das beispiel china - Ruhr

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Erscheint in: Kurt Bayertz, Hg, Die menschliche Natur. Welchen und wieviel
Wert hat sie?, Mentis 2004
Heiner Roetz
DER STEIT UM DIE MENSCHLICHE NATUR.
DAS BEISPIEL CHINA
I. Hintergründe des „achsenzeitlichen“ Naturdiskurses
Dem Thema Natur kommt in der „Achsenzeit“ (K. Jaspers) der antiken
Hochkulturen eine Schlüsselrolle zu. In den Traditionsbrüchen der
Epoche wird gegen das Herkommen und damit gegen die Geschichte das
Denken auf ein neues Zeitparadigma umgestellt – an die Stelle der
Traditionen, zumindest in Konkurrenz zu ihnen, tritt die Besonderheit der
Gegenwart oder die Konstanz der Natur.
Vor allem ist es dabei um die Orientierung an der Natur des
Menschen gegangen – bis heute ein Thema mit brisanten politischen
Implikationen. Die griechischen Sophisten des 5. und Kyniker des 4.
Jahrhunderts v. Chr. attackieren in ihrem Namen Sitte und positives
Gesetz (Heinimann 1945; Strauß 1977; Roetz 2000), nicht anderes als in
etwa zeitgleich die Daoisten Chinas.
Zur Frage der menschlichen Natur sind für das alte China über ein
Dutzend verschiedener Positionen nachweisbar, wenngleich oft nur die
Grundthesen überliefert sind (Roetz 1992: 318). Neuere archäologische
Funde haben das Spektrum noch erweitert. Im Unterschied zu den
Griechen wurde es zur Mehrheitsüberzeugung der chinesischen Antike,
dass die Menschen nicht von Natur verschieden sind (Munro 1969) – wie
es schon bei Konfuzius heißt, „stehen sie von ihrer Natur her einander
nahe, und sie entfernen sie sich voneinander erst durch ihre
Gewohnheiten“1 (Lunyu 17.2). Wie aber die allen gemeinsame Natur
einzuschätzen sei, wurde aufgrund ihrer normativen Implikationen zur
wohl meistumstrittenen Frage der klassischen chinesischen Philosophie.
In später Zeit ist auch die Skepsis gegenüber der Annahme einer für alle
Menschen gleichen Natur selbst gewachsen.
Alternative Übersetzungsmöglichkeiten sind „durch (tägliche) Übung“ oder „durch
die Sitten.“
1
118
Das Beispiel China
Die sehr frühe Prominenz der Thematik verdankt sich der
historischen Entstehungsbedingung der chinesischen Philosophie –
nämlich einer tiefgreifenden Krise der politischen Ordnung, des sozialen
Systems und des Weltbildes um die Mitte des letzten Jahrtausends v.
Chr.. Hintergrund ist der Zerfall der etablierten Feudalordnung unter der
Dynastie Zhou und ihrer tragenden Säulen Tradition und Religion –
genauer: des tradierten Kodex der sittlichen Verhaltensregeln (li), der auf
die alten Stammesinstitutionen der Zhou zurückgeht, und der Religion
des „Himmels“ (tian). Diese Krise führt zu einem bis dahin völlig
unbekannten neuen Weltgefühl – nämlich in einer „chaotischen“ und
„untergehenden“ Welt zu leben, die aus ihren Angeln geraten ist, sich
„zerspalten“ und womöglich irreparablen Schaden genommen hat.
Als intellektuelle Antwort auf diese Herausforderung entstehen die
großen Grundrichtungen der chinesischen Philosophie. Sie sind, wie
unter den gegebenen Umständen kaum anderes denkbar, gekennzeichnet
durch Distanznahme gegenüber all jenen Faktoren, die die Zerreißkrise
der chinesischen Gesellschaft zumindest nicht verhindern konnten: den
etablierten religiösen Mächten (Himmel und Geister), den sozialen
Autoritätsinstanzen (Eltern, Ältere, Lehrer, Herrscher), den geteilten
Überzeugungen der „Vielen“ (zhong – den polloi der Griechen), den
hergebrachten Konventionen und den Vorbildfiguren der Vergangenheit.
Sie alle geraten unter Verdacht und unter Angriff, wenngleich je nach
philosophischer Richtung in unterschiedlicher Akzentuierung und
Intensität und mit unterschiedlichen Implikationen. Die lange Zeit
funktionierende Orientierung am historisch Überlieferten wird auch als
solche systematisch in Frage gestellt. Es findet sich ein breites Spektrum
von Zweifeln, aus denen die Überzeugung spricht, dass eine Lösung nicht
einfach im Zurück zu den schon bekannten Standards liegen kann.2
All dies heißt nicht, dass jede Vorbildfunktion des „Alten“ aus den
intellektuellen Diskursen der Zeit verschwände. Die Geschichte verliert
2
(Sach)logisch wird argumentiert, dass die Tradition bzw. das Alte schon deshalb
nicht gegen das Neue gestellt werden können, weil sie selber einmal entstanden ist, also
neu waren. Geschichtstheoretisch wird argumentiert, dass die Tradition dem Wandel der
Zeiten nicht standhält. Empirisch wird auf die Heterogenität und Komplexität und damit
Uneindeutigkeit der Tradition hingewiesen. Epistemologisch wird die Vagheit allen
überlieferten Wissens hervorgehoben. Ontologisch wird die Unmöglichkeit der
Weitergabe des Wahren – des Dao – behauptet, das, so die Daoisten, nur jeder in eigener
unmittelbarer Anstrengung (vor allem: meditativ) erlangen kann. Ethisch wird auf die
mögliche moralische Fragwürdigkeit der Tradition verwiesen – so duldeten Traditionen
etwa die Tötung der Erstgeborenen oder der Alten, obwohl dies Menschlichkeit und
Gerechtigkeit widerspreche. Ideologiekritisch schließlich – ein nachklassisch ergänztes
Argument – werden die Zeugnisse vom Vergangenen als erfunden oder manipuliert
entlarvt, da nun einmal „die vulgäre Welt das Alte liebt und der Gegenwärtige verachtet“.
Vgl. hierzu Roetz (2004a).
Heiner Roetz
119
aber doch den unumstrittenen Status, den sie in der frühen, vorkritischen
Literatur mit der permanenten Anrufung der heroisierten Dynastiegründer
und der wertvollen vergangenen Erfahrungen besitzt. Allen normativen
Orientierungen am Vergangenen und Hergebrachten erwächst nun die
Konkurrenz neuer ahistorischer Paradigmen, die nicht mehr (zumindest
nicht primär) auf Überlieferungswissen bauen und in einer anderen
Zeitdimension liegen – der Gegenwart. Begleitet werden die betreffenden
Argumente von einer expliziten und mehrfach dokumentierten
Verschiebung des epistemologischen Fokus' vom bloßen Hören – vom
Hören nämlich, was andere sagen und gesagt haben – zum persönlichen
direkten „Sehen“, wie vom „Entfernten“ zum „Nahen“ und
Gegenwärtigen (Roetz 2004a).
Bei den konkurrierenden Paradigmen, die dem Traditionalismus
entgegengesetzt werden oder ihn doch in einer bestimmten Weise
zurechtrücken, handelt es sich in einer allgemeinen Taxonomie um die
Paradigmen des Nutzens (yong), der Praktikabilität oder nüchtern
kalkulierten sozialtechnischen Machbarkeit (ke), der internalisierten
Moralität (ren) und schließlich des Natürlichen (tian, xing). Sie stehen
jeweils für den Mohismus, den Legismus, den Konfuzianismus und –
zunächst – den Daoismus, die damit nahezu idealtypisch ein Spektrum an
(in den einzelnen Ausformungen sich freilich auch überlappenden)
postkonventionellen ethischen bzw. quasi-ethischen Positionen abdecken.
Hierbei sind noch die geschichtsnächsten Positionen, so die des
Konfuzianismus, vom geschichtskritischen Zweifel berührt.
II. Der Daoismus
Das Paradigma „Natur“ wandert über Mengzi (ca. 372-281) auch in den
Konfuzianismus über; es kann aber zunächst insofern für den Daoismus
stehen, als es durch diesen und seine Vorläufer zu einem zentralen
Diskussionsthema gemacht, wenn nicht in die Diskussion eingebracht
wird. Wenn der Daoismus unter einem gemeinsamen Motto operiert,
dann ist es eben jenes des Natürlichen.
Die Natur ist in der Vorstellung der frühen Daoisten eine zweckfreie,
bunte, gemessen an menschlichen Maßstäben chaotische (hundun)
Mannigfaltigkeit von sich selbst steuernden Prozessen und Wesen, die in
ihrem ungeplanten „von selbst so sein“ (ziran) von absoluter
Vollkommenheit ist und um jeden Preis von menschlichem Zugriff
freigehalten werden muss. So heißt es im daoistischen Klassiker
Zhuangzi:
120
Das Beispiel China
Ein Mensch der höchsten Richtigkeit wird des Wesens seiner Natur
(xing) und seiner physischen Existenz (ming, auch: Bestimmung) nicht
verlustig gehen. Deshalb wird er Verbundenes nicht für einen
[abnormen] Zusammenwuchs und Verzweigtes nicht für einen
[abnormen] Auswuchs halten. Er wird das Lange nicht als Übermäßig
und das Kurze nicht als unzureichend ansehen.
Deshalb: Mögen die Beine der Wildente auch kurz sein, sie zu
verlängern, würde ihr Kummer bereiten. Mögen die Beine des Kranichs
auch lang sein, sie zu kürzen, würde ihm Leid zufügen. So ist das von
Natur aus Lange nichts, was zu kürzen und das von Natur aus Kurze
nichts, was zu verlängern wäre, und es gibt keine Sorge, der man
abhelfen müsste...
Was sich mit Hilfe von Kurvenlineal, Lot, Zirkel und Parallelmaß
richten lässt, lässt sich seine Natur (xing) vergewaltigen. Was sich mit
Schnüren, Leim und Lack zusammenfügen läßt, läßt sich seine
Urtugend antasten. Wer Etikette und Musik zurechtbiegt und
Menschlichkeit und Gerechtigkeit heuchelt, um das Herz der Welt zu
trösten, der hat deren invariante Beschaffenheit (chang ran) verfehlt.
Die Welt hat eine invariante Beschaffenheit. Diese invariante
Beschaffenheit besteht darin, dass Krummes nicht ein Kurvenlineal,
Gerades nicht ein Lot, Rundes nicht einen Zirkel, Viereckiges nicht ein
Parallellineal, Zusammenfügung nicht Leim und Lack und Verbindung
nicht Kordel und Seil voraussetzt. (Zhuangzi 8, 142 f.)
Ferner:
Was bedeutet Natur (tian), und was bedeutet Mensch?... Daß Rinder
und Pferde vier Beine haben, das heißt Natur. Den Kopf des Pferdes
unter das Zaumzeug zu zwingen und die Nase des Rindes [für den Ring]
zu durchbohren, das heißt Mensch. Deshalb sage ich: Zerstöre die Natur
nicht durch Menschliches! Mache die physische Existenz (ming) nicht
durch Zwecke zunichte! Opfere die Gabe nicht dem Ruhm! Bewahre
[sie alle] sorgfältig und gehe ihrer nicht verlustig! Das nennt man die
Rückkehr zum Wahren. (Zhuangzi 17, 260 f.)
Diese Passagen verdeutlichen die spezifische Struktur des Wortfeldes
„Natur“, die den chinesischen Diskursen zugrunde liegt – es wird mit
Begriffen operiert (tian, Himmel, bzw. spätzhouzeitlich die Natur im
Großen, wenngleich auch noch mit der ursprünglichen religiös-ethischen
Konnotation verwandt, xing, die jeweilige Natur einer Art, weniger eines
Individuums, im Sinne der spontanen „natürlichen“ Tendenz, ming, die
Bestimmung oder das physische Leben, ferner ziran, das, was „von selbst
so ist“), die mit dem uns vertrauten Gesamtbegriff „Natur“ nicht
deckungsgleich sind, aber dessen Bedeutung und Extension hinreichend
entsprechen, um mit ihm in einen direkten Bezug gesetzt zu werden und
Heiner Roetz
121
überhaupt von einer chinesischen Naturdiskussion sprechen zu können
(Roetz 2004b).
Die aus dem Zhuangzi zitierten Stellen zeigen die typische
Doppelschichtigkeit des daoistischen Naturalismus: Die Natur ist nicht
nur auf der deskriptiven Ebene Inbegriff des gerade in seiner
Unreglementiertheit Selbstgenügsamen und Zureichenden. Sie hat hierin
normativen Gehalt für den Menschen selber. der aufgefordert ist, aus ihr
seine eigenen grundlegenden Verhaltensmaximen zu gewinnen – allen
voran die Maxime wuwei, die Handlungsenthaltung bzw. der
Manipulationsverzicht, die den Naturzustand auszeichnet, zudem
Intellektlosigkeit, Affektlosigkeit und Amoralität, für die das Nämliche
gilt. Hiermit allerdings folgt der Mensch nicht nur dem Vorbild der
äußeren Natur – er verwirklicht zugleich die Bestimmung seiner eigenen
spontanen Disposition xing, die „ganz zu bewahren“ ist (quan xing, Yang
Zhu lt. Huainanzi 13, 218). Sich dieser seiner „Natur“ zu überlassen,
wird für den Daoismus zum Inbegriff des Guten. Dieses selbst wird
entsprechend rein naturalistisch definiert, explizit gegen jede menschliche
oder auch göttliche Normgebung:
Was ich gut nenne, ist nicht das, was man Menschlichkeit und
Gerechtigkeit nennt, sondern gut zu sein in seiner [vormoralischen]
Urtugend. Was ich gut nenne, ist nicht das, was man Menschlichkeit
und Gerechtigkeit nennt, sondern sich dem Wesen seiner Natur und
seiner physischen Existenz zu überlassen, und nur dieses. (Zhuangzi 8,
148)
Was das Zhuangzi das „Wesen seiner Natur und seiner physischen
Existenz“ (xingming) nennt, zeigt sich zunächst im schlichten Leben der
Mitglieder der Urkommune, die sich „unwissend“ und „begierdelos“ „wie
Frühlingsraupen“ träge vor sich hin bewegen (Zhuangzi 9 u. 12, Roetz
1984: 151 f.) in einer Welt, der jede Spur von Aggression und Gewalt
fremd ist. Doch erlebt diese idealisierte Einheit mit dem Aufkommen der
spezifisch menschlichen Zivilisation ein tragisches Ende:
Der Herrscher des Südmeeres war Hu (Jäh), der des Nordmeeres war Shu
(Abrupt), und der der Mitte war Hundun (Chaos). Hu und Shu trafen sich
von Zeit zu Zeit auf dem Gebiet von Hundun, und stets behandelte sie
Hundun mit der größten Freundlichkeit. Da berieten Jäh und Abrupt, wie
sie die Güte von Hundun vergelten könnten. Sie sprachen: 'Jeder Mensch
hat sieben Öffnungen, nur Hundun hat keine. Wir wollen ihm mal welche
meißeln!' Jeden Tag meißelten sie eine Öffnung. Am siebten Tag war
Hundun tot. (Zhuangzi 7, 139)
122
Das Beispiel China
„Hu“ und „Shu“, „Jäh“ und „Abrupt“, sind Versinnbildlichungen des
gewaltsamen Einbruchs des Menschen in die Natur, der dieser als dem
jeder Norm fremden und selbstgenügsamen „Chaos“ sein Gesicht
aufzwingt. Voran geht die „Aufrührung“ des menschlichen Denkens
(Zhuangzi 11, 168-171, Chang 1982: 342 f.), das Kalkül und Strategie
freisetzt, um über Menschen und Dinge zu herrschen. Die Folge ist eine
doppelte Entzweiung von Mensch und Natur: Der einmal entfesselte
kalkulierende Verstand zerstört nicht nur die äußere Natur, sondern auch
die dem Menschen angeborene innere und damit den Menschen selber.
Der Daoismus steht im Zeichen des Bemühens um die „Rückkehr“
zur verloren gegangenen Einheit durch Mimesis. Hierbei greift er u. a.
auf die frühkindliche natürliche Spontaneität zurück, die die
ontogenetische Entsprechung zum substantiellen Leben des Urzustandes
ist.3 Gegen die Zerstörung alles Natürlichen durch den Menschen setzt er
die Parole „Zurück zur Kindheit“ (fu gui yu ying'er, Laozi 28). Er
formuliert so im Namen der Natur eine doppelte Provokation für alle
Ethiken, die in den Bemühungen der menschlichen Zivilisation bei allen
Schattenseiten auch einen Fortschritt sehen: Er verwirft nicht nur die vom
Menschen zu verantwortende Geschichte, die mit Staat, Moral, Kultur
und Technik eine repressive Manipulation über die Welt gebracht hat,
sondern auch jede Erziehung, die die präkonventionelle Spontaneität
durch eine normierte Künstlichkeit erdrückt. Die dem präkonventionell
Natürlichen entgegengebrachte Huldigung hat allerdings ihren Preis: Der
chinesische Legismus biegt den Daoismus funktionalistisch um, indem er
eben nach dem Modell des natürlichen Selbstlaufs ein politisches System
entwirft, in dem jede Spur der Freiheit verschwindet (Roetz 1992: 416,
421) – eine Usurpation der ersten durch zweite Natur, gegenüber der der
Daoismus hilflos ist.
III. Die konfuzianische Antwort 1: Mengzi
Angenommen wird die daoistische Herausforderung durch den
Konfuzianismus, der in der Ethik den Weg zur Überwindung der Krise
Chinas sieht, und der zwei ihrerseits miteinander konkurrierende
Antworten findet, um den amoralischen daoistischen Naturalismus zu
kontern.
Die eine Antwort ist die Mengzis, der, ohne sich auf die genannten,
zu seiner Zeit in der Luft liegenden daoistischen Theoreme explizit zu
beziehen, der Sache nach eine Gegenposition zu ihnen entwickelt. Er
3
Zu den zahlreichen Idealisierungen der frühen Kindheit im Daoismus s. Roetz (1992:
394 f.).
Heiner Roetz
123
folgt der Idealisierung der menschlichen Natur, besetzt sie aber
konfuzianisch. Mengzi erwidert den moralkritischen Protagonisten des
Natürlichen, dass die menschliche Natur tatsächlich „gut“ ist – aber nicht
im außermoralischen Sinne, sondern eben im Sinne der vom
Konfuzianismus vertretenen moralischen Werte. So sollen dem
Menschen die „Ausgangspunkte“ der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit,
der Höflichkeit und des Wissens um richtig und falsch vom „Himmel“
verliehen, also angeboren sein. Allerdings unterscheidet Mengzi hierbei
einen höheren und einen niederen Teil des Menschen und differenziert zu
diesem Zweck die im Daoismus zusammengefügten Begriffe xing und
ming (Natur und Bestimmung/physische Existenz) – nur dem höheren
Teil, der für Mengzi auch die „wahre Verfassung“ qing des Menschen
ausmacht (Mengzi 6a:8), kommt der Name xing zu, während ming die
niederen Lebensfunktionen kennzeichnet (Mengzi 7b:24). Gleichwohl –
die moralischen „Ausgangspunkte“ brauchen den Körper. Sie entfalten,
vorausgesetzt, sie bleiben ungestört, bei den entsprechenden Auslösern
eine unmittelbare, im biologischen Teil der menschlichen Konstitution
physiologisch registrierbare Wirkung. Mengzi demonstriert dies anhand
einer Art moralischer Phänomenologie – Schweißausbrüche,
Veränderungen der Pupillen, die Körperhaltung, wieder das spontane
Verhalten der Kinder, nämlich ihre liebevolle Zuneigung zu den Eltern,
vor allem aber das Erschrecken und Gepacktwerden von Mitgefühl und
Hilfsbereitschaft beim Anblick eines Kindes, das dabei ist, in einen
Brunnen hineinzustürzen, all dies belegt für ihn das Vorhandensein
ihrerseits nicht phänomenaler moralischer Impulse im Menschen (Roetz
1992: 322, 336-340). So wird aus der daoistischen Quasi-Moral der
natürlichen Spontaneität die konfuzianische natürliche Spontaneität der
Moral.
Mengzi ist für diese Fundierung der Ethik in der Natur des Menschen
des Verrates an der Tradition und an der Politik bezichtigt worden. Denn
wofür, so fragen später die Konfuzianer Xunzi (ca. 310- ca. 230) und
Dong Zhongshu (179-104), bräuchte man noch die Kulturheroen der
Vergangenheit, wofür die Herrscher und wofür die Erziehung, wenn die
menschliche Natur ihnen ihre mögliche Funktion bereits abnimmt (Roetz
1992: 355-356)? In der Tat birgt Mengzis Theorie diese Konsequenzen,
wenngleich er sie selbst nicht hat ziehen wollen. Mengzi steht allerdings
in einer auch schon konfuzianischen Tradition der Enthistorisierung des
ethischen Denkens, die bei Konfuzius (551-479) einsetzt – und zwar im
Einbau der Goldenen Regel in das Zentrum seiner Ethik.
Den besonderen Status der Goldenen Regel bei Konfuzius belegen
nicht nur ihr gleich mehrfaches Vorkommen in seinen „Gesammelten
Worten“ (Lunyu), sondern auch unzweideutige Formulierungen wie die,
sie sei das „Eine, das alles durchzieht“, das, „was aus einem Wort besteht
124
Das Beispiel China
und das ganze Leben hindurch befolgt werden kann“, sowie die
„Methode der Menschlichkeit“ (Lunyu 6.30, 4.15, 15.24, Roetz 1992:
219-222). Mit der Goldenen Regel wird eine formale Maxime eingeführt,
die nicht mehr durch einen tradierten Wertekanon gebunden ist – dessen
Krise ja gerade der Hintergrund für das Auftauchen neuer Ethiken ist –,
sondern nur durch den hier und jetzt zu vollziehenden fiktiven
Rollentausch zwischen Handelndem und Betroffenem, auf Basis der
Annahme eines bestimmten Guts bzw. „Unguts“, das Gegenstand der
Bedürfnisse bzw. Abneigungen ist. Worum es sich bei diesem Gut
vorrangig handelt, belegen andere Stellen in der antiken chinesischen
Literatur: Es sind die allgemeinen natürlichen Grundbedürfnisse des
Menschen. So heißt es im Hanshi waizhuan (2. Jh. v. Chr.) in einer
Auslegung von Lunyu 4.15:
In alten Zeiten kannte man die Welt, ohne aus seiner Tür zu treten, und
man sah den Gang des Himmels, ohne aus dem Fenster zu lugen (Laozi
47). Nicht dass die Augen damals 1000 Meilen weit hätten sehen und
die Ohren 1000 Meilen weit hätten hören können – man maß die Welt
an den eigenen Gefühlen. Wenn einem selbst Hunger und Kälte verhasst
waren, dann wusste man, dass die ganze Welt sich Kleidung und
Nahrung wünschte. Wenn einem selbst Mühsal und Bitternis verhasst
waren, dann wusste man, dass die ganze Welt sich Ruhe und Muße
wünschte. Und wenn einem selbst Verfall und Mangel verhasst waren,
dann wusste man, dass die ganze Welt sich Reichtum und ein
Auskommen wünschte. (Hanshi waizhuan 3.38, 147)
Der klarste Beleg aber, wie durch die Goldene Regel in der Ethik ein
historisches Paradigma durch ein anthroplogisches abgelöst wird, findet
sich in einer Passage aus dem Lüshi chunqiu (239 v. Chr.), die als
Quintessenz des zhouzeitlichen Antitraditionalismus gelten kann. Der
Text ersetzt zunächst die traditionalistische Devise, man solle sich die
Normen der „frühen Könige“ zum Modell nehmen, durch die neue
Devise, man solle sich zum Modell nehmen, wie jene überhaupt Normen
aufstellten, und geht hiermit zu einer Orientierung "zweiter Ordnung" –
von der Orientierung an konkreten Normen zur Normengenerierung –
über. Sodann fährt er unter Anspielung auf das Argumentationsmuster
der Goldenen Regel fort:
Was war es aber, aufgrund dessen die frühen Könige Standards
aufstellten? Es war der Mensch. Aber auch [wir selbst] sind Menschen.
Deshalb können wir die anderen verstehen, indem wir uns selbst
beobachten, und wir können vom Alten wissen, indem wir das Jetzt
beobachten. Das Alte und das Jetzt sind ein und dasselbe, die anderen
und ich sind gleich. Ein Gelehrter, der das Dao besitzt, schätzt, vom
Heiner Roetz
125
Nahen aus das Ferne und vom Jetzt aus das Alte zu kennen, und vom
Gesehenen aus das nicht Gesehene. Beobachte deshalb den Schatten
unten vor der Halle, und du kennst die Bahn von Sonne und Mond und
den Wandel von Yin und Yang. Beobachte das Eis in der Vase, und du
weißt, daß es kalt ist auf der Welt und Fische und Schildkröten sich
verstecken. Koste einen Bissen Fleisch, und du kennst den Geschmack
des ganzen Topfes und die Würze des ganzen Kessels. (Lüshi chunqiu
15.8)
IV. Die konfuzianische Antwort 2: Xunzi
In der antiken chinesischen Ethik findet somit eine anthropozentrische
Wende statt, der zufolge der Mensch die grundlegenden Orientierungen
für sein Handeln nicht mehr außerhalb seiner selbst in übermittelten
Normen und Vorbildern findet, sondern innerhalb seiner, und zwar
letztlich in seiner Natur, gleich ob diese als vermittelt über den bewussten
Schritt der Generalisierung eigener Bedürfnissen und Abneigungen oder
als unmittelbar handlungsorientierend angesehen wird.4
Es war nur eine Frage der Zeit, dass sich hiergegen wieder Protest im
Namen der historisch realisierten Vernunft erhob. Diesen Protest
repräsentiert Xunzi, der die zweite konfuzianische Antwort auf den
daoistischen Naturalismus findet: Während Mengzi der Idealisierung der
menschlichen Natur folgt, die Idealität der Natur aber eben im Sinne der
konfuzianischen Ethik fasst, rückt Xunzi das in den daoistischen Idyllen
ganz außer Acht gelassene natürliche Gewaltpotential des Menschen in
den Blick. Er weist jedes normative Verständnis der Natur überhaupt, der
menschlichen wie der außermenschlichen, zurück. Die Natur ist nun das
Trieb- und Impulshafte nicht im Sinne moralischer Spontaneität, sondern
rein egoistischer „Sucht nach Vorteil.“ Xunzis berühmte Schrift „Die
menschliche Natur ist schlecht“ (Xing e) hebt an:
Mit der Natur des Menschen ist es so, daß von Geburt an die Freude am
eigenen Vorteil in ihr liegt. Gibt man dem nach, entstehen Streit und
Raub, und Höflichkeit und Bescheidenheit gehen verloren. Von Geburt
an liegen Neid und Schlechtigkeit in ihr. Gibt man dem nach, entstehen
Grausamkeit und Gewalttätigkeit, und Loyalität und Verläßlichkeit
gehen verloren. Von Geburt an liegt die Begierde der Ohren und Augen
Es gibt auch eine nicht naturalistische, „transzendentale“ Version dieser Wende, die
aus der Vermeidung von Selbstwidersprüchlichkeit normative Argumente gewinnt, vgl.
Roetz (1992: 93). Ihr kommt allerdings weder zeit- noch wirkungsgeschichtlich die
gleiche Bedeutung zu wie dem philosophischen Naturalismus.
4
126
Das Beispiel China
in ihr und die Freude an Ohren- und Augenschmaus. Gibt man dem
nach, dann entstehen Ausschweifung und Chaos, und Etikette,
Gerechtigkeit und alle kultivierten Regeln gehen verloren. (Xunzi 23,
289)
Dass die dem Menschen angeborene Natur „schlecht“ ist, folgt für Xunzi
aber nicht nur aus ihrer Begierdenhaftigkeit, sondern auch aus der
mangelhaften physischen Ausstattung des Menschen. Sie zur Norm zu
erheben, ist ein Verrat nicht nur an der Moral, sondern am Menschen
selber, der zurück in ein Tierreich gestoßen wird, in dem er, anders als in
den daoistischen Utopien, nicht überleben kann. Der Mensch ist im
doppelten Sinne ein Mängelwesen.5 Aus moralischen wie
überlebenspraktischen Gründen vertritt Xunzi deshalb die Notwendigkeit
einer Kompensation der natürlichen Defizite durch die menschliche
„Kunst“ (wei oder shu). Der Mensch muss zurechtgebogen werden, wie
krummes Holz – ein auch von Aristoteles und Kant benutztes Bild – mit
einer Biegemaschine zurechtgebogen werden muss. Hierin sieht Xunzi
eine historisch bereits verwirklichte Leistung der „frühen Könige“, der
Erfinder der Institutionen und der Moral, die das realisiert haben,
„aufgrund dessen der Mensch ein Mensch ist“ (ren zhi suoyi wei ren zhe,
Xunzi 5, 50), nämlich eine differenzierte, das gemeinsame Überleben
sichernde Gesellschaft. Das Wesen des Menschen ist hiermit, anders als
bei Mengzi, gerade nicht mit seiner „Natur“ (xing) im Sinne der
„natürlichen Tendenz“ (tian zhi jiu, Xunzi 22, 284, und 23, 290), die
„angeborenerweise so ist“ (sheng zhi suoyi ran, Xunzi 22, 274), identisch.
Nicht nur die innere Natur des Menschen, auch die äußere Natur ist
Xunzi zufolge in ihrem Rohzustand für die eigentlichen menschlichen
Zwecke unzulänglich. Auch ihr gegenüber bedarf es, damit sie „ohne
dem Menschen gemäß zu sein, doch Nutzen für ihn abwirft“, der
„Kunstfertigkeit“ (shu) (Xunzi 10, 113, Roetz 1984: 338). Sie ist „über
die Entfesselung des [menschlichen] Vermögens zu verändern (hua)“
(Xunzi 17, 212, Roetz 1984: 316, 326). Hiermit wird der Natur eine Art
zweiter Ordnung verliehen, die sich über die ihr eigene feste
Regelhaftigkeit (chang) legt und sie dem Menschen allererst verfügbar
macht. So wird die von ihr selbst „hervorgebrachte“ (sheng) Ordnung
vom Menschen in einem weiteren Ordnungsakt „vollendet“ (cheng)
(Roetz 1984: 331-340).
Xunzi schreibt die Leistung der Kultivierung der Natur frühen
Kulturschöpfern (shengren) zu. Hiermit rehabilitiert er die Tradition, die
eine lebensnotwendige und unverzichtbare bereits gewonnene Einsicht
5
Ein in antikchinesischen wie griechischen Texten mehrfach zu findendes Motiv
(natura noverca). Vgl. Roetz (1992: 359, Anm. 36).
Heiner Roetz
127
vermittelt und uns insofern in der Tat belehrt. Allerdings sind die
Kulturheroen für Xunzi bei genauem Hinsehen nur historische
Personifizierungen der jedem Menschen als Menschen eigenen Vernunft.
Ihr Werk ist hier und jetzt von jedem „Mann von der Straße“, der über
Lernen und Überlegung sich selbst zu einem shengren bilden kann,
nachvollziehbar (Xunzi 23, 296, Roetz 1992: 357). Auch Xunzi zollt
damit der Abkehr von der Geschichte Tribut: Auch wenn er der Natur
misstraut, ist das Zeitparadigma, in dem er denkt, dem seiner
naturalistischen Gegner verwandt. So ist die Theorie Xunzis ohne die
naturalistische, anti- oder doch ahistorische Tendenz der zeitgenössischen
Philosophie, auf die sie antwortet, nicht nur unverständlich, sie ist von ihr
mit geprägt.
V. Griechischer Naturalismus
Die Präokkupation mit dem Thema Natur kann als ein Schlüsselindiz
antiker Aufklärungsbewegungen gelten, die in einer nicht mehr mit
traditionellen Mitteln lösbaren Krise ihrer Gesellschaften nach einer
neuen, „festen“ Instanz jenseits der brüchigen hergebrachten Normen und
konventionellen Autoritätsformen suchen. Sie findet sich auch im antiken
Griechenland, wo die zivilisationskritischen Attacken der chinesischen
Daoisten in den sophistischen Angriffen auf das von Menschen
Gemachte, nicht natürlich Gewachsene ihre genaue Entsprechung finden.
Der chinesischen Entgegensetzung von xing und wei, der angeborenen
Natur und des Künstlichen, oder, analog, von nei und wai, dem Inneren
und dem Äußeren, entspricht dabei die griechische von physis und nomos
bzw. thesis oder syntheke (Heinimann 1945). Entlang dieser Linie
argumentieren vor allem die Sophisten des 5. und die Kyniker des 4.
Jahrhunderts v. Chr., die die Natur über die Sitte und das von Menschen
gemachte Gesetz stellen, mit bleibenden Nachwirkungen in der Stoa
(Bloch 1961: 20-29). Sie ziehen allerdings entgegengesetzte Schlussfolgerungen aus der Wertschätzung der Natur vor der Sitte und dem
positiven Gesetz: Im Namen der Natur wird sowohl die Gleichheit aller
Menschen wie das Recht des Stärkeren gefordert (Roetz 2000: 133-134).
Nicht zuletzt aufgrund dieser Schwierigkeit erwächst den naturalistischen
Ansätzen schon in der Antike, der chinesischen wie der griechischen, die
Konkurrenz anderer Konzeptionen, für die die Natur nur der negative
Boden der Normativität ist, insofern sie den Menschen aufgrund ihrer
Mängel zu Konventionen und Übereinkünften zwingt (ebd. 134 ff.).
Will man das Phänomen naturalistischer Argumentationen in den
Geistesgeschichten erklären, so liefert der Daoismus wahrscheinlich
einen besonders schlüssigen Hinweis: Seine provokative Koketterie mit
der ungebundenen Freiheit der Kindheit legt es nahe, den hier
128
Das Beispiel China
vorliegenden Rückgriff auf die „naturnahe“ präkonventionelle
Rationalität der ontogenetischen Adoleszenzkrise zuzuordnen; sie wäre
also, übertragen auf die Soziogenese, Ausdruck einer Reifungskrise von
Gesellschaften, in denen das Ungenügen einer Orientierung am
Hergebrachten auf breiter Front offenkundig geworden ist.
VI. Ausblick auf den heutigen bioethischen Diskurs
Was hilft nun der Blick in den antiken, namentlich chinesischen
Naturdiskurs bei der Beantwortung der Frage, wie mit der noch einmal
gesteigerten Verfügbarmachung der Natur durch die heutige
biotechnologische Revolution umzugehen sei?
Zunächst ist eines festzuhalten: Die Grundfrage selbst, ob nämlich
die Natur primär zu bewahren oder primär zu verändern sei, ist
offenkundig eine notwendige Begleiterscheinung der Herausbildung der
menschlichen Zivilisation und steht schon am Anfang der Reflexion über
deren Folgen. Mit der Vollkommenheitsthese und der Defizienz- bzw.
Vervollkommnungsthese in Bezug auf die menschliche wie die
außermenschliche Natur stehen sich dabei schon in der Antike zwei noch
heute konkurrierende Grundpositionen gegenüber. Beide Positionen sind
in gleicher Weise kulturelle Phänomene und entwicklungsgeschichtlich
nur vor dem Hintergrund des Heraustretens des Menschen aus dem
unmittelbaren Naturzusammenhang verstehbar. Dies gilt für die
naturnahe Position nicht anders als für die naturferne – die erstere hat
nicht etwa den Bonus des Unmittelbaren und Wirklichkeitsnahen,
sondern muss sich zivilisatorisch rechtfertigen. Zudem liefert die Natur
nicht die gesicherte Orientierung, die sie liefern soll. Aus der
Normativsetzung des Natürlichen werden vielmehr konträre
Konsequenzen gezogen.
Was China betrifft, so setzen sich diese Konflikte und Ambivalenzen
bis in die heutige chinesische bioethische Debatte (Döring und Chen
2002; Döring 2004) fort, die sich stark an der internationalen Diskussion
orientiert, aber auch auf die chinesische Tradition Bezug nimmt, vor
allem, wenn es gilt, einen „eigenständigen“ Weg zu reklamieren. So
argumentiert etwa der taiwanesische Philosoph Li Ruiquan (Lee Shuichuen), ganz im Sinne des Konfuzianers Xunzis, mit der
„Unzulänglichkeit der Natur“ (tiandi zhi buzu), der mittels der modernen
Biotechnologie unter Einschluss aller Formen des Klonens von Menschen
endlich abgeholfen werden könne. Hierbei sei der chinesische Mensch
selbst Schöpfer; er habe nicht etwa, wie im christlich beeinflussten
„Westen“, die Bewahrung einer ihm anvertrauten Schöpfung zu beachten
und sich so mit einem Entwicklungshemmnis herumzuschlagen – Max
Heiner Roetz
129
Weber auf den Kopf gestellt (Li 1999a: 130f.; Lee 1999: 192; Roetz
2004). Qiu Renzong wiederum, der Nestor der volksrepublikanischen
Bioethik, der sich gleichfalls als Konfuzianer versteht, befürwortet unter
Berufung auf einen normativen Yinyang-Naturalismus das sog.
therapeutische und wissenschaftliche, verwirft aber mit dem gleichen
Argument das reproduktive Klonen (Qiu 2003). Hierbei bleibt allerdings
unklar, warum in dem einen Fall gegen Yin und Yang, also die
Natürlichkeit, verstoßen wird, in dem anderen aber nicht.
Im Übrigen ist eine solche Argumentation durch die erwähnten
konfuzianischen Philosophen der Zhouzeit nicht abgedeckt. Mengzi z. B.
hat einen normativen Gehalt des alle Wesen vereinigenden energetischen
Grundstoffes Qi, dessen Formen Yin und Yang darstellen, ausdrücklich
bestritten (Mengzi 2a:2, Roetz 1992: 325). Wenn er von moralischen
Impulsen im Menschen spricht, bezieht er sich auf eine spezifisch
menschliche Ebene des Natürlichen, die von der Natur im Allgemeinen
und auch von den vitalen Lebensfunktionen des Menschen unterschieden
ist. Deutlicher noch hat Xunzi die Kosmologie aus seiner Ethik
herausgehalten. Sie wird erst im nachklassischen Konfuzianismus
dominant, wenngleich sich unterschwellig Xunzis Anthropozentrismus
durchgehalten hat (Roetz 1992: 368f.; 2004b). Dies gilt gerade heute: Die
Majorität der chinesischen Bioethiker folgt nicht dem Gedanken der
Bewahrung der Natur, sondern dem der Verfügung über sie, wobei sich
die entsprechende chinesische Tradition mit moderner instrumenteller
Vernunft und Utilitarismus vermischt. Außer Acht bleibt hierbei, dass für
den Konfuzianer Xunzi die Arbeit an der Natur nichts anderem diente als
eben der Moralisierung des Menschen und die Verselbständigung des
Nutzensdenkens nicht anderes als Ausdruck einer naturhaften Sucht
selber gewesen wäre.
Welch starker Entscheidungsdruck von der biotechnologischen
Entwicklung ausgeht, zeigt sich in China insbesondere daran, dass auch
Bioethiker in der Tradition des Daoismus sich bemüßigt fühlen, an die
technische Entwicklung Anschluss zu halten. Der originäre Daoismus
weist die Manipulation alles Natürlichen zurück – „das von Natur aus
Lange ist nichts, was zu kürzen und das von Natur aus Kurze nichts, was
zu verlängern wäre“, wie es in der bereits zitierten Passage aus Zhuangzi
8 heißt. D. Chen indes stellt unter Berufung auf einen Satz aus Laozi 77,
wonach „das Dao des Himmels wegnimmt, wo zu viel ist, und hinzufügt,
wo zu wenig ist“, fest, dass das Klonen von Menschen nicht gegen das
„Gesetz der Natur“ verstoße (nach Qiu 2003). Viel plausibler ist
allerdings, Laozi 77 gerade im Sinne von Zhuangzi 8 als Attacke auf die
menschliche Störung des von der Natur immer wieder hergestellten
Gleichgewichts zu lesen. Chens Lesart ist ein Beispiel für eine permissive
Umdeutung ursprünglich restriktiver, gegen die menschliche Hybris
130
Das Beispiel China
gerichteter Ethiken, die sich heute auch in anderen kulturellen Kontexten
findet.
Folgt nun aus der Verworrenheit des Umgangs mit Begriffen des
Natürlichen, dass der Bezug auf die „menschliche Natur“ in der Ethik
tunlichst vermieden werden sollte? Man wird hierauf eine wohl
differenzierte Antwort geben müssen. Zunächst legt das chinesische
Beispiel, nicht anders als jenes der Griechen, eines nahe: Die
„menschliche Natur“ spricht, wie die Natur im Allgemeinen, nicht für
sich selbst; der Mensch spricht, auch wenn er gerade hierin an sie
gebunden bleibt, über sie als Teil seiner Selbstverständigung, und er tut
dies in sehr unterschiedlicher, ja, entgegengesetzter Weise. Die
unmittelbare Ableitung eines Sollens an sich aus einem vorgegebenen
Naturbegriff steht zu Recht unter dem Verdacht der bloß dogmatischen
Setzung und der Heteronomie (Bayertz 2002). Bedeutet dies aber, dass
der Natur gar kein moralischer Status mehr zukommt?
Das stärkste Argument hiergegen ist von Robert Spaemann
vorgetragen worden: Gerade Autonomie, die an der Natur keinerlei
Grenze mehr fände und sich ihr gegenüber verselbständigte, fiele zurück
in eben jene Naturwüchsigkeit, von der sie sich zu Recht losgesagt hat.
Denn sie müsste dann eine andere Grenze menschlichen Handelns
festlegen, was nicht in die Freiheit, sondern in die tyrannische Willkür
führt (Spaemann 1983, vgl. auch Schweidler 2003). Auch Jürgen
Habermas begründet die „Moralisierung der menschlichen Natur“ mit
den „gattungsethischen“ Voraussetzungen von Autonomie (Habermas
2001).
Mit den Argumenten des alten China wäre schließlich zu fragen, was
aus Denkfiguren wie der Goldene Regel (ihre bekannten Paradoxien
einmal außer Acht gelassen) und, in der Konsequenz, dem ethischen
Universalismus wird, wenn die Bezugsbasis einer geteilten körperlichen
und psychischen Leidensfähigkeit durch eine einseitige Manipulation der
Menschennatur verlassen würde, und ferner, ob die Rede von einem
autonomen moralischen Sollen, die den Naturbezug substituieren können
müsste ohne zwangsläufig in die von Spaemann prognostizierte Tyrannei
zu führen, nicht ihrerseits eine bestimmte Natur des Menschen
voraussetzt: eine Natur nämlich, die diesen vom Tier unterscheidet im
Sinne einer, mit Mengzi zu sprechen, nur ihm eigenen Befähigung zum
Guten im Unterschied zum Nützlichen (Mengzi 6a:6, Roetz 1992: 343)
und der entsprechenden körperlich-physiologischen Ausstattung, diese
Befähigung zu realisieren und umzusetzen. Negativ gesagt: Man darf sich
für das Böse nicht schlechthin auf seine „Natur“ berufen können und eine
„Schuld der Anlagen“ bemühen (ebd.). Hier ist ein Begriff von Natur im
Spiel, der Autonomie allererst möglich macht und nicht, wie der bei
Xunzi unterstellte negative Naturbegriff, des Ausgangs in Heteronomie
Heiner Roetz
131
verdächtigt werden kann. Die chinesische Bioethik wäre gut beraten, sich
mit Mengzis Vorstellung von Natur mehr auseinanderzusetzen.6
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6
Vgl. hierzu die Überlegungen in Döring 2003. In der Menschenrechtsdebatte ist die
Ethik Mengzis seit längerem ein Thema; vgl. Roetz (2001).
132
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