierigkeiten in den Beziehungen mit den drei Westmächten hinsichtlich des Begriffes „Neutralität“ auftreten würden, ob er Anlass für das Hinziehen des Abschlusses eines österreichischen Vertrages sein könnte. Gerade deshalb, sagten sie, legt die Delegation solch eine politische Position dar, welche im Wesen bedeutet, dass Österreich die Neutralität einhalten wird, das Wort „Neutralität“ selbst aber nicht verwendet. Die sowjetischen Delegierten äußerten ihre Überzeugung, dass die Verwendung des Begriffes „Neutralität“ durch die Regierung Österreichs in ihrer Deklaration keine Erschwernisse hervorrufen wird. In diesem Moment bat J. Raab eine 15-20-minütige Pause zu machen, um innerhalb der Delegation diese Frage zu beraten. Die österreichische Delegation entfernte sich in das Nachbarkabinett (dort wo die Bilder von Michael Wrubel „Morgen“, „Mittag“ und „Nacht“ hängen). Nach 15 Minuten kehrten die Österreicher in den Saal zurück und J. Raab teilte mit, das die österreichische Delegation beschloss, dass die österreichische Bundesregierung eine gesonderte Deklaration über die Neutralität Österreichs der Art abgeben werde, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird. Eine wichtige Frage der Verhandlungen war damit entschieden. Weiter gingen die Delegationen zur Beratung der Frage der Bedingungen der Übergabe der Erdölfelder an Österreich über. Die sowjetische Seite nannte einen Wert dieser Objekte in Höhe von 72 Mio. Dollar. Es entstand eine Diskussion hinsichtlich der Richtigkeit der Wertsumme der Erdölquellen. J. Raab verwies darauf, dass die Erdölquellen schon 10 Jahre genutzt werden und wahrscheinlich stark verschlissen sind. Es wurde beschlossen, die wirtschaftlichen Fragen auf einem gesonderten Treffen zwischen A.I. Mikojan und der österreichischen Delegation zu behandeln (dieses Treffen fand noch am gleichen Tag statt, aber brachte kein Ergebnis). Danach gingen die Seiten zur Beratung der Frage des Zeitraumes des Abzugs der Streitkräfte der Verbündeten au Österreich über. W.M. Molotow schlug einen Zeitraum von 6 Monaten nach Ratifizierung des Staatsvertrages vor. J. Raab und A. Schärf sprachen sich gegen diesen Vorschlag aus. Nach der Diskussion erklärte sich die sowjetische Seite bereit, ihre Truppen im Falle des Zustandekommens des Staatsvertrages spätestens mit 31. Dezember 1955 abzuziehen. Am Ende der Beratung warf die österreichische Delegation die Frage über die Freilassung der österreichischen Kriegsgefangenen und internierten Österreicher in der UdSSR auf. J. Raab teilte mit, dass der Präsident T. Körner einen Brief an den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR K.E. Woroschilov mit der Bitte der Begnadigung der genannten Personen gerichtet hatte. Noch am selben Tag empfing dieser die österreichische Delegation und versprach, dass das Präsidium des obersten Sowjets die Bitte des österreichischen Präsidenten prüfen wird. Am 14. April fand die abschließende Sitzung, auf der die wirtschaftlichen Fragen und der Entwurf des Abschlussdokumentes der Verhandlungen beraten wurden, statt. Einen bedeutenden Platz nahm die Beratung der Fragen über die Lieferung von Erdöl an die UdSSR als Bezahlung für die an Österreich übergebenen Erdölquellen ein. Die sowjetische Seite schlug eine jährliche Lieferung von 50% (1,6Mio t) des geförderten Erdöls an die UdSSR über 6 Jahre vor und 6 Jahre lang jeweils 5% zuzuschlagen. Dies hätte mehr als 11 Mio. Tonnen innerhalb von 6 Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 6 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Jahren bedeuten können. Die österreichische Seite teilte mit, dass dieser Vorschlag schwer für Österreich wird. Im Laufe der Diskussion stellte A.I. Mikojan fest, dass es zwei Möglichkeiten für ein Herangehen an die Fragen gibt, bis zur Ohnmacht zu verhandeln oder sachlich an die Frage heranzugehen. Molotow sagte, dass wenn es für Österreich schwer ist, 50% der Ausbeute über 6 Jahre zu liefern, dass dann die sowjetische Seite ausgehend von der Zielstellung der Verbesserung der Beziehungen zwischen der UdSSR und Österreich bereit ist, eine feste Lieferung für jedes Jahr zu vereinbaren. J. Raab bat wieder um eine Pause (das zweite Mal in der Zeit der Verhandlungen), um innerhalb der österreichischen Delegation eine Beratung durchführen zu können. Nach dieser Pause teilte die österreichische Delegation mit, dass Wien bereit ist jährlich 10 Mio. Tonnen Rohöl an die Sowjetunion über einen Zeitraum von 10 Jahren zu liefern „solange die Quellen des Öls nicht versiegen“. Darauf teilte die sowjetische Delegation mit, dass sie mit Ausnahme der ergänzenden Bemerkung der österreichischen Delegation „solange die Quellen des Öls nicht versiegen“, bereit ist, vor ihrer Regierung den Vorschlag, über einen Zeitraum von 10 Jahren 10 Mio. Tonnen Erdöl an die UdSSR zu liefern, bereit ist zu unterstützen. Dabei wurde unterstrichen, dass sich die sowjetische Delegation nicht nur on wirtschaftlichen sondern hauptsächlich von politischen Gesichtspunkten leiten ließ. Die österreichische Delegation gab ihre Zustimmung. Im Zusammenhang mit dem Besuch der österreichischen Delegation bei K.E. Woroschilov teilte Molotow mit, dass das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Fragen über die Begnadigung der verurteilten Kriegsgefangenen und der internierten Österreicher, die vorfristige Entlassung von 300 österreichischen Kriegsgefangenen, die Übergabe von 92 österreichischen Kriegsverbrechern und von 306 Personen, die wegen Verbrechen gegen den sowjetischen Staat verurteilt sind, über die Ausreise von 17 österreichischen Staatsbürgern, die in der Verbannung leben und die Ausreise von 31 Verurteilten wegen Spionagetätigkeit prüft. Alle Kriegsgefangenen und internierten Österreicher repatriiert sein. W. Molotow übergab eine Liste von Kriegsgefangenen und Inhaftierten. J. Raab brachte seine tiefe Dankbarkeit über diese Mitteilung zum Ausdruck. Als Grundlage für das Abschlussdokument, das Memorandum, wurden Vorschläge der österreichischen Delegation genommen. Sie enthielten: - Die Erklärung über den Nichtbeitritt Österreichs zu Militärbündnissen und die Nichtzulassung von Militärbasen aus seinem Territorium. Die Deklaration der österreichischen Bundesregierung über die immerwährende Neutralität der Art, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird. Die Vereinbarung, über die deutschen Aktiva (Unternehmen) in Österreich, die der UdSSR entsprechend den Vereinbarungen der Siegermächte gehören. Es wurde eine Redaktionskommission gebildet, deren Aufgabe die Vorbereitung des endgültigen Textes des Memorandums über die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Regierungsdelegationen der Sowjetunion und der Republik Österreich war. Die Kommission arbeitete am 14. April und in der Nacht vom 14. zum 15. April. Abends am 14. April fand im Katharinen-Saal des großen Kremlpalastes ein Essen auf Einladung des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR statt. An dem Essen nahm für die Österreicher überraschend der 1. Sekretär des ZK der KPdSU N.S. Chruschtschow teil. Die Tische waren, wie Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 7 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA für solche Fälle üblich, reichlich mit verschiedenen russischen Vorspeisen und Gerichten gedeckt. Die Stimmung bei beiden Seiten war feierlich. Besonders tat sich N.S. Chruschtschow hervor, welcher einen Toast nach dem anderen vorbrachte. Das Essen endete vor Mitternacht mit freundschaftlichem Händedrücken und Umarmungen. Über den Zustand der Gäste zeugt diese Episode. Nachdem ein aus dem Saal kommender Österreicher fast an einen die gesamte Wand einnehmenden Spiegel am Ausgang des Katharinen-Saals gestoßen hätte, wenn nicht ein diensthabender Mitarbeiter am Eingang mit einer gewandten Bewegung der Hand den unvermeidbaren Zusammenstoß aufgehalten hätte. Die offiziellen österreichischen Gäste waren gegangen. Ihnen folgte Molotow. Im Gästezimmer des Katharinen-Saals verblieben N.S. Chruschtschow, N.A. Bulganin, A.I. Mikojan und leitende Mitarbeiter des MID – A.A. Gromyko, W.W. Kusnetzov, W.A. Sorin, W.S. Semjenov, I.I. Iljitschov, S.G. Lapin, O.A. Trojanowskij, M.G. Gribanov. N.S. Chruschtschow begann plötzlich, den Mitarbeitern des MID für ihre Initiativlosigkeit in der österreichischen und anderen Fragen der Außenpolitik die Leviten zu lesen. Sich an Gromyko wendend sagte er, dass er schon längere Zeit in Gesprächen mit den Westmächten über die Abrüstung die Formel über die Kürzung der Streitkräfte um ein Drittel verwendet wird, diese aber absolute Zahlen der Kürzung vorschlagen, die viel kleiner sind als das von uns geforderte Drittel. Sich zu W.W. Kusnetzov drehend fragte ihn Chruschtschow: „Wozu haben wir Sie ins MID geschickt, doch für Parteiarbeit! Sie aber verstecken sich hinter dem Minister, der uns die ganze Zeit erzählt, dass man sich nicht beeilen soll. Kann es sein, dass die Treue älterer Mitarbeiter des MID zu ihrer Behörde stärker als Parteilichkeit ist?“ Einige schroffe Bemerkungen machte Chruschtschow auch an die Adresse von W.S. Semjenow. Das war das erste Mal, dass sich N.S. Chruschtschow öffentlich, wenn auch in einem begrenzten Kreis von Leuten, kritisch an die Adresse W.M. Molotows gewandt hatte. Später, wie bekannt ist, missbilligte Chruschtschow die Arbeit Molotows auf dem Plenum des ZK der KPdSU. Für jeden Anwesenden wurde klar, dass es zwischen Chruschtschow und Molotow erste Differenzen gibt und dass Chruschtschow auch in Fragen internationaler Angelegenheiten zu führenden Figur wird. Am Morgen des 15. April fand die feierliche Unterzeichnung des Memorandums im Kremlkabinett von Molotow statt. Danach begaben sich beide Delegationen zum Zentralflughafen. Der Ablauf der Verabschiedung war wie bei der Ankunft: Abschreiten einer Ehrenwache, Abspielen der Nationalhymnen. Auf dem Flughafen teilte J. Raab mit, dass die Mitglieder der österreichischen Delegation als „glückliche Menschen“ nach Wien zurückkehren und dass „in Moskau eine gute Arbeit geleistet wurde, die eine große Bedeutung für den Frieden hat“. Der in Moskau über die österreichische Frage erreichte Durchbruch in den Verhandlungen schuf die Bedingungen für den baldigen Abschluss der Verhandlungen der vier Mächte und Österreich, sowie die Unterzeichnung des Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich in Wien am 15. Mai 1955, wie auch die Annahme des Verfassungsgesetzes über die Staatsneutralität vom österreichischen Bundestag am 26. Oktober 1955. Das ist der Verdienst der Verhandlungsteilnehmer und, in erster Linie, der österreichischen Delegation, geführt von dem Bundeskanzler, Julius Raab, die ihren Willen zur Selbständigkeit bei Beschlussfassungen während der Verhandlungen in Moskau bekundet hatten. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 8