Zur Rolle Polens in Europa. Befreiung und Freiheit im europäischen Einigungsprozess Neuss, 6. Juni 2012 Wir sollen heute über die Rolle Polens in Europa im Kontext der Befreiung und Freiheit im europäischen Einigungsprozess sprechen. Den Zeitpunkt dazu – gewählt zufällig oder nicht – finde ich sehr passend, denn gerade vorgestern, am 4. Juni gab es den 23. Jahrestag der ersten halbdemokratischen Parlamentswahl in Polen von 1989. Dieses Datum symbolisiert in meinem Land den Übergang zur neuen Ära, den Beginn der souveränen staatlichen Existenz und den Ausgangspunkt der europäischen Annäherung und Einigung. Auch Neuss – als Ort der heutigen Veranstaltung – ist ein durchaus geeigneter Platz, um über Freiheit zu sprechen, denn in seinen mittelalterlichen Mauern widerhallt bis heute das ferne Echo der Belagerung von 1474 bis 1475, als Karl der Kühne erfolglos versuchte die von Hermann von Hessen verteidigte Stadt mit Gewalt einzunehmen. So fern in die verwickelte Geschichte Europas wollen wir heute aber nicht zurückreichen, sondern gehen von jenem erwähnten Freiheitsfenster aus, das die Jahre 1989-1990 plötzlich im Eisernen Vorhang eröffneten. Die Umbruchszeit ab dem Mauerfall in Berlin im November 1989 bis Ende Juli 1990, also fast bis zum Tag der formellen Wiedervereinigung beider deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 habe 1 ich aktiv in Deutschland mit den Deutschen erlebt als Gastprofessor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, als Freund vieler deutschen Politiker, auch als Teilnehmer des I. Katholikentages in dem schon freien Berlin im Mai 1990. Alle großen historischen Umbrüche bilden stets das Ergebnis des zeitgleichen Aufeinandertreffens zahlreicher Einzelfaktoren. So war es auch während des Kalten Krieges: die sowjetische Planwirtschaft hatte den Ostblock an den Rand des ökonomischen Zusammenbruchs geführt. Der von der KSZE-Konferenz initiierte Verständigungsprozess ließ die osteuropäischen Länder etwas „offener” werden, wobei sich die dortigen gesellschaftlichen Proteste auch auf die Einhaltung der Menschenrechte erstreckten. Die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der UdSSR gerieten schließlich vollends ins Wanken. Polen war hingegen das einzige Ostblockland, in dem sich verschiedene oppositionelle Gruppierungen gegenüber dem Regime nachhaltig zu festigen vermochten. Die Ausnahmestellung Polens resultierte zweifellos aus der herausragenden Rolle der katholischen Kirche im gesellschaftlichen Leben und lag auch im hohen Anteil von Privatbauern in der Landwirtschaft begründet. Anfang der 1980er Jahre nahm die soziale Protestbewegung in Polen im Unterschied zu anderen Ostblockstaaten eindeutig politische Ausmaße an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Protest gegen die kommunistische Herrschaft in Polen unter besonderen Vorzeichen stand, die den Kern seiner staatlichen Existenz berührten. Polen war ja der nationalsozialistischen Aggressionspolitik als erstes Land zum Opfer gefallen und wurde 1944/45 selbst zum Objekt der 2 territorialpolitischen Beschlüsse der Siegermächte des 2. Weltkrieges. Unter anderem betraf das weitgehend menschliche Schicksaale und menschliche Probleme Millionen polnischer und deutscher Familien, verbunden mit Flucht und danach Zwangsumsiedlung von Ost nach West. Im Vorfeld der demokratischen Wende von 1989 war man sich daher bewusst, dass die politische Befreiung des Landes unbedingt im territorialen Rahmen der vom 2. Weltkrieg geschaffenen Realitäten stattfinden musste. Der polnischen Bevölkerung fiel diese Entscheidung zunächst keineswegs leicht. Dennoch stieß diese Sicht der Dinge letztlich auf allgemeines Verständnis und breite Zustimmung. Die „Solidarność” wurde rasch zum Herold der politischen Freiheit und Unabhängigkeit der Nation. Dies beinhaltete auch die Forderung nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Als der damalige KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 7. Oktober 1989 anlässlich des 40-jährigen Bestehens der DDR darauf hinwies, dass die Wiedervereinigung Deutschlands „vielleicht in hundert Jahren” möglich sein werde, galt diese Prognose als große politische Sensation. Die Regimegegner in Polen hielten derweil konsequent an der Auffassung fest, dass parallel zur politischen Befreiung der Völker im östlichen Europa auch das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen anerkannt werden müsse. Diese Sichtweise gehörte zum Grundkanon der demokratischen Oppositionsbewegung bei der Konzipierung der zukünftigen Außenpolitik eines freien Polen. 3 Die Epochenwende von 1989 muss also in größeren Zusammenhängen bewertet werden. Denn sie führte nicht nur in Polen zu tiefgreifenden Veränderungen durch die Vereinbarungen am „Runden Tisch”, die erwähnten halbdemokratischen Parlamentswahlen vom 4. Juni 1989 und die erste nichtkommunistische Regierung Ostmitteleuropas unter Tadeusz Mazowiecki. Diese epochale Zäsur ebnete vielmehr auch den DDRBürgern den Weg für die massenhafte Auswanderung in die Bundesrepublik und mündete in den Fall der Berliner Mauer. Polen und Deutsche sollten daher gemeinsam der Ereignisse dieses Jahres und des weiteren Jahres 1990 gedenken. Denn das Jahr 1989 hat endgültig gezeigt, wie sehr die fundamentalen Interessen beider Völker untrennbar miteinander verwoben sind. Es ist geradezu von symbolischer Bedeutung, dass die Berliner Mauer ausgerechnet während des Polenbesuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl bezwungen wurde. Kohl unterbrach angesichts dieses denkwürdigen Ereignisses kurzfristig seinen Aufenthalt in Warschau, um direkt vor Ort in Berlin zu sein. Unmittelbar darauf kehrte er wieder nach Polen zurück. Bundeskanzler Kohl berief sich in Warschau 1989 ausdrücklich auf die Zukunftsvision der Gründerväter des vereinigten Europa. In seiner Rede von 13. November 1989 während des Empfangs im Warschauer Hotel „Marriott” sprach er: „Lasst uns gemeinsam auf dieses große Europa zugehen - unser Europa, in dem wir alle Platz finden. Ein Europa, in dem die Vision Konrad Adenauers Wirklichkeit wird. Gegen Ende seines Lebens sagte er [Adenauer], dass die Freiheit in 4 diesem Europa größere Bedeutung haben werde als Grenzen. Gehen wir also gemeinsam diesen Weg!” Premierminister Mazowiecki erinnerte nach diesen Worten an die eher „zurückhaltende” Einstellung der westlichen Demokratien gegenüber der „Solidarność” in den 1980er Jahren und rief die deutsche Seite zu größerer Entschiedenheit im politischen Handeln auf: „Möge Euer Mut dem Mut unserer demokratischen Veränderungen entsprechen”. Ein Jahr später, am 14. November 1990, wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag unterzeichnet. Diese grundlegende Deklaration des politischen Willens erwies sich für den Umbruch in den deutschpolnischen Beziehungen als richtungsweisend. Wie ich bereits im Mai 2009 auf der u.a. von der Konrad-AdenauerStiftung in Warschau organisierten Konferenz anlässlich der damaligen fünfjährigen EU-Mitgliedschaft Polens hingewiesen habe, konzentrierte sich die Politik der Republik Polen unter Premierminister Mazowiecki und Außenminister Krzysztof Skubiszewski im wesentlichen auf folgende Fragen: erstens: Schaffung gutnachbarschaftlicher Beziehungen (zu Beginn der 1990er Jahre „veränderten sich” übrigens alle Nachbarstaaten Polens!); 5 zweitens: Etablierung einer soliden Regionalpolitik im östlichen Europa; sowie drittens: Restituierung des genuinen Orts Polens unter den demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Staaten Europas. Diese letztere Grundorientierung hatte von Anfang an eine möglichst rasche Assoziierung Polens mit der Europäischen Gemeinschaft und später auch den Beitritt zu NATO und EU im Blick. Einerseits ging es darum, Polen innerhalb der demokratischen Staatengemeinschaft fest zu verankern und es dauerhaft an deren territoriale Integrität zu binden. Zugleich aber - und dies war gleichsam die zweite Grundnorm der polnischen Außenpolitik nach 1989 – sollte Polen erneut seinen ureigenen Platz unter denjenigen Staaten einnehmen, die auf einem gemeinsamen Wertesystem gründen. Die verfassungsrechtliche Entwicklung Polens musste daher dauerhaft auf das System der westlichen Demokratien ausgerichtet werden, also u.a. auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Schutz des Privateigentums. Achtung der Eines der wichtigsten Ziele der polnischen Außenpolitik nach 1989 bildete die Neuordnung der Beziehungen Polens zu den Nachbarn im Osten, Süden und Westen. Dabei ist zu betonen, dass entlang der Grenzen Polens damals noch überall Staatenbildungsprozesse in Gang waren, wobei es im Westen rasch zur Wiedervereinigung der beiden geteilten deutschen Staaten kam. Das demokratische Polen hat diesen Prozess stark unterstützt, wobei man die deutsch-polnische Zusammenarbeit zugleich als bedeutenden Bestandteil der neuen 6 Staatenordnung Europas und als wesentliche Voraussetzung für die rasche Einbindung Polens in den europäischen Integrationsprozess ansah. Der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands verlief parallel zur ersten Etappe der politischen Transformation in Polen und war für Warschau von fundamentaler Bedeutung: Das demokratische Gesamtdeutschland sollte Polen den Weg in die europäische Integration weisen und es damit in ein Bündnis der politischen Sicherheit führen. Nicht von ungefähr wies Außenminister Skubiszewski in seiner Rede vom 22. Februar 1990 auf dem VI. Deutsch-Polnischen Forum in Posen angesichts der sich abzeichnenden staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands auf folgenden Grundzusammenhang hin: „Wir müssen eine deutschpolnische Interessengemeinschaft aufbauen [...]. Diese wird ein wichtiger Bestandteil der internationalen Ordnung im sich vereinigenden Europa sein. Ohne die deutsch-polnische Zusammenarbeit wird es dieses Europa nicht geben”. Auch der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 bestätigte mit völkerrechtlicher Wirkung das strategische Ziel Polens, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Im Artikel 8 des Vertrages heißt es: „Mit dem Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Republik Polen legen die Europäischen Gemeinschaften, ihre Mitgliedsstaaten und die Republik Polen die Grundlage für eine politische und wirtschaftliche Heranführung der Republik Polen an die Europäische Gemeinschaft. 7 Die Heranführung wird von der Bundesrepublik Deutschland ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Kräften gefördert”. Nach Abschluss des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags tat man von beiden Seiten zunächst recht viel, um dem Axiom der „Interessengemeinschaft” ein festes Fundament zu verleihen: Das „Grenzproblem” wurde ein für alle Mal behoben – das vereinigte Deutschland bestätigte, dass die deutsch-polnische Grenze aus völkerrechtlicher Sicht endgültig sei. Darüber hinaus man schuf geeignete Grundlagen für die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen auf allen Gebieten. Am wichtigsten war jedoch, dass Polen der Weg in die Atlantische Allianz und die Europäische Union geebnet wurde. In den Jahren bis zur Erlangung der EU-Mitgliedschaft am 1. Mai 2004 bewiesen die Regierenden in Warschau große Entschlossenheit bei der Realisierung dieses strategischen Zieles, das von einem politischen Grundkonsens im Lande getragen wurde. Die Bundesrepublik wurde dabei zu Recht als „Anwalt” Polens auf dem Weg in die EU bezeichnet, da sie dieses strategische Ziel über die teilweise unterschiedlichen Interessen auf einzelnen Feldern der bilateralen Beziehungen zu stellen vermochte. In vergangenen Jahren kamen manchmal Stimmen zu Wort, die auf die Idee der deutsch-polnischen „Interessengemeinschaft” zugunsten von partikularen nationalen Interessen verzichten wollten. Aber gerade diese „Interessengemeinschaft” bildete ja den Ausgangspunkt für die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland nach 1989 und 8 war zugleich eines der Fundamente der neuen polnischen Außenpolitik unter Mazowiecki und Skubiszewski. Nach meiner Überzeugung sollte man sich deshalb von ephemeren Erscheinungen der Realpolitik und populistischen Tendenzen der Tagespolitik nicht den Blick auf das Ganze verstellen lassen. Das Jahr 1989 hat zu einem politischen Paradigmenwechsel von strategischer Bedeutung für den gesamten europäischen Kontinent geführt und hat insbesondere auch der Politik Polens und seinen Beziehungen zu Deutschland neue Wegweiser an die Hand gegeben. Seit dem Jahr 1989 haben wir einen langen Weg hinter uns. Seit 8 Jahren ist Polen Mitglied der EU. In den vergangenen Jahren ist die Aktivität und Rolle meines Landes beim europäischen Forum signifikant gestiegen, und die Ratspräsidentschaft im abgelaufenen Jahr war ein notwendiger Gradmesser – im positiven Sinne dieses Wortes – für die weitere Intensivierung des Engagements in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Alltag hat viele Mythen und Ängste vergehen lassen, die vor dem Beitritt und der Anfangsphase unserer Mitgliedschaft geäußert und diskutiert worden waren. Die Landwirtschaft in Polen kommt nicht nur innerhalb der Landesgrenzen, sondern auch im Bereich des Exports von landwirtschaftlichen Produkten auf Auslandsmärkte klar, auf das Dorf in Polen hat es dagegen Fördergelder geregnet, die es erlauben, Bauernhöfe zu modernisieren, aber vor allem verändert sich das Antlitz der Regionen: sie tragen dazu bei, dörfliche Straßen und die Grundinfrastruktur (Wasserleitungen, Kanalisation, Gas- und Telekommunikationsinfrastruktur – darunter Reichweite des Zugangs 9 zum Internet) zu verbessern. Produkte aus anderen Unions-Ländern haben vom polnischen Markt keine polnischen Produkte verdrängt, und die nationalen Unternehmen entwickeln sich gut, haben aufgrund der Möglichkeit zur Anknüpfung engerer Kontakte und der Expansion auf den gesamten Binnenmarkt gewonnen. Ausländer haben polnische Immobilien und landschaftlichen Boden nicht aufgekauft (das haben manche sehr stark befürchtet), ganz im Gegenteil – es sind Polen, die in deutsche Städte an der Grenze umziehen, sie siedeln sich dort an und erwerben Immobilien. Die Polen gehören gegenwärtig zu den größten Anhängern der Mitgliedschaft unter den 27 Staaten. Die Befürwortung der Europäischen Union ist auf einem sehr hohen Niveau (bis zu 80 Prozent), und 60 Prozent der Gesellschaft schreibt die wirtschaftliche Stabilität im Land gerade der Mitgliedschaft in der EU zu. Die Wirtschaft in Polen kommt gut klar – sogar im Angesicht der Krise, die alle europäischen Länder seit 2008 quält. Eine der durch Polen (gemeinsam mit Schweden) ausgerufenen Initiativen war das Projekt der sog. Östlichen Partnerschaft – Tätigkeit, die ein neues Maß in den äußeren Beziehungen der Union mit den Ländern Osteuropas und des Südlichen Kaukasus (Armenien, Aserbaidjan, Weißrussland, Georgien, Moldawien und Ukraine) hat. Einen wichtigen Platz im Rahmen der Östlichen Partnerschaft nimmt die Initiative des Südlichen Energiekorridors ein, die darauf abzielt, die Diversifizierung der Zulieferungswege und Energierohstoffquellen für die Europäische Union zu gewährleisten. 10 Es sind nur kleine Beispiele der Rolle Polens im Europa, von dem ich im Jahre 1986 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt habe, dass es unbedingt erst Freiheit braucht, um auch dauerhaft Frieden garantieren zu können. Im vergangenen November hatte ich einen besonderen Grund zur Freude, als ich in Berlin im Namen des gegenwärtigen Ministerpräsidenten der Republik Polen Donald Tusk die Goldene Victoria für den Europäer des Jahres 2011 in Empfang nehmen durfte - eine herausragende Auszeichnung in besonderer Zeit. Sie wurde noch während der polnischen Ratspräsidentschaft einem Polen verliehen, dessen Land am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten ist. In der Zeit, als woanders die Finanzkrise europäische Regierungen zum Abgang gebracht hat, wurde sie dem Ministerpräsidenten des freien Polens zuerkannt, der gemäß der letzten Wählerentscheidung zum zweiten Mal seine Amtsperiode als Regierungschef antreten durfte – ein in der neuesten Geschichte Polens noch nie dagewesener Vertrauensausdruck, Würdigung und Anerkennung der bisherigen Leistungen und zugleich enorme Herausforderung, die vielleicht auch positiv in die Zukunft Europas zu blicken erlaubt. Und schließlich fand die genannte Berliner Verleihung im Jubiläumsjahr des 20. Jahrestages des hier schon angesprochenen deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit statt – eines womöglich gerade jetzt europaweit zu wenig beachteten Musters der Solidarität, historischer Verantwortung und politischer Reichweite. Es war ohne Zweifel eine Würdigung des persönlichen Weges des Preisträgers Donald Tusk, aber gleichzeitig – so empfinde ich es auch 11 heute – unseres gesamtpolnischen Beitrags in die europäische Einigung, unseres aktivern Engagements in europäische Angelegenheiten und unserer Treue den europäischen Werten gegenüber. In der schwierigen Zeit der wuchernden Krise der Finanzen, der Wirtschaft und schließlich der Demokratie blicken viele Europäer mit Unsicherheit in kommende Wochen, Monate und Jahre. Bisweilen tritt mancherorts der bislang stärkste europäische Grundsatz der Solidarität in der Hintergrund. Und deshalb sind eben jetzt an europäischen Spitzenpositionen Menschen angefragt, die den wahren Geist der Entscheidungsstärke und der mutigen Tatbereitschaft zugunsten der besseren Entwicklungsperspektiven an den Tag legen können. Ich selbst, als mittlerweile über 90-jähriger früherer AuschwitzHäftling und Zeuge bewegender Augenblicke der Geschichte Europas und der Welt weiß, dass unser Kontinent schon etliche Krisen durchgemacht und diese nur dank starker, demokratisch legitimierter politischer Führung überwunden konnte. Was mir diesmal Sorgen bereitet, ist aber die allgemeine Infragestellung des europäischen Ethos – einer Vision von Einheit und Solidarität. Europa braucht heute nicht über die Möglichkeiten des Austritts aus der Eurozone zu diskutieren, es braucht die möglichst rasche Rückkehr auf den Weg des wirtschaftlichen Wachstums. Die Verstärkung der Zusammenarbeit in der Eurozone sollte nicht nur unter ihren Mitgliedern stattfinden, sondern auch unter Beteiligung von jenen, die die gemeinsame Währung noch nicht übernommen haben. Eine wahre Herausforderung für Europa ist die Suche nach einem Ausweg, der ermöglicht die Integration innerhalb der Eurozone zu stärken und bestehende Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der EU nicht aus den Augen zu verlieren. 12 Ministerpräsident Donald Tusk sprach unlängst von dem „Wiederaufbau des Vertrauens und des Glaubens, dass Europa doch einen tiefen Sinn hat“. „Allen Polen und allen Europäern“ – das sind weiter seine Worte – „müssen wir veranschaulichen, dass wir entschlossen sind alles mögliche zu unternehmen, damit die Finanzund Identitätskrise nicht zum Verzweifeln an der Europäischen Union – einem historisch und politisch einzigartigen Konstrukt – führt“. Der Krise zum Trotz haben die Menschen in Polen bei den Parlamentswahlen 2011 für freundschaftliche Nachbarschaft votiert und damit ein klares Signal für die Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft, Reife und Verantwortung für das europäische Geschehen gesendet. Besonders in schwierigen Zeiten wie diese können solche Entwicklungen wahrlich als historisch glückliche Ereignisse bewertet werden. Ich gehöre zu jenen, die sich als realistische Optimisten bezeichnen. Vielleicht deshalb, weil es ihnen im Leben gegeben war viele Formen des Bösen zu erfahren und sie nun im Stande sind aus der Perspektive der vergangenen langen Zeit auch die positiven Errungenschaften der Menschen und der Nationen zu beurteilen. Gerade in Neuss ist es erforderlich an die Bedeutung der Tradition und der Erfahrungen zu erinnern. Als ich selbst von den Erlebnissen der Menschen lese, die im 15. Jahrhundert am entlegenen Rhein ein Jahr der Belagerung ihrer Stadt durchstehen mussten, erinnere ich mich, dass ich mein eigenes Erwachsenenleben im Alter von 17. Jahren angefangen habe – als einer jener Europäer, Polen und Katholiken an der vom Rhein weit entfernten Weichsel, die im September 1939 die Belagerung der polnischen Hauptstadt Warschau und die heranziehende Bedrohung der Existenz hunderttausender Familien erlebten. Ich erinnere mich an 13 den Hunger, die Krankheiten und den Tod. Diese Erfahrungen der neuesten Geschichte Europas im Verlauf einer langen Lebensspanne und die Gegenüberstellung des Erfahrenen mit der heutigen Situation und den Hoffnungen der Europäer am Rhein und an der Weichsel erlauben mir das Vertrauen in bessere Zukunft unserer Nationen und des gesamten Europas – wenn wir es wirklich wollen – auszudrücken. Meine Ausführungen schließe ich also mit den Worten ab: sei Realist, verlange das Unmögliche! * * * 14