1 Maßstab im Wandel. Anmerkungen über das Gute und die Medizinethik in China Von Ole Döring 1 Einleitung: Das Gute als Grund Ob in China oder in Europa, im Alltag reden wir so als sei die Bedeutung des "Guten" selbstverständlich. Der Vorsatz "Ich will Gutes tun" findet spontane Anerkennung. Stirnrunzeln verursacht allenfalls der Gedanke, daß der Autor sich mit diesem Vorsatz überhebt oder ihn womöglich in bloß instrumenteller Absicht verkündet, also gerade nicht um Gutes zu tun sondern um diesen kreditwürdigen Namen für andere Zwecke zu mißbrauchen. Niemand findet eine Aussage wie "Ich werde das tun (haben, sein), weil es nicht gut ist" plausibel, wohl aber den Satz, "Ich werde das tun (haben, sein), obwohl es nicht gut ist". Es fällt uns leicht uns einzufühlen, wenn ein uns ganz unbekannter Mensch davon träumt ein gutes Leben zu führen. Wir würden auch stutzen, wenn sich, zum Beispiel, ein Chinese darüber verwundert äußern würde, daß wir das Gute für erstrebenswert erklären. Für eine "nicht gute" Handlung erwartet man eine Rechtfertigung ("Ich finde das zwar nicht gut, muß/will es aber tun, weil mich bestimmte Umstände dazu drängen"), die sich offenbar erübrigt, wenn jemand erklärt: "Ich mache das weil es gut ist". Abwägung erfolgt im praktischen Urteil zwischen Ansprüchen "gut" bzw. "besser" zu sein. Konfuzius (551-479) berichtet im Lunyu (7.21): "War ich mit einigen anderen zusammen, so war noch immer mein Lehrer unter ihnen. Ich wähle das Gute heraus und folge ihm, und das Schlechte korrigiere ich"1. Wir teilen die grundlegende Intuition, daß die Vorstellung des Guten als eine Qualität schlechthin menschlich, motivierend und vernünftig sei. Aber was das Gute ist, darüber sind wir uns mit derselben Regelmäßigkeit uneins, im Falle des Handelns und Anerkennens, aber auch im philosophischen Diskurs. Ich gehe hier von der These aus, daß das Gute als Objekt der praktischen Vernunft2 anerkannt wird, allgemein als oberster Maßstab für die zustimmende Beurteilung3. Seine praktische Bedeutung unterhalb dieser Ebene ist auf mehreren Stufen und in mehrfacher Hinsicht kontrovers, sei es ob wir das Richtige tun indem wir das Gute und die ihm zugeordneten Regeln befolgen oder ob wir 1 S. Heiner Roetz, Konfuzius, München (C.H. Beck) 1995: 43. 2 S. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Band 5: 100. 3 Darin ist formell schon die Struktur des ethischen Handelns vorgezeichnet, wie Spaemann sie konzise vorgestellt hat: "Erstens die Unmittelbarkeit einer Wertschätzung, die sich nicht durch Gründe vermittelt, zweitens eine ausschlaggebende Entscheidung durch die Vernunft, die die Impulse zum Schönen koordiniert und am Ziel des Guten Lebens im Ganzen kritisch mißt." Robert Spaemann, "Die zwei Grundbegriffe der Moral", zuerst in Philosophisches Jahrbuch, 74.Jahrgang, 2.Halbband, München 1967, wieder abgedruckt in Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart (Klett-Cotta) 2001: 64-82, dort S.70-71. Die populäre Behauptung Höffes, "die neuzeitliche Rede vom Guten ist von aller objektiv-teleologischen Interpretation des Seienden abgelöst", fällt hinter diese transzendentale und kritische, gleichwohl das teleologische Moment des Guten anerkennende Interpretation zurück; s. Otfried Höffe, Lexikon der Ethik, München (C.H, Beck) 1997: 122. Ich werde unten kurz auf den Zusammenhang des Schönen und Guten in der Philosophie des Meng Zi zu sprechen kommen. 2 den mit dem Guten gemeinten Sachverhalt angemessen darstellen. Es erübrigt sich einstweilen über das Gute im akzidentellen Sinne zu reden, da zunächst zu verstehen ist, was das Gute überhaupt bedeutet. Philosophisch und kulturell ist interessant, wie das an sich Gute verstanden wird und wie sich dieses Verständnis in der Praxis - und darin gegebenenfalls bei der Prädikation niederschlägt. Hier wird vom Guten also in dem Sinne geredet, daß es etwas ist, von dem wir als Menschen nicht nur schon wissen, das wir damit zugleich auch als etwas zu Wollendes verstehen. "Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein"4. Das "gut" orientiert uns in der Anwendung auf verschiedene Dinge, Vorstellungen und Handlungen als roter Faden des Sollens. Wir lassen uns daran nicht dadurch hindern, daß ein schlechthin guter Wille uns tatsächlich überfordert5, denn es genügt, daß wir ihn in Kenntnis und Erfahrung seiner beabsichtigten Verwirklichung als eine regulative Idee verstehen und praktizieren6. Wir sollen das Gute tun bzw. wollen und das Schlechte unterlassen bzw. meiden. Bei der Untersuchung des Guten an kulturübergreifenden, mehrsprachigen Gegenständen kommt es darauf an, seinen Sinn als ein (z.B. in der Sprache transportiertes) Vorverständnis zu begreifen, als vernünftige Intention einer möglichen Besserung. Die Grund-Absicht bessernd zu wirken geht über Funktionalität, sprachliche Prägung und Präferenzen hinaus7. Dadurch zählt das Gute zu den wenigen ethischen Begriffen, die sowohl als Prinzip der Vernunft als auch als Tugend des Charakters angesprochen werden können. Es gibt Sino-Philosophen, die versucht haben, die Geisteswelt des frühen Konfuzianismus zu durchdenken, ohne das Gute für der Rede wert zu halten8. Selbst eines der einflußreichsten Standardwerke, China und die Hoffnung auf Glück von Wolfgang Bauer, geht (dem vielversprechenden Titel zum Trotz) auf das "Gute" oder ein Äquivalent nicht ein9. Diese Auslassung ist kein Zufall sondern entspricht einer Haltung, die der chinesischen Philosophie insgesamt einen Platz zwischen Weisheitslehre, Kunsthandwerk und Handreichungen der strategischer Schlauheit zuweisen möchte und die in der Sinologie nicht ohne Einfluß geblieben ist10. Demnach wäre das Gute in China 4 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft: 106. 5 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft: 109 6 Kant weist in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darauf hin, daß der Begriff des "ohne weitere Absicht guten Willens" nicht gelernt sondern nur aufgeklärt werden muß; Akademieausgabe: 397. 7 Vgl. Philippa Foot, "Gutsein und Wählen", in Die Wirklichkeit des Guten, Frankfurt/M. (Fischer) 1997: 71-88, besonders 73, 76f.; zuerst als "Goodness and Choice", Proceedings of the Aristotelian Society, Supp. Vol.35 (1961): 45-60 8David L. Hall und Roger T. Ames, Thinking Through Confucius, New York (SUNY) 1987. Bei Hall und Ames gerät die nominalistische Rekonstruktion an zentralen Stellen zu einer (philologisch fragwürdigen) ethymologischen Bedeutungslehre, die durch das Han-zeitliche Wörterbuch Shuo Wen Jie Zi inspiriert ist und kaum Raum für hermeneutische Rekonstruktion läßt. Z.B. Yi, das.: 92f.. 9 Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien. Idealvorstellungen in der Geistesgeschichte Chinas, München (dtv) 31989 10 Zuletzt hat Wolfgang Bauer in seiner (posthum redigierten und von Hans van Ess herausgegebenen) Geschichte der chinesischen Philosophie, München (C.H. Beck) 2001 eben diese Darstellung erneut gewählt. S. das.: 18-20. 3 nur entweder in einem instrumentellen Sinne oder als ein Mythos vorhanden, jedenfalls sofern es die Philosophie betrifft. Die "chinesische Philosophie" als Weisheitslehre widmet sich in dieser Sicht der Wiederherstellung, oder zumindest der Verklärung, der sagenhaft-altertümlichen Verhältnisse zum Topos einer "unzerspaltenen Welt"11. Diese sentimentale Haltung verspricht kaum rationale Erkenntnisse und dürfte wenig Interesse an der Untersuchung des "chinesischen Guten" wecken. Diese Einschätzung ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Heiner Roetz hat akribisch nachgewiesen, daß dieser Topos historischphilologisch und ethisch-systematisch erst auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit einem existentiellen Bruch in seinen Ehrenrang eingesetzt werden konnte12. Aus der Erfahrung des Zusammenbruchs einer halb-fiktiven guten alten Zeit entwickelten die "hundert Philosophenschulen" in der "Zeit der Streitenden Reiche" einen Konkurrenzkampf um überzeugende und praktikable Programme des Krisenmanagements. Es ist also gerade erst die Auseinandersetzung mit der als real begriffenen Zerspaltung der Welt, die das philosophische Erwachen und die klassische Phase der chinesischen Philosophie einläutet. Im Sinne eines fundamentalen Bruches als Impuls für die Ethik äußern sich auch wieder für die heutige Zeit chinesische Medizinethiker. „Was China betrifft, so gilt die breite Anerkennung des Todes des Konfuzius, der Abstieg des Dao und der Zusammenbruch des Himmels als das ernsteste Kulturereignis seit dem späten 19ten Jahrhundert. Die unter den Chinesen verbreitete Wahrnehmung eines totalen Verlustes stimmt mit den Empfindungen der westlichen Postmoderne nach der Wahrnehmung von Gottes Tod, dem Zwielicht der Vernunft, dem Abdanken des Guten und Schönen und der Falsifizierung der Wahrheit überein, oder ähnelt ihr jedenfalls.“13 Die sprichwörtliche Auseinandersetzung zwischen Menzius und Xun Zi darüber, ob "die Natur des Menschen gut" sei, erschöpft sich bei den Leugnern einer Philosophie im eigentlichen Sinne in China, die ohne methodologische Begründung oftmals nominalistisch verfährt, in einer philologischen Analyse der Bedeutung des Wortes "Natur" (Xing); eine halbwegs angemessene Untersuchung des Prädikates "gut" (shan) wird unterlassen. Der Leser erfährt auf diesem Wege frappierend wenig Explizites über die Bedeutung des Guten14. Dies ist umso erstaunlicher als es der Wortlaut einschlägiger 11 Bauer 1989: 22. 12 Heiner Roetz, Mensch und Natur im alten China, Frankfurt/M. (P.Lang), 1984. Hier wird insbesondere der China zugeschriebene "Universismus" entzaubert. Zur Rezeption der chinesischen Philosophie das., auch Roetz 1992:20-44. Über den "Bruch" s. das.: 60f.. Zum Thema der Tradition und Traditionalismus s. Roetz, "China und die Menschenrechte: Der Stellenwert der Tradition und die Stellung des Konfuzianismus", in: Gregor Paul und Caroline Y. Robertson-Wensauer, Hg., Traditionelle chinesische Kultur und Menschenrechtsfrage, Baden-Baden (Nomos) 1997: 37-56. Zum neueren Umgang mit der konfuzianischen Tradition vgl Werner Meißner, China zwischen nationalem 'Sonderweg' und universaler Modernisierung, München 1994, besonders: 160-165. 13 Jing-Bao Nie, “The Plurality of Chinese and American Medical Moralities: Toward an Interpretive Cross-cultural Bioethics,” Kennedy Institute of Ethics Journal 10(3) 2000: 239-260. 14 Die Worte des Textes und implizite Deutungen der Interpretation gestatten gleichwohl eine annähernde Vorstellung von der Phänomenologie des Guten: Bauer 2001 zitiert Xun Zi in dem Sinne, daß Nachgiebigkeit, Freundlichkeit, Treu und Glauben bewahrenswerte Ausdrücke des Guten sind, während 4 Aussagen im klassischen Korpus unmißverständlich nahelegt, daß die gesamte praktische Philosophie des frühen Konfuzianismus als eine Auslegung des Guten gelesen werden kann, wodurch sie ihrer Bezeichnung als praktische Philosophie im vollen Sinne gerecht wird15. Wir finden hier eine schon im Ansatz angelegte selbsterfüllende "Prophezeiung", einer vorgängigen Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer chinesischen Philosophie schlechthin, dessen Kritik in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden kann16. Diese Meinung mußte aber erwähnt werden, um die methodologischen und hermeneutischen Schwierigkeiten und disziplinären Befangenheiten anzudeuten, die einem nüchternen Zugang zum Verstehen des Guten in China im Weg stehen mögen und die insbesondere den nicht mit der chinesischen Philosophie aus eigener Textkenntnis vertrauten Leser in die Irre führen können. Ich werde im Folgenden zunächst kurz einige prominente Aussagen zum Guten in frühen konfuzianischen Texten referieren, um dann Ansichten über das Gute aus zeitgenössischer Perspektive zu ergänzen. Was denken heutige Chinesen über das Gute? Dieser in ihrer allgemeinen Form überambitionierten Frage möchte ich anhand eines speziellen und überschaubaren Diskurses nachgehen. In der Medizinethik kommen exemplarisch signifikante Betrachtungsweisen des Guten zusammen. Der Auftrag der Medizin, das Befinden und die leibliche Verfassung zu "bessern" und der Auftrag der Ethik, die dabei in Anschlag gebrachten Normen zu diskutieren und rational auf das Gute zu beziehen, führen ethische Grundlegung und "Anwendung" an einem Punkt zusammen. Im kulturübergreifenden Kontext des ethischen Reflektierens über den biotechnischen Um- und Ausbau der Medizin in China wird diese abstrakte Debatte durch vielfältige Streit, Neid und Haß der schlechte Ausdruck unserer Triebnatur ist. Wir erfahren auf diesem Wege auch, daß die gute Praxis ein Ziel ist, das durch die Orientierung von Selbstzucht, Bildung und Sozialisation an einem Konzept der "Rechtlichkeit" (Yi) zu erreichen sei. Das.: 104. Diesen Ansätzen wird aber nicht weiter nachgegangen und ihren offensichtlichen methodologischen und ethischen Implikationen wird keine Rechnung getragen. Ähnlich selektiv nominalistisch verfährt Hubert Schleichert in Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung, Frankfurt/Main (Klostermann) 21990, z.B.: 71ff. und 276ff.. Roger T. Ames geht in "The Mencian Conception of Ren xing: Does it Mean `Human Nature´?", in Henry Rosemont (ed.), Chinese Texts and Philosophical Contexts: Essays Dedicated to Angus C. Graham, La Salle 1991: 143-175, noch über das nominalistische Verfahren hinaus, das er "dekonstruieren" möchte, indem er bezweifelt, daß bei Menzius überhaupt so etwas wie "die menschliche Natur" zur Debatte steht. Moritz wählt demgegenüber ein diskursives Verfahren und kommt dadurch zu einer Darstellung, die nicht auf mythologische, naturalistische oder linguistische Optionen beschränkt ist sondern idealistische bzw. metaphysische Deutungen erlaubt. Vgl. Ralf Moritz, Die Philosophie im Alten China, Berlin (Deutscher Verlag der Wissenschaften) 1990: 147ff. 15 Eine ähnliche dogmatische Verzerrung findet sich analog im Hinblick auf die Rede von einer theoretischen Philosophie in China, wenn es um das Wahre geht. Siehe Heiner Roetz, „Validity in Zhou Thought. On Chad Hansen and the Pragmatic Turn in Sinology“, in Hans Lenk and Gregor Paul (Eds.) Epistemological Issues in Classical Chinese Philosophy, Albany (SUNY) 1993: 69-112. Siehe auch Gregor Paul, Die Aktualität der klassischen chinesischen Philosophie. Rationalitätskonzepte im frühen Konfuzianismus, im Neo-Konfuzianismus, im Neo-Mohismus und im Legalismus, München (Iudicium) 1987. 16 Ich verweise hierzu auf die genannten Arbeiten von Roetz 1993, 1995, 1997 und auf Gregor Paul, „Tradition und Norm. Ein Beitrag zur Frage nach der Universalität moralischer Werte“, in Horin. Vergleichende Studien zur japanischen Kultur, Band 4, Mümchen (Iudicium) 1997: 13-47. Vgl. auch die Ausführungen zum sinologischen Kulturrelativismus in Anja Osiander und Ole Döring, Zur Modernisierung der Ostasienforschung: Konzepte, Strukturen, Empfehlungen, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde 305, Hamburg 1999. 5 Interpretationsentwürfe des Guten als kulturelles Konstrukt erweitert. China bietet mit seiner alten, eigenständigen und über viele Jahrhunderte hinweg überaus selbstbewußten philosophischen Tradition ein besonders vielversprechendes Profil für die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen kulturellen, ethischen und historischen Faktoren. Hinzu kommt, daß China im Unterschied zu anderen sogenannten "Tigerstaaten" Ostasiens (Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan) seine Auseinandersetzung mit der Medizinethik in einem Zuge mit umfassenden und stark beschleunigten sozio-ökonomischen Modernisierungsbestrebungen vollzieht, deren eigene Dynamik den kulturellen Selbstbehauptungsprozeß zuweilen in den Hintergrund drängt. Medizinethik im heutigen China liegt also an einer einzigartigen Schnittstelle von Tradition und Moderne, Kultur und Sachzwängen, Pragmatismus und Menschlichkeit. Andererseits werden die Ansichten zum Guten in China aus europäischer Perspektive besser verständlich, wenn Gesichter und Stimmen von Chinesen aus der anonymisierenden Rede über "die Chinesen" hervortreten, und sich über ein Thema von praktischer Bedeutung äußern. 2 Das Einheit stiftende Gute Das Eine, welches alle Praxis durchdringt ist nach Konfuzius Shu, die empathischverstehende Reziprozität oder Fairneß17. Dieser Begriff ist im Lunyu eng an den der Menschlichkeit (Ren) geknüpft, wodurch Shu schon etymologisch das Gute stark an die Vorstellung vom Menschen als soziales Wesen bindet. Es macht die Menschlichkeit (Ren) als Tugend und die Menschlichkeit (Ren) als Prinzip zu Aspekten eines ethischintentionalen Grundgedankens, der guten bzw. zum Guten veranlagten „Natur“ des Menschen. Das Gute selbst bedarf für den Konfuzianer keiner eigenen Rechtfertigung; es soll verstanden werden und aller Praxis überhaupt einen Sinn geben. Deshalb nimmt Konfuzius zur Metaphysik und zum Tod18 kaum jemals dezidiert Stellung, wohl aber dazu, was es heißt in der Welt gut zu sein und wie man erfolgreich 19 sich selbst kultiviert. 2.1 Das Gute als „archimedischer Prozeß“ Das Gute „ist nicht nur ein bloßer Gedanke“20. Es ist uns eingeboren. Die erzkonfuzianische „Große Lehre" (Daxue) ist der kürzeste der kanonischen „Vier 17 Lunyu 15.24 sowie 4.15. Roetz macht in seiner ausführlichen Diskussion dieses Begriffes im Zusammenhang mit der Goldenen Regel deutlich, daß Shu weit über die geläufige Bedeutung von "Fairneß" hinaus geht, auch wenn er es selbst so übersetzt. S, Heiner Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1992: 220-233. 18 Roetz zitiert zustimmend die Aussage H.H. Rowleys (Prophecy and Religion in Ancient China and Israel, London 1956), auch Meng Zi „interessiert der Auftrag mehr als der Auftraggeber“; Roetz 1992: 315. Siehe Lunyu 5.13; in Lunyu 11.12 heißt es: „Wenn man noch nichts über das Leben weiß, wie will man dann etwas über den Tod wissen?“, vgl Roetz 1995:82. Vgl. dazu meinen Aufsatz "The meaning of death and dying. Confucian reflections on quality of life assessment at the end of life", Formosa Medical Ethics Journal Vol.2, October 2001: 48-66. 19 Meng Zi stellt Erfolg und moralische Einsicht in einen praktischen Zusammenhang. Man muß das Gute wollen, dies Wollen ist nicht nur kausale sondern auch freie Ursache für den Erfolg sittlicher Vervollkommnung. „Strebt es an und dann werdet ihr es erreichen, übergeht es und dann werdet ihr es verlieren!“ (6.1.6, 7) 20 Fu si er yi, Mengzi 6.1.6. An derselben Stelle heißt es: „Alle Menschen besitzen ein Herz das mitfühlt, das sich des Üblen schämt, ehrfürchtig und bescheiden ist und Recht von Unrecht unterscheiden kann“. 6 Klassiker" (Si Shu), die seit der Südlichen Song-Dynastie das akademische Eingangstor zur staatskonfuzianischen Orthodoxie ausgemacht haben und schon damals auf eine eigenständige Geschichte von eineinhalb Jahrtausenden zurück blicken konnten21. Der erste Satz der Schrift, der die programmatische Absicht der Persönlichkeitsentwicklung auf den Punkt bringt lautet: "Der Weg der Großen Lehre besteht darin, seine glänzende Tugend erstrahlen zu lassen (ming ming de), die Menschen zu lieben (qin min)22 und im Zustand des vollendeten Guten zu verbleiben (zhi yu zhi shan)". Unter den Exegeten herrscht Einigkeit darüber, daß das Gute an dieser Stelle nicht gleichrangiger Teil einer Dreiheit sondern die höchste Stufe der moralischen Entwicklung ist. Durch die Tugend bewährt sich das moralische Empfinden, in der väterlichen Liebe vollzieht sich die Verantwortung; beide Komponenten tragen und stabilisieren den Prozeß, im Zustand des Guten zu verbleiben, und formen den praktische Willen23. Wer den guten Weg versteht, wird auf diesem „archimedischen Punkt“ der Praxis seine Lebensgestaltung gründen (zhi zhi er hou you ding). Man lernt so sein Inneres und seine Welt zu ordnen und zu befrieden24. In diesem Sinne kann sich das gute Handeln im Laufe der Persönlichkeitsbildung25 auf immer größere Aufgaben und komplexere Entscheidungen ausweiten. Am Schluß dieses Programms steht die Anweisung an den Menschen in verantwortlichen Entscheidungssituationen, sich dadurch moralisch zu qualifizieren, daß Dies sei die universale Natur des Menschen. Durch die Art damit umzugehen unterscheiden wir uns von einander, die Praxis differenziert uns moralisch von einander. Mengzi das., ebenso Lunyu 17.2. 21 Der erste dieser Klassiker ist das Lunyu, der zweite das Buch Menzius, der dritte das Daxue und der vierte die "Anwendung der Mitte" (Zhongyong). Zum Daxue siehe Wing-tsit Chan, A Source Book in Chinese Philosophy, Princeton (Princeton University Press) 41973: 84ff. Eine ausführliche, wenngleich philologisch einseitige, kommentierte Einführung in die "Große Lehre" ist Daniel K. Gardner's Chu Hsi and the Ta-hsueh. Neo-Confucian Reflection on the Confucian Canon, Cambridge (Harvard University Press) 1986. 22 Ich folge der älteren Lesart des Textes, in dem (als Kapitel des "Klassikers der Handlungsregeln" , Li Ji) qin min ("die Menschen lieben") steht. Zhu Xi (1130-1200) hat ohne überzeugende philologische oder hermeneutisch-systematische Begründung an die Stelle des qin (sich väterlich verbunden fühlen) das lautverwandte und ähnlich geschriebene Schriftzeichen xin (neu machen) gesetzt. Durch diesen nicht unüblichen Kunstgriff wird aus einem "Fürstenspiegel" zum Zwecke der Selbstkultivierung im Interesse des Wohlergehens des Volkes ein Legitimationsinstrument für autoritäre Maßnahmen einer Regierung zur "Umformung des Volkes". Das Gute wird aus einem moralischen in einen politischen Begriff umgedeutet. Vermutlich wurde diese Lesart aus Gründen politischer Opportunität aufrecht erhalten. Massiv wurde sie unter anderem von Wang Yangming (1472-1529, vgl. sein Daxue wen, „Fragen an die Große Lehre“, ) kritisiert. Vgl. Gardner op.cit.: 89f., Fung Yu-lan, A History of Chinese Philosophy, Vol2 (translated by Derk Bodde), Princeton (Princeton University Press) 1983: 600f.. Siehe auch Peter WeberSchäfer, „Die ‚Große Lehre‘ und die ‚Anwendung der Mitte‘“, in Peter Opitz (Hrsg.), Chinesisches Altertum und Konfuzianische Klassik, München (List) 1986: 145. 23 Ganz im Sinne Meng Zi’s kann man diesen Status grundsätzlich immer auch wieder verlieren, nämlich dann, wenn man aufhört, sich immer wieder neu in Frage zu stellen und sich bewähren zu wollen. Für den Menschen bedeutet der „Zustand“ des Guten in der Praxis einen Prozeß, der immer neue Bewährung, Legitimation und Weiterentwicklung verlangt. Nur durch die fortgesetzte Akkumulation praktischer Erfahrung und die Realisierung praktischer Urteile verbleibt man auf dem Weg (Dao). 24 Es ist zu beachten, daß der innere Friede (lü) und die Ordnung (shi) sich an der Pflicht orientieren. Im Konfliktfall gibt das Gute (Menschlichkeit, Gerechtigkeit) immer den Ausschlag gegenüber Erwägungen von Nutzen oder der Lust- Unlust- Kalkulation. 25 Zu den wichtigsten Schritten zählt dabei neben der charakterlichen (xiu shen) auch die kognitive (zhi zhi zai ge wu) Bildung. Die allgemeine Welterkenntnis ist unabtrennbar mit der Möglichkeit der guten Praxis verknüpft. 7 man lernt, die Praxis in der Perspektive des Guten zu verstehen. Diese Qualität entscheidet sich an der Fähigkeit, das bloß Nützliche vom Guten und Richtigen zu unterscheiden: „Suche nicht im Nützlichen den Gewinn, sondern in der Gerechtigkeit“ (bu yi li wei li, yi yi wei li ye)26. Erst durch die Anknüpfung des „Maßnehmens" an das Gute bzw. an die Menschlichkeit erhält ein Satz wie der folgende seinen universalen Sinn: "Das rechte Maß zu finden und die Hybris zu meiden ist eine Grundidee antiker Ethik"27. Maß zu nehmen und die Mitte zu halten sind keine esoterischen Diätvorschriften aus der Weisheitsschule Asiens, sie sind programmatische Chiffren für die gute Praxis und werden erst überhaupt verständlich, wenn das Prädikat "gut" eingeführt bzw. vorausgesetzt ist. Schon die frühen Konfuzianer waren sich der Dignität und Schwere der Last einer gewollten guten Praxis bewußt: "Die Anwendung der Mitte zhong yong als Tugend, das ist wohl das Höchste!"28 Nach dem Aufweis einer tatsächlich gegebenen Diskussion des Guten im nicht relativen oder instrumentellen Sinne in China, wie sie selbst bei oberflächlichster Betrachtung hier ohne weiteres ins Auge fällt, brauchen wir uns nicht mit der Frage zu befassen, ob es Vorstellungen eines an sich Guten in China überhaupt geben kann. Die bis heute bekannteste, einflußreichste und fruchtbarste philosophische Erörterung des praktischen Guten findet sich in der Auseinandersetzung des "zweiten Konfuzianers", Menzius (Meng Zi, 372-281), mit seinem Zeitgenossen Gao Zi: Es sei ebenso selbstverständlich die Natur des Menschen, gut zu sein, wie es die Natur des Wassers ist, abwärts zu fließen, wenn man es nur läßt, heißt es dort29. Etwas später hat Xun Zi (ca. 310-230) diese Ansicht als empirisch widerlegt zurückgewiesen. Der Mensch sei ein triebgesteuertes Wesen und müsse mit Gewalt dazu veranlaßt werden, gut zu werden 30. Ob das Gute in uns oder außer uns ist, ob es überhaupt etwas spezifisch Menschliches sei wurde kontrovers debattiert. Daoisten bestritten, daß man überhaupt durch absichtsvolles Handeln gut werden könne31, Legalisten (wie Shang Yang32) und Hedonisten (wie Yang 26 An dieser Lesart des Guten ändert sich nichts, wenn als Subjekt nicht ein konkretes Individuum sondern das Interesse des Staates (Guo) steht. 27 Roetz 1992: 173. Cheng Hao (1032-1085) versteht das Gute und das Üble als Zustände der HimmelsVernunft (tian li):“Alles Gute und Üble der Welt ist von der Himmels- Vernunft. Das übel genannte ist nicht vom Grund her übel, sondern es zeigt entweder ein Übermaß oder einen Mangel an“ Songyuan xue’an („Gesammeltes Wissen aus der Song- und Yuan- Zeit“), 13, 16b. 28 Lunyu 6.29, Zhongyong 3; s. Roetz 1992: 174. Gleichwohl ist das Zhongyong mitnichten eine einfache Übung. Sie zielt auf das Höchste. Das ist ganz wörtlich zu nehmen, beansprucht die "Anwendung der Mitte" doch explizit, die gute Praxis mit Ontologie und Kosmologie zusammen unter ein allumfassendes Urprinzip zu bringen, die "Echtheit" (Cheng). In dieser Selbstüberhebung sprengt der vierte der Klassiker selbst seine eigene Heuristik und gerät zu einem Sonderling neben drei Werken mit eindeutig praktisch- politisch begrenzter Perspektive. 29 Mengzi 6.1.6. Dazu Roetz 1992: 317-343. Ausführlich Kwong-Loi Shun, Mencius and Early Chinese Thought, Princeton (Princeton University Press),1997. Vgl. auch Fung 1983 Vol1: 119-127 und 284-288. 30 S. Xunzi 23: 289, vgl Roetz 1992:344-362. 31 Im Huainan Zi heißt es: „Aus der Seelenruhe (Lü) und dem Nicht-Eingreifen (Wu wei) wird das Gute (Shan)“. Vgl. Alfred Forke, Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie, Hamburg (Cram, De Gruyter) 21964: 41. Der Daoismus postuliert nach Roetz „ein normativ Gutes vor und jenseits aller Moral (...). Die Natur des Menschen ist hier gerade das von der Moral freie und ihrer nicht Bedürfende“. S. Roetz 1992: 318. 8 Zhu33) lehnten jeden authentischen Begriff des Guten ab und benutzten den Begriff nur in seinen strategischen Bedeutungen oder gar zynisch. Das Bewußtsein vom Guten und seiner unerschöpflichen Interpretationen ist von der Antike bis heute in China überaus lebendig gewesen und hat ein reiches kulturelles Erbe hervorgebracht. 2.2 Das Gute als Telos „Gut heißt was man wollen kann (ke yu)“34. Konfuzianische Autoren haben stets Wert darauf gelegt, daß „jedermann“ moralische Größe auch wirklich erreichen kann35. Hier zeigt sich das Gute in seiner teleologischen Bedeutung, der zufolge etwas gut ist, insofern es ist was es sein kann. Aus der Annahme, daß man tatsächlich gut werden kann, ergibt sich die Kraft der Imperative: man soll was man kann; denn man kann was man soll, weil man es „eigentlich“ selbst ist. Durch den Imperativ, werden zu sollen was man sein will, indem man seine eigentliche Bestimmung erkennt, integriert der Begriff des Guten die Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit in einen Systemgedanken, in dem das relativ Gute der Bestandteile durch ihre Möglichkeit des Zusammenwirkens zu einem guten Ganzen qualifiziert ist. Meng Zi hat diese systematisch-teleologische Bedeutung des Guten in seiner Parabel vom Kuhberg unter den Begriff des Schönen (Mei) gebracht36. Der Kuhberg, am Rande einer großen Stadt, ist heute erodiert und leblos. Er war jedoch einst schön. Das war, ehe die Menschen kamen, ihn durch Übernutzung zerstörten und seiner Regenerationskraft beraubten. Heute findet ihn niemand mehr schön, seine Oberfläche ist verheert; man vermag sich nicht einmal mehr vorzustellen, daß er einst ein schönes, gesundes Biotop gewesen sein kann. Im Interesse der Integrität des Berges wäre es am besten gewesen, der Mensch hätte ihn unberührt gelassen. Jetzt ist es aber immer noch möglich, die schöne Gestalt wieder aufleben zu lassen, indem man pflegt und nährt was im Berg angelegt ist, damit es selbst und aus eigener Kraft zur vollen Reife und Schönheit finden kann. So verhält es sich auch mit der natürlichen Schönheit (Mei) des Menschen. Durch wiederholtes Eingreifen und Ablenken der praktischen Selbstregulierung und durch andauernde Unterdrückung der moralischen Spontaneität ist das „vernünftige Herz“ (Xin) erschöpft und orientierungslos; seine natürliche Schönheit ist nicht mehr wahrnehmbar, sie wird sogar denunziert. Was im vernünftigen Herzen angelegt ist (Cai), kann sich aber immer noch entfalten und reifen (zhang), sobald wir aufhören es zu behindern oder zu zwingen. Man muß es nur pflegen und für sein Gedeihen sorgen wollen (de yu yang). Für Meng Zi ist dieses Verfahren unangestrengt, man wird ganz man selbst indem man seinem moralischen Sinn folgt, seiner Natur erlaubt, sich ungehemmt zu entfalten37. Im Unterschied zum machtlosen Kuhberg haben wir Menschen es selbst in der Hand, für 32 S. Roetz 1992: 414-417. 33 S. Roetz 1992: 386f. 34 Mengzi 7.2.25. 35 Xunzi 23.7. Xun Zi bringt in seiner Begründung hierfür den Gesichtspunkt der Unparteilichkeit ein: jeder Mensch kann als Mensch zu einem Edlen werden, weil der Himmel nicht parteiisch ist. 36 Mengzi 6.1.8. 37 Es ist leicht zu sehen, daß die Erhaltung und Nährung dieser Schönheit dem oben angespochenen Prozeß und der Aufgabe des vollendeten Guten (Zhi shan) im Daxue entspricht. 9 Bedingungen zu sorgen, unter denen das Gute sich entwickeln kann. Das Gute als das Schöne des Menschen illustriert: im Gutsein zeigt sich die wahre Schönheit. Spaemann hat über das Gute bei Plato gesagt: Plato "revidiert und moralisiert den Begriff des Guten, das heißt er bestimmt das Gute, also das Erstrebenswerte, des existentiell Wünschbare und immer schon Erwünschte so, daß die Schönheit eines menschlichen Verhaltens selbst ein integrierender Bestandteil jenes eigentlichen und letzten Handlungszweckes wird"38. Ein solches Telos hält offenbar auch bei Meng Zi das System der praktischen Philosophie zusammen und unterlegt das Erstrebenswerte schlechthin mit einem vorgängigen Wesensbegriff. Diesem System steht mit der „Menschlichkeit“ (Ren), als oberstes praktisches Prinzip und zugleich als Kardinaltugend, der konfuzianische Inbegriff des Guten vor39. In dieser praktischen Philosophie besitzt jeder Begriff als solcher eine qualitative Konnotation, jedes Argument wird erst dadurch zu einem ethischen Argument, daß es sich auf das Gute bezieht40. Die Auseinandersetzung mit dem relativ Guten (das Nützliche, li) wird als entscheidend für das praktische Verstehen offen ausgetragen41. Das Nützliche kann durchaus mit moralischem Wert verbunden sein. Es ist sogar konstitutiv wenn man „schön“ werden will. So gehört es sogar zu den wichtigsten Aufgaben der Politik, den Menschen Nutzen zu bringen, damit ihrer Kultivierung die materiellen Grundlagen und der erforderliche Ordnungsrahmen zur Verfügung stehen42. Aber niemals spielt die Nützlichkeit eine Rolle als Selbstzweck und schon gar nicht, wenn es der Menschlichkeit und Gerechtigkeit bzw. dem Guten widerspricht, also wenn es nicht zu deren Zwecke gewollt wird. Sobald der Mensch sich dem Nützlichen unterwirft, kann er nicht mehr schön werden sondern allenfalls ein „Räuber“43. 38 Robert Spaemann 2001: 68. 39 Im Mengzi wird dieser Begriff an vielen Stellen durch „Gerechtigkleit“ bzw. „das Richtige“ zu Renyi erweitert. Es kommt hier offenbar nicht auf eine kanonische Fixierung an sondern auf die intentionale Klarheit des Verstehens des Guten an. 40 Darin liegt der ethische Anspruch und die politische Brisanz des von Konfuzianern eingeforderten Programmes der „Richtig-Stellung der Begriffe“ (Zheng Ming). Ziel dieses Programmes ist es, praktische Begriffe anhand ihrer ethischen Bedeutung und der Legitimität ihrer normativen Ansprüche zu ordnen. So darf nur der durch seine Verpflichtung auf den Dienst am Volk legitimierte Herrscher als „König“ (Wang) bezeichnet werden, ohne diese Qualität ist er ein „Usurpator“ (Ba). Da sämtlichen dieser Begriffe multipel reziproke Ansprüche und Verpflichtungen gegenüber anderen entsprechen, die je nach situationsbestimmter Rolle für jede Person wechseln kann, ergibt sich ein überaus kompliziertes und anspruchsvolles Vorhaben. Ihm wird jedoch in meiner Interpretation dadurch die Nähe zum technokratischen „social engineering“ genommen, daß es nach Meng Zi eben gerade nicht um die implimentierende Herstellung eines utopischen Gemeinwesens gehen soll sondern um ein naturwüchsiges Entstehen des Richtigen. Xun Zi hat ein ganzes Kapitel seines Werkes diesem Thema gewidmet (Xunzi Kap. 22). Siehe John Knoblock, Xunzi. A translation and study of the complete works, Vol. 3. Schleichert reduziert des praktische Programm des Zheng Ming auf dessen sprachlogische und instrumentelle Aspekte „richtiger Bezeichnungen“; vgl. op. cit.: 312ff 41 Bereits im ersten Abschnitt des Mengzi weist der Philosoph den König Hui von Liang zurecht: „Warum müßt ihr nur vom Nutzen reden? Laßt uns besser über Menschlichkeit und Gerechtigkeit sprechen.“ (1.1.1); vgl. James Legge, The Works of Mencius, New York (Dower) 1970:126-127. 42 Ausführlich dazu: Roetz 1992: 109ff. 43 Der Unterschied zwischen dem Inbegriff des Räubers („Scharrfuß“ Zhi) und dem des Kulturheroen (Shun) ist der zwischen dem Streben nach Nutzen und Streben nach dem Guten. So Mengzi 7.1.25; vgl. 10 Die Bezugnahme auf das Gute muß freilich nicht explizit auf einen bestimmten Begriff oder eine bestimmte Gruppe von Begriffen rekurrieren, denn sie ist sui generis immer schon in jedem normativen Begriff, Satz und Urteil mit gegeben. Andernfalls führte man keinen ethischen Diskurs. Der klare Begriff vom Geist des Ethischen erlaubt ein hohes Maß an Flexibilität in der Konfiguration der Buchstaben der Moral; das jeweilige Thema des Diskurses wird in Abhängigkeit von der praktischen Struktur einer Situation bzw. von der ethischen Pointe einer bestimmten Aussage formuliert. Das „Gute“ kann beispielsweise im Sinne der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, des Verstehens, der Kritik oder der Selbstlosigkeit; als ein Prinzip, als ein Grundsatz oder als ein mehr oder wenig stark qualifizierendes Prädikat benutzt werden44. Die konkrete Bedeutung erschließt sich auf der Grundlage des allgemeinen sinngebenden Deutungsrahmens je aktuell. Deswegen fordert die Auseinandersetzung mit konfuzianischen Diskursen ein besonders hohes Maß an hermeneutischer Kompetenz. Dadurch wird diese Ethik keineswegs relativistisch oder subjektivistisch, sie bleibt in ihrer Anlage universalistisch und auf Vernunftautonomie gegründet45. Die „Schule der Sanftmütigen“46 läßt sich konsequent auf den Anwendungsauftrag der Ethik ein und trägt der Kontingenz der Praxis Rechnung. Das Gute kann sich in und unter die anderen normativen Termini eines Kontextes mischen und gewissermaßen darin auf- oder untergehen. Dabei kommt die semantische Multivalenz und grammatische Sparsamkeit der chinesischen Sprache dieser konzeptionellen Flexibilität entgegen. Gleichwohl hat diese allgemeine konzeptionelle Unschärfe für die Interpretation und Bezugnahme auf einer Metaebne zur Folge, daß man sinnvoll über „konfuzianische“ Aussagen nur diskutieren kann, wenn man nicht nur die Situation sondern auch diesen allgemeinen Rahmen versteht, das heißt, wenn man bereit ist, in den hermeneutischen Zirkel des Verstehens einzutreten. Akzeptiert man die intentionale Struktur des Deutungsrahmens47, die bei Xun Zi als „Leitfaden“ (Guan) bezeichnet ist48, so wird eine verstehende Interpretation möglich. Diese Überlegungen fließen in die Auseinandersetzung mit der heutigen EthikDiskussion in China überall dort ein, wo ausdrücklich auf den philosophischen Legge 464. Daoisten, die bereits in der Moral eine instrumentelle Vergewaltigung des Guten sehen, treiben diese Kritik auf die Spitze. „Die größte aller Räuberbanden nun, die sich der Moral als eines wirksamen Mittels bedient, ist der Staat“. Roetz 1992: 401. 44Man versteht inwiefern Angus C. Graham Recht hat, wenn er behauptet, Shan sei in der konfuzianischen Terminologie kein prominenter Ausdruck. S. Disputers of the Tao, La Salle (Open Court)41995: 494. Der Terminologie kommt für die Ethik nur als untergeordneter Ausdruck einer guten praktischen Weltordnung Bedeutung zu. Nichts an ihr ist daher „prominent“, da sie im System der praktischen Vernunft untergeht. 45 So z.B. Lee Ming-huei (Li Minghui), Rujia yu Kangde („Die Konfuzianer und Kant“), Taipei (Legion), 1990. 46Die die Übersetzung des eigentlichen, programmatischen chinesischen Namens für den „Konfuzianismus“ (Rujia); vgl. Roetz 1995. 47 Es wäre eine eigene Untersuchung wert zu klären, ob es diesem Rahmen gemäß möglich ist, die Grundannahmen dieser Ethik zu akzeptieren ohne sie zugleich auch affirmativ zu teilen, sie also zu verstehen ohne sie auch für wahr zu halten. Hieran könnte sich die Tauglichkeit des Konfuzianismus für eine moderne pluralistische Gesellschaft mit entscheiden. 48 Xunzi 17: 212; vgl. Roetz 1992: 307. 11 Konfuzianismus rekurriert wird oder wo eine Auffassung vom Guten ins Spiel gebracht wird, die mit seiner Grundintention vereinbar ist. Besonders interessant ist die Auseinandersetzung mit dem Guten dort, wo ethische Fragen aufgeworfen und Entscheidungen getroffen werden müssen, die den Kern des menschlichen Selbstverständnisses berühren, also gerade in der Medizinethik. Hierbei treffen normative Vorstellungen, praktische Kompetenzen und gegebene Vorschriften auf die soziale Wirklichkeit in Medizin und Gesundheitswesen in China, in der sie die Interpretationen des Guten aktualisieren49. 3 Usurpierung des Guten in der chinesischen Medizinethik? Einige Facetten der Diskussionen zur Medizinethik in China sollen nachfolgend in einer Momentaufnahme den heutigen Stand des Guten illustrieren. 3.1 Die „Gute Geburt“ In China wird die Abtreibung weithin als ein legitimes Mittel zur Familienplanung angesehen und praktiziert. Sie gilt als nicht wünschenswert, wird aber im Sinne des übergeordneten Gutes der Selbsterhaltung hingenommen50. Im Sinne der Strategie der Geburtenkontrolle gilt die Abtreibung als in vielen Fällen pragmatisch unvermeidlich51. Es wird jedoch Wert auf eine gerechte Regelung (“Ein Kind für jede Familie“, Sonderregelung für ethische Minderheiten, Landbewohner sowie Ausnahmen, z.B. im Falle der Geburt eines behinderten Kindes) und die zeitliche Begrenzung gelegt. Auf Kritik und Widerstand stoßen hauptsächlich Akte der Willkür, Korruption oder Inkompetenz bei der Durchführung. Die Begrenzung der Quantität der Bevölkerung soll nach der Auffassung der chinesischen Politik mit einer Verbesserung der Qualität einhergehen. Das Verständnis vom Guten, das sich in der Rede von „Qualität“ (Suzhi)52 verbirgt, bedarf der Erläuterung. Der Humangenetiker Yang Huanming aus Beijing zählt als Naturwissenschaftler zu den führenden Protagonisten der Bioethik in China. Er legt großes Gewicht auf die 49 Zur gesellschaftlichen Situation der Medizinethik im heutigen China vgl. meinen Aufsatz "Globalisierung durch Biotechnologie: Soziale und kulturelle Aspekte am Beispiel Humangenetik und China", in: Berliner Chinahefte, Nr. 20, Münster (LIT-Verlag) Mai 2001: 101-116. Den besonderen Rahmenbedingungen der Realisierung ethischer Normen und charakterlicher Entwicklung auf dem Gebiet der Bildung geht mein Artikel ”Bildung und Ethik. In der chinesischen Medizinethik zeigen sich die Grenzen der Planbarkeit von Initiative und Verantwortung durch den Staat.”, China aktuell, Januar 2000 (01/00): 40-50, nach. 50Siehe Nie, Jing-Bao, „The Problem of Coerced Abortion in China and Related Ethical Issues“, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics (1999). 51 S. zB. Wang Jiye und Terence Hull (Ed.), Population and Development Planning in China, 1991: 192. 52 Der Ethno-Soziologe Zhang Yi erklärt Bevölkerungsqualität unter Herausstellung einer ethischen Komponente: "Die Bevölkerungsqualität umfaßt drei Gesichtspunkte: Die Qualität des Körpers, die Qualität der Kultur und die Qualität des Denkens und der Moral. Hierbei stellt die Qualität des Körpers die natürliche Grundlage dar, denn ohne die Qualität des Körpers hat man keine Bevölkerungsqualität. Die Qualität der Kultur stellt das Herzstück der Bevölkerungsqualität dar, weil sie ein herausragendes Kennzeichen der Bevölkerungsqualität ist. (...) Die Qualität des Denkens und der Moral ist das wichtigste Merkmal der Bevölkerungsqualität. (...)", in: "Zhongguo shibage baiwan ren yishang shao wenmin shirenkou fenxin. (Eine Analyse der Bevölkerungsqualität von 18 ethnischen Minderheiten mit einer Bevölkerung von mehr als einer Millionen)" (Minzu Yanjiu 5, 1995: 19-24). 12 Feststellung, daß die genetische Ausstattung des Menschen moralisch neutral sei: "Während jener Gen-Besessenheit der chinesischen Massenmedien seit dem 26. Juni53 war eine der häufigsten Fragen an mich zum Beispiel: 'Wie kann man 1200 Jahre alt werden?'. Ich bin überzeugt, daß diese Frage von jemandem gestellt wurde, der zu viel Geld hat. Andererseits wurde ich, sogar noch häufiger, gefragt: 'Wie kann man ein intelligentes männliches Kind bekommen und die Last einer minderwertigen Geburt für die Familie vermeiden?'. In diesem Fall vermute ich, daß die Frage von jemandem aus einer relativ armen Familie gestellt wurde.“54 Es besteht ein irrationales Gemisch aus Hoffnungen und Ängsten, Unkenntnis, wuchernden Erwartungen gegenüber der Biomedizin auf allen Ebenen der Bevölkerung. In einem solchen geistigen Milieu fällt es schwer, klar zu sehen, welche Sicht der Dinge gut und sachgerecht ist. Dies gilt namentlich für die Bedeutung einer „guten Geburt“ (Yousheng). Der chinesische Terminus wird auch zur Übersetzung von „Eugenik“ benutzt55. Yang fährt fort: „Es gibt in China heutzutage so viele Slogans über 'chinesische Eigenarten'. (...) Der erste lautet 'Eugenik' (Yousheng) und wurde während der 1998er Konferenz 56 kritisiert und verändert. Denn wir haben unterschiedliche Interpretationen von Eugenik. Für uns bedeutet 'Yousheng' nichts anderes als 'gute Geburt'. Ein anderes Schlagwort ist das 'Krankheitsgenom'. Ich habe es deutlich vernommen, daß 'der Schutz des menschlichen Genoms nur bedeutet, das normale Genom zu schützen, nicht das Krankheitsgenom'. Ich weiß nun wirklich nicht, ob ein Krankheitsgenom dasselbe ist wie ein Krebsgenom (...). Und dann, ein noch sensibleres Beispiel, beunruhigt mich dieser Slogan: 'Renkou suzhi'. Die offizielle Übersetzung lautet 'Bevölkerungsqualität' und daß wir die "Qualität der Bevölkerung" verbessern sollen. Ich habe wirklich keine Ahnung, was dieser Slogan und dieser Auftrag bedeuten soll. Wenn es unsere Aufgabe ist, die Qualität der Bevölkerung zu verbessern, dann sagen sie mir doch bitte ob das bedeutet, wir sollten die Unantastbarkeit der Kranken und Behinderten entwerten? Oder bedeutet das dasselbe wie Lebensqualität? Dann sehe ich kein Problem. Wenn die 'Qualität der Bevölkerung' nur 'Lebensqualität' hieße, wäre alles in Ordnung. Aber wenn es um die 'Qualität der Bevölkerung' geht, wäre ich mir nicht so sicher... Der sicherste Weg, hier politischen Problemen aus dem Weg zu gehen, ist, nicht die eugenische Geburt zu propagieren sondern das Gegenteil von Eugenik.“ Hier wird aus dem Munde eines herausragenden Naturwissenschaftlers die Ambivalenz des Guten in der konkreten Praxis lebendig ausgesprochen. In der rhetorischen Frage nach der Entwertung von Behinderten drückt sich die Annahme des Wertes und der Schutzwürdigkeit aus. Sie bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, weil sie „kein Problem“, also evident ist. Das Gute wird hier im Sinne des guten Lebens verstanden, ohne daß dessen Bedeutung näher erläutert werden müßte. Yang appelliert offensichtlich an ein „gesundes moralisches Empfinden“ bzw. den 53 Gemeint ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung der vorläufigen Endergebnisse des Humangenomprojektes im Jahre 2000. 54 Dieses und die folgenden Zitate Yangs wurden von mir aus seinem Aufsatz „The Human Genome and its Social Impact: Educating the Educators“ übersetzt, der demnächst in dem von mir herausgegebenen Sammelband Ethics in Medical Education in China. Distinguishing Education of Ethics from Moral Preaching, Hamburg, (Mitteilungen des Instituts für Asienkunde) (geplant für 2002) erscheinen wird. 55 Zu Eugenik und eugenischer Terminologie siehe Frank Dikötter, Imperfect Conceptions, London (Hurst) 1998 und ders., Sex, Culture and Modernity in China; London (Hurst) 1995. 56 Gemeint ist der 18. Weltkongreß der International Genetics Federation in Beijing im August 1998. 13 „gesunden Menschenverstand“. Die pränatale Selektion nach eugenischen Kriterien lehnt er rundweg ab, denn sie widerspricht für ihn dem guten Leben57. Yang Huanming äußert sich anschließend im Sinne der Richtigstellung von Begriffen. Gesundheit und Krankheit sind als naturwissenschaftlich-medizinische Konzepte auf ihre empirisch-metrische Bedeutung reduziert, sie erlauben keinen biologischen Determinismus und erst recht keine sozialdarwinistisch wertende oder gar selektierende Überformung zu irgendeinem Zweck, sondern fordern von der Wissenschaft Unterordnung unter das Primat der Menschlichkeit sowie, deshalb, eine genauere und problembewußte Sprache. „Ich habe einen eigenen Vorschlag hierzu, ich rede lieber von 'genischen Krankheiten'. Die meisten genetischen Krankheiten resultieren aus einer Störung der regulären Funktion der Gene. Aber die Mehrzahl der Krankheiten entstehen aus der Interaktion zwischen der genetischen Struktur (oder meinen Genen) und all den anderen biochemischen Faktoren, die wir nicht als Teile dieser Struktur ansehen können, nach der genetischen Expression. Deshalb können wir so etwas wie genetischen Determinismus nicht akzeptieren. (...) Ich warne davor, daß (...) dies zweifellos zu genetischer Diskriminierung führen wird. Das wollen wir alle nicht.“ Funktionalität und Regelhaftigkeit dürfen nicht mit dem menschlichen Guten verwechselt werden. Diese Selbstbeschränkung hat Folgen. Der Naturwissenschaftler Yang kann und muß sich nicht auf philosophische Konzepte berufen, sondern erinnert in der Perspektive des Guten an die Grenze wissenschaftlicher Redlichkeit. Diese äußert sich namentlich im Verzicht auf unausgewiesene präskriptive Konnotationen in der Sprache. „Was das 'schlechte Gen' und das 'gute Gen' betrifft, so bestehe ich darauf, daß es weder ein 'normales Genom' noch ein 'Krankheitsgenom' gibt. Es existiert kein gutes und kein schlechtes Gen, nichts von dem, denn alle Gene sind 'gut'. (...) Wir Genetiker oder Biologen müssen nüchtern einsehen, daß wir immer noch sehr wenig über die Gene wissen, über die direkten und beobachtbaren Wirkungen genetischer Maßnahmen und über die langfristigen, nicht beobachtbaren und unvorhersagbaren Wirkungen auf die menschliche Gesellschaft und die Zukunft. Wir verstehen die mögliche positive Bedeutung 'schlechter Allele' für unsere Körper und die Bevölkerung nicht. (...) " Anders gesagt, das Gute ist nicht durch die Gene vorgeschrieben. Nicht einmal das relativ gute Funktionieren biologischer Entitäten ist aus genetischer Sicht hinreichend verstanden. Wie sollten daraus Aussagen über die Implikationen der Biologie für das allgemeine Gute abgeleitet werden können? In dieser Erinnerung an die Verantwortung der Wissenschaft, die sich im Skrupel vor der Selbstüberhebung artikuliert, erkennt Yang die Achtung vor dem Leben als etwas an, das über ein szientistisches Verständnis vom Menschen hinaus weist. Der Taiwanesische Arzt und Bioethiker Daniel Fu-chang Tsai aus Taipei nimmt gegenläufig die Perspektive des philosophischen Ethikers ein, der über die Bedingungen einer guten Medizin in Entscheidungssituationen nachdenkt. In einem Aufsatz geht er ausdrücklich aus „konfuzianischer“ Sicht auf das autonome Subjekt als Träger des Guten 57 Dazu ausführlich Ole Döring, Technischer Fortschritt und kulturelle Werte in China: Humangenetik und Ethik in Taiwan, Hongkong und der Volksrepublik China, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde 280, Hamburg 1997, besonders S. 87ff. 14 ein. "Wenn der Junzi58 seine Autonomie vernünftig und selbstbewußt lebt, trifft er nicht Entscheidungen in einem kontextfreien Raum sondern findet seinen Platz innerhalb einer bestimmten historischen Moraltradition. Die oberste Sorge und der Sinn des Lebens liegen für die konfuzianische Person darin, ihre Pflichten in ihrer jeweiligen Rolle zu erfüllen, um dadurch eine harmonische Beziehung zu den Menschen und zur Natur aufzubauen, zur Blüte der Gesellschaft beizutragen und schließlich eins mit Dao zu werden. Die Vorstellung von der Person gleitet demnach von der Betonung des ‚Einzelnen‘ zu den ‚Beziehungen des Einzelnen und der auf andere gerichteten Moralität der selbstlosen Verantwortung‘. Da diese konfuzianische Person autonom ist, sollte alles was eine Person erreichen will aus einem echten Bewußtsein der Verantwortung, der Selbstkenntnis, der Selbstzurechnung und der eigenen Anstrengungen angestrebt werden. Die konfuzianische Bedeutung der Würde und des Wertes des Menschen betont im Unterschied zur bioethischen Person, die natürliche Kriterien Rationalität und Selbstbewußtsein in den Mittelpunkt stellt, stärker die moralischen Erfolge, die man erreichen soll und nicht gegebene Eigenschaften, mit denen man geboren wird. Zusammengefaßt zeigt sich die Bedeutung der konfuzianischen Person in der Betonung der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Forderung, die jeweiligen Rollenverpflichtungen in jeder besonderen Beziehung zu erfüllen und durch das vorbestimmte Ziel und den Wert des Lebens, 'sich zu kultivieren und anderen zu nützen, im Innern heilig und nach außen königlich zu sein'. Diese Sichtweise unterscheidet sich sehr vom moralischen Skeptizismus, Pluralismus oder liberalem Individualismus in der westlichen Moderne und Postmoderne, die die Rechte der Individuen zu selbstbestimmten Entscheidungen hochhalten."59 Hier kommt eine existentielle Interpretation des Konfuzianismus zum Tragen. Die Würde entzieht sich als Chiffre für das wesentlich Gute jeder (biologisch oder anders positiv) reduzierenden Festlegung. Das Menschsein ist Teil unseres Selbstverständnisses als moralische Wesen, wir sind im Grunde was wir sein sollen. Es wird näher durch unsere soziale Empathie und das Streben nach dem guten Handeln bestimmt. Was ist das besondere dieses Ansatzes? Im konfuzianischen Diskurs geht es nach der Darstellung durch Tsai Fu-chang vorrangig um die Prüfung der eigenen Motive (Maximen) und die gute Praxis. Es geht nicht darum, anderen Lebensformen oder Entwicklungsstufen bestimmter Lebensformen Schutzwürdigkeit ab- oder zuzusprechen. Nicht auf die Summe der positiven Eigenschaften kommt es an sondern auf die gutwillige Auseinandersetzung mit dem Kontext, den sie in der Perspektive der guten Praxis bilden und in den sie eingebunden sind. Daraus ergeben sich praktische Prioritäten. Dies bedeutet freilich kein Ausspielen der Praxis gegen die ethische Theorie sondern einen Ansatz, der die gute Praxis systematisch an einen bestimmten ethischen Gültigkeitsgrund bindet. 58 Der „Edle“ (Junzi) ist der Inbegriff des konfuzianischen guten Menschen. Vgl. Roetz 1995: 14f. und 19f.. 59 Daniel Fu-chang Tsai, "Das zweidimensionale Konzept der konfuzianischen Person in der biomedizinischen Praxis", in Kulturen der Ethik: Beispiele aus der aktuellen Medizinethik in Ostasien. Eine Textauswahl; Übersetzt und herausgegeben von Ole Döring; in Vorbereitung (Publ. 2002). Dies ist die Übersetzung einer überarbeiteten Fassung von Daniel F.C. Tsai, “How Should Doctors Approach Patients - A Confucian Reflection on Personhood”, Journal of Medical Ethics, 2001; 27:44-50. 15 Das Gute als Natur des Menschen muß sich in der Praxis immer neu aktualisieren und bewähren. Dadurch wird dieser Ethiktyp zu einer Quelle der programmatischen Kritik. Das wird deutlich, wenn Tsai bequemen Stereotypen und vermeintlichen Konventionen entgegen hält: "Praktiker im chinesischen Gesundheitswesen sollten sich darüber klar werden, wie sie ihre Patienten vor der Manipulation oder dem Zwang durch kollektiven Druck schützen können (zumeist aus ihren Familien) und ihre Selbstbestimmung fördern, ohne deren traditionelle Familienwerte schlecht zu machen. Was gewisse westliche Bioethiker angeht, so erinnert sie die konfuzianische Moral daran, daß das geläufige Ethos des Individualismus und der Gebrauch der 'Achtung der Autonomie' als Trumpfkarte niemals das gesamte Bild der Moral zufriedenstellend beschreiben kann und auch nicht der biomedizinischen Ethik eine grundlegende Ausrichtung geben kann. Ein menschliches Wesen zu sein, heißt Teil einer Familie oder Gemeinschaft zu sein, welche der Moralität einen Ort geben."60 Es gibt demnach keine andere Quelle des Guten und nichts das schutzwürdiger wäre als der Mensch als Vertreter der Menschheit. Auch der taiwanesische Philosoph Li Ruiquan (Lee Shui-Chuen) bemüht sich um eine Rekonstruktion des „konfuzianischen“ Guten in medizinethischen Situationen. Am konkreten Beispiel von In-Vitro-Fertilisation und dem Klonen von Menschen zeigt Li, daß der von ihm rekonstruierte Konfuzianismus einen der Einwände gegen Biotechnologie zurückzuweist, nämlich denjenigen “Gott zu spielen”. Aktive biomedizinische Eingriffe sind demnach prinzipiell zustimmungsfähig, wenn sie tatsächlich als gute Tat gemeint werden. Der Mensch sei potentiell “unbegrenzt kreativ”. Unter Umständen sei er ermächtigt sogar die eigenen Gene zu verändern, denn der Mensch sei dazu geboren, das beste aus seiner Anlage zu körperlicher, geistiger und moralischer Entwicklung zu machen. Er darf alles tun was ihn „schön“ macht. Diese Erlaubnis steht allerdings unter strengen Einschränkungen61. Zu den Kautelen zählen erstens “Wohlwollen und Freiwilligkeit” unter den Beteiligten. Zweitens dürften keine kommerziellen Absichten verfolgt werden. Es geht nach Li vor allem darum, daß jede Handlung intrinsisch gut ist, die als “aufrichtige (cheng) moralische Praxis” verstanden werden kann. Denn in metaphysischer Deutung hilft der Mensch durch diese Praxis allen Dingen in der Welt, ihren himmlischen Auftrag (Tian ming) zu erfüllen. Die entsprechenden Formen des Eingreifens sind dann gerade keine Übergriffe sondern sie unterwerfen – wie Li einräumt idealer Weise – keine Entität unnötigem Leid oder bösen Taten. “Der Handelnde macht in diesem Sinne so weit wie möglich die unverschuldeten Defekte eines Wesens wieder gut und verwirklicht Dao in solchen Handlungen. Er oder sie wird so zu einem Wesen mit unbegrenztem Wert. (...) Wenn jemand im Einklang mit diesem Grundsatz handelt, verwandelt er oder sie jedes Wesen um das er sich kümmert in einen Selbstzweck. (...) Man könnte sagen daß durch solche moralischen Handlungen die natürliche Welt in dasjenige umgewandelt wird, was Kant das Reich der Zwecke nennt.”62 60 Das. 61Lee Shui-chuen, "A Confucian Perspective on Human Genetics", in Chinese Scientists and Responsibility, Ole Döring (ed.) Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Nr. 314, Hamburg, 1999: 187198: 194 62Lee 1999: 192 16 Unterhalb einiger ethischer Prinzipien wie "Menschlichkeit", "Selbstzweck", "authentische Gutwilligkeit", die für jedes moralische Urteil gelten, verzichtet ein solcher Ansatz bewußt auf allgemeingültige positive (und damit auch naturwissenschaftlich verifizierbare) Kriterien. Der autonom handelnde Mensch ist ein natürlicher Weise vollständigeres und sensibleres moralisches Sensorium als ein kognitiv konstatierender, deduzierender, induzierender oder subsummierender Diskurs; es weiß sich freilich der Vernunft zu bedienen. Dabei bleiben Regeln der sozialen Beziehungen (Xiao, Ci, Hui etc.) durchaus starke Erfahrungsnormen, die ihrerseits von der Ethik (Lunlixue) aus Vernunftgründen normiert sind. Sie sind aber keine Dogmen sondern Hilfestellungen bei der vernünftigen moralischen Interpretation der sozialen Welt. Es liegt nahe zu vermuten die Zuschreibung der Schutzwürdigkeit erfolge intuitiv, also in moralisch konstitutiven Akten vor jeglicher Rationalisierung. Tabus wie "Gott zu spielen" werden dadurch unterlaufen, daß der moralisch ideale Mensch in seiner kreativen Freiheit als unbegrenzt gilt. Diese Projektion der völligen Handlungsfreiheit ins "Reich der Zwecke" ist unter dem Vorbehalt der Einschränkung zu sehen, daß sie für genau den "edlen" Menschen maßgeblich ist, der eben nur gut handeln kann63. Das Potential des „gutwilligen“ Menschen zur Hybris wird durch diese de facto Transzendierung der Möglichkeit des Guten, das als ein praktischer Erfolg zu einem Risiko der Kontingenz wird, marginalisiert. Li verspricht sich hiervon einen intellektuellen Anreiz zur moralischen Selbstentwicklung. Er sieht im Sinne der konfuzianischen Selbstprüfung (shen qi du, xiu shen) die Notwendigkeit einer funktionierenden Kritik, ohne den prozeduralen und institutionellen Folgen dieser Forderung explizit nachzugehen. Mit diesem umfassenden Zutrauen in die praktische Durchschlagskraft des moralischen Sinnes werden allgemeine Denkverbote (z.B. von Klonen oder Keimbahnmanipulation) als Teil einer ethischmoralischen Grundlegung überflüssig64, denn moralische Verbote müssen immer aus ihrer Aktualität heraus gerechtfertigt werden. Sie sind also gewissermaßen immer schon da und müssen nur gefunden werden. (Daraus kann sich natürlich ein faktisch totales Verbot ergeben). Freiheit des Denkens erscheint in diesem Sinne, unter kalkulierter Inkaufnahme von moralisch "falschem Denken", als eine notwendige Voraussetzung für die sittliche Reifung, bildhaft gesagt durch intellektuelle Entwürfe und Experimente. Auch das Böse und der moralische Irrtum hat hier seinen Platz. Andererseits können individuelle Präferenzen als solche noch gar kein moralisches Gewicht haben, denn sie stehen immer zwischen der moralischen Intuition und dem ethischen Urteil. Eine Präferenz ist nur dann ein ethisches Kriterium, wenn sie mit ethischen Prinzipien verbunden ist, man also das Gute selbst mit will. Hierdurch kann moralisches Lernen eigentlich erst verstanden werden. Es sind unsere Präferenzen, aus denen wir Aufschluß über den Grad unserer moralischen Entwicklung und Güte erhalten. Das gilt für Individuen und Gruppen gleichermaßen. 3.2 Das „gute Sterben“ Ähnlich wie in der „guten Geburt“ zeigt sich in der Rede vom „guten Sterben“ das Verständnis vom Guten unter konkreten, allgemein nachvollziehbaren Bedingungen der 63 Das ist nach dem Lunyu der Edle, in stilisierter Beschreibung der Meister Konfuzius selbst, als er im stolzen Alter von 80 Jahren nur noch das anstrebte was man anstreben darf (Lunyu 2.4). 64 An diesen ethischen „Geist“ kann unproblematisch ein durchaus detailliert kodifizierendes positives Recht anknüpfen. Worauf es in systematischer Hinsicht ankommt ist der Vorrang der ethischen Intention. 17 Praxis. Heute wird in der medizinethischen Diskussion in China der „friedvolle und leichtherzige Tod“ (Anlesi) als Äquivalent der „Euthanasie“ verwendet. Unter Anlesi wird aber auch der Selbstmord in und außerhalb medizinischer Situationen diskutiert. Ein berühmtes Beispiel der Abwägung des Guten gegen das Schickliche ist der Fall des Han-zeitlichen Geschichtsschreibers Sima Qian. Aufgrund einer Palastintrige war dieser integre Mensch in Ungnade gefallen und fand sich in einer tragischen Situation wieder, die der Hongkonger Bioethiker Lo Ping-Cheung zusammenfaßt: nach seiner ungerechtfertigten Gefängnis- und Kastrationsstrafe beklagte Sima zwar den Verlust seiner Ehre. Vom Gedanken an Selbstmord nahm er jedoch Abstand, um sein Lebenswerk, das Shiji, fertigzustellen. Sima habe es als seine Pflicht angesehen, auf die Beleidigung seiner Person, seines Rufes und seiner Ahnenreihe mit Selbstmord zu reagieren, aber nach quälendem inneren Kampf schließlich "der Einladung zu sterben widerstanden"65. Das Beispiel ist auch von Wolfgang Bauer aufbereitet worden, der eine Schlüsselstelle aus Sima’s Selbstrechtfertigung so übersetzt: "Jeder Mensch hat nur einen einzigen Tod. Er kann schwerer wiegen als der Berg T'ai oder auch leichter als eine Gänsefeder. Der Unterschied besteht bloß darin, wie er (sein Leben) zu nutzen verstand"66. Bauer bezeichnet Sima's Selbstbild als missionarisch und "messianisch"67. Die Erklärung Sima's, "ich fürchte, Ideen in meinem innersten Herzen zu tragen, die ich noch nicht ganz in Worte zu fassen vermochte"68, macht freilich deutlich, das hier eher das Motiv der Pflichtschuldigkeit als das einer "Schickung" den Ausschlag gibt, denn sein Werk ist noch nicht abgeschlossen. Dies wird unterstrichen durch Sima's Hinweis auf eine Entscheidung zugunsten der "doppelten Schande" aus Prinzipien: "Nur wenn jemand von allgemeinen Prinzipien geleitet wird, (...) gibt es Dinge, die er einfach nicht umgehen kann"69. Die Pflicht verbietet Sima in diesem krassen Fall, trotz "Ekel und Schande", eine Handlung aus Neigung, gleich welcher Stufe: nicht einmal die Pflichten gegen sich selbst und die Familie, die er offensichtlich sehr ernst nimmt, da "ihm seine ganze Würde mit in Ketten gelegt worden ist"70, können seine Einsicht beugen.71 Lo widmet einen Aufsatz ausführlich aus heutiger Perspektive "konfuzianischen Ansichten zum Selbstmord" mit einem ausdrücklichen Interesse an den Implikationen 65Lo Ping-cheung, "Zai Taishan yu Emao zhi jian, Rujia cunsheng qusi de jiashiguan" (Zwischen Berg Tai und Schwanenfeder. Konfuzianische Einschätzungen von Leben und Sterben), in Zhongwai yixue zhexue 3: 2 (Mai 2001): 5-50. Das Papier ist in englischer Sprache zuerst erschienen als Confucian Views on Suicide, CAE Occasional Paper Series No. 97001, Hong Kong 1997 und neuerdings wieder unter dem Titel "Confucian Views on Suicide and their Implications for Euthanasia", in Fan Ruiping, Confucian Bioethics, Dordrecht (Kluwer AP), 1999: 69-101. Obige Ausführungen nach Lo 2001: 25. 66 Wolfgang Bauer, Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute; München (Carl Hanser) 1990: 83-87. 67 Bauer 1990: 88. 68 Bauer 1990: 86 69 Das. 70 Das. 71Ausführlich geht auf das Motiv des Tragischen im alten China Heiner Roetz ein, in seinem Aufsatz „“Das Schicksal des Prinzen Shensheng und das Problem der Tragik in China“, in Ostasien Verstehen. Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung Band 23 (Festschrift für Peter Weber-Schäfer aus Anlaß von dessen Emeritierung) 1999, München (Iudicium), 2000: 309-326. 18 dieser Frage für das Verständnis von Euthanasie72. Im Laufe seiner Analyse einschlägiger konfuzianischer Textstellen kommt Lo zu folgenden Maximen, die er als Paare von Thesen und Gegenthesen vorstellt und abhandelt. Dabei ist besonders der durch die antithetische Gegenüberstellung aufgebaute Spannungsbogen interessant und fruchtbar zu machen. "Konfuzianische These I: Man soll sein Leben (Xingming) entweder aktiv oder passiv aufgeben (jieshu), wenn es für die Aufrechterhaltung der kardinalen moralischen Werte von Ren („Menschlichkeit“) und Yi („Gerechtigkeit“) (Renyi daode) notwendig ist." 73 Dem gegenüber steht die "Anthithese I: Man soll das Gesichtsfeld der eigenen Pflichten ausweiten; anstatt für eine eher begrenzte Sache zu sterben, sollte man für einen Gegenstand höherer Ordnung leben und sterben."74; und die "konfuzianische These II: Man soll sein eigenes Leben aktiv auslöschen, um Erniedrigung (Shouru) zu vermeiden oder die eigene Würde (Zunyan) zu erhalten." 75 "Antithese II: Wenn das eigene Leben (Shengming) nicht bedroht ist, und wenn die eigene Verpflichtung (Tianzhi) klar ist, soll man trotz persönlicher Tragödien und entwürdigender Behandlung weiterleben, um die eigene Verpfichtung zu erfüllen"76 Diese Thesen entwickelt Lo anhand von prominenten Fallbeispielen aus der Literatur, vom Lunyu bis hin zur "Kulturrevolution". Sie sollen die Essenz der ethischen Einstellung des Konfuzianismus bzw. der wichtigsten praktischen Lehrmeinungen zum Selbstmord verkörpern, die Lo anschließend in Bezug zur heutigen Euthanasie-Debatte bringen möchte. Im Hinblick auf andere philosophische bzw. moralische Schulen äußert Lo sich kurz zum Buddhismus, dem er die Position einer moderaten Ablehnung des Selbstmordes zuweist (selbstlose Motive können ihn legitimieren); sowie zum Daoismus, der als Philosophie den Selbstmord strikt ablehne (weil Leben als Selbstzweck angesehen werde) und ihn in der Religion geradezu als pervers verteufele (weil das Streben nach Unsterblichkeit als der Sinn gelte)77. Insgesamt konzentriert sich Lo auf den Konfuzianismus. Es wird sich zeigen, daß Lo das Euthanasie-Problem auf die Frage des Sterben-Lassens bzw. des Sterben-Sollens reduziert. Die Sterbehilfe fällt weitgehend aus dem Rahmen dieser Untersuchung. Zunächst definiert Lo den Selbstmord als philosophisch-praktisches Problem in Abgrenzung von Emile Durkheims sozialwissenschaftlicher Typologie. Erstens nennt er den eigennützigen (li ji oder wei ziji de yuangu) Selbstmord und zweitens den andere bedenkenden (li ta oder wei taren de yuangu) Selbstmord. Er bestimmt den eigennützigen Selbstmord als das zentrale Thema der Selbstmorddebatte im Europa vor der Aufklärung. Lo stellt diesen Typus in einen um den Begriff des Rechtes kreisenden Diskurs, bei dem es um die Frage gehe "Ist es moralisch zulässig Selbstmord zu begehen, insbesondere um 72 Lo 2001 73Lo 2001: 11. 74Lo 2001: 34. 75Lo 2001: 21. 76Lo 2001: 26. 77Lo 2001: 27f. 19 seiner selbst willen?". In China habe es im Gegensatz zu Europa nicht den geringsten Versuch gegeben, ein individuelles Recht auf Selbstmord zu rechtfertigen. Ein besonderer Fall dieses Typus sei der Selbstmord zur Bewahrung der Würde. Den andere bedenkenden Selbstmord definiert Lo in einem über den altruistischen Selbstmord hinausgehenden Sinne so weit, daß er Rücksichten auf einen anderen Menschen ebenso einschließen kann wie auf ein ganzes Land. Während die altruistische Variante immer konsequenzialistisch sei78, könne dieser Typus auch die von Handlungsfolgen unabhängige völlige Hingabe an eine andere Person zum Ausdruck bringen. Die wichtigste Frage in China sei gewesen "Ist es moralisch zulässig nicht Selbstmord zu begehen, besonders Selbstmord umwillen eines anderen?". Damit stellt Lo die jeweilige Begründungs- und Rechtfertigungslast für den zulässigen Selbstmord und das ethische Erkenntnisinteresse in China und in Europa in ein umgekehrtes Verhältnis zueinander. Während letzteres sich primär für das Recht des Handelnden interessiere gehe es in China um die Reichweite der Pflicht. Den roten Faden seiner konfuzianischen Sichtweise entwickelt Lo anhand zweier Schulbeispiele. Im Lunyu heißt es: "Der entschlossene Scholar und der menschliche Mensch streben nicht danach zu leben, wenn sie dadurch die Menschlichkeit (Ren) schädigen. Sie geben sogar ihr Leben hin, wenn sie dadurch die Menschlichkeit aufrichten."79 Und das Buch Mengzi erläutert im Anschluß daran in seiner exemplarischen Güterabwägung zwischen "Fisch oder Bärentatze", daß die Kardinaltugend Yi (Gerechtigkeit) das im Zweifel höhere Gut vorstellen kann als das Leben 80. Wenn man in eine Situation gerät, die nur die Wahl offen läßt zwischen einer Option, die zwar bedeutet weiterzuleben aber moralisch gesehen stärker verhaßt ist als der Tod und darum auch "schlimmer als der Tod" ist, und einer, die zwar bedeutet, daß man selbst stirbt, dasjenige aber, wofür es sich lohnt zu leben weiterbestehen kann, nämlich Yi, dann wählt man den Tod. Dies einzusehen sei im Grunde so unproblematisch wie die Präferenz des Feinschmeckers für den Geschmack von Bärentatzen gegenüber einfachem Fisch, denn beides sei dem Menschen mit seiner innersten Natur gegeben. Beide Textstellen verweisen über den engeren Kontext der Handlung Selbstmord auf einen übergeordneten Gesichtspunkt für allgemeine ethische Güterabwägungen, nämlich auf das oberste praktische Legitimationsprinzip bzw. die Grundlage der Gültigkeit 78 "Litaxing zisha" shi houguo wei ben de. Das. 8. 79Lunyu 15.8, meine Übersetzung in der Zählweise von James Legge. Ren übersetze ich im Interesse der Lesbarkeit mit Menschlichkeit. Eine angemessenere technische Übersetzung der ethischen Intention und Funktion wäre zum Beispiel reziprokes Humantätspostulat. Entsprechend folge ich bei Yi mit Gerechtigkeit einer Standardübersetzung. Die im Englischen vorherrschende Übersetzung durch righteousness gibt besser das Spektrum der Konnotationen von Yi wieder. Technisch genauer wäre aber zum Beispiel praktisches Pflichtschuldigkeits-Postulat. Inhaltlich und systematisch stehen Ren und Yi für zwei Aspekte eines ethischen Grundgedankens. Die häufige Nennung von Ren und Yi als Paar ist deshalb nicht als enzyklopädische Aufzählung zu verstehen sondern selbst ethisch konstitutiv. Aufgrund der damit verbundenen ethischen Unmittelbarkeit und Dynamik eignet sich Renyi als praktische Metakategorie, methodisches und hermeneutisches Prinzip in besonderer Weise für die kontinuierliche Exploration der ethischen Inhalte in Zusammenhang mit der Statuierung positiver praktischer Normen. Ich lasse hier Ren und Yi möglichst ohne Übersetzung stehen; damit folge ich dem Vorgehen von Lo in seiner englischen Übersetzung des Textes. 80Mengzi 6.1.10. Lo übersetzt Yi auch mit Pflichtschuldigkeit („dutifulnes“). 20 praktischer Normen. Die "Kardinalwerte" Ren (Menschlichkeit) und Yi (Gerechtigkeit) bezeichnen die für Lo's Argumentationszweck zentrale ethische Referenz. Es geht Lo nicht darum zu bestimmen, welchen Inhalt diese Konzepte hier haben sollen und wie sie sich ethisch-systematisch zueinander verhalten. Sie stehen allein für den vorgestellten ethischen Kern des Konfuzianismus, als Namen für das Gute. Lo geht es vorrangig darum klarzustellen, der Konfuzianismus sei zwar eine "Lehre von der Heiligkeit moralischer Werte aber nicht die Lehre von der Heiligkeit des Lebens. Bloßes Leben hat keinen intrinsischen moralischen Wert, aber ein Leben als tugendhafte Person hat ihn. Es gibt keine unbedingte Pflicht, Leben zu bewahren und fortzusetzen, aber es gibt eine unbedingte Pflicht, Ren und Yi aufrecht zu erhalten."81. Die Frage nach der genauen Implikation dieser Werte für konkrete Handlungen bzw. für den Selbstmord erkennt Lo als zentrale Frage an82. Gleichwohl entziehen sich Ren und Yi der allgemeingültigen und präzisen positiven Formulierung, sobald man nicht ein konfuzianisches Vorverständnis von ihrer Intentionalität hat. Die entsprechend vage inhaltliche Unterfütterung der apodiktischen Proklamation von Ren und Yi beruht nicht auf Nachlässigkeit sondern hat für Lo System. Er versteht sie in dem hier einschlägigen weiten Sinne als ethische Allgemeinplätze wie "Höchstes Gutes" (zhi Shan) bzw. bringt sie auf die Formel "Ren und Yi sind eine andere bedenkende Moralität, vermittelt durch konkrete familiäre, soziale und politische Beziehungen"83. Daß diese Formel aus einer Haltung von Wohlwollen und Gerechtigkeit angewandt werden soll, trägt nur wenig zur praktischen Orientierungssicherheit bei. Lo zufolge gibt der Konfuzianismus zwar an, wodurch - d.h. in welchen praktischen Situationen bzw. durch welche typischen zwischenmenschlichen Beziehungsformen Ren und Yi verstanden werden können84; was sie genau beinhalten und welche Handlung sie je gebieten, kann man jedoch nicht immer vorherbestimmen. Dies führt zu einer scheinbar paradoxen Situation, in der man immer erst im Nachhinein beurteilen kann, ob eine Handlungsweise legitim ist, selbst wenn man den Buchstaben geltender praktischer Konvention entspricht. Was Ren und Yi gebieten ist nicht identisch mit dem was sie in ihrer geltenden Interpretation vorzuschreiben scheinen, sondern mit dem was sie vorschreiben sollen. Das Primat der Intentionalität läßt dem Handelnden keinen Ausweg (und daher auch keine Ausflucht) aus dem praktischen trial-and-error Verfahren. Es schärft aber im Idealfall das moralische Bewußtsein ebenso wie es gesatzte Normen relativiert, ohne freilich ihre Dignität infrage zu stellen. Zur Untermauerung der praktischen Relevanz dieses ethischen Rahmens und zur strukturellen Verankerung des Euthanasieproblems darin führt Lo Ping-Cheung eine existentialistische Prämisse ein. "Obwohl der Tod das Leben beendet, ist das Sterben doch Teil des Lebens. 'Wie man stirbt' ist Teil davon 'wie man lebt'. Daher sollte das Sterben dem Leben dienen."85 So läßt sich Verantwortung für das eigene Sterben mit dem verantwortungsvollen Leben verbinden, worin nach Lo auch die Verantwortung enthalten sei, aktiv dafür zu sorgen, daß man einen "sinnhaften Tod stirbt". Weil die 81Lo 2001 7 und 10. 82Lo 2001: 9. 83Lo 2001: 14. 84 Nämlich durch xiao (kindliche Pietät), zhong (Loyalität), zhen (Standhaftigkeit) und xin (Vertrauenswürdigkeit); Lo 2001:. 14. 85Lo 2001: 11. 21 bloße Dauer des Lebens hinter seiner Qualität bzw. seinem moralischen Sinn zurückstehen müsse, können Situationen auftreten, in denen man ein Leben (unter Einschluß und besonderer Berücksichtigung des Sterbens) gemäß Ren und Yi nur dadurch führen kann, daß man sich selbst umbringe bzw. sich töten lasse.86 Obwohl Lo feststellt, daß dies extreme Ausnahmesituationen sind und ergänzt, daß es auch eine Verpflichtung zum Leben gibt, benennt er keine positivierbaren Kriterien für die Identifikation des jeweils gegebenen Situationstyps87. Stattdessen verweist er auf ein Motto des auch durch seine Selbstreflexionen bekannten Poeten der Tang-Dynastie Li Bai, "In den Tod zu gehen obwohl man am Leben bleiben sollte heißt, das eigene Leben zu leicht einzuschätzen; weiterzuleben wenn man sterben sollte heißt, das eigene Leben zu gewichtig einzuschätzen"88. In der Summe geht es also darum, das Gute richtig zu tun und das soll heißen, sich situationsgemäß abwägend und ausgewogen verhalten. Unübersehbar ist, daß der Konfuzianismusexegese Lo's zufolge biologische bzw. biomedizinische Kriterien der Lebenserhaltung und Lebensverlängerung keine hinreichenden Kriterien sind, um ein Urteil über die Legitimität des Entschlusses zu sterben oder weiterzuleben zu begründen. Das Gute ist qualitativ deontologisch bestimmt. Ein Selbstmord ist nicht per se intrinsisch falsch89. Lo führt den über biologische Kategorien hinausgehenden Qualitäts-Gedanken der Selbstmorddebatte weiter. Der "würdevolle Tod" bzw. das Sterben in Würde oder zur Bewahrung der Würde knüpft an den Gedanken des sinnhaften Todes an. Er tritt jedoch in zwei Varianten auf, die den Typen des Selbstmordes nach Lo entsprechen. Zunächst geht es um den eigennützigen Selbstmord im Interesse einer Person oder aus Staatsräson. Diese Ansicht wird von Lo dem frühen Han-zeitlichen Konfuzianismus seit Dong Zhongshu zugeschrieben. "Der Tod wird gewählt, um eine Beschädigung der eigenen Würde abzuwenden, und es ist eine ehrbare und moralische Pflicht, diese Wahl zu treffen."90 Hier kommt die oben genannte "konfuzianische These II" zum Ausdruck ("Man soll sein eigenes Leben aktiv auslöschen, um Erniedrigung zu vermeiden oder die eigene Würde zu erhalten."). Der dabei sinntragende Begriff "Würde" ist praktisch kontingent. Sie kann sowohl im Sinne einer von Außen verliehenen bzw. zuerkannten Auszeichnung als auch im Sinne einer im Innern erfahrenen Auszeichnung verstanden werden. Die Argumentationslogik unterscheidet sich nicht, ob der Staat, eine Institution oder Personen als Souverän der Dignität zeichnen oder ob dies der "Himmel" (Tian) bzw. das "Herz" (Xin) leistet. Für diesen Aspekt der Debatte genügt es festzustellen, daß der Akteur im Bewußtsein seiner vorhandenen oder beschädigten Würde handelt. Der Finalsatz läßt beide Sichtweisen zu. Mit dieser Ambiguität leitet diese These aus sich selbst über zur "Antithese II", der qualitativ bestimmten Variante des Selbstmordes, die erlaubte Fälle von Selbstmord zum Schutz der Würde stark einschränkt ("Wenn das eigene Leben nicht bedroht ist, und wenn die eigene Verpflichtung klar ist, soll man trotz persönlicher Tragödien und entwürdigender Behandlung weiterleben, um die eigene Verpflichtung zu erfüllen."). Es werden nun nur noch solche Selbstmorde legitimierbar, 86Lo 2001: 12. 87 Das steht im Einklang mit seiner nicht-positiven Rekonstruktion konfuzianischer Ethik. 88Li Bai (auch Li Bo oder Li Taibo) lebte 701-762; Lo 2001: 12. 89Lo 2001: 9. 90Lo 2001: 20. 22 die nicht bloß aus eigennützigem Interesse erfolgen, sondern diese perspektivische Beschränkung überwinden und mit der Erfüllung übergeordneter Interessen ("Berufung") kompatibel sind. Die praktischen Folgen dieser beiden Lesarten der ersten These können diametral voneinander verschieden sein. Lo entwickelt diese Antithetik als eine inner-konfuzianische Debatte. Einerseits sei behauptet worden, es stehe eher im Einklang mit der eigenen Würde, sich selbst umzubringen als von jemandem anderes getötet zu werden. Der "freiwillige Tod" als ein Mittel zur Bewahrung der eigenen Würde zieht sich nach Lo aus dem Altertum bis in die VR China durch. Hier bezieht er sich auf das Beispiel eines Philosophieprofessors an der Beijinger Universität, der nach fortwährender Beschimpfung während der "Kulturrevolution" Selbstmord begangen und folgende Notiz hinterlassen habe: "Ein integrer Mann zieht den Tod der Beleidigung vor". Hier sei nur vermerkt, daß die Rede von "Freiwilligkeit" in einer von Zwang, Gewaltandrohung und Deprivation bestimmten Situation erklärungsbedürftig ist. Für Lo ist ein freiwilliger Selbstmord erst in Situationen vertretbar, in denen aufgrund einer äußeren Gewalt die unmittelbare Drohung eines entwürdigenden Todes besteht91, nicht aber solange andere Auswege denkbar sind. Andererseits stellt er uns das Beispiel des Sima Qian vor Augen, der die fortgesetzte Erniedrigung dem Aufgeben des Werkes vorzog92. Beide Varianten können nach Lo als konfuzianisch bezeichnet werden. Im Laufe der Geistesgeschichte haben sich drei Spielarten der konsequentialistischen Typisierung ausgeprägt, in denen sowohl für den eigennützigen als auch für den andere bedenkenden Selbstmord eine plausible Einstellung empirisch illustriert werden kann: Man könne mit dem Verhalten in potentiellen Selbstmord-Situationen erstens Tugend in persönlicher Moral ausdrücken (z.B. Selbstmord zugunsten anderer), zweitens erfolgreich für die Allgemeinheit wirken (z.B. Politik statt Selbstmord) und drittens kulturschaffend wirken (z.B. Verfassen von Schriften statt Selbstmord); dies seien drei traditionell anerkannte Wege zur Unsterblichkeit (San buxiu).93 Für welche der beiden Varianten man sich entscheidet, hängt davon ab, inwieweit man konsequentialistisch argumentiert bzw. ob man "Würde" als empirisch immanent (als an bestimmte Verhaltensschemata oder Ränge gebunden) oder als transzendent (bzw. transzendental) interpretiert. Diese Konstellation ähnelt auffallend der internen Spannung des in der medizinethischen Diskussion umlaufenden Autonomie-Begriffes. Das Problem der Freiwilligkeit stellt sich in medizinischen Kontexten in vielfacher Gestalt, besonders in Situationen, die von Schmerz, Furcht, Hoffnung, Inkompetenz, Paternalismus, iatrogenem, familiärem oder sozialem Zwang usw. bestimmt sind. Vor diesem Hintergrund wäre eine Vertiefung der Zusammenhänge von Autonomie, Freiwilligkeit und Krankheit bzw. Leiden hilfreich für das Verständnis der hier vorgestellten ethischen Systematik. Das gilt im besonderen Maße auch für die unbearbeitete Spannung zwischen phänomenalen und noumenalen Gesichtspunkten, die in Lo's Darstellung durcheinander gehen. Die offenbar zur Illustration der religiösen Rückbindung moralischer Vorstellungen eingeführte 91Er nennt hier die Gefahr "unpersönlicher oder exzessiver medizinischer Intervention". Lo 2001: 24-26. 92Lo 2001: 25. 93Lo 2001: 40. 23 „Unsterblichkeit“ bleibt sowohl in ihrer Bedeutung als auch in ihrer argumentativen Funktion dunkel. Unmißverständlich dagegen ist, daß es auch nach Lo viele „gute“ Wege der Praxis gibt. Weder Selbstmord noch Sterbehilfe lassen sich aufgrund der bloßen Handlungsbeschreibung ethisch einschätzen; sie bedürfen in jedem Fall einer aktualisierten Qualifikation durch das Gute. Die mittelbaren gesellschaftlichen und politischen Implikationen dieser deontologischen Voraussetzungen können nur im Rahmen konkreter Detailanalysen ermittelt werden94. Unter die in diesem Sinne anstehenden Fragen zählt Lo die Rolle und Verantwortung von Ärzten, mögliche gesellschaftliche Konsequenzen sowie das Mißbrauchspotential entsprechender Regelungen. Mit dieser theoretischen Selbstbeschränkung leistet Lo einen Beitrag zur wissenschaftlichen Ehrlichkeit. Gleichwohl bleibt eine konzeptionelle Spannung, die zum Weiterdenken einlädt. Lo Ping-Cheung macht deutlich, daß keine direkte Empfehlung zur Einschätzung und Regelung der Euthanasie im Sinne von Sterbehilfe bzw. SterbenLassen aus den von ihm ausgewählten einschlägigen konfuzianischen Texten zum Selbstmord abgeleitet werden kann. Im alten China kann, unbeschadet der Vielstimmigkeit der Meinungen und Handlungspraktiken, das Fehlen "offensichtlicher Antworten" zum Guten ebensowenig überraschen wie im alten Europa. Die wachsende Dringlichkeit und Häufung der entsprechenden Fragen, die Qualität der biotechnischen Eingriffsmöglichkeiten sowie historische Erfahrungen und Bewußtseinswandel in der Einstellung zur Medizin, die die Euthanasie auf die Agenda der Medizinethik setzen, entstammen dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt der Medizin im ausgehenden 20sten Jahrhundert. Wie Lo bemerkt, hat sich der Konfuzianismus früher "mehr damit beschäftigt, die Menschen in der Kultivierung der Qualität ihres moralischen Lebens zu unterrichten“95 als mit der Erhaltung ihres biologischen Lebens96. Der Historiker der Medizinethik Zhang Daqing interpretiert Texte des konfuzianischen Kanons nicht nur als moralische, sondern ausdrücklich politisch: "Man sollte zur Kenntnis nehmen, daß manche Gelehrte die konfuzianischen Lehren von der Überlegenheit der Gerechtigkeit (Yi) über das Leben, daß der Edle sich lieber umbringen läßt als eine Entehrung zu akzeptieren und daß er den würdigen Tod einem wertlosen Leben vorzieht, fälschlich als Argumente zugunsten von Euthanasie interpretieren. Diese konfuzianischen Vorstellungen beziehen sich auf soziale und politische Bereiche des Lebens - aber nicht auf die Frage des Lebens des Einzelnen im Falle von Krankheit oder hohem Alter. Konfuzianer bestehen darauf, daß der Tod etwas Unerwünschtes ist. Deshalb ist keine Handlung als tugendhaft anzusehen, die jemandem hilft zu sterben. Das Konzept der kindlichen Pietät und die Ansicht daß der Körper unverletzlich sei, weil man ihn den Eltern schuldet, haben einen tiefen Eindruck in der chinesischen Kulturtradition hinterlassen. Daher haben alle Chinesen eine negative Vormeinung gegen Euthanasie. Die traditionelle chinesische Medizinethik berücksichtigt auf der Grundlage des 94Eine derartige Analyse anhand eines anderen Gegenstandes unternimmt Lo in seinem Aufsatz "Ethical Reflections on Artificial Reproduction Policies in Hong Kong", in Gerhold K. Becker (Hrsg.), Ethics in Business and Society Berlin u.a. (Springer) 1996: 181-195. 95Lo 2001: 15. 96Vgl. Ni Peimin, „Confucian Virtues and Personal Health“, in Ruiping Fan (ed.): Confucian Bioethics, Dordrecht (Kluwer AP), 1999: 27-44. 24 Respektes des Patientenwillens die Gesamtheit der Meinungen der Angehörigen des Patienten. In manchen Fällen gelten die Meinungen der Angehörigen des Patienten sogar als ausschlaggebend. Die Familie ist die Grundeinheit der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Dadurch werden Familie und die Angehörigen zum Herzen des gesellschaftlichen Lebens. Das Interesse der Gemeinschaft bestimmt was gut ist. Dieser Einfluß ist noch heute zu sehen. Zum Beispiel gab es in einer Stadt im Norden Chinas einen Lehrer, der in seinem Testament angeordnet hatte, daß sein Körper nach seinem Tode für anatomische Studien seiner Schule zur Verfügung gestellt werden sollte. Seine Angehörigen waren jedoch dagegen. Schließlich akzeptierte die Schule den Willen der Angehörigen. Umfragen über den Umgang mit Patienten haben aufgedeckt, daß viele Chinesen glauben, Entscheidungen sollten vom Arzt oder von Angehörigen getroffen werden. Dies steht im scharfen Gegensatz zum Westen, wo die persönliche Entscheidung des Patienten zählt."97 Zhang‘s normative Haltung zu diesem Thema ist unzweideutig: Es ist "keine Handlung als tugendhaft anzusehen, die jemandem hilft zu sterben". Wenn Sterbehilfe demnach überhaupt erlaubt sein kann, dann nicht weil sie gut ist sondern als Vorzug eines geringeren Übels. Zhang begründet dies mit der allgemeinen Achtung des Lebens und seiner Unverfügbarkeit nach konfuzianischen Annahmen. In China herrsche eine überwiegend ablehnende Haltung zur Euthanasie. In jedem Fall müsse allerdings der "Respekt des Patientenwillens" als Grundlage der Entscheidung für oder gegen Sterbehilfe dienen. Als weitere normative Instanz nennt Zhang das Gute; dies werde durch das Interesse der Gemeinschaft bestimmt. Zhang beschreibt einen gegenwärtigen Konsens in China, wonach Ärzte und Angehörige für das Treffen von Entscheidungen zuständig sind. Dabei wird nicht erläutert, in welcher Hierarchie das Gemeinwohl (als das Gute der Gemeinschaft) und der Respekt des Patientenwillen (als das Gute der Handlung) zueinander stehen sollen. Mutmaßlich sollte auch der Patient "das Gute" in die eigene Willensbildung mit einbeziehen. Zhang vermeidet es, die Konvention über die Zuständigkeit und die Bestimmung des Guten aus einer präskriptiven Perspektive zu diskutieren, zu bewerten oder zu kritisieren. Bei dieser im Gegensatz zur frohgemuten Rhetorik seiner normativen Stellungnahme unverbindlichen Darstellung bleibt offen, wie mit möglichen Widersprüchen umzugehen ist, die zwischen dem Patientenwillen und dem Gemeinschaftsinteresse auftreten können, falls sie nicht harmonisierbar sind. Zhang richtet allerdings eine grundsätzliche Bemerkung über die Zuständigkeit für Entscheidungen über Sterbehilfe an Ärzte und Angehörige. Sie stehe "im scharfen Gegensatz zum Westen, wo die persönliche Entscheidung des Patienten zählt". Im Hinblick auf die Frage nach der Hierarchie der Entscheidungsgewalt legt diese Formulierung nahe, daß der Wille des Patienten tatsächlich in China "nicht zählt". Hier gibt es wiederum zwei Deutungsmöglichkeiten: entweder der Patient wird auch gegen seinen Wunsch übergangen; oder er wird einfach nicht gefragt, womöglich weil man seine stillschweigende Zustimmung unterstellt und nicht problematisiert, solange er nicht 97 Zhang Daqing, "Medicine as Virtuous Conduct: Assessing the Tradition of Chinese Medical Ethics", in Ole Döring and Chen Renbiao (ed.), Advances in Chinese Medical Ethics. Chinese and International Perspectives, Surrey (Curzon Press); im Druck, Publikation vorgesehen für 2002. 25 aufbegehrt. Diesen Optionen geht Zhang nicht nach. Er sagt auch nicht, ob das Primat der Entscheidung des Arztes bzw. der Angehörigen auch im offenen Konfliktfall gelten soll, also wenn der Patient ausdrücklich und hartnäckig die Ansicht des Arztes oder der Angehörigen zurückweist. Offen bleibt auch die Frage, wer denn im Konflikt zwischen Arzt und Familie oder innerhalb der Familie den Ausschlag geben soll. Die generelle Argumentationsweise Zhangs legt die Vermutung nahe, daß derartigen Fragen mit Rekurs auf die jeweilige Situation und auf übliche bzw. allgemein als richtig anerkannte Handlungsweisen nachgegangen werden muß, also aus der Sphäre der Konvention zu rekonstruieren ist. Insofern wird der gegebenen Kultur ein hoher präskriptiver Stellenwert zuerkannt, ohne daß freilich verständlich würde, was diese „Kultur“ genau vorschreibt und wieso aus diesem Gegebensein eine Verbindlichkeit für das Gute folgt. Die weitgehende Abwesenheit ideologischer Phrasen und die (immerhin) oberflächlichen Hinweise auf Prinzipien des Respektes und des Guten weisen Zhangs Überlegungen gleichwohl als interessanten Beitrag zum jungen medizinethischen Verantwortungsdiskurs der Volksrepublik China aus. Die Frage nach dem Guten wird jedoch durch die relativierende Erkundigung nach dem guten „für wen?“ überlagert und somit im Ansatz instrumentell verzerrt. Die Auszüge aus den Texten von Lo Ping-cheung und Zhang Daqing sind Beispiele aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Interessen und moralischer Ansichten zum Guten in China. Die Schwäche beider Ansätze, die besonders bei Zhang deutlich auf das Desiderat einer Weiterentwicklung des medizinethischen Diskurses hindeutet, besteht darin, daß sie keine Handhabe zur Bewältigung von inneren Konflikten aus konkurrierenden Ansprüchen auf das Gute enthalten. In dieser Hinsicht hat oben Tsai Fuchang bereits klargestellt, daß aus konfuzianischer Sicht das Gute über allen Akteuren steht. Es genügt angesichts der bekannten Wirkmacht der Biomedizin und der Mißbrauchs- und Fehleranfälligkeit einer gut gemeinten Medizin nicht, gutes Sterben als Quintessenz des guten Lebens zu deuten. Das Gute muß in seiner buchstäblich entscheidenden qualifizierenden Bedeutung gegen jede Art seines uneigentlichen Gebrauchs geschützt, gegebenenfalls rehabilitiert und exponiert werden, wenn die chinesische Medizinethik das volle Potential konfuzianischer Ethik entfalten und für die heutigen Diskurse fruchtbar machen will. 3.3 Verständigung zum Guten Auf welcher Grundlage kann man sich zwischen Kulturen über das Gute verständigen98? Der polyglotte Mediziner und Bioethiker Fan Ruiping99 weckt hierzu in einem Zeitschriftenaufsatz Hoffnung auf Klarheit. Fan redet von einem „unpersönlichen Verständnis des Guten“ und erhebt den Anspruch, daß ein solches Verständnis spezifisch für die ethische Einstellung Ostasiens sei. „Verglichen mit westlichen Gesellschaften sind die asiatischen Staaten noch immer homogen in ihrer Wahrnehmung des Guten. Deshalb 98 Ich habe mich ausführlich mit der kulturübergreifenden Hermeneutik zur Medizinethik auseinandergesetzt in meinem Aufsatz „Verstehen als Anerkennen. Überlegungen zu einer zeitgemäßen Kulturhermeneutik am Beispiel der Medizinethik im heutigen China“, zur Publikation eingereicht bei Heiner Roetz (Hrsg.), Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung Band 25 2001, Bochum (Iudicium), 2002 (in Vorbereitung). 99 Fan ist Chinese mongolischer Herkunft, hat in den USA seine philosophische Dissertation erworben und über mehrere Jahre in Texas als Assistent von H. Tristram Engelhardt Jr. gearbeitet, ehe er kürzlich eine Stelle an der City University of Hong Kong angetreten hat. Sein Interesse an interkulturellen Fragen der Ethik wurde durch diese internationale Erfahrung inspiriert. Vgl. Fan Ruiping (ed.), Confucian Bioethics, Dordrecht (Kluwer AP), 1999. 26 wird ein Wertekatalog zur klinischen Entscheidungsfindung allgemein von verschiedenen Gemeinschaften, Familien und Individuen akzeptiert, und dient daher als eine objektive oder unpersönliche Auffassung des Guten.“100 Das Gute wird demnach in einem Katalog von Werten realisiert, dessen Autoren nicht Individuen sind sondern eine unpersönlich gedachte Entität mit objektiv-moralkonstituierenden Eigenschaften. Zu den „vielen offensichtlichen Unterschieden“ zwischen dem „Westen“ und Ostasien zählt Fan Ruiping die besonderen Religionen des Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus und Shintoismus, die in diesem Teil der Welt einen generellen Einfluß auf das moralische Leben ausübten, so wie die „Judeo-Christenheit“ andererseits, im Westen. Als „besondere metaphysische Lehren“, die „oftmals die ethische Argumentation ostasiatischer Gelehrter beeinflussen“, nennt Fan „I-ching, yin-yang und qi“101.Im einzelnen, fährt Fan fort, „sind moralische Schlüsselbegriffe wie ‚Wa‘ (Harmonie), ‚Amae‘ (Abhängigkeit) und ‚Taijisokuin‘ (Gnade) im Japanischen und ‚ren‘ (humanity), ‚yi‘ (righteousness), ‚li‘ (propriety), ‚zhi‘ (wisdom), ‚xin‘ (fidelity), ‚xiao‘ (filial piety), ‚zhong‘ (faithfulness) und ‚de‘ (virtue) im Chinesischen integrale Bestandteile des ethischen Vokabulars der Menschen102. Schließlich ist die konfuzianische Tugendtheorie, die über Tausende von Jahren entwickelt worden ist, in ostasiatischen Ländern als eine der wichtigsten intellektuellen Ressourcen für Ethik im allgemeinen und für Bioethik im besonderen zu Hause. Aus dieser Rekonstruktion folgt für Fan ohne weiteres: „Deshalb hat die religöse Tradition des Westens die Keime der Vorstellung vom Individuum als Entscheidungsträger gepflanzt. Als ein Entscheidungsträger ist man bereits ‚auf dem Wege, sich von seiner Familie und kulturellen Gemeinschaft zu differenzieren‘103“ Ferner stehe das „westliche Selbstbestimmungsprinzip für ein subjektivistisches Konzept des Guten“. Ohne Angabe einer Referenz behauptet Fan, eine „gute Entscheidung“ sei für den Einzelnen substantiell selbstbezogen, „ganz gleich ob sie mit objektiv definierten 100Fan Ruiping, „Self-Determination vs. Family-Determination: Two Incommensurable Ptrinciples of Autonomy“, Bioethics Vol.11 No.3&4, 1997: 309-322: 317f.. 101 Fan 1997: 310. Die Schreibweise der intendierten Lehren habe ich hier ohne korrigierende Änderung übernommen. Allgemein anerkannten Standards zufolge muß es heißen: „Yijing, Yinyang und Qi“ (nach Pinyin) oder „I-ching, Yin-yang und Ch’i“ (nach Wade-Giles). Beim Yijing handelt es sich um den „Klassiker der Wandlungen“, bei Yin und Yang um die komplementären Kräfte des Universums und bei Qi um die wichtigste natürlich-moralische „Vitalkraft“ des Universums. Während man das Yijing sicher nicht als eine „metaphysische Lehre“ sondern bestenfalls als eine Inspirationsquelle verschiedener Lehren bezeichnen kann, bilden Yin und Yang in philosophischer Deutung ontologische Ordnungs- und Wandlungskonzepte, derer solche Lehren sich bedienen; die „Vitalkraft“ schließlich ist ein Name für einen dynamischen Kausalfaktor. 102 Auf diesem Wege erschließt sich dem Leser en passent, daß „Ostasien“ für Fan genauer die Länder China, Japan und (gelegentlich auch) Südkorea meint 103 Fan 1997: 314. Fan zitiert hier einen Teilsatz aus Robert Veatch, „Autonomy and Communitarianism: The Ethics of Terminal Care in Cross-Cultural Perspective“, in Kazumasa Hoshino (ed.) Japanese and Western Bioethics, Kluwer 1997: 119-129: 120. Dieser Teilsatz ist sicher zutreffend, wird hier jedoch ganz aus dem Zusammenhang genommen und sinnwidrig wiedergegeben, im intentionalen Widerspruch zu Veatch’s These von der Universalität ethischer Schlüsselprinzipien (vgl. z.B. das.: 129). Für Veatch ist das Moment, das im Christentum in einer bestimmten historischen Situation strukturell das Individuum als Entscheidungsträger gebildet und es von Gruppenidentitäten abgetrennt hat, seine Eigenschaft den Übertritt zu verlangen (eine „religion of conversion“ zu sein). 27 unpersönlichen Werten im Einklang stehen oder nicht“104. In diesem Stile bringt Fan auch ein weiteres Charakteristikum „westlicher“ Selbstbestimmung auf den Punkt: Unbeeindruckt zum Beispiel von der aristotelischen Lehre, jeder Mensch sei von Natur her darauf aus glücklich zu werden105, sei „die individuelle Unabhängigkeit“ das Höchste106. „Sogar wenn eine Person sich als Patient in einem klinischen Kontext wiederfindet, bleibt für sie die Unabhängigkeit von überwältigender Bedeutung. Sie soll nicht eine Mentalität der Abhängigkeit haben. Und sie soll sich auch nicht darauf verlassen, daß die Familie oder der Arzt medizinische Entscheidungen trifft.“ Kann die von Fan postulierte vorgestellte Homogenität der einen „ostasiatischen Kultur“ wenigstens als ethisch-kulturhermeneutische Utopie inhaltlich überzeugen? Fan macht deutlich, daß sein Ost-West-Dualismus nicht nur deskriptiv sein soll und einer wertneutralen moralisch-ethischen Kulturvielfalt verpflichtet ist. Er bezieht eindeutig normativ Stellung zugunsten des ostasiatischen Menschenbildes, das er als offensichtlich vernünftiger als das des „Westens“ vorstellt, indem er sagt, „Wichtig ist nicht, daß man eine klinische Entscheidung im Einklang mit seinen gegenwärtigen Wünschen trifft. Es ist wichtiger, daß sie für das eigene langfristige Gute getroffen wird, welches unpersönlich verstanden wird. (...) Diese Eigenschaft wertet die momentan geltenden Wünsche, Vorlieben oder Erwartungen des Patienten signifikant ab, wenn sie nicht in die objektive Wahrnehmung des Guten passen. Zum Beispiel, wenn ein Patient eine Behandlung verweigert, weil er urteilt, daß sein Leben nicht länger lebenswert sei, während die relevanten anderen dies im Sinne der objektiven Wahrnehmung des Guten nicht annehmen, wird man dem Willen des Patienten nicht nachkommen, ob er nun entscheidungsfähig ist oder nicht.107“ Zu den vagen Hinweisen auf eine dem Subjekt verborgene Entscheidungsnorm tritt hier nun die Annahme einer objektiven Wahrnehmbarkeit des Guten, das womöglich gerade aufgrund der Subjektivität des Betroffenseins dem Patienten entzogen, verstellt oder nur verzerrt zugänglich ist. Hierzu ergibt sich der Standardeinwand, daß die bloße Eigenschaft der Wahrnehmbarkeit noch überhaupt nichts über die Inhalte „objektiver“ Wahrheiten aussagt. Das gilt im übrigen ebenso für „subjektive“ Wahrheitswahrnehmung. Wenn die positiven Inhalte und der intentionale Gehalt der wahrgenommenen Wahrheit oder des wahrgenommenen Guten verstanden, interpretiert und vermittelt werden können sollen, kommt es großenteils auf ethische Kriterien an und auf reguläre Instanzen, die diese Funktion ausüben. Wer aber ist nach Fan diejenige Instanz, die die „objektiven Werte“ auslegt und anwendet? Hierauf gibt er eine klare Antwort: „(...) Aus der ostasiatischen Perspektive sollten Eltern ihre Kinder so aufziehen, daß sie diejenige Lebensweise akzeptieren, die in Übereinstimmung mit der objektiven Wahrnehmung des Guten stehen, die ihre Eltern haben.“ Die Eltern, vermutlich repräsentative Stellvertreter für die Nomenklatur konventioneller Autoritäten der überkommenen Gesellschaft, sind diese Instanzen, durch die der „objektive Wert“ aufgefaßt und verbindlich kodifiziert wird. Deshalb ist es nach Fan „aus der Sicht ostasiatischer Eltern unangemessen, ‚einem Kind die Möglichkeiten und Fähigkeiten zur 104 Fan 1997: 314f. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 1, Abschnitt 2. 106 Fan 1997: 315. 107 Fan 1997: 318. 105 28 Urteilsbildung und Wahl zu geben, die zur Ausübung von dessen Selbstbestimmung als Erwachsener notwendig sind‘, um seinen eigenen Wertestandpunkt zu wählen und anzuwenden“108. Der etablierte Wertestandpunkt der Eltern ist also im Kern nicht nur unstrittig, er ist auch nicht kritikwürdig und, durch den prinzipiellen Ausschluß von abweichenden Zugangsweisen zur Auslegung des Guten innerhalb der homogenen ostasiatischen Kommune, auch gar nicht kritikfähig. Diese Überlegungen nähren offenbar politisch konservative und reaktionäre Kräfte. Mit der Frage, „Was ist denn nun genau die objektive Wahrnehmung des Guten, das sich in den allgemein akzeptierten klinischen Entscheidungsprozessen der Länder Ostasiens niederschlägt? Konfuzianische, buddhistische, daoistische, shintoistische?“, kommt Fan zum Kern, sowohl hinsichtlich der ethischen Subjekte als auch der inhaltlichen ethischen Konzepte der „ostasiatischen“ Einstellung zum Guten. Wir lesen: „In Wahrheit sind alle diese Lehren im großen Maßstab von der Volksgesellschaft Ostasiens kombiniert worden, wobei gewisse Unterschiede von Land zu Land, von Region zu Region zulässig sind. Sie haben einen überlappenden Konsens gebildet, der sich in einem Kanon objektiver Werte für die klinische Entscheidungsfindung widerspiegelt.“ Mit seiner Rede von einer „Volksgesellschaft“ („folk society“) Ostasiens ordnet Fan seiner utopischen ostasiatischen Moralität einen logisch unverzichtbaren, empirisch hier freilich fiktiven kommunalen Akteur zu. Das Amalgam der Werte dieser Moralität erinnert durchaus an den inzwischen bald hundertjährigen „Universismus“109. Angesichts der naheliegenden empirischen Einwände gegen den hier ausgebreiteten stereotypen Dualismus räumt Fan ein: „Es mag sogar den Anschein haben, daß das Verhalten mancher Gruppen im Westen ähnlich ist. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen Ostasien und dem Westen sehr deutlich. Während im Westen das letzte Wort in medizinischen Entscheidungen generell der entscheidungsfähige Patient hat, müssen in Ostasien zunächst beide, der Patient und Familienangehörige, zu einer Einigung kommen, ehe klinische Entscheidungen getroffen werden können.“ Wodurch sich der „westliche“ Anspruch der rechtlichen Entscheidungsautorität des Patienten gegenüber den Medizinern und der „ostasiatische“ prozedurale Anspruch an die Familie, sich auf ein Verhalten gegenüber dem Patienten und dem Krankenhaus zu einigen, grundsätzlich ethisch von einander unterscheiden müssen, wie Fan suggeriert, ist nicht ersichtlich. Besonders in klinischen Alltagssituationen, die von Zeitdruck, pragmatischen und ideellen Konflikten und zahllosen Unwägbarkeiten geprägt sein können, ist eine verbindliche Klärung von Entscheidungsprozessen im Sinne aller Beteiligten überaus wünschenswert und hat keinen Einfluß auf die Bedeutung des Guten. Das gilt offensichtlich auch für die familieninterne Situation. Dies ergibt sich aus den Strukturen der Sache selbst und verlangt an sich noch keine ethisch-kulturelle Zuspitzung des Guten als kulturell relativ, objektiv oder subjektiv. Fan stellt lediglich in einer Fußnote klar, daß es Notfälle geben kann, in denen der Arzt auch in Ostasien die Entscheidungshoheit hat. 108 Fan 1997: 318. 109 Zum Universismus siehe Heiner Roetz, Mensch und Natur im alten China, Frankfurt/M. (P.Lang), 1984: 50-109. Dieser Ansatz wird hermeneutisch vom Sino-Philosophen Roger Ames auf die Spitze getrieben, der zum Zwecke des besseren Verstehens der chinesischen Philosophie die Methode des „Durchwurstelns“ („muddling through“) vorgeschlagen hat; in „Chinese Rationality: An Oxymoron?“, Journal of Indian Council of Philosophical Research, Vol.IX, no.2 1992: 96ff., besonders: 115. 29 „Ich will Ausnahmen im Notfall oder anderen Situationen zulassen, in denen der Arzt das therapeutische Privileg hat.110“ Auf die für die Auslegung des Guten ausschlaggebende Frage der Entscheidungskriterien, ihrer Abwägung und Begründung geht er hier nicht ein. Lediglich auf allgemeine moralische Intuitionen und eine Langfristigkeit der Perspektive wird angespielt. Es bleibt offen, ob das wohlverstandene oder vermutete Interesse des Patienten, die vermutete Empfehlung der Familie, pragmatische Erwägungen der Klinik oder andere Gesichtspunkte hier den Ausschlag geben sollen. Eine derartige Unbestimmtheit ist besonders an dieser Stelle zu bedauern, weil hier eine Situation vorliegt, in der es für den Patienten ums Ganze geht und eine oberflächliche und gröbere Evaluation noch weniger legitim sein kann als unter normalen Umständen. Nun folgt jedoch die Bestimmung des „wichtigsten Wertes, den das ostasiatische Selbstbestimmungsprinzip vertritt“, nämlich: „Ich würde meinen, es ist die harmonische Abhängigkeit. Ich beschreibe sie als ‚harmonisch‘, weil sie nur in gewissen Situationen in Bezug auf bestimmten Individuen vorkommt. Im ostasiatischen Verständnis brauchen Individuen die besondere Liebe und Fürsorge bestimmter Personen. Im Kontext der Klinik hat eine kranke Person das Privileg, von seinen/ihren Familienmitgliedern und vom Arzt besondere Aufmerksamkeit zu verlangen und zu erhalten. Dies steht im Kontrast zur westlichen Gesellschaft, in der das Abhängigsein nur während der frühen Kindheit anerkannt wird und danach sogar bei Krankheiten verschleiert und unterdrückt wird111“ Bei aller berechtigter Kritik an der Vereinsamung mancher Patienten: was an der harmonischen Abhängigkeit wertvoll ist, läßt sich, unabhängig von der hier erwünschten Aufklärung über die genaue ethische Bedeutung dieser Konzeption, nicht ohne ein Vorverständnis vom Guten sagen. Der bei Fan zentralen Annahme der kulturellen Homogenität widerspricht ein Kollege aus der gleichen Generation chinesischer Mediziner und Bioethiker: „In Anbetracht der Breite der geographischen Gegebenheiten, der langen Geschichte, der großen wirtschaftlichen Unterschiede, der Vielfalt gesellschaftlicher Üblichkeiten und kultureller Normen sowie der ethnischen Diversität gibt es in der Regel nicht die eine chinesische Art etwas zu tun oder die chinesische Sichtweise auf diese und jene Angelegenheit. (...) Um derartige Fragen angemessen anzusprechen, muß man zunächst einmal definieren, über welche besondere chinesische Gruppe, welche geschichtliche Periode und welchen geographischen Ort wir reden. Ein Mythos von der chinesischen Kultur und der Mythos von der chinesischen Medizinethik mag in unserer akademischen, intellektuellen und alltäglichen Konversation über kulturübergreifende Fragen erforderlich sein. Wir sollten uns aber im Klaren darüber sein, daß sie erfunden ist und daß ihr Wert hauptsächlich in der Bequemlichkeit der Diskussion besteht. Wir dürfen niemals die Pluralität, die Vielfalt, Komplexität, Veränderungsfähigkeit und besonders den lokalen Reichtum chinesischer Kultur und Medizinethik vergessen. Wir dürfen nie 110 Fan 1997: 317, Fn.18. 111 Fan 1997: 318. 30 die Einzigartigkeit jedes einzelnen Individuums und seiner oder ihrer Lebenswelt und Lebensgeschichte vergessen.“112 Hiervon ist festzuhalten, daß hinsichtlich des Guten selbst in einem so überschaubaren Diskurs wie dem der Medizinethik in China eine Vielfalt unterschiedlicher, teilweise widersprüchlicher und einander widersprechender Auffassungen zum Ausdruck kommen. Das betrifft nicht allein die Interpretation des Konzeptes “Gut“ sondern auch hermeneutische, kulturelle und methodisch-systematische Gesichtspunkte. Offensichtlich unterscheiden sich manche auch im Hinblick auf ihren Erklärungswert. Während wir weder die postulierte Tatsache des gemeinsamen Verstehens bestimmter Grundnormen, besonders des Guten, noch die Erklärungen und Auswege ihrer unterschiedlichen Auslegungen durch die unglücklich statische Metapher eines „überlappenden Konsenses“ oder die Bedeutung der „harmonischen Abhängigkeit“ ohne eine vorgängige Vorstellung vom Guten verstehen, inspiriert und informiert ein Ansatz, der die interne Vielfalt der Denk- und Lebensweisen in China (und weltweit) anerkennt, in nachvollziehbarer Weise über Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir den kulturellen Diskurs führen. Damit wird dem Verstehen des Guten „der anderen“ Material gegeben und zugleich eine Grundlage für die verstehende Nachfrage, die Verständigung und den gemeinsamen Diskurs gelegt. Keinesfalls bedeutet die Unterstellung seiner grundsätzlichen Verstehbarkeit eine Usurpierung des Guten in der chinesischen Medizinethik. 4 Schluß "Das Gute": diese „einfache, nicht-natürliche, unbestimmbare Qualität, die durch Intuition bekannt ist und die definieren zu wollen unvermeidlich in Fehler führt“113, dieser „archimedische Prozeß“ der Selbstverwirklichung des Humanen, dieser Begriff ohne Anschauung und passende Worte steht in China wie in Europa für das zu Erwirkende, nicht für etwas das da ist. Aus "konfuzianischer" Sicht kann und soll die Medizinethik uns helfen eine gute Welt zu schaffen. Diese Aufgabe mutet uns womöglich durch Konfuzianer die Anmaßung zu, uns so zu denken als könnten wir „potentiell unbegrenzt kreativ“ sein. Dadurch erhielte das Leben überhaupt erst einen Sinn, nicht bloß Erklärungen, indem das Aussein auf das Schöne, Wahre und Gute praktisch gedacht werden kann. Es entspricht einer überkommenen Haltung in China, hierfür Hilfestellungen zu nutzen, wie sie in der konventionellen konfuzianischen Moral oder anderen Kodizees überliefert sind. Hier ist freilich nicht nur dem Mißverstehen sondern vor allem auch der Instrumentalisierung Tür und Tor geöffnet. Aus ethischer Sicht kommt es entscheidend darauf an, positive Normen und Werte als erfahrungsgesättigte Gehhilfen der guten Praxis anzusehen, nicht aber sie mit dem Gebot des Guten selbst zu verwechseln. Die gute Praxis ist nur als Aktualisierung des Guten um seiner selbst willen gut. Deshalb denkt der „Edle“ immer zuerst an das Richtige und nicht an den Nutzen. Diese Grundentscheidung hat allerdings sogar für den habituell Gutwilligen nur die Bedeutung, welche ihr in der Praxis aktuell gegeben wird. 112 Nie Jingbao, “The Myth of the Chinese Culture and the Myth of the Chinese Medical Ethics” in Bioethics Examiner 3 (2), 1999: 1-5. 113So G.E. Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903. Mit dem unvermeidlichen Fehler meint Moore den Naturalistischen Fehlschluß. 31 Ohne Frage ist der Konfuzianismus nur eine unter zahlreichen ethischen Schulen in China, überdies konkurrieren gerade innerhalb konfuzianischer Diskussionen unterschiedliche Meinungen zur Praxis des Guten. Die hier vorgestellte Variante des systematisch gegen utilitaristische Gründe der Ethik argumentierenden humanistischen Konfuzianismus ist nicht nur besonders stark in der aktuellen chinesischen Medizinethik vertreten sondern erscheint auch vielversprechend im Hinblick auf die Aussichten der Verständigung jenseits geographischer Grenzverläufe. Hierbei ist der Systemgedanke eines deontologisch-universellen summum bonum ausschlaggebend. Dieser Ansatz läßt eine kritische, subjektive, insbesondere transzendentale Auslegungen des Guten zu. Somit können die chinesischen und die europäischen Debatten miteinander im Ringen um Menschlichkeit an gemeinsame Intuitionen und Vernunftgründe anknüpfen. Im Unterschied zu metaphysischen Konzepten wie Würde und Freiheit, die den philosophischen Schlußstein einer Ethik markieren, schillert das Gute in einem Zwischenreich der praktischen Vernunft114. Es ist nicht in der Welt aber für sie da. Konfuzianische Autoren demonstrieren, wie die Vorstellung des Guten aus der Mitte des Lebens heraus eine allem anderen übergeordnete Orientierung schafft, für die Fragen es Werdens und des Vergehens menschlichen Daseins. Ein solcher Blick auf die Medizinethik in China macht noch einmal deutlich, wie sehr der Mensch das Gute als soziales Wesen suchen muß, interaktiv und kritisch, denn die Auseinandersetzung freier Weltbürger um die Räume der Freiheit ist ihrerseits Selbstzweck. Die Früchte der Verständigung, zum Beispiel eine Globalisierung durch friedlichen Handel und Wandel, illustrieren, wie wahrer Nutzen erst durch das Gute entsteht. Der Autor, Sinologe und Philosoph, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asienkunde in Hamburg. Der Autor dankt ausdrücklich der Dr. Helmut Storz Stiftung, ohne deren langjähriges Vertrauen und finanzielles Engagement das dieser Arbeit zugrundeliegende Forschungsprogramm nicht hätte entstehen können. 114 Das Gute ist, wie etwa auch der ethische Begriff der Pflicht, aufgrund des in ihm vorgestellten Aussein-Sollens in der Systematik des Kategorischen Imperativs „ein Vernunftbegriff, in den etwas Eingang finden muß, was gerade nicht Vernunft ist, vergleichbar mit der Kennzeichnung der kantischen „Pflicht“ als ein „nicht-reiner Begriff a priori“ durch Konrad Cramer in „Metaphysik und Erfahrung in Kants Grundlegung der Ethik“, Neue Hefte für Philosophie, 30/31, Göttingen 1991: 15-68: 65.