Ökologische Forschung im Stubaital Globale Veränderungen haben in ihrer Dynamik in den letzten Jahrzehnten dramatisch an Bedeutung gewonnen: die atmosphärische CO2-Konzentration und ihre Zuwachsraten sind so hoch wie noch nie in den letzten 650 000 Jahren, ein globaler Temperaturanstieg ist mittlerweile unumstritten, es kommt vermehrt zum Auftreten von Klimaextremen und damit verbundenen Dürrekatastrophen und Starkniederschlagsereignissen. Darüber hinaus hat ein rascher Wandel in ökonomischen und sozialen Systemen zu großflächigen Landnutzungsänderungen geführt, die Ökosysteme und Landschaften wie ihre gesellschaftsrelevanten Serviceleistungen bis hin zum regionalen Maßstab unübersehbar verändert haben und weiter verändern. Die Auswirkungen dieser globalen Veränderungen sind regional und saisonal verschieden, Gebirgsregionen zählen jedoch zu den am meisten betroffenen Gebieten. So war z.B. in den Alpen die Erwärmung in den letzten 100 Jahren mit 1,4 °C doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt. Die gängigen Klimaszenarien prognostizieren, dass in den Nord- und Zentralalpen die Niederschläge im Frühjahr und Herbst zunehmen, wogegen im Süden eine Verringerung der Niederschläge erwartet wird. Durch den Temperaturanstieg wird es weiters zu einer Verringerung der Wasserreserven für die Sommermonate kommen. Während der kurzen, aber intensiven Schmelzperiode wird das in Schnee und Eis gebundene Wasser schneller freigegeben, damit verringern sich in den trockenen Sommermonaten die Wasserschüttung der Bäche und die Nutzwassermenge für die Trinkwasserversorgung, die Stromgewinnung und die landwirtschaftliche Bewässerung. Die Alpen sind aber auch durch zunehmende Mechanisierung und eine vollständige Neuorientierung der traditionellen Landwirtschaft massiv betroffen: In den letzten 20 Jahren wurden 40% der bäuerlichen Betriebe in den Alpen geschlossen. Die verbliebenen Betriebe werden heute vielfach nur mehr im Nebenerwerb bewirtschaftet. Damit hat der Bauer nur mehr ein beschränktes Zeitbudget, was dazu führt, dass die Gunstlagen zunehmend intensiver bewirtschaftet werden. Grenzertragsflächen (v.a. Almflächen) spielen kaum mehr eine Rolle und werden aufgelassen. Im Durchschnitt liegen heute ca. 20% der landwirtschaftlichen Flächen brach, in manchen Regionen sogar an die 70%. All diese Entwicklungen haben Spuren in der Landschaft und ihrer ökologischen Funktion hinterlassen. Seit 15 Jahren werden von der Universität Innsbruck im Stubaital, als Beitrag zum Forschungsschwerpunkt „Ökologie des Alpinen Raumes“, die ökologischen Auswirkungen des Globalen Wandels im Gebirge untersucht. Das Stubaital und die Gemeinde Neustift wurden für diese Forschungsarbeiten ausgewählt, da hier die Änderungen in der landwirtschaftlichen Nutzung, aber auch die Auswirkungen des Globalen Klimawandels auf den Wasserhaushalt, den Sommer- und Wintertourismus und auf die Alpinen Gefahren, wie Muren und Lawinen, besonders deutlich untersucht werden können. Hoher Burgstall Starkenburger Hütte Brache Kaserstattalm Weide Mähwiese Pfurtschell Neder Talwiese Neustift Abb. 1: Projektgebiet Kaserstattalm und Talwiese in der Gemeinde Neustift im Stubaital Bereits 1993 begannen mit dem Forschungsprojekt INTEGRALP (1993-1996) erste Untersuchungen zum Wasserhaushalt, zu Schneegleiten und Bodenerosion im Bereich der Kaserstattalm. Bereits bei diesen ersten Forschungsarbeiten, die vom Österreichischen Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft finanziert wurden, waren Grundbesitzer und Gemeinde Neustift intensiv eingebunden. Sie wirkten nicht nur bei der Auswahl geeigneter Versuchsflächen mit, sondern zeigten auch an den laufenden Untersuchungen und den gewonnenen Erkenntnissen großes Interesse. Im Rahmen des ersten großen EU Projektes ECOMONT (1996-1999) wurden im Bereich der Kaserstattalm die Auswirkungen von Bewirtschaftungsänderungen auf die Vegetation und deren Artenvielfalt, auf die Ressourcennutzung von Pflanzen, den Wasserhaushalt und die Erosionsanfälligkeit von bewirtschafteten und aufgelassenen Flächen und die Gefahr von verstärktem Schneegleiten untersucht. Das zweite große EU-Projekt CARBOMONT (2001-2004), das ebenfalls von der Universität Innsbruck europaweit koordiniert wurde, hatte zum Ziel, für waldfreie Flächen in 15 verschiedenen Gebirgsregionen Europas die Aufnahme und Freisetzung des Treibhausgases CO2 vergleichend zu analysieren. Ähnliche Untersuchungen aus verschiedenen Gebirgsregionen Europas – von Lappland über das Schottischen Hochland, mehrere Stationen in den Alpen (D, I, CH, Ö), der slowakischen Tatra und dem italienischen Apennin bis in die Spanischen Pyrenäen – wurden zusammengeführt und ausgewertet. Abbildung 2: Vernetzung in internationalen Kooperationen Forschungsfragen Im Vordergrund aller Forschungsprojekte stehen wichtige Fragen in Zusammenhang mit der Erhaltung des Lebensraumes im Berggebiet: - Wie hat sich die Situation der Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verändert, welche Zukunftsaussichten hat sie? - Wie wirken sich Bewirtschaftungsänderungen auf die Landschaft, die Vegetation und den Boden aus? Welche Konsequenzen ergeben sich dadurch für die biologische Vielfalt? - Welche Rückkoppelung ist für das Risikopotential (Erosion, Gleitschneelawinen) zu erwarten? - Welche Folgen ergeben sich für den Wasserhaushalt (Oberflächenabfluss bei Gewitterregen, Wasserspeicherungsvermögen des Bodens, Nutzwassermengen)? - In welchem Ausmaß erfolgt die Aufnahme und Freisetzung des Treibhausgases CO2? Aktuelle Forschung und Ergebnisse Situation der Landwirtschaft Gab es im Stubaital 1950 noch 406 Bauernbetriebe, so sind es heute nur mehr knapp über 290, waren 1950 noch 9.710 ha Flächen bewirtschaftet, sind es heute nur mehr 8.025 ha, also 17% weniger. Ein Trend, der nicht nur im Stubaital vorhanden ist, sondern sich alpenweit zeigt. Allein in den letzten 20 Jahren wurden in den Alpen fast 40% der landwirtschaftlichen Betriebe geschlossen, in manchen Ländern wie Italien, Frankreich und Slowenien sogar deutlich mehr. Eine schleichende Entwicklung Dem unerfahrenen Beobachter fallen die schleichenden Entwicklungen kaum auf. Mitunter dauert es Jahrzehnte bis Jahrhunderte, bis sich auf einer ehemals genutzten Wiese oder Weide wieder Wald einfindet. Es kommt zu gravierenden Vegetations-, Boden- und Landschaftsveränderungen. Gewisse Übergangsstadien sind zudem recht instabil und gefährlich: Bodenanbrüche und Lawinen treten gehäuft auf. Doch auch die Folgen von Intensivierungen, insbesondere in der Grünlandwirtschaft sind nicht zu vernachlässigen. Bei Düngung geht die Artenzahl langsam aber sukzessive zurück. Von den farbenfroh blühenden Wiesen bleibt häufig nur mehr eine monotone, artenarme Vegetation übrig. Es kann aber auch langfristig zu Veränderungen im Boden und im Gebietswasserhaushalt führen. Durch die Untersuchungen kristallisiert sich eines ganz klar heraus: Die extensive Wiesennutzung (1 Schnitt/Jahr, kaum gedüngt) erweist sich aus ökologischer Sicht als die beste Bewirtschaftungsvariante auf hochgelegenen Wiesen. Auf den durch die alljährliche Mahd kurzen Grasstoppeln gleitet der Schnee weniger leicht als auf plattgedrückten Langgrasteppichen aufgelassener Wiesen. Die extensive Mahdnutzung fördert ferner die Pflanzenvielfalt. Durch die Artenvielfalt wird das Heu schmackhafter und medizinisch wirksamer. Ganz nebenbei bieten solche Wiesen auch noch einen interessanten Lebensraum für zahlreiche Insekten. Die in diesen Wiesen vorzufindende dichtere Durchwurzelung „hält“ den Boden besser zusammen und verhindert das Aufbrechen des Bodens. Der höhere Anteil an anfallender organischer Substanz verbessert die Bodenstruktur und damit das Wasserspeichervermögen. Insgesamt wird der Oberflächenabfluss und oberflächliche Abtrag von Bodenpartikeln reduziert. Große Teile von Bergmähdern wurden in der Vergangenheit in Weideflächen für Rinder, Ziegen und Schafe umgewidmet. Die extensive Beweidung erfolgt heute meist unbeaufsichtigt und daher kleinflächig sehr unterschiedlich. Die Vorteile einer solchen Weidewirtschaft sind vor allem eine hohe Landschafts- und Artenvielfalt. Leider treten diese Vorteile erst bei stabilisierten Weideflächen auf. Auf ehemaligen Mähwiesen kommt es durch den einsetzenden Weidegang zu einem starken Anstieg von Narbenverletzungen und einer erhöhten Erosionsbereitschaft. Gerade in diesem Fall zeigt sich, wie wichtig Kenntnisse aus dem traditionellen ökologischen Wissen bei den Bauern sind. Die angepasste Beweidung verhindert die flächendeckende Wiederbewaldung und hält die Landschaft mit vergleichbar geringem Aufwand offen und attraktiv. Eine intensive Mahdnutzung in Hochlagen (1-2 Schnitte pro Jahr, Düngung und maschinelle Bewirtschaftung) bringt ohne Zweifel einige Vorteile für den Bauern. Die Düngung erhöht die Nährstoffe im Boden und damit den landwirtschaftlichen Ertrag und die Qualität des Futters. Längerfristig überwiegen jedoch die ökologischen Nachteile. So verschwinden zahlreiche Arten und es verringert sich auch die stabilisierende Durchwurzelung im Boden Das unüberlegte Auflassen (Brachlegen) von Flächen ist aus ökologischer Sicht die ungünstigste Nutzungsform. Zwar nimmt die Arten- und Lebensraumvielfalt anfänglich deutlich zu. Im Laufe der Zeit profitieren aber vor allem die Zwergstrauchbestände von den neuen Bedingungen. Vereinzelt kommen Bäume auf, die sich bis in eine Höhenlage von etwa 2100 m zu einem dichten Wald zusammenschließen. Bis zum dichten Wald vergehen jedoch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Während dieses Zeitraumes nimmt die Gefahr von Erosionen und Lawinen zu. Zoologisch-ökologische Forschungen am Zersetzernahrungsnetz im Bereich der Kaserstattalm zeigten, dass in der subalpinen Stufe nahe der Waldgrenze mit dem Brachfallen von Almflächen ein deutlicher Wechsel der Artengarnitur auftritt, was zu einer Anhäufung von organischem Bodenmaterial und in der Folge zu erosionsanfälligeren Oberböden führt. Die Wiederbewaldung von Flächen verbessert vor allem den Gebietswasserhaushalt: Der Baumbestand und seine positive Wirkung für den Wasserhaushalt im Einzugsgebiet führt bei Starkregenereignissen zu einem abgefederten Abfluss des Wassers. In einem naturnahen Wald sind Schneegleitphänomene und Erosionen selten. Eine flächendeckende Bewaldung heißt aber gleichzeitig die Vielfalt der Landschaft und somit der Arten zu verringern. Viele der Kulturlandschaftsformen würden dadurch verschwinden. CO2-Austausch Im Zusammenhang mit dem Kyoto-Protokoll ist es eine wichtige Frage, ob Mähwiesen mehr Kohlenstoff binden oder abgeben. Durchgehende Messungen auf einer Mähwiese zwischen Neustift und Neder seit dem Jahr 2001 zeigen, dass diese Ökosysteme in "schlechteren" Jahren eine Quelle für Kohlendioxid sind und in "guten" Jahren eine Senke für Kohlendioxid darstellen - im langjährigen Mittel ist die Kohlenstoffbilanz dieser Mähwiesen annähernd ausgeglichen. Die Ursachen für die jährlichen Unterschiede sind mittels der vorliegenden Daten allerdings nur bedingt erklärbar, was vermutlich an einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren, insbesondere Bewirtschaftung und Wetterbedingungen, liegt. Bezüglich der Verdunstung zeigt sich, dass die untersuchte Mähwiese in feuchten Jahren ca. 50% des Jahresniederschlags verdunstet (der Rest versickert und/oder fließt ab), während in trockenen Jahren beinahe 90% des Jahresniederschlags verdunstet wird. Aufbauend auf die detaillierten Analysen zum Kohlenstoffhaushalt wurden mittels Computersimulationen Szenarien entwickelt, die für die nächsten 50 Jahre prognostizieren, wie sich im 250 Quadratkilometer großen Gemeindegebiet von Neustift die Kohlenstoffspeicherung in Abhängigkeit von unterschiedlichen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen (z.B. unterschiedlichen Förderrichtlinien der EU) entwickeln wird. Diese Szenarien wurden auf Grundlage von aktuellen und historischen Luftbildern, Vegetations- und Bodenaufnahmen und Gesprächen mit Entscheidungsträgern und deren Einschätzung der künftigen Landschaftsentwicklung im Stubaital realisiert. Die Ergebnisse zeigen, dass in den letzten 150 Jahren aufgrund der Nicht–Bewirtschaftung von ehemals landwirtschaftlichen Flächen und des Aufkommens von Wald 105.000 t Kohlenstoff zusätzlich gebunden wurden. Die Szenarien zeigen, dass in den nächsten Jahren weitere 95.000 t Kohlenstoff gebunden werden können, falls sich die Landwirtschaft weiter stark zurückzieht. Wenn man bedenkt, dass in Tirol allein im Jahr 2000 an die 870.000 t Kohlenstoff freigesetzt wurden, so kann die Wiederbewaldung für die Kohlenstoffbindung nur eine untergeordnete Rolle spielen. In den nächsten Jahren wird im Stubaital ein weiteres EU-Projekt gestartet, bei dem Experimente auf der Kaserstattalm zur Frage beitragen sollen, wie sich Klimaextreme (z.B. Sommerdürre) auf den Kohlenstoffhaushalt einer Bergwiese auswirken werden. Wasserhaushalt 2007 wurde mit einem neu angelaufenen internationalen Kooperationsprojekt der Wasserhaushalt ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Da Gebirge zu den bedeutsamsten Versorgern mit qualitativ hochwertigem Wasser zählen, soll u.a. untersucht werden, wie sich Landnutzung und Artenvielfalt auf die Menge und Qualität des Sickerwassers in Gebirgsökosystemen auswirken. Ein bedeutender, wenn auch häufig unberücksichtigter Nebeneffekt der traditionellen landwirtschaftlichen Nutzung, insbesondere von Grünlandflächen, liegt in einer höheren Wasserverfügbarkeit. Die Rate des Wasserverbrauches durch Verdunstung (Evapotranspiration) liegt bei Grünlandflächen in europäischen Gebirgsregionen zwischen 40-60% des Niederschlags. Das restliche Niederschlagswasser versickert im Boden oder fließt oberflächlich ab. Die Untersuchungen im Stubaital zeigen, dass eine kurze, beweidete oder gemähte Grasnarbe dabei deutlich weniger Wasser an die Atmosphäre abgibt, als eine langgrasige Almfläche, und damit eine höhere Wasserverfügbarkeit für die Tallagen fördert. Simulationen mit Starkniederschlägen zeigten weiters, dass auf aufgelassenen Flächen kaum Wasser oberflächlich abrinnt, im Gegensatz zu Weiden und Mähwiesen, wo bei einem 100jährigen Niederschlagsereignis bis zu 15% oberflächlich abfließen können. In den nächsten beiden Jahren wird die Wasserfrage noch intensiver im Rahmen eines Sparkling Science Projektes gemeinsam mit zwei Klassen der HBLA Kematen in mehreren Höhentransekten im Stubaital untersucht. Institutionen und Personen (die in laufende Projekte involviert sind) Institut für Ökologie, Universität Innsbruck: Univ.-Prof. Dr. Ulrike Tappeiner, Dr. Michael Bahn, Univ.-Doz. Dr. Georg Wohlfahrt, Ao.Univ.-Prof. Dr. Erwin Meyer, Dr. Christian Newesely, Mag. Klaus Obojes, Mag. Dagmar Rubatscher und u.a. Institut für Geschichte und Ethnologie, Universität Innsbruck: Ass.-Prof. Dr. Wolfgang Meixner, Mag. Gerhard Siegl Institut für Institut für Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsgeschichte: Univ.-Prof. Dr. Gottfried Tappeiner Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik: Ao.Univ.-Prof. Mag.Dr. Armin Hansel EURAC - Europäische Akademie Bozen : Dr. Erich Tasser, Mag. Georg Leitinger Land Tirol, Gruppe Forst: DI Dr. Dieter Stöhr Land Tirol, Abteilung Wasserwirtschaft, Hydrographie und Hydrologie: Dr. Wolfgang Gattermayr, Mag. Msc. Georg Raffeiner BFW- Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft; Institut für Naturgefahren und Waldgrenzregionen: DI DR. Peter Höller