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SPEECH/06/90
Günter Verheugen
Vize-Präsident der Europäischen Kommission zuständig für
Unternehmen und Industrie
Für eine europäische Grünkohlpolitik
Oldenburger Grünkohlessen
Berlin, den 15. Februar 2006
Meine Damen und Herren,
wie mir berichtet wurde, wird vom amtierenden Grünkohlkönig eine Art
Regierungserklärung erwartet. Das ist neu für mich. Ich habe zwar schon an der
einen oder anderen Regierungserklärung mitgeschrieben, aber noch keine
vorgetragen. Aber es ist besser, eine Rede nicht selber zu halten, die man
geschrieben hat, als umgekehrt eine zu halten, die man nicht selber geschrieben
hat. Um ehrlich zu sein: Ich war schon in der Schule im Abschreiben schlecht. Nicht,
weil ich nicht gewollt hätte, ich sah einfach zu schlecht. Sehschwäche fördert
Kreativität. Trotzdem wünsche ich Friedrich Merz keine – keine Sehschwäche
meine ich.
Nun hat ein anderer bedeutender Politiker, Gerhard Schröder nämlich, neben vielen
Regierungserklärungen auch einmal im Bundestag über seine Wahl zum
Oldenburger Grünkohlkönig reden müssen. Die Opposition hatte ihn kritisiert, weil
er diese Würde angenommen hatte und bezweifelte seine demokratische und
republikanische Standfestigkeit. Vermutlich wegen seines manchmal etwas
herrischen und arrogant wirkenden Regierungsstils – ein Eindruck den auch ich von
Gerhard Schröder hatte, bis seine Grünkohl-Rede mich eines Besseren belehrte. Er
sagte also, er sei da erstens ganz arglos hingegangen und habe von nichts gewusst
und zweitens seien lauter feine Leute da gewesen. Zum Beweis führte er den
Fraktionsvorsitzenden der SPD an, der bei diesem ganzen Treiben mit Vergnügen
dabei gewesen sei. Gerhard Schröders weiterer politischer Karriere hat die ganze
Sache nicht geschadet. Wenig später wurde er Außenminister, dann sogar
Verteidigungsminister.
Aber das war 1961. Es wäre jetzt interessant zu untersuchen, wie sich die Wahl
zum Grünkohlkönig auf die politische Zukunft der Gewählten heute auswirkt. Was
kann man z.B. noch werden, wenn man schon niedersächsischer Ministerpräsident
und Grünkohlkönig ist?
In Europa halten sich die Monarchien jedenfalls erstaunlich gut. Wir haben Könige
und Königinnen, wir haben sogar einen Großherzog. Wenn Oldenburg noch ein
Großherzogtum wäre, und Mitglied der EU, dann hätten wir drei wirklich große
Mitgliedstaaten: Großbritannien, Großherzogtum Luxemburg und Großherzogtum
Oldenburg.
Es folgt ein urheberrechtlicher Hinweis: diesen Scherz habe ich bei Jean-Claude
Juncker ausgeliehen. Damit sind wir beide dann quitt, denn er hat sich auch etwas
von mir geborgt. Die derzeitige Reflektionsphase, in der europäischen Politik auch
Denkpause genannt, kommentierte Jean-Claude Juncker mehrfach mit meinen
Worten: Man sieht die Pause, aber man sieht das Denken nicht.
Über den Zusammenhang zwischen Politik und Denken ließe sich jetzt viel sagen.
Manche bezweifeln, dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt. Ich
kann nur eines mit Bestimmtheit behaupten. Der Dichter irrt, wenn er sagt: „Es
glaubt der Mensch, sofern er Worte hört, es müsste sich dabei doch auch was
denken lassen“. Nicht jede politische Phrase hält dieser Prüfung stand.
Nun, ich bemerke, dass ich mich etwas zu weit von unserem eigentlichen Anlass,
der Würdigung des Grünkohls, entferne. Von einem Grünkohlkönig aus der Sphäre
der europäischen Politik dürfen Sie mit Recht einige wegweisende Bemerkungen
zur europäischen Grünkohlpolitik erwarten.
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Meine Damen und Herren,
ich muss Ihnen zunächst ein erschütterndes Ergebnis meiner Recherchen mitteilen:
der Grünkohl kommt in der europäischen Rechtsordnung nicht vor. Und was in
Europa nicht gesetzlich geregelt ist, gibt es überhaupt nicht.
Wie konnte das geschehen? Wie konnte es zu dieser unerträglichen
Diskriminierung einer der ältesten und wichtigsten Kulturpflanzen Europas
kommen?
Ich bin dem nachgegangen und dabei einer Jahrhunderte alten, europaweiten
Verschwörung auf die Spur gekommen. Den ersten Hinweis darauf fand ich in der
Gestalt des Brabanter Humanisten Justus Lipsius. Der hat im 16. Jahrhundert eine
wilde Schmähschrift gegen Oldenburg im allgemeinen und den Grünkohl im
besonderen verfasst. Und nach wem ist der Sitz des Ministerrates der Europäischen
Union in Brüssel benannt: nach Justus Lipsius, dem Grünkohl-Verleumder! Ich
stelle anheim, ob so einer verdient, Humanist genannt zu werden. Jedenfalls führt
die Spur von diesem Gebäude direkt zu den europäischen Qualitätsstandards für
Obst und Gemüse. Was finden wir auf dieser Liste? Chinakohl! Kopfkohl! Broccoli!
Blumenkohl – und Rosenkohl, in der EU-Sprache Brussels sprouts, Brüsseler
Sprossen, genannt.
Also: Brüsseler Sprossen ja, Grünkohl nein. Ich habe diesen faszinierenden Stoff
dem derzeit bekanntesten Historiker für sein nächstes Buch angeboten. Dan Brown
arbeitet schon daran. Sein Buch wird demnächst erscheinen: Die RosenkohlVerschwörung. Wir müssen jetzt noch herausfinden, welche Rolle der israelische
Geheimdienst, der Vatikan und der geheime Orden der Rosenkohl-Kreuzler dabei
spielen.
Diese europäische Verschwörung hat auch die deutsche Rechtsordnung in
schwerwiegender Weise ausgehöhlt. Auch hier ist der Grünkohl diskriminiert. Das
deutsche Handelsklassengesetz in der Fassung vom 1.1.2004 erlaubt zwar
Handelsklassen für Schwarzwurzeln (natürlich!) und Preiselbeeren, sogar für
Knollensellerie, aber ausdrücklich nicht für Grünkohl. Ja, mehr noch: es ist eine
Ordnungswidrigkeit, wenn man Grünkohl in Handelsklassen anbietet. Wer es
dennoch tut, kann mit einer Geldstrafe bis zu 10.000 Euro belegt werden (§7 Absatz
1 und 2 des Handelsklassengesetzes!)
Die Kommission ist entschlossen, dem finsteren Treiben gegen den Grünkohl das
Handwerk zu legen. Wir wollen bis zum Jahr 2010 die Wirtschaftsregion der Erde
zu sein, die den technologisch anspruchsvollsten, ökologisch fortschrittlichsten und
sozial verträglichsten Grünkohl der Welt herstellt. Deshalb haben jetzt die Arbeiten
an einer europäischen Grünkohlpolitik begonnen.
Die Kommission wird zunächst ein Grünkohl-Grünbuch zum Wettbewerbs- und
Harmonisierungspotential des europäischen Grünkohls vorlegen. Sie wird sich
dabei von folgenden Grundsätzen leiten lassen:
- 1. Grünkohl ist nicht für alle da. In Bremen müssen sie weiter Braunkohl essen.
- 2. Ultraperiphere Gebiete der Europäischen Union, also Gebiete nördlich des
Polarkreises
und
südlich
des
Äquators,
erhalten
Sonderund
Übergangsbestimmungen. Demnach darf aus Gebieten nördlich des
Polarkreises auch Rentierflechte unter dem Namen Grünkohl angeboten
werden, in Gebieten südlich des Äquators auch Ananas. Allerdings nur Blätter
und Strünke, für das Fruchtfleisch gilt eine besondere Regelung in
Übereinstimmung mit dem Handelsabkommen der EU mit den AKP-Staaten.
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- 3. Es wird eine besondere Richtlinie zur Vermeidung geschlechtsspezifischer
Diskriminierungen bei der Wahl von Grünkohlkönigen erlassen. Bis zum Jahr
2067 soll sichergestellt sein, dass jeder dritte Grünkohlkönig eine Frau ist.
- 4. Im Zuge der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen erhalten die
Mitgliedstaaten das Recht, Grünkohlfahrten und Grünkohlessen mit einem
reduzierten Mehrwertsteuersatz zu belegen. Sollte die Bundesrepublik
Deutschland von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, werden eventuelle
Steuerausfälle bei der Berechnung des gesamtstaatlichen Defizits außer Ansatz
gelassen, sodass die Einhaltung der Stabilitätskriterien nach dem Vertrag von
Maastricht nicht behindert wird.
- 5. Für Gebiete der Europäischen Union, in denen der Anbau von Grünkohl aus
topographischen oder klimatischen Gründen behindert ist, werden
Sonderprogramme eingerichtet. Als erstes Pilotprojekt wird in Mittelschweden
eine Anlage zur Verflüssigung von Grünkohl errichtet.
- 6. Es wird eine Europäische Grünkohlagentur errichtet, die spätestens nach dem
Beitritt des 31. Mitglieds ihren Sitz in einem neuen EU-Land haben soll.
Vorzugsweise ist an Ankara gedacht, falls die Türkei in den
Beitrittsverhandlungen das bis dahin geschaffene Grünkohlregime in voller
Übereinstimmung mit den Kriterien von Kopenhagen zu mindestens 110
Prozent übernommen hat.
- 7. Am Ende eines ausführlichen Konsultationsprozesses wird eine europäische
Grünkohlverordnung stehen, die das Innovationspotential des Grünkohls
vollständig ausschöpft. Der europäische Grünkohl von morgen ist quadratisch,
farblos und geschmacksneutral.
- 8. Zur Vorbereitung dieser kohärenten, integrierten und nachhaltigen
europäischen Grünkohlpolitik wird eine Regierungskonferenz einberufen. Sie
findet in Form eines Grünkohlessens in Oldenburg statt. Es liegt jetzt bei der
Bundeskanzlerin, diese Regierungskonferenz zur obersten Priorität der
deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 zu machen.
Nur so, meine Damen und Herren, werden wir dem Grünkohl den ihm gebührenden
Rang im Prozess der europäischen Einigung sichern können. Nur so werden wir bei
den Bürgerinnen und Bürgern neues Vertrauen in unsere europäische
Werteordnung schaffen können. Das wird den Weg freimachen zu einer
europäischen Verfassung und Europa fit machen für die Wahrnehmung seiner
globalen Verantwortung in der Welt von morgen.
Halt! Diese letzten Sätze gehören nicht hierher. Sie gehören in meine Rede für den
Jahrestag der Europa-Union.
Zurück zum Grünkohl:
Ich möchte dem Einwand begegnen, dass eine Regierungskonferenz in Form eines
Grünkohlessens vielleicht zu gewagt ist, weil nicht jeder Staats- und
Regierungschef auf Anhieb von Kohl und Pinkel zu überzeugen sein wird.
Aus meiner Erfahrung als Europa- und Außenpolitiker weiß ich eines: zu diesem
Beruf gehört eine große kulinarische Unerschrockenheit. Es ist nicht nur in China
so, wo angeblich alles gegessen wird, was vier Beine hat (außer dem Tisch). Auch
in Europa gibt es kulinarisch nichts, was es nicht gibt. Wer Europapolitik macht,
muss in der Lage sein, eine ganze Menge herunterzuschlucken. Und ich versichere
Ihnen: nicht immer ist es etwas so Herzhaftes und Gesundes wie Oldenburger
Grünkohl.
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