interpretation_verbrecher_aus_verlorener_ehre

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Friedrich von Schiller:
Der Verbrecher aus verlorener Ehre
Der Verbrecher aus verlorener Ehre – eine wahre Geschichte ist ein Kriminalbericht
Friedrich Schillers, der 1786 zunächst unter dem Titel „Verbrecher aus Infamie“
veröffentlicht wurde.
Es handelt sich also um eine wahre Begebenheit, um das Leben des Sonnenwirtes
Friedrich Schwan aus dem württembergischen Dorfe Ebersbach, der 1760
hingerichtet wurde. Der Vater von Schillers Lehrer Abel hatte als Amtmann das
Verhör des Räubers geleitet und Abel selbst hat in dem zweiten Band seiner
„Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen
Leben“ (1787) die Lebensgeschichte Friedrich Schwans ausführlich erzählt. Auf der
Militärakademie hat Abel seinen Schülern wahrscheinlich davon berichtet.
Mit didaktischer1 Absicht erzählt diese Geschichte den Werdegang des Wilddiebs
und Räubers Christian Wolf bis zu dessen Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung:
„... die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und – es
ist möglich, auch die Gerechtigkeit“.
Die an sich kurze Erzählung Schillers beginnt mit einer ungewöhnlich breiten
theoretischen Einleitung, die sich mit der Psychologie des Verbrechens und des
Verbrechers beschäftigt. Offensichtlich hat Schiller das Bedürfnis, seine
Kriminalgeschichte als Beitrag zur Seelenkunde und zur moralischen Bildung zu
rechtfertigen. Der Verbrecher interessiert ihn nicht so sehr wegen der spannenden
Begebenheit, sondern wegen der psychologischen und soziologischen Probleme, die
mit seinem Dasein verknüpft sind und die tief in die Welt des moralischen
Bewusstseins hineinreichen.
"Der Verbrecher aus verlorener Ehre" ist eine Kriminalgeschichte, weist im Unterschied
zu anderen Texten des Genres jedoch ein größeres Maß an Fiktionalität auf. Die
Kriminalgeschichte ging in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus juristischen
Fallsammlungen hervor, sie versuchte auf die Ursachen einer Tat einzugehen und
dem zuvor verteufelten Verbrecher dadurch ein menschliches Antlitz zu geben.
Fehlende väterliche Autorität, Spott und Ablehnung der Umwelt sowie Verirrungen in
der Liebe sollen im Fall des Christian Wolf den Weg zum Laster und in die Kriminalität
nachvollziehbar machen. Die gegen ihn verhängten Strafen tragen ihrerseits zur
Kriminalisierung bei: Durch die Geldbuße wird ihm die Existenzgrundlage entzogen,
Brandmarkung und das Stigma der Festungshaft verschließen ihm den Weg zurück in
ein geregeltes Leben. Schiller stellt somit kritisch eine Teilschuld von Gesellschaft und
Justiz heraus.
Interpretation und Bewertung aus heutiger Sicht
Der Kriminalbericht ist zunächst als Zeugnis seiner Zeit zu sehen. Der Stand des Adels
weist die typischen Privilegien wie das Jagdrecht auf, dessen Verstoß eine
unverhältnismäßige Bestrafung gegenübersteht. Im Gegensatz zu vielen anderen,
jungen Werken geht es Schiller in „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ nicht um
spezifische Kritik am Absolutismus, sondern um die Betrachtung und Beachtung des
Menschen als Individuum. Auf der einen Seite kritisiert er seitens der Leserschaft das
mangelnde empathische2 Vermögen, vielmehr stehe der Unterhaltungswert und
nicht der Lehrwert im Vordergrund. Auf der anderen Seite stellt er das damalige
Rechtssystem in Frage, das wenig Spielraum für das Naturrecht habe. Es ist streng,
sieht keine Gnade oder Resozialisation vor.
Psychologische Studie:
„Es ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes, das
menschliche Herz.“ Das Herz aber ist die Quelle aller menschlichen Taten. Die Taten
richtig verstehen heißt: sie in ihrer Entstehungsgeschichte aus dem menschlichen
Herzen erzählen. Was hat diesen Mann aus der menschlichen Gemeinschaft
hinausgedrängt? War er wirklich in jedem Falle für den Staat und die bürgerliche
Gesellschaft unrettbar verloren? War „keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem
Beleidiger“ mehr möglich? Hier setzt bereits das Plädoyer des Anwalts Schiller ein. Um
solche Fragen in richtiger Weise beantworten zu können, verlangt Schiller eine
bestimmte Methode der Darstellung. „Wir müssen mit ihm bekannt werden, eh’ er
handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen
sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten und noch
weit mehr an den Quellen dieser Gedanken als an den Folgen jener Taten.“ Hinter
diesem Satz steckt die Annahme, dass der Verbrecher auf diese Weise vor dem
Forum der Leser zwar nicht ganz, aber doch teilweise entlastet werden kann. Denn in
jedem Menschen ist aufgrund „der unveränderlichen Struktur der menschlichen
Seele“ auch noch die Möglichkeit zum Verbrechen angelegt, ohne dass er es selber
ahnt. Umgekehrt wiederum bleibt auch der Verbrecher im Augenblick der Tat und
der Buße noch Mensch, von dem wir nur fälschlicherweise annehmen, sein Blut habe
einen anderen Umlauf als das unsrige, sein Wille gehorche anderen Regeln als der
unsrige. Schiller bemüht sich um die Nähe von Verbrecher und Mensch. Wie kann der
Verbrecher ein Gegenstand unserer „Rührung“ werden, wo wir uns doch mit
Abscheu von ihm abwenden? Das ist für Schiller nicht so sehr ein moralisches
Problem, sondern eines der Darstellung. Zwei Wege scheinen hierfür möglich:
„Entweder der Leser muss warm werden wie der Held oder der Held wie der Leser
erkalten.“
Aus: Benno von Wiese: Friedrich Schiller – Der Verbrecher aus verlorener Ehre
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1 Die Didaktik (von griechisch: didáskein „lehren“) im engeren Sinn beschäftigt sich mit der Theorie des
Unterrichts, im weiteren Sinne mit der Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens.
2 Der Begriff Empathie bezeichnet zum einen die Fähigkeit, Gedanken, Emotionen, Absichten und
Persönlichkeitsmerkmale eines anderen Menschen oder eines Tieres zu erkennen und zum anderen die
eigene Reaktion auf die Gefühle anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls.
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