Boogie Woogie Auszüge aus der Jahresarbeit v. Ingo Martin *1 Inhalt: 2.2 Das 12-Takt-Bluesschema 2.3 Der Rhythmus im Boogie Woogie Die Geschichte des Boogie Woogie 2.4 Bluenotes 1.1 Die Blues-Szene der 1920er – ein Zitat 2.5 Skalen im Boogie Woogie 1.2 Die Boogie Woogie Ära 2.6 Improvisation 1.3 Kommerzielle Ausbeutung 2.7 Anmerkung zu Boogie Woogie-Noten 1.4 Boogie Woogie in Deutschland 2.8 Überlegungen zur Spielpraxis Theorie 3. Quellenverzeichnis 2.1 3.1 E-Mail des Verfassers Einführung in die Theorie 1. Die Geschichte des Boogie Woogie 1.1 Die Bluesszene der 1920er Bevor Juke Box, Radio und Fernsehen Einzug hielten, wurde ein großer Teil der Unterhaltung in Amerika vom umherziehenden Musiker abgedeckt. Er verbreitete Neuigkeiten, Mode und Witze. In den Gemeinschaften der Schwarzen umgab ihn eine geheimnisvolle Aura. Diese Tradition war besonders ausgeprägt und jede Samstagnacht strömten die Leute in Honky Tonks, Bars und Barrelhouses, um einen neuen Sound zu hören. Dies war die Welt des Blues-Pianisten: die ganze Nacht in einer Ecke sitzen, Stomps, traurige low-down blues und schnelle Boogies spielen, Bier trinken und eine gute Zeit verbringen. Es war eine schnelllebige Szene und die Lebenserwartung war nicht allzu groß, trotzdem entschieden sich tausende von Männern dazu, Frau, Kinder und Beruf zu verlassen, um den rauhen Holzfällercamps zu folgen, in den an der Straße gelegenen Barrelhouses herumzulungern, oder auf der Suche nach Publikum durch düstere kleine Ortschaften zu streifen. Diese romantische wie schwierige Zeit in Amerika war der Entstehungsmoment eines Piano-Stils, der sich einen festen Platz in der Welt von Blues und Jazz gesichert hat. 1.2 Die Boogie Woogie Ära Boogie Woogie entwickelte sich hauptsächlich in den städtischen, nördlichen Zentren – Chicago, Kansas City, Detroit, Cleveland – obwohl die musikalischen Wurzeln im Süden der USA zu finden sind. Dort kamen die meisten befreiten Sklaven her, und die Sklaverei hatte sich dort auch am längsten gehalten. PianoVeteranen wie Clarence Lofton und Jimmy Yancey spielten jedes Wochenende auf unzähligen Haus-Partys und vermittelten den anwesenden Nachwuchs-Musikern die ungeschriebenen musikalischen Theorien. Boogie Woogie und Blues wurden immer direkt und ohne den Umweg über Noten, die ohnehin kaum einer der schwarzen Musiker lesen konnte, weitergegeben. (Näheres dazu finden Sie in Kapitel 3.7). Unter dem Einfluss dieser Musiker der ersten Generation entwickelte sich die nächste Generation von Boogie Woogie Pianisten unter der Führung von Meade Lux Lewis, Albert Ammons und Pete Johnson, welche den Boogie Woogie zur Konzertform weiterentwickelten. Die Musik dieser drei Pianisten gilt auch heute noch als klassischer Boogie Woogie. Das Trio Pete Johnson, Albert Ammons und Meade Lux Lewis entwickelte in diesem Stil enorme spielerische Fähigkeiten, durch welche sie regelrecht berühmt wurden. So waren sie auch in der Lage, vier- oder sogar sechshändig zu spielen, wodurch ein beeindruckender Sound entstand. Sie waren so erfolgreich, dass sie auch in weißen Clubs spielten, was angesichts des herrschenden Rassismus damals sehr außergewöhnlich war. Seinen Höhepunkt erlebte der Boogie Woogie Anfang der vierziger Jahre während des zweiten Weltkriegs. Diese Zeit wird oft als „Boogie Woogie Craze“ bezeichnet. Danach wurde es allerdings recht still um den Boogie Woogie. 1.3 Kommerzielle Ausbeutung Dass der Boogie Woogie ein enormes kommerzielles Potenzial hatte, erkannten Geschäftemacher aus der Musikbranche schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass er so große Erfolge 2 feierte. Man suchte nach Möglichkeiten, mit dem Boogie Woogie das schnelle Geld zu machen. Es gab zum Beispiel viele Transkriptionen der bekannten Boogie Woogie-Aufnahmen, welche allerdings, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, eine sehr schlechte Qualität hatten (Mehr zu den Noten in Kapitel 3.7). Ebenso versuchten sich viele Musiker in diesem Stil, ohne sich aber richtig damit auseinanderzusetzen. Er wurde vereinfacht und auf wenige charakteristische Merkmale beschränkt. Zunehmend gab es auch kleinere und größere Bands, die ihre Musik Effekt heischend als Boogie Woogie bezeichneten. Mit dem authentischen Boogie Woogie hatte diese Musik aber mehr oder weniger nur noch das 12-Takt-Bluesschema gemeinsam. Dies soll ein Hinweis auf die kommerzielle Ausbeutung des Boogie Woogie sein und nicht die Musik, die nach ihm kam als minderwertig abstempeln, hat sie doch in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ebenfalls riesige Erfolge gefeiert. 1.4 Boogie Woogie in Deutschland Hierzulande konnte der Boogie Woogie vor und während seiner Blüte nicht Fuß fassen, weil er während des Dritten Reiches als „entartet“ verboten war. Erst in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde er nach Deutschland gebracht. Der erste deutsche Boogie Woogie Pianist war Leo von Knobelsdorff, gefolgt von Axel Zwingenberger und Vince Weber, Deutschlands berühmtesten Boogie Woogie-Vertretern. Populär wurde der Boogie Woogie in Deutschland 1976, nachdem eine von Pianisten wie Axel Zwingenberger veranstaltete Boogie Woogie Session im Fernsehen übertragen worden war. Seitdem hat sich hierzulande eine wachsende Boogie Woogie-Gemeinde entwickelt, die einer ebenfalls wachsenden Anzahl interessanter Pianisten mit jeweils eigenem Stil lauschen kann. 2. Theorie 3 2.1 Einführung in die Theorie Auf die Frage, ob der Boogie Woogie von Beginn an auf einer festen musikalischen Theorie basierte, gibt es eine klare Antwort: nein. Beim Boogie Woogie war zuerst die Musik, welche abends in Kneipen, Clubs und Hauspartys gespielt wurde. Sie wurde von Musiker zu Musiker und von Generation zu Generation weitergegeben, vergleichbar mit den Geschichten, welche oft auch über Generationen von Mund zu Mund weitergegeben wurden. Erst viel später ging man daran, den Boogie Woogie auf seine theoretische Form hin zu untersuchen. Man kann also behaupten, dass der Boogie Woogie nicht auf einer theoretischen Form, sondern eine theoretische Form auf dem Boogie Woogie basiert, obwohl sie heute natürlich als Grundlage für den Boogie Woogie angesehen wird. Hinzu kommt, dass die Form von Blues und Boogie Woogie von Interpret zu Interpret und von Stück zu Stück unterschiedlich sein konnte und dies auch war. Es ist also nicht möglich zu sagen, dass Boogie Woogie nur auf diese oder jene Art richtig ist, weshalb die Theorie auch nicht so stark festgelegt ist. Blues kann man eben nicht ausschließlich theoretisch erklären, man muss ihn hören und fühlen. Im Folgenden werde ich auf die Form des Boogie Woogie eingehen, welche vor allem von Albert Ammons, Meade Lux Lewis und Pete Johnson in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt und gespielt wurde und die auch heute noch als echter Boogie Woogie verstanden wird. 2.2 Das 12-Takt-Bluesschema 4 Als der volkstümliche Blues der Baumwoll-Pflücker mit seiner afro-amerikanischen, pentatonischen - aus nur fünf Tönen bestehenden - Melodik mit der europäischen Harmonik und damit der klassischen Kadenz (Akkordfolge) zusammentraf, entwickelte sich der volkstümliche Blues ohne festgelegte Taktform zu einer Musik mit aus zwölf Takten bestehenden Strophen und gleichbleibendem harmonischem Ablauf. Eine Blues-Strophe kann man grob in drei Abschnitte à vier Takte unterteilen: A: 1.Thema A´: Abwandlung des 1. Themas B: zweites Thema (im Blues Begründung/Bestätigung des 1.Themas) Die Takte werden durch Buchstaben (T, S, D) gekennzeichnet, welche die harmonische Stufe darstellen, auf der sich die Strophe an diesem Punkt befindet. Eine harmonische Stufe ist ein Akkord in Bezug zur Tonart, zum Beispiel ist der Akkord E-Moll die 3. Stufe in der Tonart C-Dur. Der Akkord, der auf dem Grundton der Tonart aufbaut, ist die erste Stufe; der Akkord, welcher auf dem zweiten Ton der Tonart aufbaut ist die zweite Stufe und so weiter. Das „T“ steht für die erste Stufe, die Tonika, das „S“ bezeichnet die vierte Stufe, die Subdominante und das „D“ steht für die fünfte Stufe, die Dominante. Geht man von der Tonart C-Dur aus, so ist die Tonika C-Dur, die Subdominante F-Dur und die Dominante G-Dur. Folgendermaßen sieht eine Blues- und Boogie WoogieStrophe aus (T, S und D stellen jeweils einen Takt dar): A: T T T T A´: S S T T B: D S T T / D* In Teil A wird das Thema der Strophe vorgestellt. Es handelt sich dabei zumeist um eine kurze Melodiesequenz, die in Teil A´ wiederholt und verstärkt wird. Sie kann dabei durchaus auch etwas verändert, also variiert, werden. Teil B stellt eine Zusammenfassung, Erläuterung oder Erweiterung des Themas dar. Bei der hier beschriebenen Funktion der einzelnen Abschnitte handelt es sich um allgemein im 5 Blues gebräuchliche Formen. Die gleichen Gesetze gelten beispielsweise auch für gesungenen Text, der im Blues nach eben diesem Schema aufgebaut ist. *Wird am Ende der Strophe die Tonika gespielt, so wirkt die Strophe abgeschlossener oder das Stück ist zu Ende, da die Tonika, wie auch in der Klassik, eine abschließende Funktion zum Beispiel am Ende des Stückes hat. Die Dominante bedeutet genau das Gegenteil: Es wird weitergespielt, da die Dominante eine neue Strophe oder Improvisation geradezu herbei zwingt. Diese Wendung am Ende einer Strophe, bei der statt der Tonika im letzten Takt die Dominante gespielt wird, nennt man aufgrund ihrer Funktion „turnaround“. 2.3 Der Rhythmus im Boogie Woogie Der Rhythmus eines Boogie Woogie ist meistens weder „gerade“ noch „geshuffled“ (to shuffle – hinken), sondern liegt zwischen diesen beiden Taktarten. Auch hier zeigt sich, dass Boogie Woogie und Blues sich nicht an klar definierten Begriffen aus unserer Musiksprache festmachen lassen. Der gerade Rhythmus ist leicht erklärt, denn er wird auf den geraden Taktschlägen gespielt. Der ShuffleRhythmus ist ternär, also annähernd triolisch (Triole: Gruppe von drei Tönen im Taktwert von zwei oder vier Tönen). Um den ternären Rhythmus zu spielen, teilt man zunächst jeden Schlag in drei gleichlange „Unterschläge“ auf. Dann fasst man die ersten beiden Unterschläge wieder zu einem Schlag zusammen. Bei jedem Taktschlag spielt man also einmal am Anfang des ersten Drittels und noch einmal am Anfang des dritten Drittels. Wichtig für den Boogie Woogie ist, dass er fast nie genau „gerade“ oder „geshuffled“ ist, sondern meistens irgendwo zwischen diesen Rhythmen liegt. Auch an dieser Stelle zeigt sich die technische und logische „Unreinheit“ des Boogie Woogie. Wird ein solcher Rhythmus von einem guten Boogie Woogie-Pianisten gespielt, so macht sich sofort der treibende, unwiderstehliche Rhythmus bemerkbar, der sehr an die Unaufhaltsamkeit eines fahrenden Zuges erinnert. Die Eisenbahn ist ein häufig verwendetes Motiv des Boogie Woogie. Bei genauerer Betrachtung der Geschichte des Boogie Woogie fällt auf, dass hier und da die Eisenbahn – natürlich Dampfloks – die Basis für einen Boogie Woogie geliefert hat. Meade ‚Lux‘ Lewis zum Beispiel ist neben einer Eisenbahnstrecke aufgewachsen und hat sich für seinen späteren ‚Honky Tonk 6 Train Blues‘ vom stampfenden Rhythmus der Züge und dem schrillen Pfeifen inspirieren lassen. Zudem gab es in amerikanischen Zügen früher oft ein Klavier, um auf den langen Fahrten die Passagiere zu unterhalten. Der Pianist musste dann notwendigerweise in den bestehenden, stampfenden Rhythmus der Lokomotive einsteigen. Hier findet sich wahrscheinlich eine wichtige Grundlage für den Rhythmus des Boogie Woogie. Ein Rhythmus im Stil des Boogie Woogie wird auch als Groove bezeichnet. Grooven bedeutet soviel wie Spaß vermitteln und ist in der heutigen Musiksprache ein gängiger Begriff. 2.4 Die Bluenotes Bluenotes sind ein Phänomen des Blues, und damit auch des Boogie Woogie. Blues ist eine ganz eigene Musik und hat auch ihre eigenen Töne, die Bluenotes. Übersetzt würde bluenote etwa „trauriger Ton“ heißen. Interessant ist, dass sie in unserem chromatischen Tonsystem überhaupt nicht vorkommen, sondern vielmehr zwischen den Tönen liegen. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass sie besonders emotional wirken und den Blues zu dem machen was er ist. Erfunden wurden die Bluenotes von den ersten Blues-Sängern, den Sklaven, die mit unserem Tonsystem nicht vertraut waren. Sie konnten sich so, ohne von Regeln eingeengt zu sein, die Gefühle von der Seele singen, wobei des öfteren auch mal eine Bluenote dabei war, falls überhaupt ein Tonabstand dem chromatischen System entsprach. Als der volkstümliche Blues mit der westlichen Harmonielehre zusammentraf, entwickelte sich über Jahrzehnte der heutige Blues, in dem normalerweise drei Bluenotes vorkommen. Sie liegen: 1. zwischen kleiner und großer Terz 2. zwischen übermäßiger Quart (Tritonus) und Quint 3. zwischen Sexte und kleiner Septime. Diese Bluenote ist zwar weitgehend unbekannt, ist aber wie die beiden ersten Bluenotes Bestandteil des heutigen Blues. 7 Wie gesagt liegen die Bluenotes zwischen den konventionellen Tönen des chromatischen Tonsystems. Da das Klavier nach eben diesem System aufgebaut ist, kommen die Bluenotes auch auf dem Klavier nicht vor. Der Blues-Pianist überwindet dieses Problem, indem er die Tasten, die direkt über und unter der unsichtbaren Bluenote liegen, in schneller Folge spielt. Er suggeriert so den Klang einer Bluenote, ohne diese selbst zu spielen. Näheres zur praktischen Verwendung von Bluenotes erfahren Sie in Kapitel 3.8. 2.5 Die Skalen im Boogie Woogie Die dem Boogie Woogie zugrunde liegende Skala ist die mixolydische Skala. Das bedeutet, dass man zu einem Boogie Woogie in C-Dur die Töne von F-Dur verwendet. Diese Skala wird dann je nach Pianist und Stück mit nicht zur Tonleiter gehörenden Tönen angereichert. Meistens spielt der Pianist zusätzlich zur mixolydischen Skala die Bluenotes (Kapitel 3.4). Darüber hinaus kann er dann nach Belieben weitere tonleiterfremde Töne einfließen lassen. Das läuft in vielen Fällen darauf hinaus, dass der Pianist während eines Stückes alle zwölf Töne einer Oktave verwendet, wobei er manche Töne zu einer Bluenote „verschmelzen“ lässt. Diese Vielfalt an Klangfärbungen ist ein Grund für die enorme Ausdruckskraft und Emotionalität, welche Blues und Boogie Woogie in die Wiege gelegt sind. 2.6 Improvisation Improvisation ist die Quelle neuer Ideen. Aus ihr entstand der Boogie Woogie, und auch heute noch wird kaum ein Boogie Woogie zweimal gleich gespielt. Jedesmal, wenn ein Stück gespielt wird, ist der Pianist in einer anderen Stimmung und Verfassung, was mit in die Gestaltung des Stückes einfließt. Mir selbst ist die Improvisation das Wichtigste an der Musik, weil man sich so am besten die Gefühle „von der Seele“ spielen und ihnen Ausdruck verleihen kann. Improvisation ist aber ein sehr weitläufiges, schwer definierbares Thema, weshalb ich mich, obwohl ich selbst zumeist improvisiere, mit der Erklärung schwer getan habe. Die Lösung war ein Anruf bei Dennis Koeckstadt und Christian Rannenberg in Berlin (Besuch in Berlin: Kapitel 4). Die beiden definierten die Improvisation durch den 8 Sprachbegriff, was im Folgenden näher erläutert ist. Dafür ist ein kleines, frei erfundenes Spezialvokabular nötig: improvisieren – sprechen Improvisation – das Gesprochene Phrasen – Wörter, Redewendungen Sequenzen – Sätze Harmonie – Grammatik Akkordfolge - Satzstruktur Musik – Überbegriff für Sprachen und Sprechen Boogie Woogie – eine Sprache Um improvisieren zu können, braucht man verschiedene Phrasen, die man als fertige Bausteine im Kopf hat. Die Phrasen sind bei Bedarf ohne großes Nachdenken einsetzbar und können auch verändert werden. Die sinnvolle und passende Kombination der Phrasen führt zur Bildung verständlicher Sequenzen, wobei Akkordfolge und Harmonie eine wichtige Rolle für die Aussage und Wirkung der Sequenz haben. Im Boogie Woogie gibt es keine feste Regel für die Akkordfolge, am häufigsten ist aber die Verwendung des 12-Takt-Bluesschemas (Kapitel 3.2). Mit dem Improvisieren bringt man eigene Gedanken und Gefühle zum Ausdruck. Dabei wird die Musik um so vielfältiger, je mehr verschiedene Phrasen und Sequenzen verwendet werden. Die Ausdrucksstärke der Improvisation hängt ganz besonders von der Betonung ab. Die Improvisation ist ein sehr bewegliches und komplexes Gebilde, welches sich schon durch die Änderung von Details wie Phrasen und Betonungen stark verändern kann. Um deutlich zu machen, wie sehr sich Improvisation und Sprache ähneln habe ich den obigen Text kopiert und lediglich die musikalischen Stichwörter durch ihre oben genannten „Synonyme“ ersetzt. Das Ergebnis ist verblüffend: Um sprechen zu können, braucht man verschiedene Wörter und Redewendungen, die man als fertige Bausteine im Kopf hat. Diese sind bei Bedarf ohne großes 9 Nachdenken einsetzbar und können auch verändert werden. Die sinnvolle und passende Kombination der Wörter und Redewendungen führt zur Bildung verständlicher Sätze, wobei Satzstruktur und Grammatik eine wichtige Rolle für die Wirkung des Satzes haben. Im Boogie Woogie gibt es keine feste Regel für den Satzbau, am häufigsten ist aber die Verwendung des 12-Takt-Blues-Schemas. Mit dem Sprechen bringt man eigene Gedanken und Gefühle zum Ausdruck. Dabei wird die Sprache um so vielfältiger, je mehr verschiedene Wörter, Redewendungen und Sätze verwendet werden. Die Ausdrucksstärke des Gesprochenen hängt ganz besonders von der Betonung ab. Das Gesprochene ist ein sehr bewegliches und komplexes Gebilde, welches sich schon durch die Änderung von Details wie Wörter, Redewendungen und Betonungen stark verändern kann. Mit diesem kleinen Versuch wird ersichtlich, dass die Musik eine Sprache zum Ausdruck von Gefühlen und Gedanken ist, die sich lediglich unserem normalen Verständnis von Sprache entzieht. Die Gefühle werden direkt ausgedrückt, ohne den Umweg über die Logik nehmen zu müssen, weshalb auch keine festen logischen Begriffe, sondern verschiedenste Phrasen verwendet werden. 2.7 Anmerkung zu Boogie Woogie–Noten Die Noten, welche heute in immer größer werdender Zahl für Blues und Boogie Woogie zu haben sind, sind mit Vorsicht zu genießen, wenn man wirklich Blues oder Boogie Woogie spielen will. Die Problematik dabei erläuterte mir Christian Rannenberg während meines Besuches in Berlin (Kapitel 4). Er erklärte mir, dass die Noten nur das widerspiegeln können, was gehört wird, niemals aber das tatsächlich gespielte Stück. Es kommt dem Autor also mehr Bedeutung zu als dem Musiker. Hinzu kommt der Vorgang der Notation, bei welchem sich meistens auch Fehler einschleichen. Diese zwei Faktoren verfälschen die ursprüngliche Aufnahme schon enorm. Eine weitere Fehlerquelle ist derjenige, der die Noten wieder in Musik umsetzt... Das eigentliche Problem bei der Sache ist der Boogie Woogie selbst. Er passt mit seinen Bluenotes und „schrägen“ Rhythmen nämlich so schlecht in unser Notensystem, dass es fast unmöglich ist, ihn korrekt zu notieren. 10 Andererseits wäre ein korrekt notierter Boogie Woogie mit allen seinen Feinheiten und Abweichungen fast unlesbar, geschweige denn spielbar. Die einzige Möglichkeit, den Boogie Woogie zu spielen und weiterzugeben wird schon seit seiner ersten Stunde erfolgreich praktiziert. Es handelt sich dabei um die direkte Weitergabe von Musiker zu Musiker, ohne den Umweg über die Noten zu nehmen. Ein echter Blues- und Boogie Woogie-Pianist lernt auch heute noch durch das Hören alter und neuer Aufnahmen und durch die Weitergabe der Musik von Musiker zu Musiker und von Generation zu Generation. Es bleibt aber anzumerken, dass die Noten trotzdem nicht zu verdammen sind. Sie geben vor allem einem Einsteiger die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie Blues und Boogie Woogie überhaupt auf dem Klavier gespielt werden können. 2.8 Überlegungen zur Spielpraxis Der Boogie Woogie ist eine schnelle und meistens auch laute Musik. Er besteht in der Regel aus einer hämmernden, gleichbleibenden Begleitfigur und einer schnellen Melodielinie, welche mit dem Rhythmus und auch gegen ihn spielt, was die Spannung des Boogie Woogie ausmacht. Nicht umsonst bezeichnet man den Boogie Woogie als Vorläufer des Rock ´n´ Roll. Diese Musik zu spielen erfordert verständlicherweise eine Technik, die sich in mancher Hinsicht von der klassischen Spieltechnik unterscheidet. Dies trifft vor allem für die linke Hand zu. Sie muss fast durchgehend eine schnelle, kräftige und gleichbleibende Bassfigur spielen. Dies erfordert Kraft und Ausdauer in besonderem Maße, was auch regelrecht trainiert werden muss. Als ich anfing Boogie Woogie zu spielen, wurde mein linker Unterarm im Laufe eines Stückes oft hart, das heißt der Muskel erlahmte und es war mir nicht möglich weiter zu spielen. Im Laufe meines „Spieltrainings“ hat sich das aber weitgehend gelegt. Inzwischen wird allerdings der rechte Arm hin und wieder überfordert... Damit will ich verdeutlichen, wie viel Kraft man auch bei sinnvoller, also ökonomischer Spielweise in ein Klavier steckt. Um die Begleitfigur besser betonen und aushalten zu können, setzt der Boogie Woogie-Pianist sein Handgelenk gezielt ein. An verschiedenen Stellen im Takt stößt sich die linke Hand, bildlich gesprochen, von den Tasten ab; tatsächlich wird sie angehoben, und nutzt die „Aufprallwucht“ aus. So muss weniger Kraft aus den 11 einzelnen Fingern kommen, und der federnde, groovende Rhythmus kann besser gehalten werden. Diese Technik ist bei der klassischen Spielweise weder üblich noch sinnvoll, vielmehr muss die Hand dort, um technische Barrieren abzubauen, möglichst ruhig über den Tasten schweben. Da dies auch im Boogie Woogie hin und wieder notwendig ist, muss die linke Hand beide Techniken beherrschen. Auch die rechte Hand verstößt hin und wieder gegen eine Regel der klassischen Klavierspieltechnik. Dies hängt damit zusammen, dass die im Boogie Woogie verwendete mixolydische Skala (siehe Kapitel 3.5) noch mit weiteren Tönen kombiniert wird, um die bluestypischen „Bluenotes“ zu bekommen. (Näheres zur Bluenote finden Sie in Kapitel 3.4.) Eine Bluenote liegt zum Beispiel zwischen kleiner und großer Terz und ist somit auf der Klaviertastatur nicht vorhanden; sie kommt im europäischen chromatischen System überhaupt nicht vor. Um sich dem Klang dieser Bluenote anzunähern, spielt der Pianist zunächst die kleine Terz und rutscht dann sofort auf die rechts daneben liegende große Terz. Diese Spielweise ist in der klassischen Klavierschule undenkbar, für den Boogie Woogie ist sie aber fast unersetzlich. Da man aber nur von einer schwarzen auf eine weiße Taste rutschen kann, ist die Auswahl der Tonarten für den Boogie Woogie im Hinblick auf diese Spielweise begrenzt. Es ist unter diesem Aspekt also sinnvoll, dass die Bluenotes in der Tonart so liegen, dass man, um sie zu spielen, von schwarzen auf eine rechts daneben liegende weiße Taste rutschen kann. Meine derzeitige Lieblingstonart ist, auch vor diesem Hintergrund, G-Dur. Eine weitere Besonderheit des Boogie Woogie stellt der Fuß des Pianisten dar. Welcher Fuß das ist, hängt vom Pianisten ab. Während die Finger in die Tasten „hauen“, klopft der Fuß nämlich den Takt. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine antrainierte Technik, sondern um eine Angewohnheit, die sich von ganz allein einstellt. Ob sie den Pianisten unterstützt oder behindert, ist bisher wohl ungeklärt. Das Klopfen ist aber der Grund dafür, dass Boogie Woogie Pianisten bei einem Auftritt oft ausgefallenes Schuhwerk tragen. Quellenverzeichnis: Literatur: Eric Kriss, Barrelhouse and Boogie Piano, Oak Publications 1973. 12 Paul Oliver, Blues Fell This Morning, Hannibal Verlag 1991. Carl-Ludwig Reichert, Blues Geschichte und Geschichten, dtv premium 2001. Peter J. Silvester, A Left Hand Like God, DA CAPO PRESS New York 1989. H.Wiedeman und Chr. Willisohn, The Real Blues ´n Boogie Buch, ConBrio Verlagsgesellschaft 1995. Internet: Die Boogie Woogie-Piano Homepage History, http://home.munich.netsurf.de/Andreas.Busch/boogie/bpage_1.html Henning Pertiet, Blues und Boogie Woogie Piano http://www.blues-piano.de/blues.php3 *1 E-Mail des Verfassers: Um die lückenlose Jahresarbeit von Ingo Martin zu lesen, müssten Sie sich persönlich mit Ihm in Verbindung setzen. Hier seine E-Mail: [email protected] 13