Seminar: Politische Parteien im Wandel Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern, Sommersemester 2001 Die Schweizer Parteipresse im Wandel der Zeit von Philippe Piatti Inhalt: 1. Einleitung 2. . . . . . . . . . S. 1 Massenmedien und Parteien . . . . . . . S. 2 3. Die Geburt der Parteipresse . . . . . . . S. 3 4. Die parteiliche Presse . . . . . . . . S. 5 4.1 Die freisinnige Presse . . . . . . . S. 5 4.2 Die katholisch-konservative Presse . . . . . S. 6 4.3 Die übrige bürgerliche Presse . . . . . S. 6 4.4 Die linksgrüne und alternative Presse . . . . . S. 7 . . . . . S. 7 . 5. Die parteiunabhängige Presse . 6. Parteiblätter ohne Chance in der Schweiz . . . . . S. 8 7. Medien der Parteien – Situation heute . . . . . . S. 9 8. Literatur . . . . . S. 10 1. Einleitung . . . . . Politik findet im ständigen Informationsfluss zwischen Gesellschaft und politischen Entscheidungsträgern statt. Letztere versuchen, über die politische Kommunikation in der Öffentlichkeit Verständnis sowie Unterstützung für ihre Absichten und Handlungen zu gewinnen. In der Gesellschaft selbst formieren sich Meinungen und Forderungen, die auf grössere Verbreitung und Wirkung in der Öffentlichkeit drängen. Hier liegt eine zentrale Funktion der Medien – sie tragen Bedeutsames zur Konstituierung einer politischen Öffentlichkeit und zur politischen Meinungsbildung bei.1 1 Linder, Wolf, Schweizerische Demokratie, Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern 1999, S. 76. 1 2. Massenmedien und Parteien Massenmedien haben in politischen Umbruchszeiten stets eine wichtige Rolle inne gehabt – sei es bei der Reformation, dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der Französischen Revolution oder der Wende in Osteuropa 1989. Parteien schufen und nutzten sie für ihre Zwecke, sie dienten vorab als Propagandainstrumente.2 Sowohl Parteien als auch Medien übernehmen gleichartige politische Funktionen: Artikulationsfunktion, Selektionsfunktion, Integrationsfunktion, Meinungsbildungsfunktion, Kritik- und Kontrollfunktion. Dabei bestehen oft enge personelle Verflechtungen zwischen Medien und Parteien. Massenmedien dienen auch als Instrumente von Parteien – in Diktaturen wie in Demokratien. In den meisten Mediensystemen gibt es parteiliche und parteiunabhängige Medien. Dabei gilt die Faustregel: Je westlicher, desto früher die Ablösung der Parteibindungen: In England, Frankreich und den USA folgte der Wechsel von der Parteipresse zur überparteilichen Massenpresse bereits im 19. Jahrhundert. In Deutschland lizensierten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg nur Medien, die frei von Parteibindungen waren. In Österreich, Italien sowie der Schweiz folgte der Übergang zu den Forumsmedien zwischen 1968 und 1994.3 Die Medienwissenschaft unterschiedet zwischen Parteipresse und unparteilicher Presse (Modell von Prodomos Dagtoglou4). Zur Parteipresse werden parteigebundene5, parteiverbundene6 sowie parteigerichtete7 Zeitungen gezählt. Die unparteiliche Presse umfasst überparteiliche8, allparteiliche9 und parteifremde10 Blätter.11 2 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 62. 3 Ebd., S. 63. 4 Dagtoglou, Prodomos, Die Parteipresse – Ihr verfassungsrechtlicher und politischer Standort, Berlin 1967. 5 Organe von Parteien, zum Beispiel der Zürcher Bote. 6 Abhängig von Parteien, sei es in finanzieller oder personeller Hinsicht, früher Tagwacht. 7 Gleiche Gesinnung wie die Partei, ideelle Bindung, zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung. 8 Unabhängig, nicht an eine Partei angelehnt, eigenes Urteil, zum Beispiel der Tages-Anzeiger. 9 Freies Forum für alle Parteien, kein eigenes Urteil, zum Beispiel der Baslerstab. 10 Apolitisches Verhalten, zum Beispiel Fachzeitschriften oder Publikumszeitschriften wie die Glückspost. 11 Hosang, Balz Christian, Parteien und Presse, Die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und der politischen Presse, Bern 1974, S. 41f. 2 3. Die Geburt der Parteipresse Das 19. Jahrhundert war fast durchgehend geprägt durch Gesinnungs- und Meinungspresse, gekoppelt mit Parteipositionen. Zuerst waren es Comité-Zeitungen – ausgehend von Gesinnungsgruppen –, später Organe von Parteien. Die aufstrebenden Liberalen gründeten als erste Zeitungen, gefolgt von den Konservativen. Die Sozialisten begannen nach 1850 ebenfalls, Anhänger um Zeitungen zu scharen. Nach 1870 (I. Vaticanum) erschienen auch zunehmend katholische politische Presseerzeugnisse. In England und Nordamerika hatte das Zeitalter der Gesinnungspresse bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begonnen und war in der Entwicklung dem europäischen Kontinent voraus.12 Das Grundmuster der politischen Kommunikation in der Schweiz war im 19. und 20. Jahrhundert durch den Aussenpluralismus bestimmt – die Zeitungen waren Parteiblätter, und aus dem Konzert der liberalen, radikalen, konservativen, demokratischen und sozialistischen Stimmen ergab sich der öffentliche Diskurs. 13 In der Schweiz lassen sich im Verhältnis zwischen Massenmedien und Parteien vier Etappen unterscheiden: 1. In der ersten Phase fungierten die Medien als Organisatoren der Parteien. Die Anhänger einer Partei waren identisch mit den Abonnenten einer Zeitung – wer das Blatt las, gehörte dazu. Zu dieser Zeit existierten noch keine Mitgliederkarteien. Die Zeitungen hatten die Funktion zu organisieren und zu mobilisieren. Noch Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete man beispielsweise im Kanton Baselland die Rechtsfreisinnigen als „Lüdinpartei“, benannt nach der Familie Lüdin, der Besitzerin der Basellandschaftlichen Zeitung.14 Dieses Modell findet Anwendung für die Frühparteien der Regeneration (1830-1848), des jungen Bundesstaats (1848-1863) und der demokratischen Bewegung (1863-1874).15 Es ist die Zeit der vielen 12 Blum, Roger, Mediengeschichte, Entstehung, Entwicklung und Funktionswandel der Medien, Vorlesungsskript Wintersemester 1999/2000, Bern 1999, S. 71. 13 Blum, Roger, Berlusconis Modell – Parallelen in der Schweiz?, in: Imhof, Kurt und Peter Schulz (Hrsg.), Politisches Raisonnement in der Informationsgesellschaft, Zürich 1996, S. 203. 14 Ebd. 15 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 65. 3 Zeitungsgründungen: Nach den liberalen folgten radikale, konservative, demokratische, sozialdemokratische und katholische Zeitungen. Zwischen 1827 und 1858 gab es insgesamt 492 Zeitungsgründungen, aber bloss 30 Prozent davon überlebten. Viele noch heute erscheinende Blätter stammen aus jener Zeit: Journal de Genève (1826), St. Galler Tagblatt (1839) oder Der Bund (1850). Es gab eine sehr enge Verbindung zwischen Zeitungen und Volksrechten: Je mehr direkte Demokratie dem Volk zugestanden wurde, umso nötiger wurden Zeitungen, welche die politischen Geschäfte öffentlich besprachen. Zeitungen produzierten aber auch mehr direkte Demokratie durch Forderungen im Interesse des Volkes.16 2. In der zweiten Phase waren die Zeitungen verlängerte Arme der Parteien; sie wurden zu Organen der Parteien. Diese waren nun organisiert und brauchten einen Lautsprecher für ihre Mobilisation und Propaganda. Dieses Modell war zwischen 1888 bis 1968 gültig. Am längsten hielten Parteien der zuerst ghettoisierten politischen Minderheiten (Arbeiter/SP sowie Katholiken/CVP) an diesem Modell fest.17 Erst die Herausbildung eigentlicher Mitgliederparteien18 machte die Zeitungen also zu Organen oder zumindest zu Tribünen. 19 3. Die Medien emanzipieren sich in der dritten Phase von den Parteien. Diese Entwicklung beginnt mit dem Aufkommen der sogenannten Generalanzeigern Ende des 19. Jahrhunderts und setzt sich fort mit dem Radio und dem Fernsehen, die allesamt als überparteilich-neutrale Medien starten. Ab den 1960er-Jahren lösen sich Parteizeitungen von ihren Bindungen – am spätesten setzt die Ablösung im Kanton Tessin ein.20 4. In der vierten und letzten Etappe bilden sich Ansätze zu Medienparteien im Sinne Berlusconis heraus. Einzelne Medien treten demnach wie Parteien auf, 16 Blum, Roger, Mediengeschichte, Entstehung, Entwicklung und Funktionswandel der Medien, Vorlesungsskript Wintersemester 1999/2000, Bern 1999, S. 72f. 17 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 65. 18 Sozialdemokraten 1888, Liberaldemokraten 1893, Freisinnige 1894, Christdemokraten 1894/1912, Bauern 1917/1937. 19 Blum, Roger, Berlusconis Modell – Parallelen in der Schweiz?, in: Imhof, Kurt und Peter Schulz (Hrsg.), Politisches Raisonnement in der Informationsgesellschaft, Zürich 1996, S. 203. 20 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 65. 4 wie zum Beispiel der Beobachter oder einige Medien in der Westschweiz. Weiter intervenieren einzelne Wirtschaftsführer mit Hilfe von Medien in die Politik (Duttweiler/Migros oder Schweri/Denner). Solche Tendenzen setzten in den 1940er-Jahren ein, sie verstärken sich dann ab den 1990er-Jahren, werden aber nicht dominant.21 4. Die parteiliche Presse 4.1 Die freisinnige Presse Seit der Regeneration und dem frühen Bundesstaat hatte jeder regenerierte und liberal regierte Kanton eine führende freisinnige Zeitung: Neue Zürcher Zeitung (Zürich), Der Bund (Bern), Glarner Nachrichten (Glarus), National-Zeitung (Baselstadt), Basellandschaftliche Zeitung (Baselland), Schaffhauser Nachrichten (Schaffhausen), Appenzeller Zeitung (Appenzell), St. Galler Tagblatt (St. Gallen), Der freie Rätier (Graubünden), Aargauer Tagblatt (Aargau), Thurgauer Zeitung (Thurgau), Il Dovere (Tessin), La Nouvelle Revue de Lausanne (Waadtland), Le Démocrate (Jura). Im frühen 20. Jahrhundert herrschte eine freisinnige Medienvormacht: Radikale, liberale oder demokratische Zeitungen kontrollierten neben den Kantonshauptstädten auch die Meinungsbildung in Subzentren, Tälern und Dörfern. 1896 stellten freisinnige Blätter 54 Prozent der Gesamtauflage, 1931 noch 51 Prozent. Seit 1968 begannen sich viele zu öffnen und wurden Forumszeitungen; 1996 bekannten sich nur noch 14 Blätter22 zum Freisinn. Auch die Ideologie des Zentrums wurde durch Zeitungen, die vor allem in der Westschweiz zuhause sind, vertreten.23 21 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 65. 22 Neue Zürcher Zeitung, Zürcher Oberländer, Zürichsee-Zeitung, Anzeiger des Bezirks Horgen, Der Murtenbieter, Appenzeller Zeitung, Anzeige-Blatt für Gais, Der Rheintaler, Toggenburger Nachrichten, Geschäftsblatt, Nouvelle Revue, Feuille d’avis du District de Payerne – Le Démocrate, Confédéré, Vita Nuova. 23 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 66f. 5 4.2 Die katholisch-konservative Presse Die Hochburgen der katholischen Konservativen waren im jungen Bundesstadt die ehemaligen Sonderbundskantone, dort dominierten konservative Zeitungen die Presselandschaft. Während dem Kulturkampf kamen dann auch Blätter in der katholischen Diaspora hinzu. Bis in die 1980er-Jahren gab es in sämtlichen Kantonen mit einen respektablen Anteil an Katholiken eine katholische, der CVP nahestehenden zahlenmässig Zeitung. Diese bescheidenen Presseerzeignisse parteipolitisch blieben engagierten Zeitungen Zirkels und eines einer kirchentreuen Klientel. In katholischen Stammlanden wurden indes die Ressourcen knapp, so dass es zu Zeitungsfusionen mit politischen Gegnern kam. 1996 bezeichneten sich noch 26 Blätter24 als der CVP nahe stehend.25 4.3 Die übrige bürgerliche Presse Ungefähr 50 Zeitungen26 (vorwiegend solche, die sich früher als freisinnig, demokratisch, liberaldemokratisch, katholisch-konservativ oder BGB-nahe bezeichnet hatten) kennzeichnen sich nun als „bürgerlich“ oder „bürgerlich liberal“, „unabhängig bürgerlich“, „bürgerlich neutral“ oder „fortschrittlich bürgerlich“. Sie zählen sich zur bürgerlichen Meinungspresse, ohne sich dabei explizit auf eine bestimmte Partei festzulegen.27 24 Willisauer Bote, Entlebucher Anzeiger, Anzeiger vom Rottal, Urner Wochenblatt, Einsiedler Anzeiger, Freier Schweizer, La Liberté, Freiburger Nachrichten, Appenzeller Volksfreund, Die Ostschweiz, Rorschacher Zeitung, Sarganserländer, Rheintalische Volkszeitung, Alttoggenburger, Neues Wiler Tagblatt, Il San Bernardino, Die Botschaft, Der Freischütz, Thurgauer Volkszeitung, Bischofszeller Nachrichten, Giornale del Popolo, Popolo e Libertà, Nouvelliste, Walliser Bote, Le Courrier. 25 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 69f. 26 u.a.: Bieler Tagblatt, Oltner Tagblatt, Basellandschaftliche Zeitung, St. Galler Tagblatt. 27 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 71. 6 4.4 Die linksgrüne und alternative Presse Seit den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts existierte in der Schweiz eine Linkspresse – die demokratischen und grütlianischen Zeitungen. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die sozialistische Linke in allen industrialisierten und städtischen Kantonen mit einer Tageszeitung präsent. Die Werktätigen zogen aber den zu dieser Zeit aufkommenden Generalanzeiger den Parteiblättern vor. Die Generalanzeiger stellten sich nicht mehr in den Dienst einer Partei, sondern beschränkten sich darauf, die Leserschaft zu informieren (Lokales, Sport, Unterhaltung). Vor allem waren diese Zeitungen aber billiger als traditionelle Parteiblätter.28 Heute gibt es nur noch eine Hand voll Zeitungen, mit mehrheitlich bescheidener Auflage. Die linke und alternative Presse wird hierzulande stark durch Zeitschriften geprägt, zudem herrscht eine starke Verknüpfung zwischen linker Politik und Lobby-Zeitschriften.29 5. Parteiunabhängige Presse Bei der parteiunabhängigen Presse wird zwischen fünf Gruppen unterschieden: die Quereinsteiger, die Volkstümlichen, die Fusionierten, die Anpasser-Zeitungen und die Liberalen. 1. Die Quereinsteiger: In diese Kategorie fallen die oben erwähnten Generalanzeiger. Diese hatten nie Verbindung mit einer Partei. Bei ihrer politischen Ausrichtung stützen sie sich auf eine eigene publizistische Grundhaltung und gehören daher auch zur Meinungspresse.30 2. Die Volkstümlichen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Boulevardzeitungen als sogenannte „popular papers“ und Strassenverkaufszeitungen lanciert. Mit einer politischen Partei waren sie nie verbunden, in der Regel tendieren sie zum Populismus.31 28 Blum, Roger, Der schwarze und der rote Hase: Parteiblätter ohne Chance in der Schweiz, in: Schweizer Monatshefte, Heft 1/1993, S. 36. 29 Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996, S. 72. 30 Beispiele: Tages-Anzeiger, Luzerner Neuste Nachrichten, Tribune de Genève, 24heures. 31 Beispiele: Blick, Sonntagsblick, Le Matin. 7 3. Die Fusionierten: Ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden Fusionsprodukte aus politisch gegensätzlich ausgerichteten Zeitungen, so dass sie sich nun überparteilich-gemässigt an einen Kurs der Mitte halten müssen.32 4. Die Anpasser-Zeitungen: Diese standen früher einer Partei nahe, bezeichnen sich aber nun als „überparteilich“ oder „neutral“. Sie verstehen sich demnach als Forum für alle Gruppierungen, sie haben sich der Zeitströmung angepasst. Solche Zeitungen haben sich auf ein breites Publikum ausgerichtet und sind vor allem in der Westschweiz verankert. 5. Die Liberalen: Zeitungen, die vor Jahren freisinnig waren, bezeichnen sich heute als „liberal“ oder „unabhängig liberal“. Sie stützen sich noch immer auf den Liberalismus, haben sich aber allen politischen Gruppen geöffnet und verstehen sich als Forumszeitungen.33 6. Parteiblätter ohne Chance in der Schweiz Anfangs 1990er-Jahren verschwanden viele katholische und linke Tageszeitungen der Schweiz von der Bildfläche: Das Vaterland in Luzern, Popolo e Libertà in Lugano, das Aargauer Volksblatt in Baden, die Nordschweiz in Basel sowie die Basler AZ. Die Chancenlosigkeit der linken und katholischen Zeitungen war strukturell bedingt, gewissermassen systemimmanent. Sie hat historische Wurzeln; ein paar Thesen sollen dies erläutern: Erste These: Reformation und Regeneration überliessen dem politischen Katholizismus fast ausschliesslich Land- und Randgebiete. Zweite These: Am Ende des 19. Jahrhunderts blieben die Zeitungen neuer politischen Gruppierungen Insiderorgane. 32 33 Beispiele: Berner Zeitung, Neue Luzerner Zeitung, Basler Zeitung, La Regione. Beispiele: Der Bund, Landbote, Schaffhauser Nachrichten, Thurgauer Zeitung, Weltwoche. 8 Dritte These: Die freisinnige Vormacht im Bundesstaat war von Anfang an auch eine Medienvormacht. Vierte These: Die Presse der Arbeiterbewegung war von Anfang an zur Randständigkeit verurteilt. Fünfte These: Für die Abhängigen und Unterprivilegierten war der Nutzen einer linken Stimmabgabe grösser als der Nutzen eines linken Zeitungsabonnements. Sechste These: Je wichtiger für die Zeitungen das Inserateaufkommen wurde, um so nachteiliger war die Verankerung der christlich-demokratischen Presse in einem ländlichen Stammgebiet mit einem beschränkt konsumorientierten Publikum. Siebte These: Die Linkspresse eignet sich a priori schlecht als Werbeträger.34 7. Medien der Parteien – Situation heute Die Mittel und Anforderungen der parteiinternen wie auch der öffentlichen Kommunikation haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und die politischen Parteien vor eine doppelte Herausforderung gestellt. Zum einen ist – wie bereits erwähnt – die Parteipresse beinahe gänzlich verschwunden, zum anderen zwingen neue Kommunikationstechnologien und die verstärkte Mediatisierung der Politik die Parteien, ihre Kommunikation nach innen und nach aussen anzupassen und zu intensivieren. Seit den 1970er-Jahren hat die Zahl der parteieigenen Publikationen stark zugenommen. Die traditionellen beziehungsweise älteren Parteien waren aufgrund des Niedergangs der Parteipresse gezwungen, neue Kommunikationskanäle zu Mitgliedern und Sympathisanten zu benutzen. Entsprechend richteten diese Parteien, häufig erst mehrere Jahrzehnte nach ihrer Gründung, eigene Parteipublikationen ein. Jüngere Parteien hatten sich bereits innerhalb eines gewandelten Mediensystems zu behaupten – sie hatten gar nicht die Möglichkeit, auf eine parteinahe Presse zurückgreifen zu können und führten deshalb parteieigene Publikationsorgane ein. Dies führte zu einem raschen Anstieg der Publikationsorgane ab 1970.35 34 Blum, Roger, Der schwarze und der rote Hase, Parteiblätter ohne Chance in der Schweiz, in: Schweizer Monatshefte, heft 171993, S. 33f. 9 Neben den Publikationsorganen hat eine Partei mit den Pressediensten und Internetauftritten weitere Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Auf Letztere wird im nachfolgenden kurz eingegangen. Die politischen Akteure haben die Möglichkeit, sich via Internet zu äussern – alle wichtigen Parteien36 haben sich auf dem Internet eine Plattform geschaffen. Es besteht also eine dichte Vernetzung zwischen politischen Akteuren und der Bevölkerung, beide Seiten haben die Möglichkeit zu schnellen und direkten Feedbacks. Aber: Nur 0,5 Prozent aller deutschen Homepages haben einen politischen Inhalt (Tendenz der Entpolitisierung: InternetBenutzer suchen im Internet vor allem das unterhaltende Element).37 8. Literatur Blum, Roger, Berlusconis Modell – Parallelen in der Schweiz?, in: Imhof, Kurt und Peter Schulz (Hrsg.), Politisches Raisonnement in der Informationsgesellschaft, Zürich 1996. Blum, Roger, Der schwarze und der rote Hase: Parteiblätter ohne Chance in der Schweiz, in: Schweizer Monatshefte, Heft 1/1993. Blum, Roger, Mediengeschichte, Entstehung, Entwicklung und Funktionswandel der Medien, Vorlesungsskript Wintersemester 1999/2000, Bern 1999. Blum, Roger, Politische Kommunikation, Grundlagen und Prozesse, Vorlesungsskript Sommersemester 2000, Bern 2000. Blum, Roger, Strukturen und Probleme des schweizerischen Mediensystems, Vorlesungsskript Wintersemester 1996/97, Bern 1996. Ladner, Andreas/Brändle Michael, Parteien im Wandel, Schlussbericht des Nationalfonds-Projekts „Die Schweizer Parteiorganisationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“, Projekt-Nr. 12-41891.94, Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Bern 1999, S. 276. 36 Homepages der Bundesrats-Parteien: www.sp-ps.ch, www.fdp.ch, www.cvp.ch, www.svp.ch 37 Blum, Roger, Politische Kommunikation, Grundlagen und Prozesse, Vorlesungsskript Sommersemester 2000, Bern 2000, S. 45f. 35 10 Dagtoglou, Prodomos, Die Parteipresse – Ihr verfassungsrechtlicher und politischer Standort, Berlin 1967. Hosang, Balz Christian, Parteien und Presse, Die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und der politischen Presse, Bern 1974. Ladner, Andreas/Brändle Michael, Parteien im Wandel, Schlussbericht des Nationalfonds-Projekts „Die Schweizer Parteiorganisationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“, Projekt-Nr. 12-41891.94, Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Bern 1999. Wolf, Linder, Schweizerische Demokratie, Perspektiven, Bern 1999. 11 Institutionen – Prozesse –