1 * Dies ist eine aktualisierte Fassung des Aufsatzes Wer fürchtet sich vorm Muselmann? Über Islamonoia, erschienen im Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik (1/25. Jg. 2008). Die Thematik wurde auch in Seelenpolitik. Über die Seele und andere Selbst-Differenzen (Wien 2009) behandelt. Gerhard Burda: Islam::Angst „Der gegenwärtige Zustand der Welt ist kein Krieg der Zivilisationen, sondern ein Bürgerkrieg: der Krieg im Inneren einer Bürgerschaft, einer Zivilität, einer Städterschaft, die im Begriff sind, sich bis an die Grenzen der Welt auszudehnen und infolgedessen bis ans Äußerste ihrer eigenen Konzepte. Am äußersten Ende zerbricht ein Konzept, zerspringt eine überdehnte Figur, kommt eine Kluft zum Vorschein.“ Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft Vorbemerkungen Ich möchte die Thematik Islam und Angst vor dem Hintergrund zweier theoretischer Konzepte behandeln: 1) Erstens das Konzept einer ethischen Urszene1: Ich verwende diesen von der Psychoanalyse angeregten Begriff zur Bezeichnung dreier Grunddynamiken oder Bindekräfte (Ligaturen) des Ethischen oder Wünschenswerten. Diese drei sind der ethische Raum, das ethische Gesetz und das Begehren2. In der Geschichte der Ethik stehen jeweils unterschiedliche Aspekte dieser Urszene im Zentrum der Suche nach dem Guten: Manche Ethiken stellen den Raum bzw. die Gemeinschaft (Aristoteles, Utilitarismus, Kommunitarismus), manche das Gesetz (Kant, Rawls), andere wiederum das Individuum (Nietzsche, Jung) ins Zentrum ethischen Interesses. Interessant ist nun, dass die dabei jeweils untergeordneten oder gar bekämpften Aspekte sehr wohl vorausgesetzt werden. Man könnte diesbezüglich von einem Unbewussten der Ethik3 sprechen. Unabhängig davon, ob nämlich eine dieser ethischen Grunddynamiken ausgeblendet oder unterdrückt wird, setzt jede Ethik dennoch das voraus, was auszuschließen sie sich anschickt. Auf eine Formel gebracht könnte man sagen, dass jeder ethische Entwurf einen Raum voraussetzt, der von einem das Begehren regelnden Gesetz strukturiert ist. Das gilt nicht nur für philosophische Ethiken, sondern für jede Theorie bzw. Lebenspraxis. Man kann sich das so vorstellen, dass das Individuum zunächst in einen bestimmten historischen und kulturellen Kontext (Raum) hineingeboren wird; dieser Raum wird von einem das individuelle Begehren strukturierenden Gesetz reguliert. Das Gesetz kann dabei repressiv oder ermöglichend auf das Begehren einwirken. Im Zuge seiner Individuation muss sich das 1 Der Begriff Urszene stammt von Freud, der darunter ursprünglich die reale und traumatische Erfahrung des miteinander verbundenen Elternpaares verstand. Er taucht zum ersten Mal in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 2. 5. 1897 auf. Diese frühe Auffassung wird später dadurch erweitert, dass es sich nicht mehr um eine reale Erfahrung handeln muss, sondern dass auch eine Phantasie gemeint sein kann. So spricht Freud 1915 in der Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia davon, dass es um ein „selten vermisstes Stück aus dem Schatz der unbewussten Phantasie“ geht, die man nicht nur beim Neurotiker, sondern „wahrscheinlich bei allen Menschenkindern“ auffinden kann. 2 Beim Raum klingt natürlich das (archetypisch) Mütterliche und beim Gesetz das (archetypisch) Väterliche an. Begehren meint im Anschluss an Lacan keinen blinden Trieb, sondern Motivationen und Strebungen, die immer schon sozial vermittelt sind. 3 Vgl. dazu Burda 2008b. 2 Individuum deshalb erstens mit dem Gesetz auseinandersetzen. Bleibt dies aus, dann unterwirft es sich entweder unreflektiert dem Gesetz oder es verfällt dessen Schatten. In diesem Fall agiert es die Gründungsgewalt des Gesetzes weiter aus oder opponiert dagegen. Zweitens muss es den drohenden Verlust des anderen betrauern können, um den gemeinsam geteilten ethischen und politischen Raum nicht zu zerstören, sondern eigentlich erst zu realisieren4. 2) Zweitens das Konzept der Selbst-Differenz: Dieses stellt eine Verbindung dekonstruktiven Gedankenguts mit dem Selbstkonzept der Analytische Psychologie her und besagt, dass jedes vermeintlich selbstautonome Zentrum (Subjekt, Bewusstsein, Selbst) in einem permanenten Austausch (De-konstitution) mit einem exterioren Anderen begriffen ist. Wird diese wechselseitig voneinander abhängige Dekonstitution von Eigenem und Fremdem in der eigenen Selbst-Differenz realisiert, d.h. erkannt und verwirklicht, dann kann in der Begegnung mit dem anderen eine Konvergenz der Selbst-Differenzen angeregt werden. Wird dies nicht realisiert, und wird vor allem der bedrohliche dekonstituierende Aspekt der eigenen Selbstbildung abgespalten und auf den anderen projiziert, dann wird die gemeinsame Basis der Selbst-Differenz verfehlt und das Selbst als transzendierendes Drittes gefriert in einer letalen Divergenz5. Nach diesen sehr gerafften Vorbemerkungen nun zum eigentlichen Thema6. 1. Islamophobie oder Islamonoia? Seit geraumer Zeit wird im Zusammenhang mit dem Islam das Begriffshybrid Islamophobie7 verwendet, um die irrationale Angst der Bürger westlicher Staaten vor den immer zahlreicher werdenden und ihr „Recht auf Partizipation“ an den Vorteilen demokratischer Regierungsformen und sozialer Partnerschaft geltend machenden Zuwanderern mit muslimischem Hintergrund zu bezeichnen8. Meines Erachtens verschleiert dieser aus einem arabischen und einem griechischen Wort hergestellte Neologismus eine viel elementarere und universale Angst als der Begriff Phobie nahelegt. Die Bezeichnung Islamophobie wirkt wie das paradoxe Symptom einer Verdrängung oder gar Verleugnung: Gerade dadurch, dass eine partikulare Differenz zum anderen (Konfession, Kultur, Sprache etc.) betont wird, wird eine universale Differenz verleugnet: die Differenz im eigenen Inneren, die Selbst-Differenz, die in 4 Etwas abstrakter ausgedrückt: Raum, Gesetz und Begehren sind quasi-transzendentale Bedingungen der Möglichkeit von Ethik, d.h. sie konstituieren einander gegenseitig. Ich bezeichne sie auch als Archethypen (arché und ethos), als ethische Potentiale. Sie stellen keine apriorischen Strukturen dar, sondern bilden sich als Interreferenzen in einem medialen Prozess aus. 5 Unabhängig davon, ob jedoch eine Divergenz oder Konvergenz vorliegt, bilden sich Subjekt, Objekt und Intersubjektivität retroaktiv als phantasmatisch gestützte Interreferenzen in einem medialen Feld aus. Der Mensch ist permanent in vielfältige mediale Prozess eingebunden, er ist selbst mediatisiert (abhängig von anderen) und mediatisierend. Plakativ gesagt: Er ist veränderndes wie verändertes Medium im medialen Feld. 6 Vorausgeschickt werden soll etwas, das Peter Sloterdijk kürzlich als „Blasphemie-Klausel“ bezeichnet hat: die Abmachung, „eine Reihe von Phänomenen, die traditionell dem Bereich der Transzendenz oder des Heiligen zugesprochen wurden, für nicht-religiöse (potentiell lästerlich wirkende, wenngleich nicht so intendierte) Neubeschreibungen freizugeben“ (Sloterdijk 2007b, 17). An andere Bereiche sakraler Rede und religiösen Empfindens soll also ausdrücklich nicht gerührt werden. 7 Siehe z. B. C. A. Baghajatis Artikel Islamophobie. Gedanken zu einem Phänomen (www.derislam.at). 8 Der britische Runnymede Trust definiert 1997 Islamophobia als "the dread or hatred of Islam and therefore, [the] fear and disike of all Muslims". Muslime werden in der Folge vom ökonomischen, sozialen und öffentlichen Leben ausgeschlossen, der Islam gilt eher als politische Ideologie denn als Religion und als inferior gegenüber dem Westen (Quelle: Wikipedia). 3 und mit der Bildung der eigenen Identität gegeben ist. Sie ist genau dasjenige, das man mit dem anderen im Grunde teilt9 und betrifft Nicht-Muslime wie Muslime gleichermaßen. Um sich dieser universalen Angst anzunähern, soll deshalb eine andere Wortschöpfung versucht werden: die Verbindung des arabischen Wortes Islam (Unterwerfung bzw. Hingabe an Gott) mit dem griechischen Wort nous (Verstand, Vernunft, Geist): nicht Islamophobie also, sondern Islamonoia. Kritische Einwände gegen diese Wortschöpfung könnten freilich etwa so lauten: 1) Es wird einmal mehr der Eurozentrismus von Orient und Okzident evoziert, der unter Etiketten wie Kampf der Kulturen, Kampf der Religionen, Parallelgesellschaft, Leitkultur und dergleichen die aktuelle Diskussion bestimmt. Diese Diskussion hat jedoch bereits erwiesen, wie unzulänglich die Begriffe Europa, Okzident, Orient, Islam, Vernunft, Menschenrechte, Kultur usw. sind, solange sie eine geschlossene Einheit meinen, die es als solche nicht gibt: Europa verfügt, ebenso wie „der“ Islam, weder über eine substantielle volkhafte Basis noch über solide Grenzen, noch über eine irgendwie geartete Identität oder gar ein „Wesen“10, und der Universalismus der Vernunft hat sich als doch nicht so universal erwiesen wie ursprünglich behauptet. 2) Verstand, Vernunft und Geist weisen auf eine lange und mindestens ebenso problematische Geschichte hin11 wie der Islam und sind kein Monopol des Abendlandes. 3) Die Bezeichnung Islamonoia erweckt Assoziationen mit bestimmten Krankheitsbildern wie Psychose, Narzissmus, Paranoia usw.; auf einen Nenner gebracht bedarf deren Therapie der Anerkennung der Interdependenz von Eigenem UND Fremden. Der Begriff gibt damit zu bedenken, dass von beiden, von der Vernunft wie vom Islam die Gefahr einer fortschreitenden Traumatisierung12 ausgehen kann. Beide Größen bezeichnen keine geschlossenen Totalitäten, sondern etwas, das durch eine zu allerlei phantasmatischen Schließungen verführende Kluft von sich selbst getrennt ist. Diese Kluft, diese Selbst-Differenz, die sowohl den Islam als auch die Vernunft betrifft, findet sich nicht bloß in einem irgendwie gearteten Äußeren, sondern gerade im Inneren des Glaubens an die je eigene symbolische Wahrheit13. Mit der Nennung Europas im Zusammenhang mit Verstand und Geist kommt also nur scheinbar ein gewisses Ungleichgewicht im Verhältnis von Islam und Vernunft zum Ausdruck, da von Tendenzen die Rede ist, die auch in Europa das Denkklima sowie das politische Tagesgeschehen dominieren. 9 Konversionsbestrebungen oder die Auslöschung des anderen lassen sich so gesehen als paradoxe Figuren einer Wiederaneignung des abgespaltenen Verdrängten verstehen. 10 Freilich wird oft das Gegenteil behauptet, so etwa Hans Küng in Der Islam (2007). 11 Der Name Europa steht gleichermaßen für den Imperialismus einer translatio imperii wie für die Matrix der Moderne, d.h. für eine „Weltgegend, in der auf unverkennbar eigentümliche Weise nach der Wahrheit und nach der Güte des Lebens gefragt worden ist“ (Sloterdijk 2002, 57). Zur Möglichkeit einer „Auto-HeteroDekonstruktion“, die die gleichzeitige „Globalisierung des Europäischen“ und die „Bestreitung des Eurozentrismus“ denkt, siehe Derrida/Roudinesco 2006 (295). 12 Die Bezeichnung Narzissmus fasst sich als geschlossen präsentierende Totalitäten als potentielle Traumaarchive auf. Damit stehen wir vor der Frage, worin das Traumatische tatsächlich bestehen könnte. Narziss ist bekanntlich das Ergebnis einer Vergewaltigung und stellt an uns die Frage, ob es immer nur um ein unsensibles, fremdes Außen, das verantwortlich gemacht werden könnte, gehen kann oder ob es nicht vielmehr um die Lücke im Herzen der Humanität selbst geht. 13 Zieht man die Selbst-Differenz des symbolischen Registers in Betracht, dann wird deutlich, dass es dabei auch um eine Erschöpfung des Einen im Allgemeinen geht: des Einen, dessen Allmacht bereits als Symptom der Kluft und des Traumas gelten kann. 4 Die kritischen Einwände erweisen rasch, dass der Begriff Islamonoia nicht nur den Orient betrifft, sondern auch den Okzident14 und die ethische Urszene der sich über sich selbst aufklärenden Vernunft im Allgemeinen: Es geht damit um eine Differenz stiftende Kraft15, die im Zusammenhang mit der eigenen Selbstbildung steht. Die Grundannahme lautet: Jedes Selbst ist eine Selbst-Differenz 16 und trägt eine dunkle Seite von meist unhinterfragt übernommenen Gründungsmythen und Machtverhältnissen mit sich17. Deshalb wird es notwendig, neben der zu diskutierenden Differenz eine Relation zu betonen. Zugleich mit der Differenz kommt eine universale Dimension der Verbundenheit und Interdependenz ins Spiel. Anerkennt man die Universalität der Selbst-Differenz teilen, dann wäre von beiden Seiten ein Bekenntnis zur je eigenen Selbst-Differenz einzufordern. Dieses Bekenntnis impliziert außer der Frage nach dem Wovor von Ängsten auf einem frühen psychischen Strukturniveau vor allem diejenige nach dem Wer, also nach dem Adressaten. Scheint es nämlich auf den ersten Blick so zu sein, dass es dabei, ähnlich wie beim Begriff Islamophobie, in erster Linie um das westliche Subjekt geht, dessen Islamfeindlichkeit einzig auf irrationalen Ängsten beruht, die einer „Therapie“ bedürfen, so müsste es sich eigentlich erweisen, dass es sich empfiehlt, einen viel größeren Radius abzumessen. Was wäre nämlich, wenn nicht nur Europa mit dem, was es am Islam fürchtet, auf seine „Lücke“ oder seine „Kluft“, also auf das, wodurch es von sich selbst getrennt wird, verwiesen wäre, sondern auch der Islam selbst? Was wäre also, wenn beide im Spiegel des anderen nicht so sehr ihr so oft strapaziertes Anderes, das sie dann einfach integrieren könnten, sondern genau diese Lücke gewahrten, also jenes Trauma der Inhumanität, das der Humanität als solcher inhärent ist? Was wäre, wenn sich Verteidigung und Abwehr in erster Linie gar nicht gegen einen äußeren Aggressor richten würden, sondern gegen denjenigen, der dem eigenen Inneren entspringt? Wir hätten dann exakt jenes Spannungsfeld vor uns, in dem sich intra- und intersubjektive Linien über alle Grenzen hinweg verknoten. Daraus folgte, dass die Diagnose Islamophobie am Kern des Problems ebenso vorbeigeht wie „Therapie“-Empfehlungen, die sich an den anderen richten und dabei den Blick vom je eigenen Traumaarchiv abwenden, um sich selbst als heile und geschlossene Totalität zu immunisieren. Diese Abwehr blendet die eigene Selbst-Differenz aus, sie idealisiert den eigenen Selbstabschluss und dämonisiert den anderen. Um dem entgegenzusteuern, wäre es in Bezug auf den Islam erforderlich, diverse Schichten – 14 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die europäische Renaissance (und damit die europäische Moderne) wesentliche Impulse dem zwischen dem neunten und zwölften Jahrhundert hellenisierten islamischen Rationalismus (Averroes) verdankt, dessen Einfluss im Islam während des Mittelalters zurückwich. 15 Dabei geht es um ein Motiv, das im heutigen Diskurs von Politik, Ethik und Religion(en) schmerzhaft vermisst wird: das Motiv des dekonstruierten Gesetzes, das die Rede von der patriarchalen Gewalt um die alles entscheidende Nuance der Trauer um den toten/getöteten (Über-)Vater ergänzt und jene depressive Verarbeitung ermöglicht, die, um den verlorenen und verlierbaren anderen zentriert, im Kern jeder sinnvollen Rede von Ethik stehen müsste (Burda 2005). Genau diese innere Verarbeitung wird jedoch oft unterlassen und das Traumatische weiter im Außen gesucht und bekämpft. Vgl. dazu auch den totalitären Vernunft- und Tugendkult der bürgerlichen Aufklärung (etwa bei Rousseau). 16 Gemeint ist die Differenz zu sich selbst, die etwa schon der Begriff des Unbwussten evoziert. 17 Das wären dann gerade Denkstile, die sich nach dem Ende der traditionellen Metaphysik in Nachfolge Nietzsches, nach dem Tod des metaphysischen Gottes und der Entzauberung der Welt (Weber) eben aus dieser entwickelt haben: allen voran die Psychoanalyse und ihre Thematisierung des Tandems von (ödipalem) Gesetz und Begehren sowie die spätere Dekonstruktion, die, Luhmann zufolge, genau das tut, „was wir jetzt tun können“ (zit. n. Sloterdijk 2007, 18). Beide Denkstile betonen ein Motiv, das im heutigen angeblich postpatriarchalen Diskurs von Politik, Ethik und Religion(en) schmerzhaft vermisst wird: das Motiv des dekonstruierten Gesetzes, das die Rede von der patriarchalen Gewalt um die alles entscheidende Nuance der Trauer um den toten/getöteten (Über-)Vater ergänzt und jene depressive Verarbeitung ermöglicht, die, um den verlorenen und verlierbaren anderen zentriert, im Kern jeder sinnvollen Rede von Ethik stehen müsste (Burda 2005). Genau diese innere Verarbeitung wird jedoch oft unterlassen und das Traumatische weiter im Außen gesucht und bekämpft. Vgl. dazu auch den totalitären Vernunft- und Tugendkult der bürgerlichen Aufklärung (etwa bei Rousseau). 5 vom äußeren Persona-Islam (Kopftuchdebatte, Beschneidung) bis hin zum inneren, mystischen Islam – hinter sich zu lassen, um einen ignorierten kollektiven Schatten freizulegen. Wir werden uns an diesen Schatten später mit Hilfe einer furchtbaren entmenschlichten Figur aus dem Umfeld des nationalsozialistischen Konzentrationslagers annähern. Dieser begegnen wir nämlich nicht nur in Auschwitz, sondern auch in Guantánamo, Damaskus und Gaza, wir begegnen ihr in Videos, in denen Menschen die Kehle durchgeschnitten oder in denen ihre Tötung gefordert wird, wir begegnen ihr in politischen Hetzreden und überall dort, wo Menschen verbluten, verhungern, unterdrückt, gefoltert und vergessen werden. Und wir begegnen ihr dort, wo mediale Berichterstattung dazu missbraucht wird, die Meinungsbildung zu manipulieren und fragwürdige Allianzen zu verschleiern. 2. Politik, Religion, Ethik Um die Vermutung zu stützen, dass beide Seiten sowohl ihre Selbst-Differenz als auch die Negativität ihrer ethischen Urszene realisieren müssten, möchte ich einen kleinen Streifzug durch aktuelle und historische Denkansätze anschließen. Beginnen wir damit, dass in der gegenwärtigen Diskussion rund um den Islam Politik und Religion für gewöhnlich gegeneinander ausgespielt werden. Einmal steht Politik, dann wieder Religion im Vordergrund. Wenn der Islam nicht nur ein Glaube, sondern auch „ein ethischer Codex sowie eine gesellschaftliche, kulturelle und politische Praxis“ (Allam 2004, 25) ist, so kann er zunächst streng genommen weder auf Politik reduziert noch als eine reine Religion angesehen werden, das heißt als eine Religion, aus deren Essenz sich Ethik und Politik einfach ableiten ließen. Weder das von Islamisten projektierte Welt-Kalifat noch der von gemäßigten Muslimen propagierte postislamistische Reform- oder Euro-Islam18 könnten dann die Antwort auf drängende Zeitfragen sein. Die Antwort auf das von Religion wie Politik gleichermaßen erzeugte Unbehagen könnte vielmehr nur in Form sorgfältiger Differenzierungen erfolgen. Da der Islam nicht nur ein Glaube, sondern auch „ein ethischer Codex sowie eine gesellschaftliche, kulturelle und politische Praxis“ sein soll, ginge es insofern auch um mehr als bloß um Religion, als die Unterwerfung/Hingabe nicht nur gegenüber einer übermenschlichen Autorität gefordert wird, sondern gegenüber anderen Menschen, die sich anschicken, für einen anderen Menschen die höhere Macht darzustellen und auszuüben. Was in der Diskussion meist verfehlt wird, ist, dass das, was – so der säkulare Imperativ – getrennt werden muss, nämlich Politik und Religion, doch auch in der oben beschriebenen Weise in einem gewissen ethischen Verhältnis zueinander gedacht werden muss. Gefordert wäre also eine Sprache der Differenz, die die Paradigmen von Kampf und Dialog sowohl in der Politik als auch in der Religion hinter sich lässt, um die Verantwortung aufgrund eines ethischen Universals19 einzufordern, das die Negation der Inhumanität fordert: Keinem Menschen darf der Status Mensch oder die Mitgliedschaft in der ethischen Gemeinschaft, die participation éthique (Burda 2008b), abgesprochen werden. Diese Differenzierung vermisst man gerade im so genannten Dialog, der unter dem Deckmantel einer Gleichschaltung gegenläufige Sprachcodes20 transportiert. Was den Westen betrifft, so haben sich vor allem postmarxistische Theoretiker kritisch zu dessen multikulturalistischen Gebaren geäußert. Slavoj Žižek etwa bezeichnet den Multikulturalismus – die Vision einer Einheit der Verschiedenartigen: „alle sind gleich, alle 18 Postislamismus: der Übergang vom politischen zu einem modernen und zeitgemäßen Islam. Wird das Traumatische weiter im Außen bekämpft, dann wird der Konflikt auf externe Differenzen verschoben, und gewissermaßen globalisiert, anstatt als universale das heißt von allen Menschen geteilte “agitation and turbulence immanent to any construction of identity“ (Santner 2002) wahrgenommen zu werden. 20 Macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob man „muslimische Österreicher“ oder „österreichische Muslime“ sagt (www.derislam.at)? 19 6 sind verschieden“ (1998, 45) – als die Ideologie des globalen Kapitalismus, die im Grunde auf einer entpolitisierten Ökonomie beruht. Zudem handle es sich dabei um einen spezifischen Rassismus, der seine eigene Position eines die anderen bewertenden privilegierten leeren Platzes der Universalität von keinem positiven partikularen Inhalt verunreinigen lasse (ebd. 73). Politik sei, so wird konstatiert, Post-Politik oder eine nur mehr das Genießen regelnde Politik der jouissance. Ausgelöscht sei vor allem der für das Politische und für die Demokratie konstitutive Antagonismus, also die Wir-Sie-Unterscheidung, die paradoxerweise über den rechten (Mouffe 2006), aber auch über den islamistischen Populismus wieder etabliert wird. Die Auslöschung des Antagonismus ergibt sich aus der „narzisstischen Deformation der kollektiven Psyche“ (Raddatz 2007, 314), die den Islamo- und den Euronarzissmus in stiller Allianz vereinige. Der von expansiv-wirtschaftlichen Interessen geprägte und in Abhängigkeit vom arabischen Öl befindliche Euronarzissmus höhlt damit freilich die Demokratie aus und arbeitet Elementen in die Hand, die unter Demokratie die Herrschaft einer „Mehrheit im Rahmen der Offenbarung“21 verstehen. Von muslimischer Seite her wird die herrschende „Religion“ Europas mitunter als “Demokratismus“, als „moderne“ und „globale Form des Kufr“ („die Leugnung Allahs und seiner Propheten“) bezeichnet. Da Muslime in Europa in der Minderheit sind, wird Europa als Haus des Krieges (dar al-harb) angesehen. Radikalen Ausformungen zufolge gelten die Europäer deshalb als Harbis, die keinerlei Rechte haben und deshalb beispielsweise straflos getötet werden dürfen. Der so genannte Muftismus strebt den „Wandel des westlichen Weltbildes unter dem dominanten Design islamistischer Interessen, der mit Antisemitismus und einer Diffundierung des demokratischen Rechtsstaates durch den islamischen Schariastaat“ (Raddatz 2007, 305) und einer Instrumentalisierung der europäischen „Alt-Gesellschaft“ einhergeht. Diese „AltBevölkerung“ sieht sich freilich mit von den Medien geschickt aufbereiteten Gewaltbekundungen, mit einer drohenden Zuwanderungswelle von außen, mit terroristischen Zellen im Inneren und den vielfältigsten Interessen dienenden Fehlinformationen den Arabischen Frühling betreffend konfrontiert. Zugleich wird sie aufgefordert, Toleranz und Respekt zu entwickeln und sich auf einen schwierigen Dialog einzulassen, der jedoch kaum so genannt werden kann, da jede kritische Äußerung sofort als islamfeindlich, islamophob oder gar rassistisch disqualifiziert. Bassam Tibi, ein deutscher Politologe syrischer Herkunft, hat deshalb schon vor einiger Zeit eine „europäische Leitkultur“ als Gegengewicht zum wertebeliebigen und die Ausbildung von „Parallelgesellschaften“ fördernden Multikulturalismus gefordert. Als geheimes Bindeglied dieser Phalanx von Islamo- und Euronarzissmus wird in Fachkreisen der von offiziellen islamischen Einrichtungen dementierte Antisemitismus – und damit das väterliche, Differenzen stiftende Gesetz – gehandelt. Der Antisemitismus wird dabei als unbewusster modus operandi ausgewiesen, der sich in der Geschichte der führenden europäischen Nationen wie England, Frankreich und Deutschland ebenso wie in der arabischen Welt nachweisen lasse. Operierte Samuel Huntingtons berühmt-berüchtigte These eines sich vorzugsweise zwischen dem christlich geprägten „Westen“ und dem Islam abspielenden Kampfs der Kulturen (1993) noch mit zwei Komponenten, so finden sich nun beide zu einem Faktor verschmolzen. Dass bei Huntington die Ausweisung des Westens als „christlich“ natürlich einen ebenso schalen Eindruck erzeugt wie diejenige, die Angehörige unterschiedlichster Nationen unter der Domäne des Islam zusammenfasst, ist mehr als signifikant für die Einschmelzung multipler Differenzen zu einer genähten Einheit22. 21 Siehe www.islam.at. Geht es also gar nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um einen Kampf der Religionen bzw. um einen Kampf der monotheistischen Religion mit sich selbst (Assmann) bzw. gar weder um das eine noch das andere, sondern schlichtweg um einen „Bürgerkrieg“ (Nancy 2007)? Diese Ansätze bedenken m. E. weder das politische noch das ethische Moment auf stimmige Art und Weise. Abgesehen davon, dass es keine reine Religion, also eine Religion, die frei von politischen Tendenzen wäre, geben kann, wäre anzumerken, dass die 22 7 Es sind vor allem zwei Phänomene, die das seit dem Ende des Kolonialismus und dem Verlust seiner Vormachtstellung an Amerika ins Hintertreffen geratene Europa betreffen sollen und Buchtitel wie Krieg in Europa (Ulfkotte 2007) provozieren: die Zuwanderung von aus unterschiedlichen Nationen stammenden Menschen mit islamischem Hintergrund und die Inszenierung des djihadistischen Terrors, dessen Stachel nicht nur im Fleisch des Westens sitzt, sondern auch und gerade in Ländern mit islamischem Hintergrund: (Dies verdeutlicht, dass die Spaltung nicht nur den Islam und den Westen betrifft, sondern mitten durch den Islam selbst geht.) Den Verlust seiner führenden Rolle teilt Europa übrigens mit dem Islam, der in seiner Blütezeit von 750-1250 n. Chr. das Monopol auf den Mittelmeerhandel innehatte und dessen innere „Entropie“ (Abdelwahab 2007, 18) spätestens im 14. Jahrhundert europäischer Zeitrechnung beginnt. Manche Experten (Roy, Kepel) sind skeptisch, was den Erfolg des globalen Islamismus als einer Art Gegenglobalisierung betrifft, und postulieren eine Phase des Postislamismus, der einen anderen Typus der gegenseitigen Positionierung, eine Beziehung „wechselnder Intensität“ zwischen Politik und Religion darstellen soll. Einerseits suchen die meisten muslimischen Länder nämlich die Konfrontation mit radikalen Gruppen. Andererseits erweist sich die ethnische Identität in vielen Fällen als stärker als die religiöse. Die Gegenüberstellung von Islam und dem Westen im 20. Jahrhundert ist bereits vor einiger Zeit von iranischen Intellektuellen begrifflich ausgearbeitet worden. Dabei wurden Begriffe wie Westose oder Westtoxikation kreiert. Selbst nie kolonialisiert, hatte der Iran im 20. Jahrhundert eine Verwestlichung und Modernisierung durchgemacht, die in ihrem Gefolge eine Identitätskrise heraufbeschwor. Eine neue Schicht von Intellektuellen, die zum Teil in Europa studiert hatte, begann die Entfremdung von den Massen und der eigenen Identität unter dem Banner westlicher Technik zu kritisieren, wobei vor allem Martin Heideggers Kritik der Technik und der abendländischen Metaphysik als Vollendung des Nihilismus großen Einfluss hatte. Zu nennen wäre hier Ahmad Fardid, der den westlichen Rationalismus und dessen gleichsam vergöttlichtes Subjekt (taghut, der Pharao oder AntiAllah) kritisiert. Ein Essay seines Schülers Djalal Al-e Ahmad bezeichnet die Krankheit des Islam dezitiert als „Westitis“ und beklagt den Konsumismus und den Dritte-Welt-Status, der seinem Land aufgezwungen wird. Parallel zur Abwertung der Fundamente des Westens eigentlichen politischen und ethischen Konfliktpunkte, nämlich die Frage der Säkularisierung und diejenige der Zukunft der Demokratie, beim einseitigen Rekurs auf Religion verfehlt werden: Von den Religionen allein ist eine befriedigende Antwort auf drängende Zeitfragen schon vielleicht allein deshalb nicht zu erwarten, weil sie durch ihre apokalyptischen Endzeitszenarien und Spaltungen in den Verdacht kommen, Reliquariate (Burda 2008a) zu sein, deren universaler Absolutheitsanspruch auf dem Ausschluss des anderen beruht. Exemplarisch mag hier Paulus zitiert werden, dem zufolge alle Menschen Brüder werden – eine Aussage, die freilich mit der bangen Frage schwanger geht, ob die anderen auch dann Menschen genannt werden, wenn sie keine Brüder geworden sind. Interessanterweise operieren diese Reliquariate (von lat. relinquere, verlassen; gemeint ist vor allem das Verlassen des anderen) nun mit einem Element der Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Sie“, die, wie gesagt, eigentlich ins Politische verweist. Was sich in religiösen Endvisionen nämlich eindeutig als Spaltung zu erkennen gibt, scheint im Politischen die Herausforderung für die Politik als Kunst des Möglichen im antagonistischen Feld zu sein. Sie bestünde darin, angesichts des für das Politische konstitutiven Antagonismus Möglichkeiten zu entwickeln, die die „Unmöglichkeit von inegalitären Aussagen“ (Badiou 2003a, 107) zu schaffen vermögen. Abstrahiert man vom religiösen Bezugspunkt, so ist Politik und damit der Kampf der Anteillosen um Anteil das, was übrig bleibt und Entscheidungen im sozialen Feld fordert. Im antiken Athen war es das Volk der Armen ohne Anteil (demos), das sich in seinem politischen Kampf als „eigenen Anteil“ die Gleichheit zuteilte und seinen Namen, den Namen eben der unterschiedslosen Masse derer ohne (politische) Eigenschaften, mit dem Namen der Gemeinschaft identifizierte (ebd. 21): Demokratie. Der Kampf zwischen Armen und Reichen wird deshalb in der politischen Theorie auch heute als Kampf um das Dasein der Politik selbst gesehen (Rancière 2002, 27). Dieser Anforderung hat sich deshalb nicht nur Europa, sondern auch der Islam zu stellen. Sie betrifft nämlich das Politische selbst und ist, so der Tenor, nur demokratisch zu beantworten. Es geht damit um nichts weniger als um den Kampf um das Politische im Namen der Politik, die nicht von Demokratie zu trennen ist (Derrida 2006, Mouffe 2007). 8 kommt es zur Re-Islamisierung auf der Basis einer aporetischen Geschichtsbetrachtung. Der in Südindien geborene Abu al-Maududi, der Gründer der fundamentalistischen Bruderschaft Jamaat-e Islami und Vorkämpfer für eine Islamische Republik Pakistan, beginnt, den Antiokzidentalismus als Konstante in der Geschichte des Islam darzustellen: Er postuliert einen Übergang von der vorislamischen zur islamischen Zeit und damit eine Zeit der Unwissenheit (dschahiliya) als Zustand, gegen den alle Propheten gekämpft haben (gegen den Pharao, aktuell: die moderne Situation). Das islamische Subjekt wird dabei als überlegen konstruiert und die göttliche Einheit (tauhid) zu einem politischen Begriff: Der Islam wird so zu einem aus dem historischen Kontext völlig herausgelösten, unveränderlichen Ganzen hochstilisiert und versteht sich als „globale Annäherung“ an Allah (Allam 2004, 59). Nun ist Islam natürlich nicht Islam. Nicht nur der Bezug Europas auf den Islam, sondern auch der Bezug der Muslime auf den Islam variiert je nach historischem Kontext und der kulturellen Tradition des jeweiligen Landes. So ist auch der Islamismus nicht Ausdruck eines ahistorischen-essentiellen Kerns, sondern ein Produkt der Akkulturation und als solches ein kontingentes und relatives Gebilde, in dem die Religion politisch instrumentalisiert wird. Doch auch im Westen wird der Islam vor allem als Identität von Politik und Religion gehandelt, was geschichtlich gesehen falsch ist, stützten sich doch nur wenige Regierungssysteme explizit auf eine Legitimation religiöser Art. Der Raum des Politischen ist, von Ausnahmen abgesehen, nämlich größtenteils (noch) laizistisch. Erst die islamische Revolution im Iran 1979 brachte, wie erwähnt, ein neues Paradigma des Politischen hervor und stärkte radikale Ideologien wie den Islamismus, der als einziges Gesellschaftsmodell das Paradigma Medinas gelten lassen möchte und in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand23. 1929 rief Hasan al-Banna die so genannte Muslimbrüderschaft (Ikhwan al-Muslimun) ins Leben, eine einerseits an eine religiöse Organisation (DerwischBruderschaft Hasafiya), der al-Banna angehörte, und andererseits an moderne Formen gesellschaftlicher Organisation angelehnte Bewegung, die vor allem in den von sozialen Missständen geprägten urbanen Ballungszentren durch karitatives Engagement (zinslose Darlehen, Gesundheitsfürsorge usw.) Fuß fasste. Was an der radikalen Ausrichtung dieser Bewegung nun besonders heraus sticht – al-Bana gilt als „nachgewiesener Begründer des Djihadismus“ (Tibi 2007, 91) – ist, so Ulfkotte (2007), eine traute Gemeinsamkeit mit derjenigen, die just den Islam als Feindbild im Visier hat, nämlich der radikalen Rechten. Gemeint sind der Hass auf die Juden und das Leugnen der Shoah, was den Ausdruck Islamofaschismus (Rodinson) provoziert hat und Parallelen zu Hitler ziehen ließ: „Ganz wie Hitler 1933. Auch bei ihm konnte man alles schon in Mein Kampf lesen“ (Schwarzer, zit. nach Ulfkotte 2007, 18). Hasan al-Banna war angeblich ein glühender Verehrer Hitlers und erhielt finanzielle Hilfe von den Nazis. Der Jerusalemer Mufti Amin Al-Husayni brachte den Judenhass unmissverständlich zum Ausdruck: „Allah hat uns das einzigartige Vorrecht verliehen, das zu beenden, was Hitler nur beginnen konnte. Fangen wir mit dem Jjihad an. Tötet die Juden, tötet sie alle“ (zit. n. Raddatz 2007, 256). Himmler schwärmte von seinen „Muselgermanen“ und ließ den Koran darauf untersuchen, ob Hitler dort vielleicht als Vollender Muhammeds prophezeit war. Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, verbreitete die Ansicht, dass Hitler jene Inkarnation Jesu sei, die nach islamischer Endzeitlehre den Dadjdjal, den Antimuslim und Judenkönig, tötet (ebd. 23 Die Genealogie geht freilich schon weiter in die Geschichte zurück, zu Ibn Hanbal im achten Jahrhundert, der die Religion als Staatsdoktrin sah, und zu Ibn Tamiyya im 14. Jahrhundert, der ein Buch mit dem für sich sprechenden Titel Die Politik im Namen des göttlichen Rechts zur Einführung der richtigen Ordnung in den Angelegenheiten des Hirten und der Herde verfasste. Erwähnt werden sollte zudem noch Muhammed Ibn ' Abd al-Wahab, dessen Name als Wahabismus im Zusammenhang mit der Gründung Saudi-Arabiens zu Ehren kam. 9 253). Bei beiden Bewegungen lassen sich der „Monotheismus der Führung“, der Gehorsam und Opferung im Kampf fordert, die Betonung des Kollektivs, der Judenhass und der apokalyptische Endkampf ausmachen. Letzteren bringt zum Beispiel einer von Hitlers kaum bekannten Lehrern, Jörg Lanz, in seiner Ariosophie unmissverständlich zum Ausdruck: Die Weltgeschichte wird zur Rassenapokalypse, in der Christus (Frauja) alle Höherrassigen zu erlösen und den Antichristen und die Juden als Heerscharen des Satans zu vernichten hat. Ein politischer Konflikt wird dabei heilsgeschichtlich interpretiert. Parallelen findet man auch im christlichen Mittelalter (millenaristische Bewegungen) und im militanten Islam. Im Zentrum steht zudem bezeichnenderweise der Kampf gegen das, was unbewusst mit dem Judentum assoziiert wird: das symbolische Gesetz einschließlich dessen realer Kehrseite, die unmittelbar mit der Frage zu tun hat, was Menschen einander im Namen des eigenen symbolischen Gesetzes anzutun in der Lage sind. Gerade der Bezug auf den sowohl im Nationalsozialismus als auch in manchen Spielarten des radikalen Islam offen propagierten Judenhass lässt nun vielleicht die wesentliche innere und universale Dimension erahnen, auf die es ankommt, wenn Ethik in Konfrontation mit radikaler Politik oder radikaler Religion nicht versagen soll24. 3. Zeugen der Nullstufe der Humanität Ein erschütterndes Zeugnis dafür, was Menschen einander anzutun in der Lage sind, wenn sie sich anmaßen, die Grenze dessen, was k/ein Mensch ist, zu bestimmen, ist der so genannte Muselmann. Damit ist nicht die veraltete und auch abwertende Bezeichnung für Muslime (von pers. musalman oder türk. Müslüman) gemeint, sondern eine entmenschlichende Bezeichnung aus der Lagersprache der Konzentrationslager des Nationalsozialismus für Häftlinge, die aufgrund physischer und psychischer Qualen charakteristische Verhaltensänderungen zeigten. Mit der Bezeichnung waren, das ist zu betonen, Juden, Christen, Muslime, Atheisten usw. gleichermaßen gemeint. Dem Zeugnis Viktor Frankls zufolge wurde sie auch von den Inhaftierten untereinander gebraucht. Die Bezeichnung wird einerseits auf die an Bewegungen bei Betenden erinnernde Schaukelbewegung des Oberkörpers (Jaktation), andererseits auf die Geste des Verhüllens des Kopfes mit einem Tuch oder einer Decke zurückgeführt. Der Muselmann ist im Diskurs nach Auschwitz eine „Schlüsselfigur des Universums des Konzentrationslagers“ (Žižek 2000, 73) und bezeichnet die Nullstufe der Humanität: den lebenden Toten, der elementare Bedürfnisse wie dasjenige nach Nahrung vergessen hat und nur mehr gewohnheitsmäßig isst oder trinkt, sich nicht mehr verteidigt und mit inhumaner Gleichgültigkeit auf die Entmenschlichung der Nazis reagierte. Derart verweist er auf zweifache Art und Weise auf das Unmenschliche im Herzen der Humanität. Er ist auf extime Weise human und steht als ein aller positiven humanen Kennzeichen Beraubter für die Humanität als solche. Anders gesagt: Er befindet sich auf der Seite des Realen (Lacan), das sich nicht mehr symbolisieren und in eine sinnvolle Geschichte integrieren lässt, und verweist auf den Extrempunkt, den das nackte Leben als Objekt einer Biopolitik gleich welcher Provenienz einnimmt, und damit auf etwas, das nur dadurch bezeugt werden kann, wenn man sich die Unmöglichkeit eingesteht, dafür Zeuge (Agamben) sein zu können. 24 Diese Ethik wäre insofern politisch, als sie sich demokratisch versteht, wobei in Betracht zu ziehen ist, dass der Demokratie immer ein „suizidäres“ (Derrida) und pervertierbares Potenzial innewohnt, da demokratische Verfahren die Demokratie selbst zerstören können, indem totalitäre Parteien an die Macht kommen, die die Demokratie abschaffen. Der Nationalsozialismus gibt genau dafür ein Beispiel ab. Diese Ethik wäre insofern auch säkular, als sie um die Zweideutigkeit der Säkularisierung weiß, die sich einerseits von der Religion losgesagt hat, die andererseits aber dem von einzelnen Religionen sehr wohl zu unterscheidenden Religiösen im Sinne eines Horizontes der Wandlung und Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen verbunden bleibt (vgl. Burda 2008a). 10 Hat diese Thematik eine unabweisbare ethische und politische Dimension, so darf nicht vergessen werden, dass sie auch eine ebensolche religiöse hat. Das Opfer- wie Täterschema des Islamismus entspricht nämlich nicht nur dem entmenschlichter Objekte in den Feldern des Politischen und Ethischen, sondern auch demjenigen im Feld eines Religiösen, das auf Begriffe wie Unterwerfung oder Hingabe reduziert wird. Ein Gott als Herr des Lebens und des Todes weist etwa unmissverständlich darauf hin, dass die Bedingung der Möglichkeit des von der Religion in Aussicht gestellten Heils eben das Unheil, der Tod und das Trauma sind. Damit ist nun freilich eine Dimension des Traumas umrissen, die nicht einfach auf historisch erlittenes Leid und auf den kulturell anderen abzuwälzen ist25. Plakativ gesagt: Vor Gott sind wir alle Muselmänner. Gott ist, wie der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Lévinas ausführt, „Schöpfer und Mörder“ und der andere ist der von Gott Verlassene und dem Tod Ausgesetzte. Oder, wie es Omar Chaijam zu Beginn des 12. nachchristlichen Jahrhunderts ausgedrückt: „Oh Du, der Du aus niederer Erde den Menschen schufst, und der Du für Eden die Schlange ersannst; Für all die Sünde, die des Menschen Antlitz schwärzt, Verzeih ihm – und lass Dir verzeihen“ (zit. n. Schweizer 2007, 127). Alles entscheidend wird diese Problematik also dann, wenn es an uns Menschen liegt, ob den anderen der Tod trifft oder nicht. Ethik hat folglich mit der inneren Dimension der Entscheidung darüber „wer stirbt und wer nicht stirbt“ (Badiou 2003b, 52) zu tun. Das eigentliche Problem ist damit nicht die Religion an sich, sondern der Mensch, der im Namen einer Religion beansprucht, für den anderen die höhere Gewalt darzustellen. Das zwischen Religion, Politik und Ethik oszillierende Gewaltpotenzial ist deshalb sowohl in Bezug auf den politischen Islamismus als auch auf den sich in erster Linie religiös präsentieren wollenden Euro-Islam mit zu berücksichtigen. Handelt es sich beim Islamismus um ein Traumaarchiv, das besonders in der antisemitischen Ausrichtung seine Zeugenschaft für das, wofür man unmöglich Zeuge sein kann, ablehnt, so ist eine ähnliche Tendenz auch in Ausrichtungen des Islam zu beobachten, die die vernünftige Seite der Religion betonen, die auf rechtsstaatlichem Boden ausgeübt werden soll, um dabei jedoch leider auf halbem Weg stehen zu bleiben. Das im ersten Fall als überlegen und erhaben konstruierte muslimische Subjekt führt uns in seinen diversen Gewaltäußerungen exakt vor, was es heißt, den inhumanen Kern der Humanität im Allgemeinen zu verwerfen bzw. in hassvollen Projektionen zu agieren. Im zweiten Fall führt uns ein symbolisches Subjektkonstrukt vor, dass sich Integration dem Kern nach nicht bloß auf eine reine Religion berufen kann, da deren inhärente Gewalt prima vista nicht mit politischen – und das heißt wie gesagt vor allem mit demokratischen – Gleichheitsansprüchen vereinbar ist. Betrachtet man die Klammer zwischen diesen beiden Erscheinungsformen des Islam unter dem Aspekt der Angst, dann geht es natürlich auch um die monströse Kehrseite der symbolischen Ordnung und der Vernunft und es ist fraglich, ob der Begriff (Islamo-)Phobie dem in Frage kommenden psychischen Strukturniveau tatsächlich angemessen ist, da es eher um eine alle Strukturen auflösende Angst geht, die eben nicht partikular, sondern universal ist. Diese Angst ist die eigentliche Angst nicht nur vor dem Islam (ismus), sondern auch die Angst des Islam, eine Angst, die sich unter diversen Masken (Radikalität, Angepasstheit, Mystik) wohl zu verbergen weiß. Egal, von welcher Seite man es betrachtet: Das Individuum ist und bleibt im Traumaarchiv seiner negativen Urszene eingeschlossen, von der es nichts wissen möchte und auch nichts wissen soll. Es verweigert durch seine Identifikation mit einer konkretistischen Interpretation seiner symbolischen „Wahrheit“ seine Zeugenschaft für das real existierende inhumane Trauma. Im Fall des Extremisten kommt diese Zeugenschaft 25 Hasan Hanafatis Begriff Okzidentalismus entwirft etwa den Okzident als absolut feindlichen anderen, zu dem sich Beziehungen der Unter- und Überlegenheit in Zyklen von je siebenhundert Jahren dialektisch ablösen . 11 freilich auf paradoxe Weise in Form einer Blutzeugenschaft (sahid) dennoch zum Ausdruck: Der radikale Djihadist bezeugt auf aktive, sein Opfer – egal, ob es selbst Muslim oder NichtMuslim ist – auf passive Weise das, wofür exemplarisch die furchtbare Gestalt des Muselmannes angeführt wurde. Kommt der Attentäter bei seinem Werk selbst ums Leben, so bezeugt er damit nicht nur das, was er für seinen symbolischen Glauben hält, sondern auch die geheime Identität von Opfer und Täter im Realen und damit das, was als Universal jede Form von Ethik inspirieren müsste: nämlich das Trauma der Inhumanität im Herzen der Humanität – und damit genau jenen Ort, zu dem sich Vernunft und Islam eigentlich gemeinsam bekennen müssten. Das Bewusstsein müsste sich also genau dem stellen und dies realisieren. Kindern dürfte dann zum Beispiel keine unterschwellig hassgeschwängerte Opferideologie mehr eingeimpft, werden, die den Djihad als gerechte Anstrengung und Antwort auf erlittene Schmach feiert und konträre Fakten umwertet: aus Krieg wird nämlich niemals Frieden, aus Aggression nie Toleranz und narzisstische Wunschgebilde entsprechen nicht der Realität. Das, was der Narzisst nicht akzeptieren kann, ist bekanntlich exakt jene Realität, die er durch sein Phantasma zu ersetzen trachtet. Die Opferideologie und die daraus resultierende narzisstische Gegenlogik26 dürften deshalb auch den Dialog gemäßigter Muslime mit dem Westen nicht mehr bestimmen. Der narzisstischen Struktur zufolge bedeutet nämlich bislang leider jede Kritik an Aspekten des Islam auch eine Kritik an der Person des Muslim/der Muslima und am Kollektiv. „Verletzte Gefühle“ provozieren dann natürlich Gewaltreflexe und blockieren bzw. ersetzen den gefährlichen weil kritischen Diskurs. Hier wäre exakt der Punkt, den Antisemitismus und das (väterliche) Gesetz in Verbindung zueinander zu bringen, und damit das, was am jüdisch-muslimischen Paar oft verdrängt wird. Bedenkt man nämlich die ödipale Strukturierung und die wechselseitige Dekonstruktion von Begehren und Gesetz mit, so sticht vor allem ins Auge, dass zum Beispiel der Terrorist die psychoanalytische Einsicht bestätigt, dass das das Begehren regelnde Gesetz – und dieses gibt es freilich auch im Islam – nur dadurch erfolgreich sein kann, dass es mit dem Verbot zugleich den Exzess aufrechterhält, also die Illusion, dass irgendwann (im Jenseits) das uneingeschränkte Genießen möglich sein wird. Dies wirft ein erhellendes Licht auf die Tatsache, dass terroristische Vernichtungsexzesse exakt den tatsächlichen Machthabern im Hintergrund in die Hand spielen27. Das explosive Begehrenspotenzial „ökonomisch überflüssiger Jungmänner“ findet seine Ziele nämlich ebenso im Außen wie die zur „Biomasse“ (Sloterdijk 2006, 349) und „Bevölkerungswaffe“ (Heinsohn, zit. ebd. 348) degradierten Einwanderer, die den eigentlichen Machthabern nicht mehr gefährlich werden können, sondern im Gegenteil deren Größenphantasien nähren und ein Spirale der Gewalt erzeugen, da der „religiöse Code“ wiederum nur zur „Vertextung einer sozial bedingten, existentiellen Wutspannung, die auf Abreaktion drängt“ (Sloterdijk 2007b, 216), instrumentalisiert wird. 4. Einladung zum Islam Lässt sich das Begehren denn tatsächlich nur einem dekadenten Westen unterstellen? Kontrastieren wir einmal Aussagen wie „Das westliche Leben stützt sich auf und erhält sich 26 Eine fatale Folge dieser Opferlogik ist unter anderem der tragische Suizid des Terroristen, der durch seine blutige Tat das Ärgste vorwegnimmt: nämlich das Verschlungen-Werden von einem nach Blut dürstenden Moloch, der durch das Opfer versöhnt werden soll. Dass er selbst dieses Opfer ist, spielt dabei scheinbar eine sekundäre Rolle, da die Illusion des Überlebens durch die überlebenden anderen gewährleistet wird. 27 Dass gerade der fundamentalistische Selbstmordattentäter den Selbstmord vielleicht auch als Mittel nutzt, (s)einem radikalen Zweifel zu entgehen, und auf paradoxe Art und Weise – nämlich durch den Beweis, für eine Ideologie in den Tod zu gehen – dem Unerträglichen ein symbolisches Gewand zu geben sucht, wurde bereits andernorts diskutiert (Žižek 2004, 31). 12 durch die Verführung zur Aufstachelung der natürlichsten und primitivsten Instinkte des Menschen: sozialer Erfolg, Wille zur Macht, Drang zur Freiheit, Liebe zum Besitz, sexuelles Bedürfnis“ (Ramadan 2000, 319) mit den koranischen Verheißungen für das Jenseits28 oder auch mit Aussagen wie derjenigen, der zufolge Europa von den einwandernden Muslimen „befruchtet“ 29 werden soll. Liest sich dies nicht eher wie ein Indiz dafür, dass es auch in der Politik und in der Religion letztlich um ein zu beachtendes unbewusstes Genießen gehen könnte, das natürlich noch weniger eingestanden werden kann als das ohnehin schon verpönte eigene Begehren? Mit der Anerkennung des eigenen Begehrens und der Differenz als dessen Voraussetzung hätte man freilich vielleicht genau das Mittel gegen eigene Ängste, gegen Minderwertigkeitsgefühle und Größenphantasien und gegen jene rigide Abwehr, die das Andere dämonisiert, um ein vermeintlich Eigenes zu idealisieren. Der Dialog müsste dann vielleicht nicht mehr auf ein Diktat reduziert und von Sprachcodes bestimmt werden, die Islam einfach mit Frieden gleichsetzen und dabei eine ganze Geschichte des eigenen unbewussten Begehrens einschließlich der Gewalt ausblenden, um die eigene Selbst-Differenz zu verleugnen. Mittels Codes wie „Toleranz“ und „Respekt“ dürfte dann nicht mehr der Verzicht auf jede Kritik eingefordert bzw. Kritik sofort mit undifferenzierten Vorwürfen des Rassismus, des Faschismus oder der Xeno- oder Islamophobie belegt werden. Plakativ gesagt: Der andere dürfte nicht mehr auf die Stimme Echos reduziert werden, die nur Parolen aus Narziss' Mund wiederholen darf. Ich möchte abschließend davon ausgehen, dass Begriffe, die in einem Psychotop, das heißt in einem inter- wie intrasubjektiven Seelenraum, zirkulieren, etwas über die Strukturen, Tendenzen, Qualitäten und Horizonte dieses Seelenraumes aussagen. Begriffe entfalten nicht nur Wirkungen nach außen, sondern auch nach innen. Sie könnten so gesehen durchaus ein fruchtbares prospektives Potenzial bergen, wenn sie nicht wörtlich, sondern hermeneutisch offen verstanden werden. Um dies zu illustrieren, möchte ich ein Beispiel anführen: die so genannte Einladung zum Islam (da'wa). Für gewöhnlich wird dieser Ausdruck von Muslimen so verstanden, dass Europäer den Islam annehmen sollen, wobei sie – so die mehr gemäßigte Position – ihre Sprache und auch Sitten, soweit sie der Scharia konform sind, behalten dürfen. Tariq Ramadan, der von vielen europäischen Muslimen als Leitfigur geschätzte Enkel al-Bannas, spricht in diesem Zusammenhang vom Leben der Muslime im Haus des Bekenntnisses (dar asch-schahada), eine Wortschöpfung, die die übliche Unterscheidung eines Hauses des Friedens (dar al-islam), in dem der Islam an der Macht ist, und eines Hauses des Krieges (dar al-harb), in dem der Islam in der Fremde in der Minderheit ist, unterminiert. Was wäre, wenn wir nun genau diese Bezeichnung beim Wort nehmen würden und wenn dieses Haus genau jenem Terrain oder jenem ethischen Raum entspräche, auf den es ankommt, um die Angst zu bannen? Was wäre, wenn die Einladung zum Islam also nicht bloß nach außen, den Nicht-Muslimen gegenüber, sondern nach innen, den MuslimInnen gegenüber, ausgesprochen würde? Was wäre also, wenn es um diese besondere Form des Bekenntnisses ginge, die zu beschreiben versucht wurde, um das Trauma im Herzen der Humanität, das Trauma, mit dem im Grunde auch jede Religion und jede Politik ringt, zu bezeichnen? Die Einladung zum Islam wäre so gesehen auch eine Einladung zum Realisieren 28 Genannt werden etwa: ein Leben voller ungetrübter Sinnenfreude auf edelsteingeschmückten Liegen, köstliche Speisen, Bäche niemals verderbenden Wassers, Milch mit geklärtem Honig, köstlicher Wein und die Gesellschaft entzückender Paradiesjungfrauen (Küng 2007, 122). 29 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten Melanie Kleins erwähnenswert, die ausführen, inwiefern regressive Phantasmen die Mutter betreffen können, d.h. die Rückkehr in ihren Körper und die Zerstörung desjenigen, das sich schon dort befindet: die Geschwister und der väterliche Phallus, der als Repräsentant des Gesetzes jedoch der Garant der Differenz wäre (und damit genau das, was im Narzissmus verworfen wird). Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass das unbewusste Ziel regressiver (Selbst-)Befruchtungen die Neuschöpfung der eigenen Identität ist. 13 der eigenen Selbst-Differenz. Es ginge dann nicht einfach um eine Kluft, die den Islam und die restliche Welt voneinander trennte, sondern im Gegenteil auch miteinander verbände. Es ginge damit auch um mehr als bloß um die Beantwortung der Frage, ob die Zukunft auf ein islamisiertes Europa oder auf einen europäisierten Islam (de Winter 2007/52, 37) hinauslaufen wird. Angebracht wäre das Eingeständnis der eigenen Selbst-Differenz und das Bekenntnis zum solidarischen Widerstand gegen das Inhumane. Islamonoia wäre deshalb nicht nur die adäquate Bezeichnung für den Kern einer zu realisierenden tief sitzenden Angst, sondern auch die Bezeichnung für eine bestimmte Art und Weise, Partizipation, Integration und Differenz zu denken. Nicht zuletzt wäre sie auch der Imperativ, dieses Bewusstsein in der politischen und ethischen Praxis umzusetzen. Der dominanten negativen ethischen Urszene ließe sich dadurch eine positive und der Divergenz des Selbst seine Konvergenz entgegensetzen. Der Gewinn läge dann vielleicht tatsächlich in dem, was das Wort Islam verheißen möchte: Frieden30. Referenzen Abdelwahab, M.: Die Krankheit des Islam, Zürich 2007 Agamben, G.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt 2002 Allam, F.: Der Islam in einer globalen Welt, Berlin 2004 Badiou, A.: Über Metapolitik, Wien 2003a Badiou, A.: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien 2003b Burda, G.: Kronos' Welt. Depression und die Versöhnung von Trauer und Melancholie, Frankfurt 2005 Burda, G.: E/ethik – more borromaeico. Über ethische Differenz, Metaethik und die drei Kernbereiche des Ethischen, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud-Lacan, 64, Wien 2006/3, 61-86 Burda, G.: Politik und Psyche. Das Selbst als Differenz, in: C.G. Jung-Forum, e-Journal der ÖGAP, 1. Jg. 2007 Burda, G.: Religion und Differenz. Derrida . Lacan , Wien 2008a Burda, G.: Ethik. Raum, Gesetz, Begehren, Wien 2008b Burda, G.: Seelenpolitik. Über die Seele und andere Selbst-Differenzen, Wien 2009 Derrida, J.: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt 2006 Derrida, J.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt 1992 Derrida, J./ Roudinesco, E.: Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog, Stuttgart 2006 Frankl, V.: …. Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 1982 Küng, H.: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2007 deMause, L.: Das emotionale Leben der Nationen, Klagenfurt 2005 Mersch, D.: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006 Mouffe, Ch.: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt 2007 Nancy, J.-L.: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich-Berlin 2007 Raddatz, H.-P.: Allah und die Juden. Die islamische Renaissance des Antisemitismus, Berlin 2007 Ramadan, T.: Der Islam und der Westen, Marburg 2000 Rancière, J.: Das Unvernehmen, Frankfurt 2002 Santner, E. L.: On the Psychotheology of Everday Life, Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago 2002 Schwartz, R.M.: The Curse of Cain. The Violent Legacy of Monotheism, Chicago 1997 Schweizer, G.: Der unbekannte Islam. Sufismus – die religiöse Herausforderung, Stuttgart 2007 Sen, A.: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007 Sloterdijk, P.: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik, Frankfurt 1995 Sloterdijk, P.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt 1999 Sloterdijk, P.: Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt 2002 Sloterdijk, P.: Sphären I-III, Frankfurt 1998-2004 Sloterdijk, P.: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt 2006 30 Frieden bedeutet jedenfalls auch die Aufklärung darüber, dass Krieg ein gewaltsamer Kampf um scheinbar so profane Dinge wie Lebensraum, natürliche, ökonomische und soziale Ressourcen und Einfluss bzw. Macht ist. Dies sollten keine Ideologie und kein religiöser Glaube verschleiern. 14 Sloterdijk, P.: Derrida ein Ägypter, Frankfurt 2007 Sloterdijk, P.: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt/Leipzig 2007b Tibi, B.: Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts, Darmstadt 2007 Ulfkotte, U.: Heiliger Krieg in Europa. Wie die radikale Muslimbruderschaft unsere Gesellschaft bedroht, Frankfurt 2007 de Winter, L.: Gottes Boten in der Fremde. Die Zukunft des Islam entscheidet sich nicht in Saudi-Arabien, sondern in Europa, in: Der Spiegel Nr. 52/22.12. 2007, 36-37 Žižek, S.: Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998 Žižek, S.: Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000 Žižek, S.: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien 2004 Žižek, S.: Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt 2005