Ägyptens zweite Revolution – Wandel durch die Jugend? Als der sog. „Arabische Frühling“ 2011 eine Reihe von Ländern erfasste – unter ihnen auch Ägypten – war der Begriff der „Facebook-Generation“ in jedermanns Munde. Es dauerte nur gut zwei Jahre, bis im Juni 2013 ägyptische Jugendliche erneut aktiv wurden. Innerhalb dieses Zeitraums schafften sie es zweimal, einen undemokratischen Regenten zu stürzen – eine in der Geschichte wohl einmalige Sache. Um den Sieg ihrer ersten Revolution wurden die jungen Menschen allerdings betrogen. Die Freiheiten und Rechte, für die sie kämpften und für die viele von ihnen ihr Leben ließen, wurden ihnen nicht gewährt. Was ihre zweite Revolution langfristig bewirken wird, muss sich noch zeigen. Man kann den mutigen jungen Menschen nur wünschen, dass ihnen allen und ihrem Land endlich eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit beschert wird. 30.6.2012-3.7.2013: Muslimbrüder stehlen die Revolution und herrschen Nur drei Tage nach der Revolution des 25. Januar 2011 hatten die gut organisierten Muslimbrüder den Tahrir-Platz okkupiert und die Richtung für das nachrevolutionäre Ägypten bestimmt: ein Ägypten ganz nach ihren Vorstellungen. Vielen Kennern der Szene erscheint es bis heute wie ein Wunder, dass ihre Herrschaft über das Land so rasch zu Ende gebracht werden konnte. Seit der Gründung ihrer Bewegung im Jahre 1928 durch ihren Landsmann Hassan El-Banna hatten sie in ihrer Heimat größtenteils aus dem Untergrund heraus agiert, waren aber hier wie auch in anderen arabischen Ländern politisch nicht inaktiv. Mit der Vereidigung Mohammed Mursis als Präsident in Kairo erfüllte sich ihr Traum: ein erster Schritt zur Weltherrschaft. Viele von ihnen, die unter den Staatspräsidenten Sadat und Mubarak Jahre in Gefängnissen zugebracht hatten und teils erst in den Wirren der Revolution gewaltsam aus den Gefängnissen befreit worden waren, standen jetzt in vorderster Front und wurden in wichtige Regierungsämter befördert. Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2012 wurde der Muslimbruder Mursi mit 24,78 % der abgegebenen Stimmen vor dem zuvor als Premierminister fungierenden Shafiq, der einen Stimmenanteil von 23,66 % erhielt, nach einer umstrittenen Stichwahl zum Sieger erklärt. Die liberalen Parteien, in denen auch die meisten jungen Leute mitwirkten, waren klein und unerfahren und konnten sich nicht zur Geschlossenheit durchringen. So stand schließlich ihr Wunschkandidat mit einem Stimmenanteil von 20,72 % nur an dritter Stelle. Für alle gemäßigten bzw. säkular oder liberal denkenden Ägypter war 2012 ein Jahr des Untergangs der Freiheit. Nicht nur war der Präsident ihres Landes ein Islamist, sondern auch im Parlament und im Oberhaus hielten die Islamisten mit 76 % bzw. 85 % ganz überwältigende Mehrheiten. Das Unheil war besiegelt, als schließlich in Eile eine islamistische Verfassung erstellt und per Volksentscheid angenommen wurde. Während seiner gut einjährigen Amtszeit gelang Staatspräsident Mursi eine weitgehende „Islamisierung“ des Staatsapparates. Fromme, jedoch moderate Muslime möchten allerdings diese für sie durchaus positive Bezeichnung in dem Zusammenhang nicht verwendet sehen, obwohl auch sie mit der Entwicklung keineswegs einverstanden waren. Sie distanzieren sich heute so weit von den Muslimbrüdern, dass sie ihnen selbst das Recht absprechen, sich als Muslime zu bezeichnen. Seit deren Komplizenschaft mit der Hamas und anderen radikal-islamischen Gruppen bei der Tötung vieler Soldaten und Polizisten u.a. auf dem Sinai bekannt wurde, sprechen manche liberalen Aktivisten unter ihnen nur noch von „Al-Ikhwan Al-Mugrimin“, der „Bruderschaft der Verbrecher“, anstelle von „Al-Ikhwan Al-Muslimin“, der „Muslimbruderschaft“. In Ägypten rätseln viele, warum der Oberste Militärrat, der nach dem Sturz Mubaraks die Herrschaft in Ägypten übernommen hatte, die Muslimbruderschaft von Beginn an in ihrem Machtstreben unterstützte. Die Mehrzahl der Ägypter ist davon überzeugt, dass dies der explizite Wunsch der USA war. Die Haltung der Amerikaner beim Sturz Mursis und ihre Tolerierung der durch die Muslimbruderschaft verübten Gewalt im Anschluss daran bestärkt viele in dieser Ansicht. 1 Schon bald nach dem Amtsantritt Mursis verlor der größte Teil des Volkes jedes Vertrauen in ihn. Die Hauptgründe waren: • Er wählte ein ineffizientes Kabinett aus Islamisten, dessen überstürzt getroffene und teils bereits Stunden später wieder zurückgezogene Beschlüsse die wirtschaftlich desolate Lage des Landes noch verschlimmerten. Die Hoffnungen der JanuarRevolution „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ blieben unerfüllt. • Er weitete seine eigene Macht über den Staat in verschiedenen Etappen aus. • Er orientierte sich nur an den Interessen der Muslimbruderschaft, so dass er als Marionette ihres Oberhauptes Badie betrachtet wurde, welcher der wirkliche Machthaber im Lande war. • Er erlaubte Al-Kaida-nahen Terroristen, die Halbinsel Sinai unter ihre Gewalt zu bringen. • Er versuchte mit allen Mitteln, die Justiz zu manipulieren. So setzte er u.a. den Generalstaatsanwalt ab und platzierte an seiner Stelle einen ihm ergebenen Islamisten. • Er ersetzte siebzehn Gouverneure durch neue, größtenteils dem islamistischen Lager entstammende. Die Verwaltung des Gouvernorates Luxor wurde dem Drahtzieher des Massakers an Touristen am Hatschepsut-Tempel im Jahr 1997 unterstellt. • Er ließ eine islamistische neue Verfassung erstellen und das Volk über diese abstimmen, obwohl alle liberalen und intellektuellen Kräfte sowie alle Kirchen des Landes diese boykottiert hatten. Tamarud – wieder bewegt die Jugend das Land Als die liberalen Ägypter sich mit der erdrückenden Mehrheit konfrontiert sahen, die all ihre Hoffnungen aus der Zeit ihrer ersten Revolution zunichtemachte, gründeten einige junge Frauen und Männer aus der „Kifaya“-Bewegung unter ihrem Führer, dem 28jährigen Journalisten Mahmoud Badr, eine eigene Protestorganisation, die sie „Tamarud“ („Rebellion“) nannten. Die zunächst nur ca. zwanzig Mitglieder arbeiteten darauf hin, den ungeliebten Staatspräsidenten am ersten Jahrestag seines Amtsantritts, dem 30. Juni 2013, zu entmachten. Sie setzten sich das Ziel, 15 Millionen Unterschriften von Unterstützern zu sammeln. Innerhalb von zwei Monaten hatten die jungen Leute mit über 22 Millionen Unterschriften aus dem ganzen Land ihr Ziel weit übertroffen. Die Zettel mit den Unterschriften, die auch die Nummern der Personalausweise der Unterschreibenden enthielten, legten sie offen zur Überprüfung vor. Für den Jahrestag des Amtsantritts riefen sie die Bevölkerung zu landesweiten Demonstrationen auf. Man schätzt die Zahl der am 30. Juni 2013 auf die Straßen und öffentlichen Plätze strömenden Anti-Mursi-Demonstranten landesweit auf ca. 30 Millionen. Es kam dabei nur vereinzelt zu Zusammenstößen mit Mursi-Unterstützern. Die Hauptforderung waren vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Als Feldmarschall Al-Sisi vorschlug, Staatspräsident Mursi solle zu einer Volksabstimmung über die Fortsetzung seiner Präsidentschaft aufrufen, fühlten sich die Vertreter von „Tamarud“ durch ihre Resonanz bei der Bevölkerung so gestärkt, dass ihr Sprecher Mahmoud Badr nach dem Bericht der Presseagentur Reuters dem Armeechef auf dieses Ansinnen erwidert haben soll: „Millionen von Menschen demonstrieren für die Absetzung des Präsidenten - nicht für eine Volksbefragung! Ich sage Ihnen, mein Herr, Sie mögen Generalbefehlshaber der ägyptischen Armee sein, aber Ihr oberster Befehlshaber ist das ägyptische Volk. Dieses Volk befiehlt Ihnen, sich unverzüglich auf seine Seite zu stellen und zu einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl aufzurufen ... Ich habe vom Volk keinen Blankoscheck erhalten. Ich habe es gebeten, eine Petition von Tamarud für eine vorzeitige Präsidentschaftswahl zu unterzeichnen. So kann ich nicht hier herausgehen und dem Volk etwas anderes sagen.“ Angeblich musste Al-Sisi seinen Vorschlag hierauf zurückziehen. Reuters kommentierte dies mit den Worten: „A bunch of kids in T-shirts had changed the course of the Arab world‘s most populous nation by mobilising mass protests against the ruling Muslim Brotherhood, then threatening to turn on anyone who resists their demands.“ (http://english.ahram.org.eg/NewsContent/ 1/64/75978/Egypt/Politics-/Interview-TheEgyptian-rebel-who-owns-Tahrir-Squar.aspx) 2 Das Ultimatum der Armee Als Mursi zum wiederholten Male Neuwahlen ablehnte, forderten seine Gegner das Militär zur Intervention auf. Feldmarschall Abdel-Fattah Al-Sisi machte verschiedene Kompromissangebote, die jedoch sämtlich von Mursi zurückgewiesen wurden. Unter dem Druck der Millionen auf den Straßen und der Zunahme von Zusammenstößen zwischen den rivalisierenden Parteien sah der Feldmarschall sich schließlich zum Handeln gezwungen. Er setzte den Konfliktparteien ein Ultimatum, demzufolge sie binnen 48 Stunden zu einer Einigung kommen sollten. Mursi bestand erneut auf seiner „Legitimität“ als demokratisch gewählter Präsident, während die Gegenpartei von ihrem „Mandat des Volkes“ sprach, einem Volk, das von ihm vernachlässigt worden war und unter Strom- und Wasserausfall, unter Treibstoffmangel und zahlreichen anderen Problemen des täglichen Lebens bis an die Grenzen des Erträglichen litt, während er autokratisch und gegen den Willen seines Volkes die Muslimbrüder in alle wichtigen Positionen einsetzte. 3 Die Absetzung Mursis und die Übergangsregierung Als am Abend des 3. Juli das von Al-Sisi gesetzte Ultimatum ablief, saßen Millionen von Ägyptern im In- und Ausland wie gebannt vor ihren Fernsehern. Schließlich zeigte sich ihnen der Feldmarschall, umgeben vom Großscheikh von der Al-Azhar-Universität, dem koptischen Papst, von Al-Baradei als Vertreter der Allianz der Oppositionsparteien, einem Vertreter der Salafisten-Partei Al-Nur, einem Vertreter der Tamarud-Bewegung sowie einigen Vertretern des Militärs. In einer kurzen Ansprache gab Al-Sisi die Absetzung Mursis bekannt, die er mit der Notwendigkeit der Rettung des Landes aus einer schweren Krise rechtfertigte. Er gab eine Road Map bekannt, die er gemeinsam mit Vertretern der Politik und des öffentlichen Lebens ausgearbeitet hatte und die folgende Etappen vorsah: • ein Außer-Kraft-Setzen der umstrittenen Verfassung aus dem Jahr 2012; diese sollte überarbeitet und alsdann dem Volk zur Ratifizierung vorgelegt werden • die Einsetzung des Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichtes Adly Mansour als Interimspräsident • die Bildung eines Übergangskabinetts aus Technokraten • die Abhaltung von Parlaments- und Präsidialwahlen. Al-Sisi erklärte, er habe selbst nicht die Absicht, an der Macht zu bleiben. Er wünsche sich eine nationale Aussöhnung. Millionen von Ägyptern jubelten tage- und nächtelang auf den Straßen und öffentlichen Plätzen des Landes. In der Folgezeit erwies sich jedoch die Bildung einer neuen Regierung als schwierig. Die Salafisten lehnten verschiedene Vorschläge des Interimspräsidenten Mansour kategorisch ab. Schließlich erklärten sie sich jedoch mit Hazem Al-Beblawy, einem Wirtschaftsexperten, als Premierminister einverstanden. Schon bald stellten sie jedoch die Unterstützung der neuen Regierung völlig ein. Was waren die Gründe für den schnellen und kaum vorhersehbaren Erfolg der Revolution des 30. Juni 2013, welcher die Kräfteverhältnisse in Ägypten so dramatisch veränderte? Es war ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren: • In erster Linie ist hier die Fähigkeit der jungen Leute von Tamarud zu nennen, denen es gelang, Ägypter verschiedener politischer Richtungen für ihre Sache zu gewinnen, selbst radikale Salafisten, so dass die Muslimbrüder weitgehend in die Isolation gelangten. • Ein weiterer Faktor war die Unzufriedenheit der großen Masse der Bevölkerung, die ihre Hoffnung auf Mursi gesetzt hatte, wie auch Tamarud-Chef Mahmoud Badr, der selbst seine Stimme Mursi gegeben hatte. Sie alle wurden durch die schlechte Politik ihres Präsidenten und seiner Regierung enttäuscht. Die Wirtschaft funktionierte nicht mehr, selbst in Kairo brach die Strom- und Wasserversorgung teilweise zusammen, während sich an den Tankstellen kilometerlange Schlangen bildeten, die auf eine Tankfüllung warteten. Die Sicherheit auf den Straßen war nicht mehr gewährleistet. • Auch ein Gerichtsurteil des Monats Juni in Ismailiya spielte ein gewisse Rolle, durch welches ein Haftbefehl gegen Mursi erlassen wurde. Man sah es für erwiesen an, dass er Hunderte von Hamas-Terroristen ins Land gerufen hatte, die ihm und anderen • Muslimbrüdern nach dem 28. Januar 2011 zur Flucht aus den Gefängnissen verhalfen und dabei zahlreiche Polizisten töteten. Außerdem war inzwischen bekannt geworden, dass die Milizen der Muslimbrüder viele der Morde verübt hatten, für die man bislang die Polizei verantwortlich gemacht hatte. Dies war auch der Grund dafür, dass sich die Polizisten teilweise weigerten, gegen Anti-Mursi-Demonstranten vorzugehen, als sie entsprechende Befehle aus dem Innenministerium erhielten. Entscheidend für den Erfolg dieser zweiten Revolution war schließlich auch die veränderte Haltung des Militärs. Während in den beiden Jahren zuvor das Militär eindeutig auf der Seite der Muslimbrüder gestanden hatte, hatte sich allmählich ein Machtkonflikt zwischen den Muslimbrüdern und dem Militär angebahnt. Verschiedene Bürgerinitiativen gingen sogar so weit, eine Machtübernahme durch Al-Sisi zu verlangen, so dass der Armeechef zu einem Rivalen für Mursi wurde. Die Reaktionen der Weltgemeinschaft Während die Ägypter den Erfolg ihrer zweiten Revolution, für die Millionen auf die Straßen und vor allem auf den Tahrir-Platz gegangen waren, feierten, mehrten sich im Ausland die Stimmen scharfer Verurteilung der Absetzung des vermeintlich demokratisch gewählten und dadurch legitimierten Präsidenten; Stimmen, die von einem „Coup“ sprachen. Die Afrikanische Union fror Ägyptens Mitgliedschaft ein. In der islamischen Welt von Marokko bis Bangladesch demonstrierten die Islamisten in nie zuvor gesehener Einigkeit gegen die Absetzung des Präsidenten. Besonders aggressiv war die Haltung der Türkei und Qatars. Die stärksten Drohungen kamen allerdings aus den USA und der EU. Nach ihren eigenen Statuten unterstützen generell die USA keine Militärregierung. So musste Präsident Obama entscheiden, ob er das Geschehene offiziell als Militärputsch einstufen sollte. Er beließ es schließlich bei der bloßen Drohung, die Hilfen für Ägypten auszusetzen, die 1,3 Milliarden US-$ Militärhilfe und 250 Millionen US-$ anderer Hilfen jährlich betragen. Diese Gelder zu streichen wäre für die USA ein riskantes Unterfangen gewesen, da sie ein wichtiger Teil des Camp-David-Abkommens von 1979 sind, an dem sowohl die USA als auch Israel unter allen Umständen festhalten möchten. Die EU verhielt sich solidarisch mit den USA und verurteilte die Absetzung Mursis scharf. Als die Gewalt in der Folgezeit eskalierte, richtete sich ihre Kritik in erster Linie gegen Aktionen des Militärs. Den Europäern schien es zu entgehen, dass es den Amerikanern trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht vorrangig um die Wahrung von Demokratie und Menschenrechten ging, sondern dass sie in erster Linie ihre eigenen Machtinteressen verfolgten. So hoffen sie, mit Hilfe der in allen Teilen der islamischen Welt stark vertretenen Muslimbrüder ihre Interessen auch in großen Teilen Afrikas und Asiens durchsetzen zu können, dabei die Tatsache verkennend, dass die von ihnen bekämpfte Al-Qaida eine Tochterorganisation der Muslimbruderschaft ist. Für eine richtige Einschätzung der Lage ist es wichtig zu wissen, dass trotz der Siege, die die Muslimbrüder nach der Revolution des 25. Januar 2011 in Ägypten errangen, derzeit nur ca. 10 % der ägyptischen Bevölkerung dem harten Kern der Muslimbruderschaft zuzurechnen bzw. als Sympathisanten zu bezeichnen sind. Deren Erfolge bei den Wahlen von 2011 und 2012 waren in erster Linie massiver Bestechung der Wähler durch die ihnen reichlich zur Verfügung stehenden Finanzmittel bzw. der Wahlfälschung und der langjährigen politischen Erfahrung der Muslimbrüder zuzuschreiben. Christen als Sündenböcke Landesweit reagierten die hinlänglich bewaffneten Muslimbrüder auf die Auflösung der tagelang durch sie bevölkerten Protestcamps in Nasr City und Giza am 14.8.2013 mit Anschlägen gegen die Polizei und gegen die Kopten. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) berichtete: „Die gewaltigen Übergriffe auf koptische Christen in Ägypten haben ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Militante Muslimbrüder warfen Brandsätze und Molotov-Cocktails in Kirchen und setzten christliche Schulen, Geschäfte und Häuser in Brand. Die Kopten sind Opfer des Zorns der Islamisten auf das ägyptische Militär und die liberalen demokratischen Kräfte.“ (http://elsalaska.twoday.net/stories/453147279/) Nach Einschätzung des ägyptischen Sozialforschers Soliman Shafiq mussten die Kopten den Preis für die Befreiung des Landes von der Herrschaft der Muslimbrüder zahlen. Er 4 sieht darin, dass allein in den drei Tagen nach der Auflösung der Protestcamps der MursiAnhänger durch diese folgende Verbrechen begangen wurden eine kollektive Abstrafung der Kopten: • 38 orthodoxe, katholische und evangelische Kirchen in den Gouvernoraten El-Minya, Asyut, El-Fayum, Sues, Sohag, Giza und Nord-Sinai - einige von ihnen sehr alt und von hohem archäologischem Wert - wurden völlig oder teilweise niedergebrannt und geplündert. Zwei der Kirchen wurden nach ihrer Zerstörung in Moscheen umgewandelt. • Weitere 23 Kirchen in 8 Gouvernoraten wurden teilweise zerstört. • 6 traditionsreiche große christliche Schulen in El-Minya, Beni Suef und Sues, von denen manche einen Anteil von mehr als 60 % muslimischer Schüler hatten, wie die Koptische Oberschule und die Schule der Franziskaner in El-Minya, wurden niedergebrannt. • 7 Gebäude christlicher kultureller Institutionen, wie das YMCA-Gebäude und das Bibelhaus der Jesuitengesellschaft, wurden niedergebrannt. • 58 Gebäude, 85 Läden bzw. Apotheken, 3 Hotels, 75 Busse bzw. Personenwagen, die sich im Privatbesitz von Kopten befanden, wurden in Brand gesetzt bzw. zerstört (Al Watan 24.8.2013). Trotz der verübten Grausamkeiten und obwohl die Taten nicht durch Fremde, sondern durch namentlich bekannte Mitbürger aus den gleichen Städten verübt wurden, folgten die Christen dem mahnenden Aufruf ihres Patriarchen Tawadros II., selbst auf Gewalt zu verzichten. Sie versammelten sich in den rußgeschwärzten Kirchenruinen zum Gebet für die Attentäter. In den ägyptischen Medien wurde die Meinung verbreitet, die Muslimbrüder hätten den Kopten-Papst für seine Zustimmung zum Sturz Mursis abstrafen wollen. Allerdings unterschied sich die Haltung Tawadros’ II. in keiner Weise von der des bei den Muslimbrüdern ebenfalls unbeliebten Großen Imams der Al-Azhar-Universität, Ahmed AlTayeb. Beide großen religiösen Oberhäupter des Landes hatten bei der Fernsehausstrahlung über die Absetzung des Präsidenten Seite an Seite miteinander gesessen. Einige Journalisten wiederholten angesichts der Tatsache, dass manche Muslime sich von der eskalierenden Gewalt gegen die Kopten distanzierten, die abgedroschenen Phrasen von der „nationalen Einheit“ und der „nationalen Verflechtung“ von Muslimen und Kopten. In der wichtigsten Tageszeitung des Landes las man: „Der größte Gewinn der gegenwärtigen Krise ist die Wiederherstellung der traditionsreichen Einheit des ägyptischen Volkes mit seinen Muslimen und seinen Kopten trotz des Niederbrennens von 85 koptischen Kirchen, Klöstern und privaten Häusern.“ (Salah Montaser in Al-Ahram, 27.8.2013; http://www.ahram.org.eg/News/924/11/228787/.aspx, Übersetzung durch den Autor) Man fragt sich allerdings, warum allein den Kopten die Rolle der Sündenböcke zugewiesen wurde. Keine der im Land befindlichen 8000 Al-Azhar-Schulen und keine der über 100.000 Moscheen wurden durch die Muslimbrüder angegriffen. Weder die ägyptischen noch ausländische Medien haben diese Frage bislang zufriedenstellend beantwortet. Allerdings erfährt der koptische Papst bei ihnen Anerkennung für seine immer wieder von ihm beteuerte Liebe zu seinem Land und für seine strikte Ablehnung einer Einmischung von außen in innerägyptische Angelegenheiten. Dabei ist diese Ablehnung einer „Einmischung von außen“ durch die koptischen Führer ebenso inkonsequent wie realitätsfremd. Jahrzehntelang haben koptische Aktivisten die internationale Gemeinschaft gebeten, Druck auf die ägyptische Regierung auszuüben, damit diese die Benachteiligung der Kopten beende. Sie hatten versucht, mit allen Mitteln den Machthabern in Ägypten klar zu machen, was weltweit gültige Rechte sind und dass ein jeder Staat verpflichtet ist, seine Bürger vor Übergriffen zu schützen. Die Kopten beriefen sich dabei auf die Resolution des UN-Gipfels vom September 2005, § 139, derzufolge die Weltgemeinschaft sich bereit erklärte „… rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat … zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung … zu schützen“ (http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-03/Responsibility-to-Protect). 5 Es ist fatal, wenn die koptischen Führer die Rolle der Weltgemeinschaft in Frage stellen, nur um sich in der gegenwärtigen Situation mit gewissen politischen Kräften zu solidarisieren, die ihnen nach einer vielleicht nicht allzu fernen erneuten politischen Wende vermutlich selbst wieder in den Rücken fallen werden. Langfristig sind die ägyptischen Christen mit Sicherheit zur Erlangung ihrer vollen Bürgerrechte auf die Unterstützung anderer Staaten bzw. ausländischer Institutionen und Organisationen angewiesen, die sich für die Wahrung der Menschenrechte engagieren. Im Grunde sind die jüngsten Übergriffe gegenüber Kopten und ihren Kirchen und Institutionen lediglich eine Fortsetzung der Feindseligkeiten fanatischer Islamisten, die seit vier Jahrzehnten mit wechselnder Intensität in Ägypten andauern. Auch bei den jüngsten Verbrechen gegen die friedlichen Christen schritt die Polizei nicht ein oder erschien erst am Ort des Geschehens, wenn die Gewalt ihren Lauf genommen hatte. Auch hier, wie in Hunderten von Fällen zuvor, werden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Nach wie vor sind Ägyptens Christen in ihrem eigenen Land zum Abschuss freigegeben. Ist eine friedliche Konfliktlösung möglich? Der Friedensnobelpreisträger Mohammed El-Baradei war einer der wenigen Politiker in Ägypten, die an eine friedliche Lösung der Krise des Juli 2013 glaubten. Als seine Regierung beschloss, am 14. August 2013 die Protestcamps der Muslimbrüder falls erforderlich auch unter Einsatz von Gewalt aufzulösen, legte Baradei sein Amt als Vizepräsident des Staates unverzüglich nieder. Diese Entscheidung wurde durch die meisten Ägypter mit großer Empörung aufgenommen. Man beschimpfte ihn als Hochverräter und sprach davon, dass er der jungen Revolution „den Dolch in den Rücken gestoßen“ habe. Viele begrüßten das gewaltsame Vorgehen gegen die bewaffneten Unterstützer Mursis und hielten den Einsatz von Militär und Polizei für unvermeidlich, durch den auf beiden Seiten insgesamt ca. 1000 Menschen ihr Leben verloren. Während die Muslimbrüder ihre Toten als Märtyrer des Islams betrachteten, wurden die gefallenen Polizisten und Soldaten als Märtyrer angesehen, die ihr Leben für Volk und Vaterland ließen. Es gab jedoch auch viele unbekannte Opfer, die schuldlos zwischen die Fronten geraten waren. Sie wurden ohne besondere Ehrung zu Grabe getragen und tauchen in keiner Statistik auf. Wie war es möglich, dass die einst friedlichen Ägypter solche Gewaltbereitschaft zeigten, dass man vom „blutigen Mittwoch“ und dem „blutigsten Ereignis in der jüngeren Geschichte Ägyptens“ sprach? In seinem Buch „Ordinary Men“ (New York 1992) setzt sich der amerikanische Historiker Christopher R. Browning mit der Frage auseinander, wie ganz normale Menschen zu kaltblütigen Mördern werden können. Er kam zu dem Schluss, dass Ideologie und Gehirnwäsche dabei eine wichtige Rolle spielen. In Ägypten standen sich die Parteien hassgeladen gegenüber. Die Aussicht auf eine Deeskalation rückte in immer weitere Ferne. Bei den geplanten Parlamentswahlen dürfte das Potenzial der Anhänger islamistischer Parteien (Muslimbrüder, Salafisten, Gamaat Islamiya und andere kleinere Parteien) etwa 40 % (2012: 76 %) ausmachen. Ohne eine Inklusion auch dieser z.T. militanten Parteien in das politische System des Landes kann es jedoch keinen Frieden in Ägypten geben. Wird der Konflikt offen ausgetragen, wie es bei der starken Polarisierung derzeit immer wieder der Fall ist, so sind stets die Kopten die Leidtragenden. Sie werden die Zielscheibe der Angriffe der Islamisten bleiben, wobei sie sich weder auf die Polizei noch auf die Justiz verlassen können. Es bleibt abzuwarten, ob die Niederlage, die den Muslimbrüdern am 14. August 2013 durch das Militär zugefügt wurde, sie langfristig zu einer nachgiebigeren Haltung oder eher zum Gegenteil veranlassen wird. Beide Seiten sollten aufeinander zugehen. Die Weichenstellung für Ägyptens Zukunft wird durch die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erfolgen. Wenn die liberalen Kräfte des Landes in ähnlicher Weise ohne Geschlossenheit auftreten wie 2012, so werden sie chancenlos bleiben. Ihre Rettung können allerdings die jungen Leute von Tamarud sein, deren Revolution angesichts der Eskalation der Gewalt teilweise in Vergessenheit geriet und denen somit zum zweiten Mal ihre Revolution „gestohlen“ wurde. Sie bewiesen jedoch, dass sie Millionen von Menschen aus unterschiedlichen Lagern über mancherlei Gräben hinweg begeistern und aktivieren können. 6 Der Spiegel (34/2013, S. 3) zitiert einen jungen Demonstranten mit den Worten, er sei sowohl gegen Mursi als auch gegen das Militär, „Es geht um die Freiheit Ägyptens.“ Werden die Alten bereit sein, ihre Plätze in vorderster Front zu räumen und der Jugend das Feld zu überlassen? Möge das Horrorszenarium, das Browning beschreibt, für Ägypten nicht Realität werden! Ägypten ist das Land, aus dem mit dem ägyptisch-hethitischen Abkommen aus der Zeit Ramses II. der erste schriftlich fixierte Friedensvertrag der Welt hervorging – sollte es den Ägyptern nicht möglich sein, auch jetzt einen Frieden im Lande herbeizuführen? Fouad und Barbara Ibrahim Der Originalartikel wurde veröffentlicht in: Kemet - Die Zeitschrift für Ägyptenfreunde, Ausgabe 4/2013, www.kemet.de Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin/des Autors und der Redaktion von Kemet. Vielen Dank. Fouad und Barbara Ibrahim haben freundlicherweise eine aktuelle Ergänzung zu diesem Beitrag vom April 2013 geschrieben – siehe nachstehender Abschnitt. Wir danken Ihnen sehr herzlich für diese Unterstützung! Ägypten aktuell vor großen Herausforderungen Nach der Absetzung Mursis, die im Westen sehr zum Unmut vieler Ägypter stark kritisiert wurde, und der Übernahme der Macht durch eine vom Militär gestützte Regierung verhärteten sich die Fronten in Ägypten. Die Unruhen im Lande nahmen kein Ende. In allen Landesteilen kam es immer wieder zu Aufmärschen Al-Kaida-Fahnen schwenkender Muslimbrüder, auf welche die Polizei mit nicht selten gewaltsam durchgesetzten abendlichen Ausgangssperren und verschärften Kontrollen reagierte. Viele Straßen und wichtige Behördensitze im ganzen Land wurden durch Panzer mit schussbereiten Soldaten bewacht. Das Leben der Menschen war infolge der Verschlechterung der Sicherheitslage stark eingeschränkt. Ca. 18.000 Industriebetriebe stellten ihre Produktion ein, und die Landwirtschaft litt infolge des Mangels an Düngemitteln. Ausländische Touristen blieben weitgehend aus, so dass Flüge eingestellt und einige Hotels ganz geschlossen wurden. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 40 %. Viele Ägypter, der terroristischen Übergriffe der MursiAnhänger müde, begrüßten, was die Militärführung unter Al-Sisi tat. Als nach der gewaltsamen Räumung der Protestlager der Anhänger des abgesetzten Präsidenten am 14. August 2013 mehr als 100 Kirchen und kirchliche Einrichtungen verwüstet wurden, schritt das Militär allerdings nicht ein. Viele Ägypter hielten das gewaltsame Eingreifen des Militärs gegen die Muslimbrüder für unvermeidlich und zeigten keinerlei Verständnis für den Rücktritt El-Baradeis, der für eine gewaltfreie Lösung plädiert hatte. Einer Umsetzung der am 3. Juli angekündigten "Road Map" für den Demokratisierungsprozess schenkt die große Masse der Ägypter wenig Beachtung. Drei wichtige Schritte sind darin enthalten: die Überarbeitung der unter Präsident Mursi erstellten Verfassung, die Präsidentschaftswahlen und die Parlamentswahlen. Bei der Überarbeitung der Verfassung von 2012 geht es um so entscheidende Fragen wie die Identität des Staates (laizistisch oder islamistisch), die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten, die Rechte der benachteiligten Gruppen (Frauen, Kopten) und die Kontrolle der Regierung über das Militär. Viele befürchten, dass es bezüglich der neuen Verfassung einen unguten Kompromiss zwischen den Islamisten und den übrigen Gruppen geben wird. Die Vertreter der salafistischen Al-Nur-Partei in der verfassungsgebenden Versammlung drohen immer wieder mit ihrem Auszug aus dem Gremium, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden. Da die Muslimbrüder und einige andere islamistische Gruppierungen sich weigern, in der Kommission mitzuarbeiten, bemüht sich die Regierung, zumindest die Zustimmung der Salafisten zu erlangen, was auf Kosten der Interessen der liberalen Kräfte und der Christen geht. 7 Auch die Präsidentschaftswahl wird die ägyptische Bevölkerung mit einigen Schwierigkeiten konfrontieren. Die Mehrheit des Volkes wünscht sich derzeit Feldmarschall Al-Sisi als Präsidenten, obwohl dieser von Anfang an betonte, er stünde für ein solches Amt nicht zur Verfügung. Seine Anhänger sammelten indes bereits 15 Millionen Unterschriften von Unterstützern. Seine Beliebtheit und seine Verehrung als neuer Held verdankt er der Tatsache, dass er das ägyptische Volk aus dem Griff der Muslimbrüder befreite, als niemand dies für möglich hielt. Wegen der katastrophalen Sicherheitslage im Land glaubt man auch, dass nur das Militär Recht und Ordnung wiederherstellen könne. Dieser Meinung schließen sich die meisten der ca. 13 Millionen einheimischer Christen an. Sie alle wünschen sich einen starken Präsidenten, insbesondere, da sie die Amtsführung von Mansour und AlBiblawi als kraftlos und ineffektiv beurteilen, die Milde gegenüber den Muslimbrüdern zeigten, sich von den Salafisten erpressen ließen und zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage nur wenig beitragen konnten. Nach den Präsidentschaftswahlen sollen in Ägypten Parlamentswahlen abgehalten werden. Es ist zu erwarten, dass die liberalen Parteien hier erneut chancenlos sein werden, da der Einigungsprozess unter ihnen noch nicht weit genug fortgeschritten ist und sie vor allem unter der ländlichen Bevölkerung weitgehend unbekannt sind. Nach unserer Einschätzung werden die Salafisten, die 2011/2012 bei den Parlamentswahlen 24 % der Sitze errangen, keine Verluste erleiden, ebenso wie die kleineren islamistischen Parteien, die seinerzeit gemeinsam ca. 10 % der Sitze erhielten. Sollten die Muslimbrüder anstelle der vorherigen 45 % dieses Mal nur 20 % der Stimmen erzielen, so bedeutete das dennoch eine islamistische Mehrheit im Parlament. Ägypten wird in einem solchen Fall erneut durch große politische Konflikte geprägt sein. Die einzige Lösung der Probleme Ägyptens besteht in einer Aussöhnung zwischen den liberalen Kräften und den Muslimbrüdern. Leider sind die Fronten derzeit so sehr verhärtet, dass eine solche sich auch nicht ansatzweise abzeichnet. Allerdings kooperieren die Liberalen bereits mit den Salafisten, ebenso wie mit einigen anderen Islamistengruppen - so sollte auch der Schritt zur Inklusion der Muslimbrüder nicht völlig unmöglich sein. Prof. Dr. Fouad und Barbara Ibrahim sind Geografen, die über lange Jahre hinweg in verschiedenen Ländern Afrikas Forschungen unter breit gefächerter Thematik betrieben und dazu zahlreiche sowohl wissenschaftliche als auch didaktische Veröffentlichungen vorlegten. Derzeit sind sie Länderbeauftragte des Afrika Freundeskreises e.V. (www.afrikafreundeskreis.de) und betreuen dessen kleine Hilfsprojekte in Ägypten. 8