Jochen Becker Boeckhstr.7 D-10967 Berlin + 4 9 . ( 0 ) 3 0 . 6 9 1 7 9 7 0 p l a a n n @ g m x . n e t a u s : Learning from* Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation Hg: Jochen Becker, Claudia Burbaum, Martin Kaltwasser, Folke Koebberling, Stephan Lanz, Katja Reichard Neue Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK Berlin Kunsthalle Exnergasse Wien www.learningfrom.com WELT IN DER STADT From/To Europe Die „Europäische Stadt“ setzte in Berlin der Nachwendezeit eine ideologische Figur um, die sich stadtplanerisch gegen den unternehmerischen Städtebau abzusetzen suchte. Gegen die vermeintlichen Wucherungen der „Amerikanischen Stadt“1 oder auch „Tokyos“ sollte eine „Kritische Rekonstruktion“ bestehender Stadtstrukturen an Vergangenes anknüpfen. Eine Dekade später hat das ‚Neue Berlin’ ein ermüdetes Streitfeld hinterlassen, auch weil die Debattenlust parallel zu den realen Bautätigkeiten abgeflaut ist.2 Doch lohnt die Wiederaufnahme der Diskussion um die Europäische Stadt insofern, als dabei aktuelle Fragen von Zuwanderung und Neoimperialismus zu verhandeln wären. Die brutale Durchsetzung europäischer Normen in den vormaligen Kolonialstädten schlägt auf Europa zurück. Gerade in der Re-Lektüre der imperial durchgesetzten europäischen Stadt als gebauter Kolonialismus und der Überformung der Kolonialstaaten durch soziale, rechtliche wie städtebauliche Normen wirft ein neues Licht auf den aktuellen städtischen Alltag, auf die soziale Realität der Zuwanderung in Europa wie auch die migrantischen Brücken zwischen dem ‚Süden’ und ‚Norden’. Fortgeschrittene Entwicklungen in Brüssel und London dienen dabei als ein Modell. EUropäische Stadt, Stadt von Welt "Mohamed ist in der europäischen Hauptstadt Brüssel zum häufigsten Namen für neugeborene Jungen geworden. Auf den Plätzen zwei bis sechs folgten im vergangenen Jahr Alexandre, Ayoub, Thomas, Bilal und Mehdi, wie die Zeitung 'Le Soir' am Freitag unter Berufung auf Angaben des belgischen Statistikamtes berichtete. Zur Begründung hieß es, die Gesamtzahl der Vornamen nehme zu und in der multiethnischen Metropole lebten mehr Ausländer als im Rest des Landes. Dort Was wäre, wenn man die viel beschworene ‚Amerikanisierung‘ als Lebenswirklichkeit von US- und Lateinamerika ernst nähme? Und was bedeutet dies für die Städte Europas? 1 Siehe hierzu die NGBK-Ausstellung und begleitende Publikation ‚Baustop.randstadt,- # 1 – agressives, nicht-akkumulatives, städtisches Handeln auf knapp 300 Seiten’ Berlin 1999 2 stand Thomas auf Platz eins. Neugeborene Mädchen in Brüssel hießen im Jahr 2001 am häufigsten Laura, dann folgten Sarah, Imane, Rania, Yousra und Marie." (dpa) in: FAZ vom 28.11.2002 Als europäische Hauptstadt steht Brüssel exemplarisch für ein neues Verhältnis von Welt/Stadt. Sie ist Prototyp der EUropäischen Stadt und zugleich Standbein des Globalen Südens. Ausgeprägte afrikanische, marokkanische oder türkische Viertel 3 prägen das Stadtbild, und auf Märkten und Verkaufsstraßen spiegelt sich das städtische-ökonomische Leben diverser Zuwanderergenerationen wider. Gerade Brüssels vielschichtige Überlagerungen von Kolonialgeschichte, diversen Regierungsfunktionen und widerstreitenden Alltagspraxen marginalisierter BewohnerInnen lassen die Stadt als Laboratorium eines neuen Verständnisses von europäischer Stadtrealität erfahren. Brussels, Capital of Europe Unter der belgischen Regentschaft der Europäischen Kommission 2001 luden Kommissionschef Romano Prodi und der belgische Premierminister Guy Verhofstadt eine „Gruppe von Intellektuellen“ ein, um den Bedarf und die Funktion der EU-Hauptstadt zu diskutieren. Beim EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 war nämlich der Beschluß gefaßt worden, sich mit künftig zwei Dutzend Mitgliedsstaaten und nach bald vierzig Jahren Provisorium auf die belgische Millionenstadt als ständigen Sitz des Europarats zu konzentrieren. Zwischenzeitlich war – ähnlich dem vorübergehend betrachteten Status Bonns als Hauptstadt der BRD – ein Gemenge an Bürobauten, Institutionsarchitekturen und Zweigstellen in Strasbourgh und Luxembourg sowie den Mitgliedsstaaten entstanden. Und weil alles auf Abruf schien, achtete niemand auf Kontingenz. Elena Saraceno, Mitarbeiterin des think tanks ‚Group of Policy Advisers’ bei der Europäischen Kommission, fungierte als Koordinatorin der im Mai und September 2001 zusammentreffenden Arbeitsgruppe ‚Brussels Capital of Europe’ und publizierte im Oktober 2001 den Abschlußbericht dieses „brainstorming meeting“. Als „Hauptstadt light“ sollte Brüssel nicht mit den Kapitalen der Nationalstaaten konkurrieren, sondern als „Server“ (Umberto Eco) ein transnationales Netzwerk zusammenhalten. Europa wirkt dezentral verwaltet – die Währung in Frankfurt/Main, der Gerichtshof in Luxembourgh, das Parlament in Strasbourgh – doch werden sich die Funktionen in Brüssel weiter konzentrieren. Und zum Hauptsitz des transnationalen Militärbündnisses NATO/OTAN soll sich das 1999 beschlossene und rein europäisch geprägte Wehrbündnis zur Europäischen Sicherheits- und 3 Ein riesiges Wandgemälde des international erfolgreichen Künstlers Chérie Samba (Kongo Kinshasa/Paris) prägt den Eingang zum afrikanischen Viertel. Als wir vor dem mural stehen blieben, blickte uns eine schwarzafrikanische Passantin voller Stolz ins Gesicht. Verteidigungspolitik (ESVP)4 in Brüssel gesellen. Eine dazugehörige 60.000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe der Europäer soll bis Ende 2003 einsatzbereit sein. Was die Hauptstadt von Europa nicht sei, darin war sich die Arbeitsgruppe weitaus eher einig. So sollte keine Kopie eines Nationalstaats entstehen; Europe-building sei kein nation-building. Und auch ein Masterplan für die EU-Hauptstadt – etwa auf völlig neuem Baugrund – wurde als unwahrscheinlich angesehen. Eher würde sich das bisherige Durchwursteln fortsetzen. Denn die Diversivität Europas sei eine Qualität aufgespaltener, dezentral organisierter Macht. Dieses mosaikhaft zerklüftete „Europa der Regionen“ – die Collage des Gastreferenten Rem Koolhaas zeigt eine Vielzahl von Darstellungen des Turms zu Babel – brauche jedoch eine politische Repräsentation, die sich in Kommunikation, Symbolen und Gebäuden niederschlagen müsse. Exkurs 1: Vereine//Gewinne In der von Rem Koolhaas editierten Wired-Ausgabe ‚KoolWorld’ schreibt Mark Leonhard, Berater von Tony Blair und Leiter des Londoner think tank Foreign Policy Centre, über den neuen Euro-Raum.5 Und analysiert eine europäische, dem USamerikanischen Imperialismus überlegen wirkende Regierungstechnik „vereine und gewinne“, welche mittels Tarnung, Diversivität und Syndikalismus eine weitaus größeres Durchsetzungpotential habe als das römisch-imperiale Modell der USA: „Durch Schaffung allgemeiner Standards, die durch nationale Institute implementiert werden, kann Europa die Welt übernehmen, ohne ein Ziel für Feindseligkeit zu werden. Während jede US-Firma, Botschaft und Militärbasis ein Terroristen-Ziel darstellt, erlaubt Europas Unsichtbarkeit, seinen Einfluß ohne Provokation auszubreiten. Grob gesagt: Selbst wenn es Leute gäbe, wütend, um ein Flugzeuge in Europäische Gebäude fliegen zu lassen, gibt es kein kein Welthandelszentrum als Ziel.“ Die dezentrale Netzwerkstruktur der EU ist somit weniger anfällig gegenüber einem Kollaps, selbst wenn immer mehr Länder auf den größten Markt der Welt einströmten. „Der ehemalige US-Staatssekretär Henry Kissinger beklagte sich einmal, daß Europa keine zentrale Telefonnummer habe. ... Das kommt, weil Europa viele Machtzentren besitzt. Sogar die Spaltung zwischen neu und alt, und der zufällig eingespielten guter Bulle/schlechter Bulle-Routine durch Großbritannien und Frankreich, kann als ein Zeichen der Stärke der Europäischen Union gelesen werden.“ 4 Der von Frankreich angeführte Kongo-Einsatz mit deutscher und britischer Beteiligung ist nach Staatspräsident Chirac die „allererste europäische Operation außerhalb Europas“. Mark Leonard: ‚Combine and Conquer. Euro Space – A State of Mind’ Wired Magazine 11.06, Juni 2003, San Francisco 5 Als stärkste Regierungstechnik beschreibt Leonhard Norm-Zwang und WerteVerlockungen der EU, welche anderen Nationen nur dann Zugang gewähre, wenn sie sich zumeist komplett umbauten. „Europa ermutigt politische und ökonomische Reformen durch die In-Ausssicht-Stellung der Möglichkeit einer Integration in die Europäische Union.“ Während also die USA-Militärhilfe Kolumbien mit einem ‚War on Drugs’ überziehe, jedoch den eigenen Binnenmarkt für alternative Produkte an Stelle von Kokain abschotte, überdenke die Türkei in kürzester Zeit die Todesstrafe oder Verfolgung der kurdischen Minderheit, um in die EU aufgenommen zu werden: „Die Vereinigten Staaten mögen das Regime in Afghanistan geändert haben, aber Europa ändert die ganze polnische Gesellschaft, von seiner Wirtschaftspolitik und Eigentumgesetzen bis zur Behandlung von Minderheiten, und was auf den Tischen der Nation serviert wird.“ Während die europäische Militärpolitik ‚out of area’ neoimperialisch operiert, 6 ist der Sog der EU auf potentielle Kandidaten nur vordergründig sanfterer Natur: „Einmal angesaugt in seinen Wirkungskreis, werden Länder auf immer verändert. Europa ist ein Geisteszustand [state of mind], der durch traditionelle Grenzen nicht gehalten werden kann.“ Quartier Leopold, Quartier Européen Nach dem für die EU angefertigten Piktogramm ‘Brussels Capitol Region’ (OMA/Rem Koolhaas, 2001) sind von den knapp eine Millionen EinwohnerInnen der Stadt Brüssel 80% als Wallonen und 20% als Flamen registriert. 30% sind Ausländer, 52% von ihnen stammen aus der EU, davon 23% aus Frankreich, 21% aus Italien, 16% aus Spanien, 18% aus Griechenland, 6% aus Großbritannien, 5% aus Deutschland, und 4% aus Portugal. Leider verzeichnet die Studie nicht ebenso detailliert die Einwohnerschaft der übrigen Hälfte ausländischer Herkunft – etwa Zuwanderer polnischer Herkunft, die als EU-AnwärterInnen nicht berücksichtigt wurden. Und so spiegelt die Grafik das ‚Quartier Leopold’ als Standort für abgekoppelte EU-Institutionen, deren Lobbyisten und Zuarbeiter wider. Zwischen den „Eurokraten“ im spekulativ erschlossenen Quartier Européen und der Einwohnerschaft, den BesucherInnen und Beschäftigten von Brüssel herrschen zuweilen traumatische Verhältnis der „In Bosnien, im Kosovo und in Mazedonien, in Afghanistan, in Usbekistan und in Georgien, am Horn von Afrika und in Kuweit, jetzt auch im Kongo beziehungsweise in Uganda – fast 9.000 deutsche Soldaten sind derzeit in höchst unterschiedlichen Einsätzen engagiert. ... Noch nie, vom Zeitalter des Imperialismus abgesehen, waren deutsche Soldaten so weit vom Zentrum Europas entfernt im Einsatz, nicht einmal während des Zweiten Weltkrieges. Auf drei Kontinenten tun sie heute ihren Dienst.“ Gregor Schöllgen ‚Im deutschen Interesse. Wer ergreift bei Europas Sicherheitspolitik die Initiative?’ Süddeutsche Zeitung, 27.08.2003 6 Verdrängung. Hier ist – vergleichbar mit den Zonen zu Füßen der Bürohochhäuser in Frankfurt am Main – kein städtisches Leben anzutreffen. Sobald die Angestellten nach Büroschluß ausgependelt sind, scheint das sich gegen seine Nachbarschaften abgeschottete Viertel nur mehr von Security, Reinigungskräften und Versorgern bevölkert. Doch die Stadt ist ebenso geprägt durch Zuwanderung etwa aus dem Maghreb und den französischsprachigen Ländern Schwarzafrikas, welche an den Orten des Brüsseler Stadtbegradigers und privatwirtschaftlich operierenden Kolonialmachthabers Leopold II – „Kongo Freistaat“ war der persönliche Besitz des Königs – ihre Existenz suchen. „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!“, lautete der Slogan der Sans-Papier-Bewegung in Frankreich und Belgien wie auch die im Vorfeld der beiden letzten Bundestagswahlen durch Deutschland tourenden „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant/innen“.7 Exkurs 2: Kolonienpalast „Im Kolonienpalast wurden Tiere, Pflanzen, ethnographische Gegenstände, Statuengruppen mit Szenen aus dem afrikanischen Leben, und die wichtigsten Exportprodukte des Kongos ausgestellt, alles in einer Art Nouveau-Aufmachung. Die Ausstellung hatte einen grossen Erfolg und erzeugte ein reges wissenschaftliches Interesse für die Tiere, Pflanzen und die ethnographischen Gegenstände aus ZentralAfrika; deswegen beschloss der König diese Ausstellung über den Kongo ab 1898 in ein ständiges Museum mit wissenschaftlichen Diensten umzuwandeln. So entstand das “’Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört’, darunter werden Fluchtursachen, die Verfolgung der sozialen und politischen Bewegungen in unseren Herkunftsländern und die ökonomische, politische Dominierung unserer Länder durch die reichen, westlichen Länder ausgedrückt.” (Flugblatt des Internationalen Menschenrechtsverein Bremen vom Juni 2002) „Eigentlich gibt es eine sehr direkte Verbindung zwischen Europas Multis und ökonomisch-politischen Interventionen in unseren Ländern und der Schaffung von Flüchtlingen. Preiswertes Öl und Gas, das aus Nigeria nach Europa infolge der neokolonialen Partnerschaft zwischen multinationalen Unternehmen wie Shell kam, und die erfolgreiche Militärdiktatur, welche Nigeria die vergangenen 32 Jahre beherrscht und zerstört hat. ... Die systematische Zerstörung von demokratischen Maßregeln [measures] und der politisch und ökonomischem Enteignung der Ogonis ebneten in den letzten drei Dekaden den Weg für eine unbarmherzige Ausbeutung der Ölvorkommen Nigerias. Heute steht das Niger-Delta in Flammen, während Milliarden von Dollar, gewonnen aus dem natürlichen Reichtum, nach Übersee weggeschleppt wurden.“ Aus der Rede ‚We are here because you destroy out countries’ von Anthony Edeh, International Human Rights Association Bremen, auf dem Flüchtlingskongress in Jena am 21. April 2000 7 Kongo-Museum, das nach 1908 zum Museum für den Belgischen Kongo wurde.“ (Selbstdarstellung des Museums) Um in Belgien mehr Interesse für den Unabhängigen Kongo-Staat zu wecken, initiierte König Leopold II 1897 eine Ausstellung über dessen Bedeutung für Belgien. Von 1904 bis 1910 ließ er den Franzosen Charles Girault den Kolonienpalast nach Versailles’ Vorbild und quer durch den Zonienwald die doppelte Tervurener Allee errichten, um sich eines Kontinent zu vergegenwärtigen, den er selbst nie betreten hatte. Den ca. 400.000 ethnographischen Exponaten steht der hier unerwähnt bleibende Genozid des Kolonialregimes an möglicherweise zehn Millionen Menschen gegenüber.8 Statt dessen glänzen in der Rotunde des Musée Royal de l’Afrique Centrale / Koninklijk Museum voor Midden-Afrika vergoldete Skulpturen mit Titeln wie „Belgien bringt die Zivilisation nach Afrika“. Guido Gryseels, seit kurzem Leiter des Museums, wurde nach der Skandalisierung des Kolonienpalast eingesertzt, um das Programm und die Ausrichtung des Museums umzukrempeln.9 Nun werden Stimmen laut, das fünfzig Jahre lang vernachlässigte Museum gar als solches zu musealisieren, weil es für sich schon ein Exponat des Kolonialismus’ sei. Dagegen plant der vormals als Entwicklungshelfer in Äthiopien, Ruanda und Burundi tätige Direktor für 2005 eine große Kongo-Exposition. Eine internationale Kommission unter Vorsitz eines Kongolesen wird die Ausstellung zur belgischen Kolonialzeit erstellen. 2010 soll das Museum völlig überarbeitet sein. Bis dahin ist neuerdings auch zeitgenössische Kunst und Fotografie aus Afrika ausgestellt – und erstmals besuchen auch schwarze Belgier das Museum. Welt in der Stadt Brüssel ist eine außerordentlich kosmopolitische Stadt.10 Nach der Studie ‘Multinational, multi-cultural and multi-levelled Brussels: national and ethnic politics in the “Capital of Europe”’ von Adrian Favell und Marco Martiniello ragen unter einwanSie hierzu auch: Adam Hochschild ‚Schatten über dem Kongo’ Reinbek, 2003 Die koloniale Zeitgeschichte Belgiens ist kaum Vergangenheit. So weist die Studie ‚Regierungsauftrag Mord’ des belgischen Soziologen Ludo de Witte nach, dass Belgien 1960 den Mord an Patrice Lumumba, dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten Kongos, mit geplant, verübt und anschließend vertuscht hatte. 8 9 „Der Fall Belgien wird permanent übersehen und ist in vergleichenden Studien der westeuropäischen Politik und Gesellschaft unterdurchschnittlich erforscht.“ Favell/Martiniello, in: Online-Serie ‚Transnational Communities’, herausgegeben von Steve Vertovec und Ali Rogers, www.transcomm.ox.ac.uk/working_papers.htm 10 dernden Gruppen insbesondere die türkischen und marokkanischen Gemeinschaften mit einer stark ausgeprägten Transnationalität heraus. Die große Minderheit der ‚ausländischen’ Bevölkerung ist zusammengesetzt aus einer durch die EU geprägten paneuropäischen Elite, aus NATO-Personal, multinationalen Arbeitseliten als Beschäftigte bei transnationalen Firmen und deren Lobbyeinrichtungen, Gastarbeitern aus Italien, Spanien, der Türkei, Marokko und Kolonialbrücken nach Zaïre, Kongo und anderen frankophonen afrikanischen Ländern. Hinzu kommen Asylsuchende und illegalisierte Einwanderer. Wohl 128 Nationalitäten sind heute im Großraum Brüssel vertreten. Zugleich ist Belgien und darin Brüssel multipel gespalten und zersplittert. Lokale Gemeinschaften sind in eine nach Wallonien oder Flandern sprachlich, kulturell und sozial zugeteilte Stadtregion ‚Bruxelles/Brussel’ eingebettet, deren Aufspaltung noch kleinste Behörden durchzieht. Unfähr 4 zu 1 ist das Verhältnis der Wallonen zu den Flamen in der Hauptstadt – doch seit 1960 wurde dies nicht weiter nachgeprüft, um ein mühsam ausbalanciertes Verhältnis nicht zu gefährden. Geographisch liegt die Stadt in Flandern, wird kulturell jedoch durch eine französischsprachige Elite bestimmt. Brüssel ist ein unabhängiges Gebiet wie die beiden Sprachzonen und hat somit auch seine eigene Vertretung zu überstaatlichen Organisationen der Europäischen Union. Die neunzehn Bezirke Brüssels wiederum halten je eigene Strukturen (Bürgermeister, Polizei, Krankenhaus, etc.) vor. Die bevorzugte Lösung in Brüssel lautet Bilingualismus auf allen institutionalisierten Ebenen, sodaß die Flamen normalerweise leicht überrepräsentiert sind. Durch die EU böte sich Englisch als eine die Klüfte innerhalb der Gemeinschaft, aber auch der zwiegespaltenen Stadt selbst überbrückenden dritten Sprache an. Doch gleiches gälte inzwischen auch für das Türkische oder Arabische. Weiterhin könnte Kulturarbeit ein starker Faktor für die Vertretung politischer Interessen werden und zugleich als Brücke fungieren. Die „Vielebenen-Regierungsgewalt“ ist lange schon die Norm in Belgien: Wo Politik so verdreht wirkt, werden überstaatliche, Landes-, Regional, Kreis-, Stadt oder Kommunalebenen gegeneinander ausgelotet. Die regionalistischen Sprachengemeinschaften werden gegen den Nationalstaat in Stellung gebracht. Die verwickelte binationale Institutionsarchitektur und geteilte öffentliche Kultur macht Brüssel zum Terrain von Grenzziehungen und Segregation wie auch von Erkundungen post- oder transnationaler Integrationsmuster als Reaktion auf diese Exklusion. Die Region Brüssels ist eines der wohlhabendsten Gebiete der Europäischen Union. Zugleich ist die Zahl ärmlicher Lebensbedingungen hoch. Türken und Marokkaner waren lange Zeit die vorherrschende Bevölkerungen des nördlich und südwestlich an das Stadtzentrum angrenzenden Industriegürtels. Andere Teile der Stadt wiederum bleiben ausschließlich weiß und belgisch, und es mangelt ihnen an alltäglichem Kontakt mit den nichtnationalen oder eingewanderten Bevölkerungen. Es gibt in der Hauptstadt eine wachsende Feindseligkeit gegenüber Einwanderern auch unter eher liberal eingestellten Frankophonen, sodaß viele Wallonen aus Brüssel jüngst den eigentlich flämischen geprägten, rassistischen Vlaamsblok wählten. Dies ist umso auffälliger, als ansonsten sich bei allen Parteiströmungen die jeweilige regionale Aufteilungen widerspiegeln – es also zwei mal die Grüne Partei gibt. Dieses Wahlrecht ist den MigrantInnen weitgehend verwehrt. Der Mangel an förmlicher politischer Teilhabe führt bei einwanderten Gruppen zu anderen Formen der Teilnahme und des politischen Ausdrucks in eigenen Angelegenheiten. Politische Akteure und Interessensgruppen in Brüssel versuchen unterschiedlichste Ebenen ausfindig zu machen, um ihre Interessen und Ansprüche geltend zu machen. Einwandernde Wettstreiter erheben besser ihre Stimme durch die Fokusierung auf gemeinschaftliche Herkunft oder antirassistische Vereinigungen, mit EU-Geldern oder außeneuropäischen Verbindungen, während lokale, regionale oder nationalstaatliche Geldquellen ihnen eher verwehrt bleiben. Brüssel hat den Vorteil, daß Europäische Kommission, der Europäische Rat und das Europäische Parlament in der Stadt liegen. Andererseits sind die Anwesenheit der reichen EUgeförderten Vorhaben und NGOs oftmals ein Dorn im Auge der selbstorganisierten, lokalen Minderheiten-Gruppen. Teppich-Handel Informelle Beziehungen und Netzwerke spielen eine wichtige Rolle, wenn wie üblich in Belgien die offizielle Tür für ZuwanderInnen verschlossen bleibt. Der organisierte Islam und die enge Kooperation lokaler Geschäftsleute fördern alternative Schauplätze für gemeinschaftliche Interessen, und deren Bezug auf eine transnationale Diaspora den Horizont weit über die Stadt und den nationalen Kontext abstreckt. Die vom Nordbahnhof ausgehende Brabant-Straße in Schaarbeek ist ein langgestreckter Basar voller migrantisch geprägter Länden. Am Wochenende und zur Ferienzeit stauen sich hier die Autos, deren Kennzeichen Kundschaft aus Frankreich, Niederlande oder selbst dem Ruhrgebiet anzeigen. Die oftmals aus Marokko stammenden ‚Gastarbeiter’ kommen auf dem Weg in ihr Herkunftsland in der Brabant-Straße vorbei, um Teppiche einzukaufen. Diese aus belgischen Fabriken stammenden Produkte wurden im orientalischen Stil gewebt, um konkurrenzfähig zu bleiben gegenüber den Billiglohnländern im Süden. So werden diese Teppiche zur Refinanzierung der Reise auf den Basaren von Tanger oder Casablanca an Touristen verkauft, die diese vermeintlich original-marokkanischen Teppiche als Souvenier in ihre Brüsseler Vorortsiedlung bringen. Diese informellen wie trickreichen Praxen des städtischen Überlebens kommen nicht von ungefähr in einer Stadt und einem Land besonders zu tragen, wo Politik zwischen den Flamen und Wallonen so verstockt territorial ausgetragen wurde. In diesem Sinn reagieren die Zugewanderten auf das, was sie von den dominierenden politischen Gruppen im Land erfahren haben, wobei extreme Kräfte – seien die Verfechter eines radikalen Regionalismus oder eines ethno-nationalistischen Separatismus’ – besonders stark profitieren. Die künftige Europäische Stadt wird von Brüssel lernen müssen. Exkurs 3: Wir machen London zu Punjab Fast zeitgleich erschienen im britischen Wochenmagazin Economist und in der ebenfalls wöchentlich von New Delhi aus erscheinenden Zeitschrift Outlook India ausführliche Artikel über die sprunghafte Zuwanderung aus Indien nach London, während weiße Briten der Mittelschicht zunehmend London weiträumig verlassen, um sich auf dem Land neu zu formieren. Oder gleich ganz ausreisen: nach Spanien, in den Süden Frankreichs oder nach Kanada. Letztes Jahr sind eine viertel Millionen Briten ausgewandert, und ungefähr ebenso viele nach Großbritannien eingereist, wobei viele aus Indien kamen. Von den 150.000 erteilten Arbeitserlaubnisen, darunter 100.000 an AsylbewerberInnen, waren viele Inder, die sich laut Scottland Yard als Afghanen ausgaben. „Und vergessen Sie nicht unsere Brüder, die informell kommen, oder unkonventionell in Kisten auf Lastwagen und was sonst ankommen“, merkt der Autor an. Die kolonialen Brücken und die Fortsetzung im Rahmen des Commonwealth zwischen dem britischen Empire und dem annektierten indischen Subkontinent – heute Indien, Pakistan, Sri Lanka – sind mehr denn je aktiv. „Wie überleben die Briten Indien? Indem sie sich aus London verpissen’, überschreibt Sanjay Suri seinen Beitrag.11 Die vormals Kolonialisierten beanspruchen nun ihren Platz und Raum im Herzen des alten Empires: „Und macht eines laut und deutlich / Freunde, Punjab wird nie London sein / Wir machen London zu Punjab ... Und ich sag euch weißen Jungs / Ihr könnt woanders hingehen, wenn ihr wollt / aber ich verlasse jetzt nicht euer Land“, zitiert der Autor das Spottgedicht des Elektriker Gurdev Singh Manku. Großbritanniens erste große Welle der Migration in den 60er und 70er Jahren verlud südasiatische ArbeiterInnen – größtenteils Inder, Pakistaner und Bangladeshis – in die Textilfabriken im Norden. Die postindustriellen Jobs sind im Süden zu finden. Nach London kommen nun mehr Zuwanderer als nach New York oder Los Angeles. Zwei Drittel der neuen Einwanderern stammen allerdings aus Ländern mit hohem Einkommen. Sanjay Suri ‚Surviving India. Ol' Blighty, My Pind - How are the Brits surviving India? By getting the hell out of London’ in: Outlook India Magazine (New Dehli) 18. 8. 2003 11 Londons Serviceindustrie und die Liberalisierung der Finanzdienstleister fungieren dabei als Magnet. Dies bedeutet nicht nur ein Jobwachstum bei Bankern, sondern auch für Servicepersonal aus dem Globalen Süden. „Diese Ausländerkinder tun alles, noch bevor Sie sie fragen“, wird in einem Economist-Beitrag der Londoner Friseur Hari Salem zitiert. „Sie demonstrieren die Faulheit der anderen. Sie lassen sie ihren Hintern hochkriegen.“ 12 Laut Volkszählung leben 1.2 Millionen InderInnen in Großbritannien, davon offiziell eine halbe Millionen in London. In Wirklichkeit halten sich wohl allein hier eine Millionen auf. Und übernehmen systematischen die Örtlichkeiten. Sanjay Suri schildert die Geschichte einer Dolmetscherin an einem örtlichen Krankenhaus, die es trotz magerem Salär auf acht Eigentumshäuser gebracht hat, indem sie mit immer neuen Kreditkarten die anfangs niedrigen Zinsen ausgenutzt hatte. „Sie mögen London? Vergessen Sie es, wir besitzen den Ort.“ (Sanjay Suri) Die Zuwanderung hat dazu beigetragen, Londons Eigentum-Preise weit über denjenigen des Rests des Landes zu treiben. Und somit profitieren die landflüchtigen Briten von gestiegenen Immobilienpreisen, um ihre Londoner Wohnung gegen eine weitaus billigere in der Provinz einzutauschen. Die ländlichen Gebiete wiederum können nun ihre Infrastruktur ausbauen, während Schulen und Krankenhäuser in London kaum mehr Personal finden, weil dem das Metropolenleben zu teuer wird. Der Auszug von London hatte sich bislang aus drei Gruppen zusammengesetzt: RentnerInnen, Langstreckenpendler, und diejenigen, die Jobs in der ländlichen Gegend gefunden haben. „Ruhe“, „Flucht vor dem Rattenrennen“ und „weniger nichtweiße Leute“ wurden als Begründung für den Umzug genannt. Durch Handys, Internet und flexiblem Ruhestand-Alter haben sich die Unterschiede verwischt. Die Zuzügler sind für zwei Drittel des neuen business in der ländlichen Gegend verantwortlich. In London hat die Ankunft der ‚Ausländer’ die Stadt spürbar geändert. Neue ethnische Dörfer bilden sich dabei heraus. „Die Araber sind lange schon in Bayswater, die Westinder in Brixton, die Punjabis in Southall und Bangladeshis in Tower Hamlet gewesen. Jetzt sind die Polen in Lambeth und Southwark, die Algerier und Marokkaner in Finsbury Park, die Kosovaren und Albaner in Enfield und Newham, die Iraker in Barnet und die Kongolesen in Croydon“, so der Economist. Nun scheinen weisse Briten zunehmen auch ihre Berufe an die indischstämmige Bevölkerung zu verlieren: solche, die im Land selbst von InderInnen übernommen 12 ‚London's comings and goings’ London, 7. 8. 2003 werden, aber auch diejenigen Jobs, welche durch Outsourcing nach Indien wandern. „Sie haben Geld, immer mehr Geschäfte, und jetzt immer mehr Eigentum. Die Straßen sind englisch, der Haus indisch. Viele Briten haben eine harten Zeit, dies zu überleben.“ (Sanjay Suri). Mit der Zeit könnten die weiße Briten eine nationale Minderheit werden. „Das Gesicht Großbritanniens ändert sich schnell, und das Gesicht sieht die ganze Zeit indischer aus.“