Pädagogische Hochschule Freiburg. AG Denkweisen aus Asien und Europa – Nagarjuna, Albert Einstein, Niels Bohr, Roger Penrose. Ein Bilderbuch mit 32 Bildern. SEN 409. FR 10-12 Uhr. KG 3. Raum 004. Beginn: Freitag, den 19. 04. 2013 Einleitung: Christian Thomas Kohl. Denken und Sehen: Ein Zusammenspiel. 1. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen“. Ist eine solche Bemerkung im Jahre 2013 noch denkbar, ist darin noch irgendeine Erkenntnis enthalten, widersprechen nicht alle Philosophien und Wissenschaften einer solchen naiven Aussage? Welche Philosophie oder Wissenschaft interessiert sich heute noch für das Sehen? Max Planck hatte 1941 in einem Vortrag in Berlin bemerkt, dass vom Sehen, Hören, Tasten im wissenschaftlichen Weltbild nicht die Rede sei. [1] Der Aristotelesforscher Ingemar Düring sagte uns im Jahre 1966: Nach einer Meinung die schon Aristoteles mit fast allen Philosophiekollegen teilte, sei das philosophische Denken die höchste menschliche Aktivität und der oberste Wert [2]. Wer wollte dem widersprechen? Denkweisen, besonders philosophische und wissenschaftliche Denkweisen, können nicht vom Sehen infrage gestellt werden. Auch die Väter des modernen wissenschaftlichen Denkens, Kopernikus, Kepler, Galilei, Descartes und Newton haben seit dem Jahre 1500 Aristoteles nicht widersprochen, jedenfalls nicht in der Frage des Denkens. Sie haben das wissenschaftliche, abstrakte Denken noch einmal eine Stufe höher gehoben. Sie haben es in eine mathematische Form gegossen. Galilei sprach für ein ganzes wissenschaftliches Zeitalter, als er sagte, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Mathematische Formeln und geometrische Formen, Naturgesetze, all das konnte niemand sehen. Mit dem Sehen konnte man nicht die Fallgesetze bestätigen oder widerlegen. Mit den Augen konnte man nur die Sonne täglich aufgehen sehen. Man konnte nicht sehen, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht. Aber man konnte so etwas denken und mathematisch berechnen. Dementsprechend ist der Satz von René Descartes wahrscheinlich der bekannteste Satz der Philosophie und Wissenschaft der modernen Welt: Ich denke, darum bin ich. Denken ist wichtig, meinte René Descartes, das Sehen und die anderen Formen der Wahrnehmung spielen keine Rolle beim Verstehen der Welt. 2. Und eine zweite Selbstverständlichkeit wurde von nun an behauptet: Denken und Sehen sind zwei getrennte Dinge, sie haben nichts mit einander zu tun. Die Wahrnehmung und die wahrgenommen Dinge wurden seit dem 16. Jahrhundert abgewertet. Das Sehen und die gesehenen Natur, farbige Vögel und bunte Landschaften, sich immer wieder neu bildende Wasserwellen, helle und dunkle Gegenstände im Licht, diese unendliche Vielfalt der konkreten Bilder, die wir mit unseren Augen sehen, sie wurden abgewertet. Sie sollten eine geringere Bedeutung und Wirklichkeit haben, die mehr den Bereichen der Träume, Visionen, Fiktionen, Illusionen und Phantasien, zugeordnet wurden. Bis heute nennen wir solche inneren Dinge Phänomene. Das war nur ein anderes Wort für Erscheinungen. Ganze Philosophien und Wissenschaften wurden nach diesem schillernden Begriff genannt: Phänomenologie. Von nun an wurden die Menschen in eine Welt der Erscheinungen versetzt. Die konkrete Welt, in der wir leben, hieß nun Erscheinung und die konkreten Dinge dieser Welt wurden nur noch als subjektive, abstrakte Phänomene zur Kenntnis genommen. Es war keine Welt für Menschen, die sich auf das Sehen verlassen hatten. Viele wissenschaftliche Denkweisen versuchten uns nun eines Besseren zu belehren. Man braucht nur ein beliebiges Physikbuch über Farben aufzuschlagen, um zu erfahren, dass die Welt farblos sein soll. Farben, so behauptete schon Isaac Newton, gibt es nicht in dieser Welt. Farben gibt es nur in unserem Bewusstsein (‚in our minds’, wie Newton es formulierte). Farben, so belehrte uns Isaac Newton, sind nur die Dispositionen von Dingen, bestimmte Lichtstrahlen zu reflektieren [3]. Farben, so belehrte uns Newton, gibt es nur im menschlichen Wahrnehmungsapparat, im Bewusstsein. Wo dieser Ort genau liegen soll ist keine ausgemachte Sache, jedenfalls nicht da draußen, in der Natur. Das Sehen spielt keine Rolle mehr beim philosophischen oder wissenschaftlichen Erkennen der Welt. Es war vollkommen getrennt vom begrifflichen Denken. Es konnte dem Denken nicht mehr in die Quere kommen, wenn es darum ging, die Welt zu erkennen und zu verstehen. Das Sehen hatte in den physikalischen Wissenschaften und in den verschiedensten Spielarten der Phänomenologie abgewirtschaftet. 3. Allerdings wagten in Europa einige Seher und Querdenker zu widersprechen. Sie widersprachen beiden grundlegenden Annahmen europäischer Philosophien und Wissenschaften, die das Denken und die die dualistische Trennung von Sehen und Denken betrafen. Ohne Vollständigkeitsanspruch möchte ich einige Hinweise auf solche Querdenker geben. Der erste europäische Physiker, der das Sehen wieder aufwertete, war meines Erachten der Physiker Michael Faraday. Sein Kollege, der berühmte mathematische Physiker James Clerk Maxwell schreibt über Faraday in der Einleitung seines Werkes 'Treatise on Electricity and Magnetism' im Jahre 1873: « Faraday sah beispielsweise vor seinem geistigen Auge Kraftlinien, die den gesamten Raum durchdringen, wo Mathematiker Kraftzentren sahen, die sich über eine Entfernung hinweg anziehen; er gewahrte ein Medium, wo jene nichts anderes als Distanz sahen « [4]. 4. Auch über den Philosophen Ludwig Wittgenstein haben wir Hinweise, die von dem Philosophen Ray Monk im Sommer 2012 stammen, nach denen es Ludwig Wittgenstein mehr um das Sehen, als um das Denken ging. Er dachte offenbar in Bildern [5]. 5. Der Philosoph Hans Blumenberg hat sein Leben einem Gebiet gewidmet, das man vielleicht einen Zwischenbereich zwischen dem Sehen und dem philosophischen Denken in abstrakten Begriffen nennen könnte : Es ist das Denken in Metaphern oder sollten wir sagen, das Sehen von Metaphern ? [6] 6. Der Gehirnforscher und Neurobiologe Semir M. Zeki ist nach intensiven Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass Sehen sich nicht vom Verstehen trennen lässt. Er widerspricht nachdrücklich der dualistischen Konzeption Immanuel Kants, nach der Wahrnehmen und Verstehen zwei grundverschiedene Fähigkeiten seien [7]. 7. Mit anderen Methoden als mit den Methoden der Neurobiologie ist Irvin Rock in seinen psychologischen Studien über die Wahrnehmung zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen, wenn er am Ende seiner vielfältigen Untersuchungen schreibt : « Trotz der Autonomie der Wahrnehmung gegenüber dem Bewußtsein würde ich sie als intelligent betrachten : Intelligent drückt dabei Fähigkeiten aus, wie sie in ähnlicher Form für Denkprozesse typisch sind : Beschreibung, Schluss und Problemlösung » [8]. 8. Als ein letztes Beispiel für die Aufwertung des Sehens möchte ich einen bedeutenden Maler zu Wort kommen lassen : Cy Twombly (1928-2011) : ‘The image cannot be dispossessed of a primordial freshness which ideas can never claim’. ‚Dem Bild kann eine ursprüngliche Frische nicht genommen werden, die Ideen niemals für sich beanspruchen können’. [9] Anmerkungen [1] Vgl. Max Planck. Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft. München 1971, S.22 [2]. Ingemar Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966, S. 220. [3]. Isaac Newton, Optics., zitiert in: Edwin Arthur Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, Kegan Paul, London 1925, p. 233. Newton schreibt: “so colours in the object are nothing but a disposition to reflect this or that sort of rays more copiously than the rest“. [4] James Clerk Maxwell, Treatise on Electricity and Magnetism zitiert in: Giulio Pruzzi: Maxwell: Der Begründer der Elektrodynamik, Spektrum der Wissenschaft, 2/2000, Heidelberg 2000, Seite 48 [5] Vgl.Ray Monk : http://www.newstatesman.com/culture/art-and-design/2012/08/ludwigwittgenstein%E2%80%99s-passion-looking-not-thinking [6] Vgl. Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Herausgegeben von Ulrich von Bülow und Doris Krusche, Suhrkamp Verlag Berlin 2012 (Über Metaphern. Aus dem Nachlaß des berühmten Philosophen. Klappentext) [7] Semir M. Zeki. Das geistige Abbild der Welt. In : Gehirn und Bewußtsein. Mit einer Einführung von Wolf Singer. Spektrum. Akademischer Verlag. Heidelberg 1994, S. 332 [8] Irvin Rock. Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen. Spektrum. Akademischer Verlag. Heidelberg 1998, S. 198 [9] Hier die ursprüngliche Formulierung des Satzes von Cy Twombly, er ist von John Crowe Ransom (1888-1974) http://quotes.dictionary.com/the_image_cannot_be_dispossessed_of_a_primordial Cy Twombly: Bacchus. Cy Twombly.