Axel Schulte Integrationspolitik, Bürgerrechte und Demokratie im Einwanderungsland Deutschland Beitrag zur Kooperationstagung des Interkulturellen Rates in Deutschland und des DGB-Bildungswerkes, Düsseldorf zum Thema: „Bürgerrechte im Einwanderungsland Deutschland. Einbürgerung – Integration – Wahlrecht“ Mittwoch, den 21.08.2002 in Frankfurt am Main IntgrpolBürgerR1.doc 1 Einleitende Überlegungen Ich möchte an einen Satz, den Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede formuliert hat, anknüpfen. Beim Thema Ausländerintegration - so Rau - ist es wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Ich halte das ebenfalls für wichtig und möchte mit einigen Fragen beginnen und dann versuchen, die Antworten zu formulieren. Die erste Frage: Warum wird über Integrationspolitik diskutiert und über das Zusammenleben? Der Hauptgesichtspunkt dabei dürfte sein, dass Einwanderung in der Vergangenheit stattgefunden hat und in Zukunft aller Voraussicht nach auch weiter stattfinden wird. Man spricht davon, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist oder geworden ist. In ähnlicher Weise kann man davon sprechen, dass Europa sich in der zweiten Hälften des vergangenen Jahrhunderts zu einem Einwanderungskontinent entwickelt hat; und es ist davon auszugehen, dass aufgrund globaler Probleme und aufgrund von Faktoren, die in unseren Aufnahmegesellschaften wirken, zum Beispiel auf Teilarbeitsmärkten oder aufgrund der demografischen Entwicklung weiterhin Zuwanderungen in einem erheblichen Umfang stattfinden werden. Davon wird auch auf der Ebene der europäischen Union ausgegangen. Es geht also nicht so sehr um das Ob, sondern mehr um das Wie des Zusammenlebens. Die zweite Frage: Was ist Integration? Mit Integration bezeichnet man Eingliederung, die Herstellung eines Zusammenhangs. Begreift man Integration als einen Prozess, dann geht es dabei zum einen um die Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaften und zweitens auch um die Integration der Gesamtgesellschaft. Integration bezieht sich also nicht nur auf den Teilbereich Eingliederung von Migranten, sondern auch auf das Zusammenleben insgesamt und ist damit eine gesamtgesellschaftliche Frage. Integration kann dynamisch aufgefasst werden als Prozess, auf der anderen Seite aber auch als angestrebter Zustand, als eine Zielvorstellung. Und unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich dabei um eine zu bewältigende Aufgabe. Denn ich gehe davon aus, dass sich Integration nicht automatisch ergibt, sondern, dass man dafür etwas tun muss, sei es im Bereich der Pädagogik, sei es im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements oder sei es im Bereich gesellschaftspolitischer Aktivitäten oder politischer Maßnahmen. Nun stellt sich die Frage, wodurch Integration erfolgt. Als Politologe möchte ich mich vorrangig auf den Bereich der Politik konzentrieren. Weshalb ist dieser Bereich wichtig? Hier werden Entscheidungen gefällt, die kollektiven Charakter haben, verbindlich für die Gesamtgesellschaft sind und das gesamtgesellschaftliche Interesse betreffen. Bei ‚Integrationspolitik’ kann man auch wieder unterscheiden zwischen direkten Maßnahmen, die auf das spezifische Politikfeld Migration, Integration, Flucht, Asyl bezogen sind, und indirekten Maßnahmen, die auf die Gesellschaft insgesamt gerichtet sind. Integrationsprozesse und entsprechende politische Maßnahmen können sich an unterschiedlichen Zielvorstellungen orientieren. In der Diskussion sind zum Beispiel Gesichtspunkte der Modernisierung. Bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts war das ein zentrales Argument: „Wir brauchen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht und ein modernes Zuwanderungsrecht.“ Unter dieser Perspektive spielen also Gesichtspunkte der Modernisierung traditioneller Strukturen und Verhältnisse eine Rolle. Ein anderer Gesichtspunkt ist die Nutzung menschlicher Ressourcen. Migranten 1 2 werden nicht mehr nur unter Gesichtspunkten von Problemen oder Defiziten gesehen, sondern auch als eine Art Humankapital, das dazu dienen könnte, Probleme, die in den europäischen Aufnahmegesellschaften bestehen, zu vermindern. Das sind etwa Fragen des Geburtenrückgangs, der Überalterung und so weiter. Beide Gesichtspunkte enthalten Zutreffendes, haben aber auch einen ambivalenten Charakter. Ausgangspunkt und Bezugspunkt meiner Überlegungen ist das Prinzip der Demokratie, das nach dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft eine zentrale Grundlage des Zusammenlebens darstellt bzw. darstellen soll. Dabei handelt es sich einerseits um eine rechtliche Norm und andererseits um ein zentrales gesellschaftspolitisches Leitbild, auf das Bezug genommen wird. In dem Bericht der Unabhängigen Kommission ‚Zuwanderung’ heißt es zum Beispiel nicht nur: „Wir brauchen Zuwanderer“ - damit beginnt der Bericht - ,es wird auch auf den Gesichtspunkt der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte Bezug genommen. Das ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil diese Prinzipien einen verbindlichen Charakter haben. Die Politik hat zwar viele Spielräume, aber es gibt bestimmte Rahmenbedingungen, die etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im EU-Recht, im EG-Vertrag oder in der EU-Grundrechte-Charta verbindlich formuliert sind. Warum ist Demokratie für Integrationspolitik so wichtig? Einmal geht es darum, dass in der Demokratie Verfahrensweisen für Beteiligung geregelt sind, etwa durch das allgemeine Wahlrecht, durch das gleiche Gewicht jeder Stimme und durch politische Freiheitsrechte. Darüber hinaus ist Demokratie aber ein bestimmtes Leitbild, das darauf abzielt, insbesondere die Menschenrechte und Bürgerrechte zu verwirklichen. Schließlich kann man anhand des Demokratieprinzips eine Art Überprüfung der Realität vornehmen. Ähnlich wie im Betrieb mit Hilfe des Umwelt-Audit kann man auch ein Demokratie-Audit konzipieren und umsetzen sowie fragen, inwieweit die Ideale der Demokratie in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Diese Leitbilder können bei der Integrationspolitik und bei Integrationsprozessen sehr unterschiedlich sein. Es wird zum Beispiel unterschieden zwischen einem republikanischen Integrationsmodell, einem ethnischen Integrationsmodell und einem multikulturellen Integrationsmodell. Frankreich, Deutschland und Niederlande verfolgen zum Beispiel unterschiedliche Integrationspolitiken. Das hängt mit unterschiedlichen historischen Prozessen und Erfahrungen in den einzelnen Ländern zusammen, zum Beispiel auch mit Kolonialbeziehungen, mit dem Selbstverständnis, wer als zugehörig bzw. als nicht zugehörig angesehen wird und wie und unterw elchen Voraussetzungen ‚Zugehörigkeit’ entwickelt werden kann, wenn Neue dazu kommen. Ich gehe davon aus, dass Integrationspolitik insbesondere dazu dienen soll, Integrationshemmnisse, die in den Strukturen der Aufnahmegesellschaften liegen, abzubauen und damit den Immigranten gleiche Teilhabechancen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen, ohne dass dies notwendiger weise mit einer kulturellen Assimilierung einhergehen muss. Meine Überlegungen möchte das jetzt unter den Gesichtspunkten der rechtsstaatlichen, politischen, sozialstaatlichen und kulturellen Demokratie konkretisieren. Zentrale Elemente innerhalb des Demokratieverständnisses sind - auf der Basis der 2 3 Menschenwürde - die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Diese Werte sind in den Verfassungen der einzelnen EU-Staaten bereits verankert, und sie sind - zumindest seit dem Amsterdamer Vertrag - auch auf der Ebene der EU und damit für die Mitgliedsstaaten verbindlich. 1. Rechtsstaatliche Demokratie und Integration Von zentraler Bedeutung für die rechtsstaatliche Demokratie ist die Anerkennung von Grundrechten. Es gibt unverletzliche Rechte des Individuums, Freiheitsrechte, die gegenüber dem Staat Abwehrrechte sind. In dieser Hinsicht befinden sich Migranten in den Aufnahmeländern, soweit sie Ausländer sind, in einer besonderen Situation: Sie haben einerseits die gleiche Freiheit, sie verfügen über die Menschenrechte, sie verfügen über das Prinzip der Menschenwürde und über gleichen Rechtsschutz. Die Freiheit der Migranten in den westlichen Demokratien ist andererseits ungleich und das liegt am Ausländerstatus, an dem Fehlen von Bürgerrechten. Diese Ungleichheit und die Unterscheidung von Menschen- und Bürgerrechten wird in der Regel nicht in Frage gestellt. Durch Einwanderungsprozesse oder Daueraufenthalte wird diese Unterscheidung aber problematisch. In der Bundesrepublik ist diesem Tatbestand Rechnung getragen worden, etwa durch die Verankerung von Verfestigungsregelungen. Zunächst auf der Verordnungs-, dann auf der Gesetzesebene wurde seit 1990 anerkannt, dass mit zunehmender Dauer des Aufenthalts die Notwendigkeit wächst, eine Gleichstellung im Hinblick auf die Bürgerrechte vorzunehmen. Dieser Widerspruch zwischen stattgefundener Einwanderung und dem bestehenden Ausländerstatus besteht auch auf der Ebene der EU, und zwar insbesondere für die Drittstaatsangehörigen, die sich zwar sozial zu EU-Bürgern entwickelt haben, aber aufgrund ihrer fehlenden rechtlichen Zugehörigkeit zu einem der Mitgliedsstaaten weiterhin als Drittstaatler gelten. Im Kern geht es unter Gesichtspunkten der rechtsstaatlichen Demokratie darum, dass die Ausländer, die nicht eingebürgert sind und über einen sicheren Aufenthalt und freien gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt verfügen, weitgehend gleiche soziale Rechte erhalten. In der letzten Zeit bemüht sich die EU-Kommission um eine gerechtere Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten aufhalten. Ein wichtiger Beitrag zur Verwirklichung einer rechtlichen Gleichstellung wäre es, den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu erleichtern. Denn Voraussetzung für die Unionsbürgerschaft ist eben die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates. In der Bundesrepublik haben sich durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts gegenüber dem traditionellen Konzept der ethnischen Orientierung Erleichterungen bei der Einbürgerung ergeben, insbesondere durch die Einführung des Territorialprinzips für die Kinder, die hier geboren werden, mit Eltern, die einen gefestigten Aufenthaltsstatus haben. Dies gilt auch für bestimmte Anspruchseinbürgerungen und die Senkung der Mindestaufenthaltszeiten. 2. Politische Demokratie und Integration Zum Bereich politische Demokratie. Freiheit ist in diesem Konzept nicht mehr nur - wie ursprünglich verstanden - Abwehrrecht, sondern zielt auf kollektive politische Selbstbestimmung. Diejenigen, die Rechtsnormen unterworfen sind, die Objekte von Herrschaft sind, sollen diese Normen selbst mitbestimmen, sei es in Form von direkten Partizipationsmöglichkeiten oder indirekt, indem sie die Vertreter und Vertreterinnen 3 4 wählen können, die dann über die jeweiligen Normen mit bindendem Charakter entscheiden. Historisch waren zunächst nur die Gebildeten und die Reichen daran beteiligt; im Prozess der politischen Demokratisierung wurden nach und nach weitere Klassen und Schichten einbezogen, so die ärmeren und abhängigen Schichten und die Frauen. Trotz der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ist dieser Prozess der Demokratisierung eigentlich unvollendet, er müsste sich in die Richtung weiterentwickeln, dass Migranten, die dauerhaft hier leben, mit einbezogen werden. Das ist bisher nur in Ansätzen der Fall und zwar durch den Maastricht-Vertrag. Hier ist verankert, dass EU-Angehörige, die im Ausland leben, auf der kommunalen Ebene aktives und passives Wahlrecht und ebenfalls das Wahlrecht zum Europäischen Parlament haben. Beide Rechte sind jetzt auch in der EU-Charta der Grundrechte verankert. Das Problem dieser Regelungen besteht erstens in der Beschränkung auf die kommunale Ebene - unter dem Gesichtspunkt der Mitbestimmung bei den Normen, die verpflichtenden Charakter haben, ist das ein erhebliches Defizit - und zweitens in der Einschränkung beim Personenkreis auf die Unionsbürger. Auch in der EU-Charta der Grundrechte ist das Wahlrecht explizit auf die Unionsbürger bezogen. 3. Soziale Demokratie und Integration Nun zum Gesichtspunkt der sozialstaatlichen oder sozialen Demokratie. Freiheit und Gleichheit haben da wiederum spezifische Bedeutung, und zwar Freiheit verstanden als positive Freiheit. Das heißt: Es geht nicht um die abstrakte Möglichkeit, Rechte in Anspruch nehmen zu können, sondern darum, reale Verhältnisse herzustellen, dass die Einzelnen tatsächlich die Möglichkeit haben, die Freiheit auch tatsächlich zu nutzen. In diesem Zusammenhang wird auch von ‚positiver’ Freiheit gesprochen. Ich orientiere mich hierbei an den Überlegungen des italienischen Philosophen Norberto Bobbio. Er hat diese drei Elemente von Freiheit benannt: die liberale Perspektive „Freiheit vom Staat“, die politische Demokratie als „Freiheit im Staat“ und die sozialstaatliche Demokratie „Freiheit durch und mit Hilfe des Staates“. Das Sozialstaatsprinzip zielt darauf ab, nicht alles der Automatik des Marktes zu überlassen, sondern reale Bedingungen für eine zunehmend gleiche Freiheit herzustellen. Die soziale Lage der MigrantInnen ist in der Wirklichkeit immer noch durch erhebliche Benachteiligungen gekennzeichnet. Es sind zwar Verbesserungen in einzelnen Lebensbereichen erfolgt, aber diese positive Einschätzung ist beeinflusst durch den Vergleichsmaßstab. Vergleicht man die Lebenslage der zweiten und dritten Generation mit der ersten, dann kann man von Verbesserung sprechen. Wenn man die Lebenslage der Migranten mit der Gesamtbevölkerung vergleicht, sind im Hinblick auf Bildung, Ausbildung, Zugang zum Beruf, Einkommen, Arbeitslosigkeit erhebliche Defizite festzustellen. Das lässt sich in den Berichten der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung oder im Bericht der unabhängigen Zuwanderungskommission nachlesen. So wird in diesem Zusammenhang von einer strukturellen Desintegration bestimmter Migrantengruppen gesprochen. Die zentrale Frage für politische Maßnahmen und auch für die Wissenschaft zielt darauf, wodurch diese Situation bedingt ist. Hierzu gibt es verschiedene Erklärungsversuche. Einer setzt in erster Linie bei den Migranten selber an, bei bestimmten Defiziten der Information, der Sprache, der beruflichen Qualifikation. Um diese auszugleichen wird eine Vielzahl von Maßnahmen angeboten, die die 4 5 Chancengleichheit verbessern sollen. In anderen Ländern, etwa in den USA, wird stärker darauf abgestellt, nicht nur eine Chancengleichheit herzustellen, sondern eine Resultatsgleichheit. Das ist ein Konzept, das mit positiver Diskriminierung verbunden ist. Die Sozialstaatsperspektive, die auch in den EU-Dokumenten anerkannt wird, konzentriert sich dabei in erster Linie auf die staatliche Ebene. Man kann aber die Perspektive der sozialstaatlichen Demokratie auch erweitern, nach unten schauen und fragen, welche Faktoren dort für die Herstellung von mehr gleicher Freiheit’ von Bedeutung sind. In dieser Hinsicht ist meines Erachtens ein Ansatz wichtig, der auf „kollektive Demokratie“ zielt. Der Begriff wurde in den 20er Jahren von dem Politologen Ernst Fränkel geprägt. Dabei geht es um Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampffreiheit, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte, Unternehmensmitbestimmung, also darum, durch kollektive Aktionen von unten und soziale Vernetzung in der Gesellschaft günstigere Bedingungen für eine größere Gleichheit herzustellen. Was in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion heute unter dem Stichworten ‚Ghetto’ bzw. ‚Kolonie’ thematisiert wird, sind ähnliche soziale Zusammenhänge, die unter den Migranten, aber auch darüber hinaus, entwickelt werden. Berücksichtigt werden muss auch, dass in vielen Fällen Benachteiligungen von Immigranten nicht nur durch diese selbst zurück zu führen sind, sondern von Seiten der Mehrheitsgesellschaft verursacht werden. In dieser Hinsicht sind wirksame Maßnahmen gegen die institutionelle und soziale Diskriminierung notwendig. 4. Kulturelle Demokratie und Integration Zum Bereich der kulturellen Demokratie. Dass Demokratie kulturelle Implikationen hat, ist nicht selbstverständlich. Das ist über lange Zeit von Wissenschaftlern und der Politik kaum wahrgenommen worden. Es wurde zwar von einer Entwicklung der politischen zur sozialen Demokratie gesprochen, aber die kulturelle Demokratie ist erst im Zusammenhang mit den Migrationsprozessen und dem, was wir multikulturelle Gesellschaft nennen, thematisiert worden. Auf die Herausforderung von Multikulturalität und Multiethnizität gibt es sehr verschiedene und kontroverse Antworten sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Bereich. Einerseits ist Multikulturalität inzwischen zu einem ‚normalen’ Tatbestand in Einwanderungsgesellschaften geworden. Auf der anderen Seite wird heftig darüber gestritten, wie das gesellschaftliche Zusammenleben unter diesem Aspekt entwickelt werden soll. Eine Antwort zielt auf eine Verminderung von Vielfalt, also eine Art Homogenität. Diese konservative Perspektive kann unter dem Gesichtspunkt der deutschen Leitkultur gefasst werden. Eine andere Position, die insbesondere in den Sozialwissenschaften vertreten wird, vertritt die Auffassung, dass die Aufrechterhaltung von Traditionen, Sprache, Religion zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Migranten führe und somit eine Sackgasse sei, die für eine moderne Gesellschaft nicht akzeptabel ist. Ich selber räume dem Gesichtspunkt der Demokratie Priorität ein und meine, dass von den kulturellen Grundrechten, wie sie etwa im Grundgesetz oder aber auch in der EUGrundrechte-Charta verankert sind, ausgegangen werden sollte. Dabei sind verschiedene Gesichtspunkte wichtig, die für die kulturelle Entfaltung von Bedeutung sind. Da geht es zum einen um die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gruppe. Die kulturellen Grundrechte stehen zunächst Einzelpersonen zu. Diese Rechte 5 6 haben aber auch eine kollektive Dimension, weil eine kulturelle Entfaltung in der Regel in sozialen Zusammenhängen erfolgt. Darüber hinaus sind Grundrechte offen. Die Einzelnen können selbst darüber entscheiden, welcher Religion sie angehören oder, ob sie überhaupt religiös sein wollen. Es gibt keine politische Instanz, die das vorschreibt. Auch der Staat hat sich da zurückzuhalten, insofern haben auch die kulturellen Grundrechte eine Abwehrfunktion. Gleichzeitig sichern sie aber auch eine Teilhabe. Man soll an den kulturellen Prozessen teilhaben (können). Die Kontroverse über Multikulturalität wird auch auf der europäischen Ebene geführt, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit Sprachen und Sprachenvielfalt und im Hinblick auf den religiösen Bereich. In den EU-Dokumenten, die mir vorliegen, ist im Unterschied zu früheren Jahren die Tendenz deutlich, dass stärker davon ausgegangen wird, dass der Erwerb der Sprache der Aufnahmegesellschaft, eine zentrale Voraussetzung für Teilhabe in den Aufnahmegesellschaften ist. Gleichwohl muss aber auch die Frage beantwortet werden, welchen Stellenwert die Sprachen haben, die in der Realität in einem erheblichen Teil der Bevölkerung gesprochen werden. 5. Antidiskriminierungsmaßnahmen und Integration Ein letzter Bereich, auf den ich eingehen möchte, sind Antidiskriminierungsmaßnahmen. Bei ‚Diskriminierung’ geht es um eine Ungleichbehandlung, die sachlich nicht gerechtfertigt ist. Diese kann vom Staat ausgehen, von Gesetzen oder von der Gesellschaft, von Individuen oder von sozialen Gruppen. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Verpflichtungen der Politik, Antidiskriminierungsmaßnahmen durchzuführen, und zwar auf völkerrechtlicher Ebene, auf EU-Ebene und auf verfassungsrechtlicher Ebene. Diese Verpflichtungen beinhalten einmal eine Unterlassenspflicht. Der Staat oder staatliche Institutionen müssen sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen unterlassen. Die zweite Pflicht besteht darin, Formen und Mechanismen gesellschaftlicher Diskriminierung zu unterbinden. Bei diesem Aspekt geht es in erster Linie um das, was wir mit Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und so weiter thematisieren, also um offene Diskriminierung, Übergriffe, Gewalt, Volksverhetzung. Ein weiterer Aspekt betrifft Diskriminierungen im Alltag, zum Beispiel bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, bei der Vergabe von Wohnplätzen, beim Zugang zu Diskotheken. Auf der EU-Ebene ist auf der Basis von Artikel 13 des Amsterdamer Vertrags die Antidiskriminierungsrichtlinie erlassen worden. Diese verbietet mittelbare und unmittelbare Diskriminierung und hat dabei einen weiten Geltungsbereich. Die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, diese Richtlinie bis zum Jahr 2003 in nationales Recht umzusetzen. In diesem Prozess sind nicht nur die staatlichen Institutionen gefordert, sondern auch die Nicht-Regierungsorganisationen, also auch Gewerkschaften, Arbeitgeber und so weiter. In der Bundesrepublik hat es in dieser Hinsicht einen Ansatzpunkt mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes gegeben, wo sowohl die Integration als auch die Bekämpfung von Rassismus als Aufgaben des Betriebsrates verankert wurden. Zusammenfassung und abschließende Bemerkungen Insgesamt sollten nach meiner Auffassung in der Integrationspolitik Gesichtspunkte der Demokratie und der Menschenrechte eine stärkere Berücksichtigung finden. Damit sollte auch dazu beitragen werden, die Diskrepanzen zu verringern, die zwischen Ideal 6 7 und Realität der Demokratie bestehen. Es handelt sich dabei ohne Zweifel um eine Zielvorstellung. Ich möchte dazu einen Satz von Norberto Bobbio zitieren: „Mir ist durchaus bewusst, dass es sich um ein ideales Ziel handelt, doch wenn man sich kein Ziel setzt, kommt man auch nicht in Bewegung.“ Das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft ist sicherlich nicht konfliktlos. Die Frage ist, wie wir mit diesen Konflikten umgehen. Versuchen wir, Konflikte zu unterdrücken oder zu instrumentalisieren – z.B. für Zwecke der Gewinnung oder Aufrechterhaltung politischer Macht - , oder versuchen wir, diese Konflikte gewaltfrei zu regulieren und demokratische Regeln des Zusammenlebens zu finden. Dabei müssen sicherlich auch allgemeine gesellschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Aus meiner Sicht sollten dabei Gesichtspunkte der Demokratie und der Menschenrechte eine zentrale Bedeutung haben. Literaturhinweis: Axel Schulte: Integrations- und Antidiskriminierungspolitik in Einwanderungsgesellschaften: Zwischen Ideal und Wirklichkeit der Demokratie. Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wirtschaftsund sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum. Abteilung Arbeit und Sozialpolitik (Hrsg.), Bonn 2002 Axel Schulte: Zwischen Diskriminierung und Demokratisierung. Aufsätze zu Politiken der Migration, Integration und Multikulturalität in Westeuropa, Frankfurt/M. 2000 (IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation) 7 8 Axel Schulte Zur Person: Dr. phil. habil., Apl. Professor. Jg. 1943; 1973-1970 Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Philosophie an der FU Berlin; derzeit Hochschullehrer am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Migration, Integration und Multikulturalität in Europa; Theorie und Praxis westlicher Demokratien; Politische Bildung und Interkulturelles Lernen. Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitschrift ‚IZA. Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit’. 8