Offener Brief, zu verbreiten unter Naturschützern in Indien, insbesondere den Mitgliedern des Wildlife Trust of India, in der interessierten Öffentlichkeit und relevanten Institutionen und Behörden. GERECHTE ABSICHTEN AUF ABWEGEN Liebe Mitfreunde der Natur, als jemand, der sich im Naturschutz einsetzt wie auch als Insektenfachmann bin ich sehr betrübt über die Entwicklung im Svacha/Kucera-Prozess. Naturschützer wie Wissenschaftler scheinen sich zum Teil in gegnerischen Gräben eingerichtet zu haben – eine unhaltbare Situation. Wenn wir in ihr verharren, schneiden wir uns ins eigene Fleisch. Es waren Wissenschaftler, die sich für Naturschutz aussprachen, bis er zu einem weit akzeptierten Anliegen in den meisten Ländern wurde, und immer noch stehen weltweit viele Wissenschaftler in der ersten Reihe, wo für Naturschutz gestritten wird. Schutzplanungen für bestimmte Arten oder Lebensräume hängen vom Wissen über ihre Anforderungen und wechselseitigen Beziehungen ab – das wiederum von Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt wird, seien es Amateure oder Professionelle. Es ist leichtverständlich, dass jede über Grundlagenforschung verhängte Einschränkung negative Auswirkungen auf den Naturschutz haben wird. Effektiver Schutz ist ohne ein Fundament von Wissen unmöglich. Ich bedaure zutiefst die Haltung, die wenige Unterzeichner der Petition zur Unterstützung der zwei tschechischen Wissenschaftler gezeigt haben. Diejenigen, die sich in verletzender Weise an der Diskussion beteiligten, müssen daran erinnert werden, dass sich die demokratische Verfassung Indiens als gefestigter erwiesen hat als die einiger europäischer Staaten. Wie in jedem Verfassungsstaat sind die indischen Behörden verpflichtet, sich mit jeglicher Gesetzesverletzung in irgendeiner Weise zu befassen, und dürfen dafür nicht im Vornherein kritisiert werden. Das Gericht hat festgestellt, dass Herr Svacha und Herr Kucera ungesetzlich gehandelt haben. Auch wenn wir die Frage beiseite lassen, ob sie gegen den Wildlife Protection Act (WLPA) verstoßen haben, indem sie in einem Schutzgebiet Insekten sammelten (die Angeklagten bestreiten dies, und die dem Gericht hierzu vorgelegten Beweise sind ungenügend), und indem sie zwei Exemplare einer geschützten Art fingen (aller Wahrscheinlichkeit nach in Unkenntnis ihrer Identität und ihres gesetzlichen Status), steht doch die Verletzung des Biological Diversity Act (BDA) durch sie außer Zweifel. Jeder Bürger einer demokratischen Gesellschaft weiß, dass Gesetze Menschenwerk sind und daher fehlerhaft sein können, und selbst eine vernünftige Gesetzgebung teilweise im Konflikt mit dem Allgemeininteresse stehen kann. Das Recht ist kein Götze, dem zu gehorchen ist, sondern Gegenstand der Diskussion, manchmal sogar der aktiven Opposition. Die großen Gründer des modernen Indien, Mohandas K. Gandhi and Jawaharlal Nehru, haben davon der Welt bleibende Beispiele gegeben. Der BDA ist ein Beispiel eines unfertigen Gesetzes. In erster Linie gedacht, die Plünderung indischer Natur ohne Teilung der Profite zu verhindern – eine vollkommen gerechtfertigte Absicht – bringt es in sich selbst wie durch seine Umsetzung schwerwiegende Rückwirkungen auf biologische Forschung mit sich. In der derzeitigen Gestaltung werden die negativen Folgen des BDA möglicherweise nicht durch seine positiven Auswirkungen aufgewogen. Eine Anzahl indischer Wissenschaftler haben bereits besser, als ich es je könnte, die Probleme aufgezeigt (→1, 2, 4, 5). Ich hebe nur einen Aspekt hervor: Vom Gesichtspunkt des Naturschutzes ist es wichtig zu begreifen, dass der BDA Pflanzen und Tiere nicht an sich schützt. Im Gegenteil bringt er ein Paradox hervor: Jeder indische Bürger (und jeder Besucher des Landes) ist frei darin, so viele Insekten zu erschlagen oder tot zu sprühen wie es ihm beliebt, solange er sie nur als eklige Geschöpfe betrachtet. Wenn jemand sie als der wissenschaftlichen Untersuchung wert erachtet und keine Ausnahmegenehmigung (permit) besitzt, ist es ein Gesetzesbruch. Große Flächen natürlicher Vegetation können für Landwirtschaft oder zu Bauzwecken ohne spezielle Erlaubnis vernichtet werden. Wenn aber einige wenige Kräuter als Herbarexemplare gepflückt werden, kann dies ein Verbrechen darstellen – insbesondere, wenn sie ohne permit ins Ausland geschickt oder mitgenommen werden. Vorausgesetzt, dass die zwei tschechischen Wissenschaftler Gesetzesbrecher sind, so ist immer noch zu fragen: Wie schlimm ist das, was sie taten oder wessen sie verdächtigt werden? Ich möchte einige vom Wildlife Trust of India (WTI) veröffentlichte Sätze kommentieren, um diese Frage zu untersuchen. “Drei Jahre Gefängnis für den Insektendieb Kucera” (Überschrift WTI) Diebstahl setzt Eigentum voraus. Der BDA ist gedacht, die auswärtige Patentierung von Derivaten indischer Lebensformen zu verhindern. Die Vermarktung nationaler Reichtümer sollte unter der Kontrolle eines Landes sein, Eigentum ist vor diesem Hintergrund ein zutreffender Begriff. Natur an sich, und das Wissen über sie, ist Eigentum der Menschheit, aber nicht bestimmter Personen oder eines bestimmten Landes. Forscher, anders als Konzerne, teilen stets was sie hervorbringen (durch Publikationen, etc.). Wissen nicht zu teilen, gilt in der Wissenschaft als unethisch. “Dieser Fall hat bekräftigt, dass das Gesetz das Wildern von Insekten dem Wildern anderer, prominenter Tiere gleichstellt. Dies ist bedeutsam, da Insekten im Naturhaushalt eine wichtige Rolle spielen. Ihre Entfernung kann schwere Einbrüche in natürlichen Lebensräumen hervorrufen.” (Ashok Kumar, stellvertretender Vorsitzender, WTI) Diese drei Sätze erscheinen auf den ersten Blick logisch. Die Verknüpfung der juristischen Aussage mit den naturwissenschaftlichen ist allerdings irreführend. Zudem ist der dritte Satz vollkommen hypothetisch. Habitatzerstörung in großem Maßstab (z.B. in Monokulturen) kann zu derartigen Einbrüchen führen, aber in strukturreicher Agrarlandschaft können sie nie beobachtet werden, schon gar nicht in natürlichen Lebensräumen. Kein Sammeln, wie intensiv es auch sein mag, reicht nur annähernd an die Effizienz natürlicher Verfolger heran, insbesondere der Vögel. Dies ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund, warum bis zum heutigen Tag Sammelaktivitäten niemals als ein Faktor bestätigt werden konnten, der zur Abnahme einer gefährdeten Insektenart beigetragen hat (3). “Auf die Verhaftung folgende Untersuchungen haben aufgedeckt, dass Kucera, ein Förster, in den Insektenhandel verwickelt gewesen ist.” (WTI) Ich kenne Herrn Kucera nicht, so dass ich keine Ahnung habe, inwieweit diese Verdächtigung haltbar ist. Was ich hingegen sicher weiß, ist dass der “Insektenhandel” nicht als ernstzunehmendes Geschäft betrachtet werden kann. Der komplette Jahresumsatz dieser Branche in Europa bewegt sich auf niedrigstem Niveau, und ist keinesfalls im Wachsen begriffen. In den Ländern des deutschen Sprachraums (Gesamtbevölkerung etwa 120 Mio.) gibt es nur ein einziges Geschäft, in dem genadelte Insekten zu erwerben sind. Kein Geschäftsmann würde dies einen Markt nennen. Gesetze, die das Sammeln oder das Handeln von Insekten einschränken, sind in diesem Zusammenhang ohne Einfluss, da “Insektenhandel” nach wie vor weitgehend erlaubt ist. Selbst wenn das Gegenteil der Fall wäre, jedermann weiß: Wenn mit irgendetwas das dicke Geld gemacht werden kann, so wird es jemand tun – solange nur eine Kundschaft vorhanden ist. “Diese sogenannten bedeutenden Wissenschaftler können nicht für sich in Anspruch nehmen, dass sie von der Tatsache, dass jedes Land seine eigenen Naturschutzgesetze hat, nichts wussten. Zumal, wenn es in ihrem eigenen Land ähnliche Gesetze gibt.” (Saurabh Sharma, Anwalt im Auftrag des WTI) Stimmt! Auch für mich ist Nachlässigkeit dieses Ausmaßes schwer zu verstehen. Ja, wir haben ähnliche Gesetze in meinem Land, aber sie werden in der Regel nicht auf wirbellose Tiere angewandt. In Deutschland sind Ausnahmegenehmigungen lediglich für Schutzgebiete, oder zum Fang geschützter Arten erforderlich. Selbst in diesen Fällen verzichten die Behörden oft auf die bürokratische Prozedur der Ausstellung einer Genehmigung, wenn sie von den wissenschaftlichen Absichten überzeugt sind. Mir wurde in zwanzig Jahren erst einmal eine formelle Genehmigung erteilt, und sie war praktisch unbedeutsam – die Ausstellung nahm mehr als ein halbes Jahr in Anspruch, meine Arbeit hatte ich zu diesem Zeitpunkt nahezu abgeschlossen. “Wenn man das enorme Ausmaß des beschlagnahmten Materials bedenkt, wird die Bestimmung durch die Zoological Survey of India einige Zeit erfordern.” (Kumar Nag, Assistant Divisional Forest Officer, Wildlife Division 1) Diese Aussage ist bezeichnend: Die meisten Leute bemerken Insekten nur selten, weil es sich um kleine und oft versteckt lebende Tiere handelt. Mit ihrer tatsächlichen Anzahl konfrontiert, sind sogar Menschen mit allgemeiner Naturerfahrung verblüfft. Im Moment bin ich mit der Bestimmung einer Aufsammlung von 3.600 Käfern aus Baumkronen beschäftigt, um innerhalb einer Langzeitstudie vergleichbare Datensätze zu liefern. Die Gesamtzahl der Insekten in diesen Proben, gesammelt in nur zwei Tagen von dreißig Bäumen, beträgt über fünfzigtausend. Aus den Gerichtsberichten des WTI entnehme ich, dass Herr Svacha und Herr Kucera rund 500 Insekten gesammelt haben, ebenfalls innerhalb weniger Tage. Nicht überraschend, wird dies als Beweis übermäßigen Sammelns betrachtet. Tatsächlich ist es ein Beleg für das Gegenteil, und schließt kommerzielle Motive aus. Ich möchte eine Erklärung anfügen, warum Insekten gesammelt werden. Es ist nicht, weil wir Wissenschaftler sie zu töten, oder zu besitzen wünschen. Es ist, weil die Mehrzahl der Insekten selbst durch den erfahrensten Experten im Gelände nicht voneinander unterschieden werden kann, sondern sorgfältige mikroskopische Untersuchung erfordert. Dies trifft in besonderem Maße zu in Ländern wie Indien, die eine reiche Fauna beherbergen (50.000 oder mehr Insektenarten), die gleichzeitig schlecht untersucht ist (3). Eine sichere Bestimmung ist in zahlreichen Fällen selbst den größten nationalen Institutionen unmöglich. Freie internationale Zusammenarbeit und Austausch sind daher unter allen Umständen erforderlich (→2, 5). “Wären sie mit guten Absichten gekommen, so hätten sie uns ansprechen können, und wir hätten ihnen geholfen wie es uns nur möglich ist.” (Kumar Nag, Forest Officer, Wildlife Division 1) Herr Nag mag ein ehrlicher Mann sein, aber indem er so redet, zeigt er dann, dass er über die Praxis der Ausstellung von permits in Indien nicht im Bilde ist. Eine den Regeln des BDA gemäße Erlaubnis zu erteilen liegt außerhalb seiner und außerhalb der Kompetenz der Forstbehörde im Ganzen. Indische Wissenschaftler beklagen sich laut über die Hürden, die biologischer Forschung im Wege stehen, ihre Arbeit manchmal beinahe unmöglich machend und ein Ausmaß erreichend, das als für ganze Wissenschaftszweige bedrohlich angesehen wird (→1, 2, 4, 5). Für Ausländer erscheint es nahezu unmöglich, eine Sammelgenehmigung zu erhalten. Eine kleine Umfrage in unserer fachlichen Gemeinschaft brachte nur einen Fall ans Licht, in dem Amateurwissenschaftlern ausnahmsweise ein permit gewährt wurde. Später wurden sie dennoch für zehn Tage in Haft genommen, und man sagte ihnen, dass das permit von der falschen Behörde ausgestellt worden war. “Starke Lobbyarbeit von internationalen Wissenschaftlern zugunsten der Angeklagten.” (WTI) Es befriedigt mich, dass unsere Lobbyarbeit als stark eingeschätzt wird, und ich hoffe, dass sie sogar noch stärker wird. Wissenschaft ist verdichtete Vernunft, und unser Einsatz ist eher einer zugunsten der Vernunft als zugunsten bestimmter Personen. Ich kenne sie nicht persönlich, aber da sie Wissenschaftler sind, weiß ich, dass Herrn Kuceras und Herrn Svachas moralisches Bewusstsein bezüglich der Natur höher als üblich entwickelt ist. Ich bin überzeugt, dass der WTI in Zukunft um fachliche Beratung im Lande nachsuchen wird, bevor er sich in einem ähnlichen Fall engagiert. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass er nicht vom Weg abkommt. Der WTI möge seinen Einfluss nutzen, um zusammen mit der Gemeinschaft der Wissenschaftler Indiens und allen Menschen guten Willens in verschiedenen Institutionen die notwendigen und bereits formulierten Ergänzungen zum WLPA und BDA voranzubringen (→2). Die biologische Forschung in Indien wie auch die Natur Indiens werden in Folge eines solchen Wechsels vom simplen Artenschutz hin zur Naturerhaltung erblühen. Berlin/Deutschland, 30. September 2008 Boris Büche Wissenschaftliche Artikel: 1) Bawa, K.S. (2006): Hurdles for conservation science in India. http://www.ias.ac.in/currsci/oct252006/1005.pdf 2) Madhusudan, M.D. et al. (2006): Science in the wilderness: the predicament of scientific research in India´s wildlife reserves. http://www.ias.ac.in/currsci/oct252006/1015.pdf 3) Narendran, T.C. & Cherian, P.T. (2002): On some misconceptions on conservation of insects. http://www.zoosprint.org/ZooPrintJournal/2002/January/687-688.pdf 4) Prathapan, K.D. et al. (2006): Biological Diversity Act, 2002: Shadow of permit-raj over research in India. http://www.ias.ac.in/currsci/oct252006/1006.pdf 5) Prathapan, K.D. et al. (2008): Death sentence on taxonomy in India. http://www.ias.ac.in/currsci/jan252008/170.pdf