3.2.3.10. Das Agla-Märchen

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INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG ............................................................................................................................ 3
2. GRUNDLEGENDE MERKMALE – MÄRCHEN, FANTASY, BIOGRAFIE ..................................... 5
2.1. MÄRCHENSTRUKTUREN UND -SYMBOLE ......................................................................... 5
2.2. MERKMALE DER FANTASYLITERATUR ........................................................................... 8
2.3. STEIN UND FLÖTE – EINE BIOGRAFIE ............................................................................ 11
3. STRUKTUREN EINES KLASSISCHEN MÄRCHENS .................................................................. 11
3.1 DREIGLIEDRIGKEIT DES ÄUßEREN AUFBAUS ................................................................. 12
3.2. ANWENDUNG DER PROPPSCHEN MORPHOLOGIE BEI STEIN UND FLÖTE ..................... 21
3.2.1. EINSCHRÄNKUNGEN ................................................................................................ 21
3.2.2. MÄRCHENHANDLUNGEN ......................................................................................... 23
3.2.3. STRUKTUREN DER MÄRCHENHANDLUNGEN........................................................... 27
3.2.3.1. DAS AUGENSTEINMÄRCHEN ............................................................................. 28
3.2.3.2. DAS BARLO-MÄRCHEN ..................................................................................... 32
3.2.3.3. DAS GISA-MÄRCHEN......................................................................................... 37
3.2.3.4. DAS FLÖTERMÄRCHEN ..................................................................................... 40
3.2.3.5. DAS NARZIA-MÄRCHEN .................................................................................... 42
3.2.3.6. DAS ARNILUKKA-MÄRCHEN............................................................................. 45
3.2.3.7. DAS URLA-MÄRCHEN ....................................................................................... 46
3.2.3.8. DAS MÄRCHEN VOM FRÖHLICHEN KÖNIG ....................................................... 50
3.2.3.9. DAS RÜBE-MÄRCHEN........................................................................................ 51
3.2.3.10. DAS AGLA-MÄRCHEN ..................................................................................... 52
3.2.3.11. DAS TRAUMMÄRCHEN .................................................................................... 54
3.2.3.12. DAS MÄRCHEN VON OLEG UND BOLEG ......................................................... 55
3.2.4. ZWISCHENFAZIT ...................................................................................................... 59
3.3. ÜBERNAHME ÄUßERER MÄRCHENELEMENTE .............................................................. 61
3.3.1. ANFANGS- UND ENDSEQUENZ .................................................................................. 61
3.3.1.1. DER ROMANANFANG ......................................................................................... 61
3.3.1.2. DAS ROMANENDE .............................................................................................. 64
3.3.2. ERZÄHLSITUATION .................................................................................................. 66
3.3.3. BRUCH MIT DER FIKTION ........................................................................................ 69
4. MÄRCHENMOTIVE UND –SYMBOLE ..................................................................................... 71
4.1. ZAHLENSYMBOLIK ......................................................................................................... 72
4.2. METALLISCHES UND MINERALISCHES .......................................................................... 74
4.3. ORTE............................................................................................................................... 77
4.4. ZEIT ................................................................................................................................ 80
4.5. WEITERE ÜBEREINSTIMMUNGEN .................................................................................. 81
5. FIGUREN ............................................................................................................................... 84
5.2. STATISCHE FIGUREN...................................................................................................... 88
5.2.1. MENSCHLICHE RATGEBER ...................................................................................... 88
5.2.2. ÜBERMENSCHLICHE GESTALTEN ........................................................................... 89
5.2.3. BELEBTE NATUR ALS HELFER ................................................................................ 90
5.3. VERÄNDERLICHE FIGUREN ........................................................................................... 91
1
5.3.1. BARLO ...................................................................................................................... 91
5.3.2. DIE FRAUENFIGUREN .............................................................................................. 92
5.4. NAMEN............................................................................................................................ 95
5.5. LIEBE UND EROTIK ...................................................................................................... 100
5.5.1. LIEBESBEZIEHUNGEN ............................................................................................ 101
5.5.2.TIERBRÄUTIGAM .................................................................................................... 105
5.5.3. EROTIK................................................................................................................... 107
5.6. MUSIK UND MAGIE ...................................................................................................... 108
6. FAZIT .................................................................................................................................. 111
7. ANHANG .............................................................................................................................. 115
7.1. LISTE DER BINNENGESCHICHTEN IN STEIN UND FLÖTE ............................................. 115
7.2. LISTE DER LIEDER IN STEIN UND FLÖTE ..................................................................... 116
8. LITERATURLISTE ................................................................................................................ 117
2
1. Einleitung
Diese Arbeit möchte weder den Ansatz der Märchenforschung verfolgen, der
besagt, dass Märchenmotive bereits jenseits dieses Genres existiert haben und
existieren (und somit von jeder Textart aufgenommen werden können), noch
über die Gründe für die Anlehnung des Romans an die Märchen spekulieren.
Beides ließe sich nur durch ein dezidiertes Auseinandersetzen mit den
Intentionen und Quellen des Autors untersuchen, wobei die Biografie
Bemmanns und der Vergleich mit seinen weiteren literarischen Werken
durchaus die These erlauben, dass er den Roman gezielt in Anlehnung an
Märchen geschrieben hat, da Märchenforscher, Zauberer und Feen (Trilogie
„Die Verzauberten“, 1990, 1993, 1998) oder die Sammlung von Geschichten
(Erwins Badezimmer, 1984) stets Thema der Romane des studierten
Germanisten sind. Dass diese Eigenart auch in seinem erfolgreichsten Werk
angewandt wurde, ist nicht verwunderlich; vielmehr erreicht der Einfluss des
Märchens auf Bemmanns Werk hier seinen Höhepunkt.
Das kunstvolle Verbinden von Strukturen und Symbolen, die insbesondere für
Volksmärchen typisch sind, mit den Strukturen eines Fantasyromans wird
daher im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen; die prägnanten Parallelen und die
entscheidenden Unterschiede beider Genres im Beispiel von Stein und Flöte.
In der Fantasyliteratur ist das Wunderbare, das die Welt des Märchens
durchzieht, ebenso verankert wie eine technisch und sozial eher mittelalterlich
gestaltete Gesellschaft, in der es monarchische oder zumindest in ihrer Stellung
an Macht einem König gleichende Landesherren gibt, die eine Schar von
Bauern, Handwerkern und Soldaten regieren. Mögen Theoretiker wie
Zgorzelski1 die heroic fantasy und das Volksmärchen hierbei voneinander
trennen, so betonen sie jedoch auch, dass die Übergänge fließend seien. „Es
wäre natürlich ein Irrtum, sich diese Typen von Fiktion als stabil und nichtevolutionär vorzustellen. Jeder von ihnen bildet eine Anzahl von Genres, die,
historisch veränderlich, im Verlauf ihrer Entwicklung aufeinander folgende
1
Zgorzelski: Zur Einteilung der Phantastik, S.24ff.
3
Genre-Konventionen hervorbringen und auf diese Weise ein äußerste
kompliziertes diachronisches Geflecht von Zügen, Einflüssen und Gegensätzen
sowohl innerhalb eines jeden abgehobene Typus wie zwischen allen fünfen von
ihnen bieten.“2
Nahe liegend wäre hierbei doch vielmehr, dass die Fantasyliteratur jener
Gesellschaften, in denen ein bestimmter Märchenkanon zum kulturellen
Allgemeingut gehört, eine starke Beeinflussung durch das Märchen erhält, da
sich Welten und Ziele nicht markant voneinander unterscheiden, sofern die
Welt des Fantasyromans in sich stabil ist und er nicht den Übergang von der
einen in eine andere Wirklichkeit zum Thema hat3.
Im Märchenroman Stein und Flöte sind diese Einflüsse stärker sichtbar als in
anderen Beispielen der Fantasyliteratur. Er verwendet Stoffe, Figuren, Motive
und dieselbe Grundstruktur aus Volksmärchen wie denen der Gebrüder Grimm
und wendet sie gezielt an, um schon allein durch den Aufbau eine spezielle
Märchenatmosphäre zu schaffen, die weit stärker reicht als Zitate aus
Einzelmärchen. Intertextualität mag prognostiziert werden, wenn er Lauscher
mit Mollo der Anlehnung an eine Figur aus Tolkiens Herr der Ringe begegnen
lässt, womöglich auch bei den Anklängen an die Hamelner Rattenfängersage
oder das Märchen vom Wasser des Lebens. Betrachtet man jedoch Motivik,
Figurenkonstellationen und Handlungsverläufe geschlossen, erkennt man, dass
Bemmann in Stein und Flöte eine Übernahme von Motiven und Strukturen aus
den Märchen praktiziert, die den Grad reiner Intertextualität übersteigt.
Beginnend mit dem Aufbau und der Strukturanalyse des Romans werde ich
aufzuzeigen versuchen, auf welche Art Bemmann den Subtext des Märchens in
der Symbolik nutzt und inwiefern die Tiefenstruktur der Romansegmente in
2
Ebenda, S.25
In Romanen wie den Chroniken von Narnia von C.S. Lewis, der Unendlichen Geschichte von
Michael Ende, Harry Potter von J.K. Rowling oder Märchenmond von Wolfgang und Heike
Hohlbein ist gerade dieser Übergang zwischen parallel existierenden Welten oder
Gesellschaften, von denen eine meist im Verborgenen liegt und nur für wenige Auserwählte
betretbar ist, einer der Kernpunkte der phantastischen Welt, in der die Romane spielen. Solche
Romane sind daher von Fantasyromanen mit stabiler Welt, die von der realen Wirklichkeit
komplett getrennt ist, zu unterscheiden. Beispiele für Fantasyromane mit stabiler Welt sind
etwa Tolkiens Herr der Ringe, Terry Pratchetts Scheibenweltromane, Romane zur
Rollenspielproduktion Das Schwarze Auge oder Hans Bemmanns Stein und Flöte.
3
4
sich selbst und in Verbindung untereinander den Märchenstrukturen gleicht.
Parallelen und Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede, die der Autor trifft,
sollen die Anwendungsmöglichkeiten von Märchenstrukturen und -symbolen
in der modernen deutschsprachigen Fantasy bzw. die sowieso schon
vorhandenen Beziehungen aufzeigen.
Da die Forschungslage zu Bemmanns Werk dürftig ist 4, habe ich versucht, die
Elemente des Märchens durch Recherchen der umfangreichen Fachliteratur zu
dieser Gattung herauszustellen, um nach eigenem Ermessen die Strukturen und
Symbole aus Bemmanns Werk zu filtern. Dadurch sind einige Teile der Arbeit,
in
denen
es
um
werkimmanente
Zuordnungen
geht,
nicht
durch
Sekundärliteratur zu stützen gewesen, sondern beruhen allein auf dem
Vergleich mit den KHM, die ich als Märchenvergleich herangezogen habe.
2. Grundlegende Merkmale – Märchen, Fantasy, Biografie
In Stein und Flöte vermischen sich die Merkmale mehrerer Genres. Es ist nicht
nur Märchenroman, sondern auch ein Fantasyroman, in dem die Biografie des
Protagonisten dargestellt wird. Während Teile der unterschiedlichen Genres
konform gehen, unterscheiden oder widersprechen sich andere. Will man die
Strukturen eines einzelnen Genres herausfiltern, wie ich es in meiner Arbeit
versuchen werde, ist es daher elementar, eine Vordefinition der einzelnen
Strukturen vorzunehmen. Während ich dies bei Märchen und Fantasy
ausführlicher darstelle, begnüge ich mich beim Punkt der Biografie mit einem
kurzen Abriss der biografischen Elemente innerhalb des Romans.
2.1. Märchenstrukturen und -symbole
„Um zu entscheiden, ob eine Geschichte ein Märchen oder etwas ganz anderes
ist, könnte man fragen, ob es dem Kind gefalle, weil es mit Liebe erzählt wird.
Dies wäre kein schlechter Weg zu einer Klassifikation.“5
4
Verweise auf Stein und Flöte ließen sich nur in Neuhaus: Märchen finden, der darin den
Versuch unternimmt, die Gattungen des Kunst- und des Volksmärchen aufzulösen, letzteres als
Erfindung der jeweiligen Zeit postuliert und das Märchen als umfassende Gattung durch die
Jahrhunderte verfolgt, wobei sein Schwerpunkt auf dem neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhundert liegt.
5
Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S.35
5
Was Bettelheim mit diesem zwar revolutionär klingenden, aber wohl weder
ernsthaft gemeinten noch durchführbaren Vorschlag anklingen lässt, ist die
Ambivalenz der Schwierigkeit, Märchen als ebensolche zu kategorisieren. So
leicht es scheinen mag, einen Text als Märchen zu definieren – schließlich
beginnen alle Märchen nach dem Volksglauben mit ‚Es war einmal’, und ob
dieses Kriterium zutrifft herauszufinden, bedarf keines langen Studiums –, so
schwer hat sich die Märchenforschung damit getan, allgemeine Maßstäbe zu
formulieren, die an jedes Märchen angelegt werden können. Einig wurde man
sich darin, dass es eine Reihe von märchentypischen Kriterien gibt: etwa die
Kürze
des
Textes,
die
Oberflächlichkeit
der
handelnden
Figuren,
Grundschemata von Aufgaben, Notsituationen oder Bedürfnissen, die bewältigt
werden müssen, und bestimmte Formulierungen sowie Symbole und Motiven.
Über die Gemeinsamkeiten hinaus wurden verschiedene Unterschiede
herausgestellt, die eine Typisierung in verschiedene Subgenres des Märchens
nahe legten. Wie diese Typisierung konkret auszusehen hat, war und ist immer
noch eine Problemstellung der Märchenforschung.
Eines der Kriterien zur Typisierung sind die unterschiedlichen Motive, nach
denen Märchentypen aufgestellt werden können. Eine der grundlegenden
Arbeiten hierzu erschien 1910 vom Finnen Antti Aarne, der Märchen
kategorisierte und in Tiermärchen, eigentliche Märchen und Schwank- und
Lügenmärchen einteilte, wobei er bei den eigentlichen Märchen noch einmal in
vier Typen unterschied: in Zauber- und Wundermärchen, in legendenartige
Märchen, in novellenartige Märchen und in Märchen vom dummen Teufel
bzw. dem dummen Riesen. Eine solche Kategorisierung erwies sich zwar als
nützlich
und
praktikabel,
weshalb
sie
auch
heute
noch
in
der
Märchenforschung Anwendung findet; allerdings ergaben sich bei der
Einordnung gewisse Überschneidungen und dadurch Grauzonen. Andere
Theoretiker kritisieren die Definition des Märchens über das Nachweisen
bestimmter Motive. Spanner z.B. weist darauf hin, dass bereits bekannt sei,
dass „die gleichen Erzählbilder, die gleichen Motive über die Gattungsgrenzen
von Märchen, Sage, Epos, Roman und Drama hinweg vorhanden sein
6
können“6. Insofern genügt es nicht, Motive aufzuzeigen, um damit eine
Parallelstruktur zwischen Märchen und Stein und Flöte zu belegen.
Schon Jolles erweiterte 1930 die Definition des Märchens über die Motive um
den Aspekt der Handlung: „Märchen ist Geschehen, Geschehen im Sinn der
naiven Moral; entfern wir dieses Geschehen mit seinem tragischen Anfang,
seinem Fortschreiten in der Richtung der Gerechtigkeit, seinen tragischen
Hemmungen, seinem ethischen Schluss, so bleibt irgendein sinnloses Skelett,
das uns keine moralische Befriedigung gewähren kann und das höchstens als
mnemotechnisches Mittel zu einer Wiederherstellung der Form dient.“7 Es
genügt also auch für die Gattung des Märchens nicht, bestimmte Motive
aufzugreifen; sie müssen in einen kausalen und moralischen Ablauf
eingegliedert werden, um inhaltlich wie formal dem Gattungsbegriff zu
entsprechen.
In den 1920er Jahren entwickelt Vladimir Propp aus demselben Ansatz heraus,
ein allgemeingültigeres Prinzip zu finden, nach denen Märchen zu ordnen
seien, sein System der Morphologie des Märchens, in dem er strukturalistische
Prinzipien für eine neue Kategorisierung nutzte. Nicht mehr das Motiv,
sondern die Handlung gilt für ihn als Kernelement. „Für die Erforschung der
Märchen ist daher die Frage primär, was die Märchengestalten tun; die Frage
nach dem wer und wie sind nur noch sekundärer Art.“8 Darauf gestützt
analysiert er an einem Korpus von 100 russischen Märchen eine Abfolge von
31 Elementen, die stets in derselben Reihenfolge die Morphologie des
Zaubermärchens bilden (wobei nicht jedes Element in jedem Märchen
auftaucht/auftauchen muss und einige Verschiebungen möglich sind). Durch
die Analyse dieser Elemente, d.h. Handlungsfunktionen, können Texte nun
eindeutig zugeordnet werden.
Märchen können also über Motive und Handlungsstrukturen definiert werden
(denn auch Propp widerspricht nicht, dass die Motive ebenso charakteristisch
6
Spanner: Märchen als Gattung, S.165
Jolles: Einfache Formen, S.245
8
Propp: Morphologie des Märchens, S.26
7
7
fürs Märchen sind; nur als Ordnungskriterium genügen sie ihm nicht), z.B. mit
Wesselski
als
„eine
Kunstform
der
Erzählung,
die
neben
Gemeinschaftsmotiven auch in einer die Entwicklung der Handlung
bestimmenden Weise Wundermotive verwendet; durch das Nacherzählen wird
das Märchen Einfache Form, eine Geschichte“9. Darüber hinaus sind gewisse
Thematiken und Kernvorgänge in Märchen bindend. So geht es in Märchen um
„Gerechtigkeit“10; „Wenn sie keine Wirklichkeit geben, so geben sie doch
Wahrheit“11, um den Sieg des scheinbar Schwächeren über den Stärkeren.
Liebe oder profaner die Brautsuche sind Gründe, weshalb ein Held in die Welt
auszieht, ebenso wie pure Abenteuerlust oder Jugend. Mangelsituationen und
Schädigungen müssen aufgehoben werden (Propp), eine Erlösung muss
vollzogen, ein Rätsel oder eine Aufgabe gelöst werden. Am Schluss gibt es ein
glückliches Ende, denn: „Die Volksmärchen sind ja immer auch naive Utopien
von einer besseren Welt im Sinne von wunschgesteuerten Verwandlungen der
Realität.“12
Figuren wie Hexen, Zauberer, Feen, sprechende oder verzauberte Tiere,
Könige, Prinzessinnen und einfache Handwerker, Soldaten oder Jäger
bevölkern die Märchen, und Zaubergegenstände, übersinnliche Fähigkeiten
oder Helfer führen den Helden bzw. die Heldin zum guten Ausgang des
Märchens.
Zuletzt sind bestimmte Zahlen (v.a. die Drei und die Sieben), Farben und
Metalle, Orte und die Zeitlosigkeit, in der die Märchen schweben (denn im
Gegensatz zu den Sagen können sie keinem bestimmten Zeitraum zugeordnet
werden), ebenso prägend für das Genre wie die charakteristische Kürze.
2.2. Merkmale der Fantasyliteratur
Eine Definition der Fantasyliteratur ist ebenfalls häufig versucht worden; eine
umfassende Arbeit stellt die Dissertation von Helmut W. Pesch, „Fantasy.
Theorie und Geschichte“ von 1981 dar. Pesch unternimmt darin auch einen
9
Wesselski: Versuch einer Theorie des Märchens, S.104
Jolles: Einfache Formen, S.245
11
Lüthi: So leben sie noch heute, S.11
12
Wardetzky: Schöpferische Potentiale, S.197
10
8
Vergleich
und
eine
Abgrenzung
zwischen
Märchen,
Mythos
und
Fantasyliteratur.
Fantasy definiert sich dabei nach drei Kriterien: der Handlung, dem Schauplatz
und dem technologischen bzw. ontologischen Entwicklungsstand13. Die Werke
dieses Genres schildern ein handlungsbetontes Abenteuer eines fast schon
mythisch anmutenden Helden, am häufigsten tatsächlich mit dem Schwert in
der Hand, in Welten, bei denen es sich „um prinzipiell nicht mehr messbare
Verschiebungen, d.h. um Welten, die mit der historischen Kontinuität in
irgendeiner Weise gebrochen haben“14 handelt. Diese Distanz zu einer
Legitimation der Welt, die eben nicht mehr in einem Zusammenhang mit der
Jetzt-Zeit und der wirklichen Welt steht, scheidet die Fantasy z.B. von der
Science-Fiction, auch wenn ein Teil der Fantasyliteratur ihre phantastischen
Welten in die Realität zu integrieren versucht (als Parallelwelten oder
Abspaltungen in der Historie). Der dritte Faktor schließlich ist die Magie, die
den fiktiven Zivilisationen und Geografien den letzten phantastischen Zug
verleiht: „Magie zeigt sich in der Fantasy nämlich in verschiedener Gestalt,
nicht nur als Naturkraft, der die Menschen unterworfen sind, sondern auch als
erlernbare Kunst, deren Gesetze ebenso stringent sind wie die der
Wissenschaft, oder als physische Fähigkeit, deren Erklärung noch als innerhalb
der Naturgesetze möglich angesehen werden mag“15.
Dieser Definition nach (die Unterkategorien der Fantasy wie z.B. High Fantasy
oder Heroic Fantasy sind für diese Arbeit unerheblich, da sie alle auf diesen
drei Kriterien fußen) ist eine Unterscheidung zwischen Märchen und Fantasy
problematisch, da man alle Kriterien auch auf die Abenteuer eines mit
wunderbaren Zaubermitteln ausgestatteten Märchenhelden in der Märchenwelt
anwenden könnte. Pesch stellt jedoch den Determinismus der Märchen als
markantesten Unterschied heraus, denn die Fantasy bricht mit dieser Tradition.
Nicht alles muss gut ausgehen, nicht jeder Held erhält auch seine Geliebte zur
Braut, nicht jedes Unglück kann beseitigt werden. „Selbst wenn also die Welt
13
Pesch: Fantasy, S.40ff.
Ebenda, S.42
15
Ebenda, S.45
14
9
der Fantasy Handlungsnormen folgt, die denen von Mythos und Märchen
vergleichbar sind, so hat sie nicht mehr dasselbe unreflektierte, gleichsam
‚unschuldige’ Verhältnis zu ihnen, sondern es hat sich hier ein qualitativer
Wandel vollzogen.“16
Ohne Schwierigkeiten kann diese Definition auch auf Stein und Flöte
übertragen werden. Die fiktionale Umgebung zwischen Fraglund, Barleboog,
Draglop, Arziak und Falkenor steht in keinerlei Abhängigkeitsbeziehung von
der realen Welt, obwohl Bemmann im zweiten Kapitel des dritten Buches eine
Vision einbindet, die einen Übergang zu unserer Realität darstellen könnte
(S.649-653). Allerdings beschränkt sich Bemmann auf vage Andeutungen wie
Fotoapparate („Manche von ihnen trugen ein kleines, blitzendes Gerät bei sich,
das sie zuweilen ans Auge hoben und auf eine der Figuren oder auch das
Schloss richteten, als könnten sie auf diese Weise das alles besser
anschauen.“17) und die Kleidung der beschriebenen Personen („ungewöhnlich
lange Hosen“, „ein schmales, aus buntem Stoff gewebtes Halstuch (…), dessen
Zipfel vorn herabhingen“, „Kleider der Frauen so kurz, dass man ihre Beine
fast herauf bis zum Knie sehen konnte“18), so dass weder mit Bestimmtheit die
Zeit als unsere reale Wirklichkeit festgelegt werden kann, noch diese Vision als
Zukunftsbild der Realität Lauscher gewertet werden kann, obwohl darin eine
alte Frau mit Urlas Augen auftritt, deren Familiengeschichte mit Lauscher
verknüpft zu sein scheint („Was meinst du, warum diese Geschichte in unserer
Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde? Wir stammen
doch von den beiden ab!“19). Von dieser Episode abgesehen, tauchen keine
Hinweise auf eine präindustrielle, reale Epoche auf, und auch der
technologische und ontologische Horizont verweist auf eine andere
Wirklichkeit: Christliche oder andere real-religiöse Anspielungen gibt es nicht,
wenn auch romaninterne religiöse Vorstellungen angesprochen werden20,
16
Ebenda, S.53
Stein und Flöte, S.649
18
Ebenda, S.649f.
19
Ebenda, S.652
20
Das Verhältnis der Fischer am See des Grünen zu eben jenem Wasserwesen, von dessen
Wirken sie den Ertrag ihrer Fischernetze abhängig machen, erinnert ebenso an Naturgottheiten
wie der Glaube der Karpfenköpfe an den Großen Karpfen, der tatsächlich als Schutzgott für
seine ‚Kinder’ in Erscheinung tritt – vgl. Stein und Flöte, S.416 – und über die Schuppen
wunderbare Fähigkeiten verleiht: Lauscher schwitzt nicht (S.393), und Ruzzo kann länger
17
10
während magische Prinzipien wirken (vgl. 5.6.). Die Handlungen des Helden
liegen schließlich häufig im Bereich von Questen (Befreiung von Barleboog,
drei Fahrten für Arnis Leute, Suche nach der Identität, Rettung des Kindes
usw.) oder dem Kräftemessen mit Gegenspielern (Gisa, Narzia, der Graue); es
sind also die handlungsbetonten Abenteuer, die Pesch als Kriterium des
Fantasyliteratur sieht.
2.3. Stein und Flöte – eine Biografie
Die
Merkmale
der
Biografie
innerhalb
des
Romans
sind
einfach
herauszustellen. Der Roman beginnt mit der Geburt des Protagonisten
Lauscher und endet mit dessen Tod. Dies steht im Kontrast zur begrenzten
biografischen Begleitung eines Märchenhelden, denn das Volksmärchen
begnügt sich mit einer relativ kurzen Zeitspanne. „Seine Hauptpersonen sind in
der Regel jung. Märchenheldin und Märchenheld werden nur zwischen
Kindheit und Pubertät oder Heirat biografisch verfolgt. Ihr Alter bleibt
ausgeklammert, bzw. Alte sind höchsten Helfer (die gute Alte, das alte
Männlein, der weise Alte) oder Gegenspieler (die alte Hexe, der alte
Zauberer).“21
Darüber hinaus verfolgt Stein und Flöte Lauschers Leben mit Fokus auf den
Protagonisten, so dass abseits der Binnenerzählungen eine eher personale denn
auktoriale Erzählperspektive vorliegt.
3. Strukturen eines klassischen Märchens
Stein und Flöte ist auf mehreren Ebenen von Strukturen und Symbolen des
Märchens durchzogen. Innerhalb der einzelnen Handlungsstränge des Romans
sind deutliche Ähnlichkeiten zur Märchenmorphologie nach Propp zu finden,
auch wenn die Überlappung einzelner Märchenhandlungen innerhalb des
Romangeschehens und der Einfluss der Genreeigenschaften des Fantasyromans
sowie der Biografie die Unterscheidung erschweren. „Außer durch die
komplexere Handlungsstruktur unterscheidet der Roman sich vom Märchen
unter Wasser bleiben (S.747f.). Arnilukka erwähnt einen „Todesvogel“ (S.675), an den die
Karpfenköpfe glauben. Arni wird von den abgespaltenen Beutereiter in Form eines Weisen
verehrt, und zuletzt gibt es noch die beiden mystischen Figuren des Grauen und des alten
Steinsuchers, die dämonische und göttliche Prinzipien in sich vereinen (vgl. 5.2.2.).
21
Röhrich: „und weil“, S.78
11
u.a. durch Literarisierungsmerkmale wie die stärkere erzählerische Expansion
und die Verselbständigung der Diskursebene.“22 Märchenstoffe und -motive
werden in das Romangeschehen transponiert oder durch Binnenerzählungen
eingeschoben, die wiederum auf die Handlung referieren oder Hintergründe für
dieselbe schildern. Auch das Wechselspiel von Binnen- und Rahmenerzählung
trägt dabei märchenhafte Züge, wenn man diesen Aufbau mit den ersten
bekannten Märchensammlungen vergleicht. Überhaupt nutzt Bemmann bereits
im äußeren Aufbau eine auffällige Dreigliedrigkeit, die schon bei Betrachtung
des Inhaltsverzeichnisses ins Auge fällt. Er teilt seinen Roman zunächst einmal
in drei Bücher, hebt im ersten Buch drei mal drei Geschichten und im zweiten
Buch drei mal drei Träume hervor und unterteilt das letzte Buch in drei
Kapitel, von denen das dritte wiederum in drei Teile zerfällt. Ist diese starke
Tendenz zur Zahl Drei nur Zufall, oder präsentiert sich hier kompositorische
Intention?
Im Folgenden werde ich zunächst auf drei strukturelle Ähnlichkeiten zwischen
klassischen (Volks-)Märchen und Stein und Flöte eingehen: auf die
Dreigliedrigkeit im Aufbau des Romans, auf die Parallelen zwischen den
Handlungssequenzen im Roman und der Proppschen Morphologie und auf die
Einbindung der Binnengeschichten.
3.1 Dreigliedrigkeit des äußeren Aufbaus
Die erste, die ins Auge springt, ist der Aufbau des Romans, der sich der
Dreizahl bedient; jener Zahl, die in nur wenigen Zaubermärchen der
Grimmschen Kinder- und Hausmärchen fehlt und generell neben der Sieben
wohl die bekannteste Märchenzahl ist. „Ein solcher Rhythmus der
Dreigliedrigkeit beherrscht aber auch sonst in erheblichem Maße den Aufbau
des Märchens. Nicht bloß erscheint die Drei als die stehende Zahl überhaupt,
indem Personen, Dinge, Maße regelmäßig in der Dreizahl erscheinen, (…).
Diese Dreizahl gibt sehr oft dem Stoffe zugleich die entscheidende
Gliederung.“23
22
23
Nolting-Hauff: Märchenromane mit leidendem Helden, S.417
Panzer: Märchen, S.95
12
Ebenso verfährt Bemmann. Zunächst teilt er seinen Roman in drei Bücher. In
das erste Buch sind drei mal drei Geschichten, in das zweite drei mal drei
Träume eingebunden. Das dritte Buch besteht aus drei Teilen, von denen das
dritte wiederum in drei Kapitel unterteilt worden ist, und im dritten Kapitel
findet sich einer weitere Gliederung in drei Teile.
Auch inhaltlich spiegelt sich diese Dreiteilung wieder. Das erste Buch
beschreibt die Übergabe eines ersten Zaubermittels an Lauscher, dem
Augenstein, und Lauschers Aufbruch in die Welt; der Beginn einer
klassischen Suchwanderung. Es umfasst drei Jahre der Wander- und
Dienerschaft mit Barlo, Lauschers Beziehung zu einer ersten Frauengestalt,
Gisa, und den Sieg über deren Zauber.
Das zweite Buch, das nur ein knappes Jahr umfasst, beginnt wiederum mit
der Übergabe eines Zaubermittels; dieses Mal erhält Lauscher die Silberne
Flöte, das augenscheinlich machtvollste Zaubermittel innerhalb des
Romans. Das Buch beschreibt Lauschers Bekanntschaft mit Arnis Leuten
und seine Beziehung zur zweiten Frauengestalt des Buches, Narzias.
Weiterhin geht es um die drei Fahrten, die Lauscher unternimmt, um
Narzias Hand zu gewinnen – auch dies ein klassisches Märchenmotiv.
Im
dritten
Buch
werden
die
Ereignisse
zwischen
Lauschers
einundzwanzigstem Lebensjahr und seinem Tod erzählt. Da sie nicht unter
ein großes Thema zusammenzufassen sind – wie die Suchwanderungen im
ersten und zweiten Buch – müssen inhaltliche Zäsuren, verknüpft mit
äußerlichen Einschnitten und Unterteilungen vorgenommen werden.
Verbindend ist jedoch die Beziehung zur dritten wichtigen Frauengestalt,
Arnilukka, die in den Büchern zuvor bereits als Kind oder Traumgestalt
eingeführt wurde, nun aber zentrale Bedeutung für Lauschers Liebesleben
erhält und stets Ziel- oder Ausgangspunkt ist.
Der erste Teil erzählt von Steinauges Suchwanderung nach seiner Identität;
zur Unterstützung erhält er ein drittes Zaubermittel, den Zirbel. Nachdem er
am Ende dieses Teils seine Erinnerungen gefunden hat und mit seinem
13
Scheitern und seinen Vergehen konfrontiert die Flucht in die Versteinerung
sucht, ist der zweite Teil eine erneute Suche nach seiner Identität, die
allerdings hauptsächlich in Form von chronologisch rückblickenden oder
vorgreifenden Binnenerzählungen vorgenommen wird. Den Übergang zum
dritten Teil markiert die Erlösung aus der Versteinerung durch Arnilukka.
Das erste Kapitel des dritten Teils schließt chronologisch direkt an den
zweiten Teil an und behandelt inhaltlich die vermeintliche Auflösung der
Liebesgeschichte zwischen Lauscher und Arnilukka, deren Trennung auch
das Ende des ersten Kapitels ist. Darüber hinaus spielen Lauschers
Reflexion seiner Schuld sowie sein erster Schüler Döli eine gewisse Rolle.
Am Ende dieses Kapitels trennt sich Lauscher vom Augenstein, den er
seiner Tochter vererbt.
Nach einem Zeitsprung setzt das zweite Kapitel ein, das wiederum eine
klassische Suchwanderung beschreibt; dieses Mal muss Lauscher zunächst
mit Hilfe seines zweiten Schülers Schneefink aus der Gefangenschaft der
Blutaxtleute fliehen, um anschließend den Fluch zu brechen, der auf seiner
Tochter liegt. Gleichzeitig mit dem Fluch wird auch die Geschichte Narzias
beendet. Am Ende dieses Kapitels übergibt Lauscher die Silberne Flöte an
Schneefink und trennt sich damit vom zweiten Zaubermittel.
Das dritte Kapitel schließlich handelt von Lauschers Alter; das erste
Unterkapitel konfrontiert ihn mit einer schwierigen Lage in Arziak, die im
Tod seiner Tochter gipfelt, das zweite bringt die Lösung der Konflikts rund
um ein Flötenduell zwischen Lauscher und Döli, das durch Schneefink
entschieden wird, während das dritte Lauschers letzten Abschied von
Arnilukka, seinen letzten Konflikt mit dem Grauen und seinen Tod
beschreibt. Im Tod trennt sich Lauscher auch noch vom dritten
Zaubermittel, dem Zirbel.
Nun stellt sich die Frage, ob dieses Aufgreifen der Drei ein kompositorisches
Mittel oder aber doch womöglich Zufall ist. Entscheidend ist hierfür, ob sich
Belege dafür finden lassen, dass die Anzahl der als ordnendes Element
14
ausgewählten
Binnenerzählung
nicht
der
tatsächlichen
Anzahl
an
Binnenerzählungen im Gesamttext entspricht.
Betrachten wir zu diesem Zweck zunächst einmal die neun Geschichten aus
dem ersten Buch. Sie unterscheiden sich von der Rahmenhandlung deutlich in
den Merkmalen des Erzählers und der Linearität der Geschichte. Insgesamt
können
vier
Merkmale
ausgemacht
werden,
anhand
derer
die
Binnenerzählungen auch ohne explizite Markierung auffallen:
1.) Erzähler: Liegt der Fokus des auktorialen Erzählers in der
Rahmenhandlung bei Lauscher, so besitzt jede der neun Geschichten
ihren eigenen Erzähler, der auch deutlich genannt wird. Vier dieser
Binnenerzählungen (Die Geschichte von Arni mit dem Stein; Die
Geschichte von Arni und den Leuten am See; Die Geschichte vom alten
Barlo und seinem Sohn Fredebar; Die Geschichte vom jungen Barlo)
haben einen Ich-Erzähler.
2.) Lauschers Position: Lauscher kommt in diesen Erzählungen gar nicht
vor, ist jedoch stets ihr Adressat.
3.) Zeitliche Linearität: Mit Ausnahme des zeitlosen Märchens lassen sich
alle Geschichten romanintern vor die Geschehnisse der Haupthandlung
einordnen.
4.) Einbettung: Bei jeder Geschichte wird zunächst in die Erzählsituation
eingeführt; wir erfahren, wer wann wem unter welchen Umständen
erzählt. Ist die Geschichte beendet, gibt es noch einmal eine Reflektion
über das Gehörte; entweder im Gespräch oder zumindest in den
Gedanken Lauschers (auch dies übrigens erneut ein ‚Dreisatz’:
Einführung, Geschichte, Reflexion).24
Sind das aber die einzigen Geschichten, auf die diese Merkmale zutreffen, oder
hat der Autor willkürlich eine ihm genehme Anzahl an Geschichten markiert?
Erzählsituationen innerhalb des Romans sind nicht ungewöhnlich; vielmehr
wechseln sich Handlungen und Berichte von Handlungen, die die Figuren
einander erzählen, regelmäßig ab (vgl. 3.3.). Viele Geschichten, die wir hören,
24
Eine genauere Analyse der Einbettung der Binnenerzählungen findet sich unter 3.3.2.
15
sind zeitliche Rückgriffe, die die Motivation einzelner Figuren erst begründet
oder ihren persönlichen Hintergrund erzählt. Inhaltlich gibt es dabei drei
Schwerpunkte, wodurch die neun Binnengeschichten in drei Typen klassifiziert
werden können:

Zunächst einmal sind einige der Geschichten zum Verständnis der
aktuellen Handlung oder der Bestätigung impliziter Gerüchte
notwendig (Typus 1). Die märchenhaft anmutende Geschichte von Gisa
und den Wölfen etwa durchleuchtet die Antagonistin Gisa und verrät
das Geheimnis der gelbäugigen Knechte der falschen Herrin von
Barleboog.
In der Geschichte erfahren wir von dem Verrat, den ein unbekannter
Jüngling an Gisa begangen hat, dem Mord an ihrem Vater und dem
daraus resultierenden Verlust ihres Vertrauens in die Liebe und in
Männer ganz besonders. Der Zauberpakt mit den Wölfen und die
Bedingungen des Paktes werden beleuchtet; woher der Erzähler, ein
Bauer nahe Draglop, eigentlich von diesen Dingen Kenntnis gewinnen
konnte, bleibt offen, denn nur so erhält der Leser die nötigen
Hintergrundinformationen, um Gisas Verwandlung in eine Wölfin im
späteren Verlauf der Handlung nachvollziehen zu können. Dass Gisa
eine zauberkundige Hexe ist und die Knechte sich nachts in Wölfe
verwandeln, weiß der Leser bereits; warum sie dies tun, erklärt die
Geschichte.
Ebenso erläutern die Geschichten vom alten Barlo und seinem Sohn
Fredebar sowie die Geschichte vom jungen Barlo die Figur des wahren
Herrschers von Barleboog. Der Leser mag die vielen Andeutungen über
Barlos Herkunft besser verstanden haben als Lauscher, der wohl mit
Absicht erst langsam versteht, als wessen Diener er übers Land reitet;
die Bestätigung erhalten Leser und Lauscher jedoch erst in der
Geschichte vom alten Barlo, die mit der wenig überraschenden
Enttarnung Barlos als Enkel des alten Barlos und rechtmäßigem Erben
endet.
16

Ähnliche Intention vertreten die Geschichten, die über Arni und den
Stein erzählt werden, nur haben diese nur sekundär mit der Handlung
des ersten Buchs zu tun. Vielmehr dienen sie dazu, Lauscher und damit
auch dem Leser beim Verständnis des Steins zu helfen (Typus 2). Es
handelt sich dabei um die Geschichte von Arni und dem Stein, die
Geschichte von Urla und die Geschichte von Arni und den Leuten vom
See.
Bemmann strebt eine logische Motivierung seiner Romanfiguren an, die
im Gegensatz zu den schematisch handelnden Archetypen des
Märchens steht. Aus diesem Grund hinterleuchtet er die Vergangenheit
der drei Ratgeberfiguren: Urla, Arni und den Sanften Flöter. Diese drei
Binnenerzählungen scheinen daher auch in erster Linie biografische
Episoden zu sein, die darüber hinaus versuchen Lauscher Wege
aufzuzeigen, wie mit dem Stein umgegangen werden kann, da er
innerhalb der Binnengeschichten als Rat gebendes Kleinod ebenso
präsentiert wird wie als anvisiertes Statussymbol, dessen unrechtmäßige
Inbesitznahme dem Dieb nur Unglück bringt (Beutereiter sterben auf
dem Pass; der Herausforderer kann Urlas Blick nicht standhalten).

Zuletzt
gibt
es
noch
drei
Erzählungen,
die
einen
starken
Märchencharakter haben und der Stärkung von Barlos Vorhaben
nützlich sind; sie fundieren die (Über-)Macht des Lachens und des
Frohsinns gegenüber dem Bösen und Freudlosen (Typus 3).
Die Grundthese könnte formuliert werden: Wer lachen kann, siegt über
das Unglück. Schön Agla erhält nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern
auch die der Fischertöchter, die vor ihr zum Grünen gegangen sind, und
darüber hinaus den Wohlstand des Dorfes; der König erhält sein
Schloss und das Glück all seiner Untertanen zurück; Rübe schließlich
besiegt den Zaubermüller. Obwohl alle drei Geschichten Märchen zu
sein scheinen25, ist nur das Märchen vom fröhlichen König als solches
klassifiziert,
25
während
bei
den
anderen
beiden
Geschichten
Über die Märchenhaftigkeit der Binnengeschichten: siehe 3.2.3.8. bis 3.2.3.12.
17
Sagencharakter26 erreicht wird, indem Agla eine Ahnin einiger
Dorfbewohner (z.B. Lagoschs) sein soll und auch Rübe als historische
Person dargestellt wird27.
Die Merkmale dieser neun Binnengeschichten können aber noch mindestens
zwei weitere Geschichten für sich einnehmen: die Geschichte des Eselwirts
und die Liebesgeschichte des Bauern.
Die Geschichte des Eselwirts (S.62-64) wird Lauscher vom Eselwirt erzählt;
sie hat einen Ich-Erzähler, wird nicht von Lauscher unterbrochen, wohl aber
am Ende reflektiert, spielt zeitlich vor den eigentlichen Geschehnissen im
ersten Buch und stützt die Charakterisierung einer Figur (des Eselwirts)
ebenso, wie es eine Antwort auf eine handlungsinterne Frage gibt, nämlich wie
es ausgerechnet zu einem Wirtshaus für Esel kommt (inhaltlich entspricht sie
damit dem Typus 1). Allerdings ist der Eselwirt keine so bedeutende Figur wie
die Antagonisten Barlo und Gisa, weshalb dieser Erzählung wohl ein
geringeres Gewicht innerhalb der Struktur eingeräumt wurde.
Die Liebesgeschichte des Bauern (S.91-93) wird Lauscher vom Bauern selbst
erzählt; auch sie hat einen Ich-Erzähler, liegt romanintern chronologisch vor
der eigentlichen Handlung, wird nicht unterbrochen und am Ende reflektiert.
Inhaltlich ist sie Typus 3 zuzuordnen, denn auch in ihr siegen Lachen und
Zuneigung über Stolz und Eitelkeit. Allerdings ist diese Fröhlichkeit
beeinflusst von der Musik des Sanften Flöters; es ist ein Motiv des zweiten
Buches, das hier bereits eingeführt wird, nämlich die Macht der Silbernen
Flöte. In den bereits erwähnten Geschichten gibt es keine mystische Quelle
oder zauberische Unterstützung für das Lachen; die Fröhlichkeit wird allein
26
Nach Lüthi: Volksmärchen und Volkssage, S.22-48, unterscheidet sich die Sage nicht nur
darin vom Märchen, dass sie im Gegensatz zum flächigen Märchen mehrdimensional erzählt,
sondern auch in der „wirklichkeitsnahen, individualisierenden Darstellung“ (S.46). Auch ältere
Definitionen wie z.B. die Definition Naumanns, trennen neben der poetischeren Darstellung
der Motive im Märchen die Gattung der Sage durch stärkere temporale und lokale Bindung;
eine unterschiedliche Zweckgebundenheit („Das Märchen ist bewusste Kunst und will
lediglich unterhalten; aber die Sagen sind Berichte und Erklärungen von Erfahrungen, die unter
den Gesetzen der primitiv-mystischen Denkweise gemacht sind und erzählt werden.“;
Naumann: Sage und Märchen, S.67) kann in Bezug auf die Binnenerzählungen in Stein und
Flöte jedoch nicht gemacht werden.
27
Vgl. Stein und Flöte, S.113
18
durch den Willen zum Lachen erzeugt. Diese Lehre wird innerhalb des ersten
Buches dann auch umgesetzt. Wie der Bursche aus dem Märchen vom
fröhlichen König wird in der Bevölkerung Barleboogs durch lustige
Geschichten die Freude an der Freude geweckt; das Zauberkundige und
Magische auf Barlos Reise wird dem Grünen und dem Tritonshorn überlassen.
Kürzer als die Erzählung des Eselwirts und von Lauscher auch unterbrochen
wird die Geschichte von Furro dem Schmied wiedergegeben (S.78f.), die die
Geschichte des Eselwirts noch ergänzt. Auch sie ist in dem ersten Typus
einzuordnen,
hat
aber
nicht
die
Prägnanz
der
beiden
anderen
Binnenerzählungen, weshalb sie nicht zwangsläufig mit den anderen elf
Binnenerzählungen gleichzusetzen ist.
Im zweiten Buch wiederholt sich diese bewusste Markierung; dieses Mal nicht
mit Geschichten, sondern mit Träumen. Ob hier eine bewusste Markierung
vorliegt, ist jedoch nicht zu belegen, da anders als bei den Geschichten
binnentextartige Traumschilderungen außerhalb des zweiten Buches des
Romans eine Ausnahme sind. Lediglich in den Begegnungen mit dem Grauen
sowie in den Binnenerzählungen während Lauschers Versteinerung können
Parallelen entdeckt werden. Die meisten Träume innerhalb des Romans werden
als Zusammenfassung wiedergegeben, versehen mit Andeutungen des
Erinnerungsstandes.
Die Träume, die im zweiten Buch explizit als ordnende Elemente
herausgestellt werden, lassen sich schwer kategorisieren oder typisieren. Mal
handelt es sich um phantastische Alpträume wie den drei schwarzen Träumen
oder dem Traum von der Kröte, dann wiederum um Geschichten, die spätere
Geschehnisse des Romans vorwegnehmen wie im Traum von Lauschers
Besuch bei Arnis Leuten. Ähnlich thematisiert auch der süße Traum zukünftige
Ereignisse, die allerdings variiert und ihrerseits mit Märchenmotiven verklärt
werden (vgl. 3.2.3.11). Der Traum vom Falken ist ebenfalls visionär zu
interpretieren, da darin die Beziehung zwischen Narzia und Lauscher vorweg
genommen wird, Narzias Machthunger und ihre Gier nach dem Stein, doch ist
dieser Traum eher als Warnung zu lesen. Der Traum von der Frau an der
19
Quelle referiert auf Arnilukka und erhält im dritten Buch eine Bedeutung, als
bekannt wird, dass auch Arnilukka dabei in einer Vision Kontakt zu Lauscher
aufgenommen hat. Auch der Traum vom (fast) vollkommenen Flöten ist eine
Mischung aus Zukunftstraum, Referenz zu Arnilukka, die Teil des Traumes
wird, und märchenhafter Erzählung.
Vergleicht man nun die ausformulierten Träumen mit den eher fragmentartigen
Hinweisen auf weitere Träume (S.340: Lauscher träumt von einem Falken, den
er fangen möchte; ein Kind (Arnilukka) warnt ihn vor dem Falken, der ihm
Hände oder Herz zerkratzen wird; S.352: Lauscher träumt von Gisas Tod, den
er zuvor verursacht hat; S.356: das Falkenmädchen ruft ihn nach Hause), so
fällt die relative Kürze der Fragmente auf. Ein inhaltlicher oder formaler
Konsens abgesehen von der Situation des Träumers kann nicht gefunden
werden.
Die Unterteilung des dritten Buches schließlich ist nicht mehr nach
Binnenerzählungen oder Träumen gestaltet, sondern folgt inhaltlichen
Schwerpunkten wie Lauschers Dasein als Faun Steinauge, als steinerner Faun
und als erlöster Mensch, der unter dem Fluch der Platzangst leidet (Aufteilung
in den ersten, zweiten und dritten Teil), bzw. verschiedenen Altersstadien: der
relativen Jugend nach der Erlösung, wenn er etwa dreiunddreißig ist, die Zeit
nach seiner Gefangenschaft bei den Blutaxtleuten, wenn er mindestens Mitte
Vierzig ist, und das Stadium des Greises kurz vor Lauschers Tod (Aufteilung
in das erste, zweite und dritte Kapitel). Auffällig ist lediglich, dass die
Splittung des dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches in noch einmal
drei Teile (I, II und III) insofern willkürlich wirkt, als es keinen zeitlichen oder
örtlichen Wechsel zwischen I und II gibt, auch wenn Urlas Tod eine deutliche,
inhaltliche Zäsur vorgibt. Dabei handelt es sich jedoch nur um den
Wendepunkt zwischen Konflikt und Lösung; I und II sind durch Urlas Tod und
die darauf folgende Gerichtsverhandlung über Azzos Schicksal ebenso
inhaltlich verbunden wie getrennt.
Aus all diesen einzelnen Aspekten – der bewiesenen bewussten Hervorhebung
von neun aus elf bzw. zwölf Binnenerzählungen im ersten Buch, einer analog
20
vermuteten bewussten Ausformulierung von gerade neun statt zwölf Träumen
und einer zumindest diffusen Dreiteilung im dritten Kapitel des dritten Teils
des dritten Buchs – möchte ich die These, dass es sich bei der Dreiteilung im
Aufbau um ein kompositorisches Mittel handelt, bei dem Bemmann bewusst
mit der Dreizahl28 spielt, als belegt betrachten.
3.2. Anwendung der Proppschen Morphologie bei Stein und Flöte
3.2.1. Einschränkungen
Propps Morphologie des Märchens zufolge besteht jedes Zaubermärchen aus
bestimmten Funktionen, die stets in derselben Reihenfolge vorliegen29, wobei
einige Funktionen auch fehlen können; „die meisten Märchen haben weniger
als 31 Funktionen; das Fehlen einzelner Funktionen und Funktionsgruppen bei
unveränderter
Reihenfolge
der
übrigen
ist
geradezu
als
Normalfall
anzusehen.“30 Innerhalb von Kunstmärchen ist das nur für „Folklore“
spezifische Gesetz der stets gleichen Reihenfolge ebenfalls außer Kraft
gesetzt.31
Umso mehr überrascht es, dass auch unter dem Vorbehalt der Reihenfolge
Propps Morphologie relativ problemlos auf das Verlaufsschema von Stein und
Flöte bzw. die Struktur bestimmter Handlungseinheiten oder Binnenerzählungen anwenden lässt. Einige Einschränkungen sind dafür jedoch
unumgänglich.
Die erste Einschränkung trifft Propp bereits selbst, der die Reinform seiner
Morphologie nur in den Märchen der ländlichen, russischen Texte vorzufinden
glaubt.
„Alle Einflüsse von außen verändern das Märchen, bisweilen führen sie sogar zu
einem Zerfall. Sobald wir an die Grenze der absolut echten Märchen gelangen,
beginnen schon die Schwierigkeiten. Afanaśevs Sammlung stellt in dieser
Beziehung eine vorzügliche Quelle dar. Doch bereits die Märchen der Brüder
28
Die Dreizahl findet sich über den Aufbau hinaus auch auf geradezu exzessive Weise in den
einzelnen Motiven des Romans, weshalb sie als bewusst verwandter Märchenbaustein eine
herausragende Stellung erhält; vgl. 4.1.
29
Propp: Morphologie, S.25ff.
30
Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman; S.142
31
Propp: Morphologie; S.28
21
Grimm, die im Wesentlichen dieselbe Struktur aufweisen, zeigen bisweilen nicht
mehr diese klare und feste Form. Alle Einzelheiten lassen sich nicht
voraussehen. Es ist auch zu beachten, dass – ähnlich wie bestimmte Elemente
innerhalb eines Märchens – sich auch ganze Genres gegenseitig beeinflussen und
kreuzen können. Dabei entstehen manchmal recht komplizierte Konglomerate, in
die Elemente unseres Schemas als Episoden eingehen.“32
Bei Stein und Flöte handelt es sich um ein solches Konglomerat, denn es ist
Fantasyroman und Biographie, wenn auch mit deutlichen Parallelen zu
Märchenstoffen und -strukturen, weshalb es auch als Märchenroman
bezeichnet wird. Somit folgt der Roman nicht allein der Morphologie des
Märchens, sondern ergänzt die einzelnen Funktionen z.B. durch deutlich mehr
Beschreibungen oder Reflexionen über Gefühls- und Gedankenwelt des
Protagonisten, als es bei Märchen der Fall ist. Zudem können Romanen ihre
Handlungsschemata nicht allein durch Segmentierung des Textes abgewonnen
werden; stattdessen müssen Handlungseinheiten zusammengefasst werden, um
für die narrative Großform eines Romans überhaupt einen Vergleich zu den
Segmenten und Funktionen des Märchens ziehen zu können.33 Die Funktionen
können aufgrund des Genres einer Mischform daher nicht so eindeutig
zuzuordnen sein wie in einem russischen Zaubermärchen, da die Motivlage
unklar, einzelne Handlungen oder Abschnitte durch eine Reduktion auf
Handlungseinheiten an Bedeutung verlieren können.
Die zweite Einschränkung geht mit dieser ersten einher. Propps Funktionen
nehmen bedingt durch die relative Kürze eines Märchens häufig nur einige
wenige Sätze ein, einigen reichen wenige Worte. Propp profitiert dabei von
einer Sonderstellung des Märchens, bei der „die Motifem-Symtax der
Textoberflächenabfolge der erzählten Handlungen folgt“34, wodurch die
Tiefenstruktur leicht zu identifizieren ist. Während die einzelnen Elemente in
Märchen komprimiert auftreten, weiten sie sich in einem Roman wie Stein und
Flöte auf größere Abschnitte, in denen die Tiefenstrukturen „verschleiert“35
werden, wodurch einige Funktionen nun antiproportional viel Raum
einnehmen, während andere auf ihrer ursprünglichen Länge bleiben. Prinzipiell
ist dies zwar unproblematisch, da Propp nie über eine Höchstgrenze seiner
32
Ebenda, S.99
Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.138ff
34
Dorner-Bachmann: Erzählstruktur und Texttheorie, S.119
35
Ebenda, S.395
33
22
Funktionen gegeben oder generell über die Ausführlichkeit der Beschreibung
geschrieben hat, doch im Zusammenhang mit der ersten Einschränkung kommt
es nun vor, dass zwischen den einzelnen Funktionen Elemente eingefügt sind,
die keiner Funktion zugeordnet werden können. Diese in Propps Sinne
funktionslosen Elemente kommen im Idealtypus des Zaubermärchens nicht
vor, sondern sind der Ausführlichkeit des Romans geschuldet.
Die dritte Einschränkung schließlich hängt wiederum mit der zweiten
zusammen. Stein und Flöte ist ein weitaus komplexeres Gebilde, dem der
Autor einen kompositorischen Aufbau zugeschrieben hat. Innerhalb dieses
Aufbaus kommt es zu Binnenerzählungen, zum Ende einer Märchenhandlung
und zum Anfang einer neuen. In bestimmten Sequenzen des Romans finden
sich Propps morphologischen Funktionen, in anderen wiederum sind nur noch
einzelne Märchenmotive enthalten. Als einzelnes Märchen kann Stein und
Flöte nicht behandelt werden.
3.2.2. Märchenhandlungen
Will man die Märchenhandlungen innerhalb des Romans untersuchen, muss
zunächst festgelegt werden, wie man diese Märchenhandlung definiert. „Die
Handlungslinie des Märchens hat scharfe Gelenke: Aufgaben, Verbote und
Bedingungen, genaues Klappen der Dinge, wenn möglich gerade noch im
letzten Augenblick; als Schlusspunkt der prägnante Lohn oder die prägnante
Strafe.“
36
Im Gegensatz zum Volks- bzw. Zaubermärchen sind in Stein und
Flöte Handlungslinien nicht prinzipiell von Erfolg gekrönt; die von Jolles
postulierte Gerechtigkeit kann ebenso wie das als sicher geltende gute Ende
ausbleiben. Elementar bzw. „obligatorisch“37 hingegen ist der Mangel bzw. die
Schädigung, die dem Helden begegnen, damit die Gegenhandlung des Helden
initiiert und der Versuch der Behebung ausgelöst werden kann. Vorhandene
Schädigungen bzw. Mangelsituation in der Haupt- und Rahmenhandlung des
Romans sind etwa Lauschers Unwissenheit über den Stein, Gisas
unrechtmäßige Inbesitznahme Barleboogs, Gisas Unfähigkeit zur Liebe, Barlos
Sprachlosigkeit, Lauschers Wunsch nach einem Ziel, das ihn zu einem freien
36
37
Lüthi: So leben sie noch heute, S.33
Propp: Morphologie, S.40
23
Erwachsenen macht, sein Wunsch, Narzia zu heiraten, der Verlust seiner
menschlichen Gestalt und seiner Erinnerungen, die Versteinerung, die
Unwissenheit über Arnilukkas Identität sowie die Flüche, mit denen Lauscher
und Urla belegt sind. Aus all diesen Schädigungen und Mangelsituationen
heraus entwickelt sich eine Handlung, die die Liquidierung der Mängel zum
Ziel hat. Um als (Zauber-)Märchen bestehen zu können, ist eine wunderbare
Unterstützung in Form von Gegenständen, Helfern oder Eigenschaften
unabdingbar.
Zusammengefasst muss eine Märchenhandlung, um als solche erkannt und
analysiert zu werden, drei Kriterien erfüllen:

Eine Schädigung bzw. ein Mangel liegt vor und initiiert die Handlung.

Die Handlung hat die Aufhebung des Schadens bzw. des Mangels zum
Ziel.

Der Versuch wird durch ein Zaubermittel bzw. andere wunderbare
Unterstützung ermöglicht.
Diese Definition unterscheidet sich von der nach Nolting-Hauff „Minimalform
des Märchens“38, die zu dem Schluss kommt, dass ein solches nach Propp aus
einer Schädigung bzw. einem Mangel entsteht und über mindestens zwei
„Zwischenfunktionen“
entweder
in
der
Hochzeit
(Element
H),
der
Liquidierung (Element L), der Rückkehr (Element ↓) oder der Bestrafung
(Element St) endet (vgl. Propps Äußerung:
In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, was unter einem Märchen zu
verstehen ist. Morphologisch gesehen kann als Zaubermärchen jede Erzählung
bezeichnet werden, die sich aus einer Schädigung (A) oder einem Fehlelement
(α) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit (H*) oder anderen
konfliktlösenden Funktionen entwickelt. Den Abschluss bilden manchmal auch
Funktonen wie: Belohnung (Z)m Erbeutung des gesuchten Objekts oder
Liquidierung des Unglücks allgemein (L), Rettung vor den Verfolgern (R)
usw.39).
Ausschlaggebend
für
eine
Änderung
der
Definition
ist
Bemmanns
Verweigerung der Auflösung zum glücklichen Ende bei den meisten dieser
Märchenhandlungen. Sie entsprechen aber – wie in der genauen Analyse
gezeigt werden wird – in der Struktur zu genau den Prinzipien der
38
39
Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.144ff.
Propp: Morphologie, S.91
24
Zaubermärchen,
als
dass
die
mangelhafte
Schlusssequenz
ihrer
Märchenhaftigkeit einen Abbruch tun könnte.
Insgesamt kommt man zu sieben Märchenhandlungen in der Rahmenhandlung,
der Biografie des Protagonisten Lauschers: dem Augensteinmärchen, dem
Barlo-Märchen, dem Gisa-Märchen, dem Flötermärchen, dem Narzia-Märchen,
dem Arnilukka-Märchen und dem Urla-Märchen. Zusätzlich finden sich fünf
Märchenhandlungen in Binnentexten: das Märchen vom fröhlichen König, das
Rübe-Märchen, das Agla-Märchen, das Traummärchen und das Märchen von
Oleg und Boleg.
Die umfassendste hierbei ist das Augensteinmärchen. Die Mangelsituation
beginnt im ersten Buch, als Lauscher den Stein verbunden mit einem
rätselhaften Spruch von Arni erhält, ohne dass er auch das Geheimnis des
Steins kennt. Auf seiner Suchwanderung nach einer Erklärung benötigt er die
Hilfe der Silberflöte, um verschiedene Prüfungen zu bewältigen, um letzten
Endes die Erklärung des Steins zu erhalten und zu akzeptieren; dass der Stein
nur Substitut der Liebe ist, die das Beste in einem hervorbringt, einen neue
Wege gehen lässt, ohne nach den Konsequenzen für sich zu fragen, und die
man nur geschenkt bekommen, nicht aber erzwingen kann. Wenn er den Stein
am Ende des ersten Kapitels des dritten Teils des dritten Buches abgibt, ist
diese Märchenhandlung abgeschlossen. Ein klassisches Märchenende wird
verweigert.
Teil des Augensteinmärchens ist das Barlo-Märchen im ersten Buch, in dem
Lauscher als Diener Barlos diesem hilft, die unrechtmäßige Herrschaft Gisas
über Barleboog zu beenden. Darin wird der Augenstein zum Zaubermittel, das
gleichberechtigt neben dem Tritonshorn steht, das ebenfalls wundersame
Unterstützung bringt. Mit der Vertreibung Gisas, der Inthronisierung Barlos
und seiner Hochzeit mit Eldrade wird die Schädigung vollständig aufgehoben
und ein klassisches Ende erreicht.
Ebenfalls Teil des Augensteinmärchens ist das Gisa-Märchen, das weder linear
noch zusammenhängend eingebunden wird. Es beginnt chronologisch mit den
25
in der Binnengeschichte über Gisa und die Wölfe berichteten Ereignissen und
endet mit Lauschers Rettung vor dem Geisterwolf durch Gisas Geist, womit ihr
Mangel, niemanden lieben zu können, endgültig aufgehoben wird – allerdings
fehlt auch hier das klassische gute Ende.
Auch die Elemente des Flötermärchen sind innerhalb der übrigen Handlung
verstreut, werden im Gegensatz zum Gisa-Märchen linear erzählt, da das
Märchen Teil der Identitätsfindung Lauschers ist. Es beginnt mit Lauschers
Mangel an Macht und Anerkennung, die über das erste Buch hinweg aufgebaut
wird und zu Beginn des zweiten Buches deutlich in Erscheinung tritt.
Konfrontationen mit dem Grauen, eine dämonischen Präsenz des Unbekannten
und der Angst, können nur durch den Schutz des Augensteins bzw. Arnilukkas
überstanden werden, und die Flöte ist gleichermaßen Machtinstrument wie
Wunschobjekt, dem Lauscher sich annähern möchte. Dieses Märchen endet mit
dem letzten Kampf gegen den Grauen, der mit Lauschers Tod am Ende des
letzten Unterkapitel des Romans zusammenfällt.
Das Narzia-Märchen ist eigentlich ein Doppelmärchen, da es einerseits Narzias
Schicksal, andererseits Lauschers Wunsch nach einer Hochzeit mit ihr
behandelt. Die Mangelsituation ist Lauschers Wunsch nach einer Ehe mit
Narzia, der sich im zweiten Buch herauskristallisiert, und Narzias Machtgier,
die auch den Augenstein betrifft. Teile des Narzia-Märchens sind Elemente des
Augensteinmärchens sowie des Urla-Märchens, zwischen denen es eine
Verbindung schlägt, da es innerhalb des Augensteinmärchens beginnt und im
Urla-Märchen mit dem Tod Narzias und der vorausgehenden Versöhnung
zwischen Lauscher und Narzia endet (eine Heirat bleibt Lauscher verwehrt).
Auch das Arnilukka-Märchen, die Suchwanderung einer Märchenheldin nach
ihrem Tierbräutigam, der von ihr erlöst wird, ist fragmentarisch in den Roman
eingebettet; obwohl sich die Handlungen dem Leser erschließen, werden nur
einzelne Kernelemente aktiv geschildert; entweder in der Rahmenhandlung
oder aber indirekt über Binnenerzählungen. Es zieht sich in diesen
Einzelelementen über einen Großteil des Romans, auch wenn erst spät die
Zusammenhängen deutlich werden, und beginnt sehr verschlüsselt mit
26
Lauschers Erstbegegnung mit dem Stein, um erst zu Beginn des letzten
Unterkapitel des Buches mit dem Abschied zwischen Arnilukka und Lauscher
zu enden.
Das Urla-Märchen wird wiederum linear und zusammenhängend geschildert;
es umfasst den Großteil des zweiten Kapitel des dritten Teils des dritten
Buches und handelt von Lauschers Abenteuer, mit dem er seiner Tochter die
menschliche Stimme zurückgibt, wofür er eine magische Kette, einen
Zauberring und die Hilfe eines Wasserwesens sowie einer Zauberin braucht.
3.2.3. Strukturen der Märchenhandlungen
Im Folgenden werde ich nun die Märchenhandlungen des Romans aufzeigen
und in ihre Funktionen zerlegen, soweit dies möglich ist. Die Reihenfolge
Propps ist nicht komplett aufrecht zu erhalten; durch die Komplexität des
Romans werden einzelne Prüfungen, zusätzliche Aufgaben oder ganze
Binnenerzählungen
eingefügt,
und
einige
der
Märchenhandlungen
überschneiden sich, so dass bestimmte Sequenzen mehr als eine Funktion
einnehmen können. Dennoch ist eine märchenhafte Tiefenstruktur in diesen
Handlungen deutlich. Nolting-Hauff erstellt einige Einschränkungen zwischen
dem Märchenhaften im Märchen und im Märchenroman anhand der
Übertragung der Märchenstruktur auf Ian Flemings James Bond zur
Diskussionen; diese decken sich mit den von mir zuvor getroffenen
Einschränkungen. 40
40
Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.139 sowie 151f.
27
3.2.3.1. Das Augensteinmärchen
Element/Funktion
Handlungsinhalt
Buch/Seite
α (Mangel)
B (Vermittlung)
Lauscher ist nicht bei seiner Braut Arnilukka
Arnis Stein gelangt in Lauschers Besitz; der
Augenstein ist ein Symbol für die Augen
Arnilukkas und lässt Lauscher erkennen, dass
etwas bzw. jemand in seinem Leben fehlt, auch
wenn er dies noch nicht fassen kann
Lauscher verlässt Fraglund
Erstes Buch
Erstes Buch
Aufbruch zu seinem Großvater
Lauscher verliert den Augenstein und Barleboog
und erhält ihn erst nach der dritten, bestandenen
Prüfung seines Charakters wieder zurück
Erstes Buch
Erstes Buch
Lauscher flieht vor Barlo und wird vom Sanften
Flöter gerettet
Der Sanfte Flöter verlangt, dass Lauscher Barlos
Diener wird
Lauscher zieht drei Jahre lang mit Barlo durchs
Land und besiegt Gisa, ehe er zu seinem
Großvater zurückkehrt
Der Sanfte Flöter übergibt die Silberne Flöte an
Lauscher
Lauscher bricht auf, um nach Fraglund und zu
Arnis Leute zu reisen
Lauschers erste Begegnung mit Arnilukka
Erstes Buch
Narzia wird Lauschers Braut
Zweites Buch
Lö (Lösung)
Narzia verwandelt Lauscher in einen Faun; in
dieser Gestalt begegnet Lauscher Arnilukka
dreimal, und sie läuft jedes Mal davon
Versteinerung
P (Schwere Prüfung)
Arnilukkas Suchwanderung
Lö (Lösung)
Lauschers Erlösung
T (Transfiguration)
Lauscher wird wieder zu einem Menschen
verwandelt und neu eingekleidet
Hneg (Hochzeit)
Hochzeit bleibt aus; Stein wird übergeben
Zweites Buch
und drittes Buch,
erster Teil
Drittes Buch,
erster Teil
Drittes Buch,
zweiter Teil
Drittes Buch,
dritter Teil, erstes
Kapitel
Drittes Buch,
dritter Teil, erstes
Kapitel
Drittes Buch,
dritter Teil, erstes
Kapitel
C (einsetzende
Gegenhandlung)
↑ (Abreise)
Sch H Z (Schenker,
Reaktion des Helden,
Empfang des
Zaubermittels)
W (Raumvermittlung)
Sch
H
Z
W
L (Liquidierung des
Mangels)
U (Unrechtmäßige
Ansprüche)
P (Schwere Prüfung)
Erstes Buch
Erstes Buch
Erstes und
zweites Buch
Zweites Buch
Zweites Buch
Zweites Buch
Tabelle 1
Die erste Märchenhandlung, die sich über weite Strecken des Buches zieht, ist
die Liebesgeschichte zwischen Lauscher und Arnilukka. Sie beginnt im ersten
Buch mit der Übergabe des Augensteins. Was zunächst wie die vorgezogene
Sequenz der Elemente Sch, H und Z wirkt (in Arnis Tod wird Lauscher
geprüft; als er sich als mitfühlend und hilfsbereit auch gegenüber seinen
28
Feinden erweist, gibt Arni ihm nicht nur den Stein, sondern auch den Spruch,
der später als Legitimation für den Besitz an Bedeutung gewinnt41), ist bei
genauerer Betrachtung Element B, die Vermittlung der Mangelsituation, dass
Lauscher nicht mit Arnilukka zusammen ist. Ausgelöst durch die Betrachtung
des Steins wächst in Lauscher der Wunsch zum Aufbruch, und so setzt
Element C ein, die Gegenhandlung. Die Reise zu seinem Großvater ist nur ein
oberflächlicher Grund; Lauscher bricht auf, weil er unruhig geworden ist und
in die Welt ausziehen muss.
Die Episode in Barleboog ist eine erste Prüfung Lauschers, die er nicht
bestehen kann, denn er gibt nicht nur den Augenstein her, sondern gerät
dadurch in Gisas Bann und vergisst dadurch Teile seines Erbes; der Stein
erscheint ihm nun nutzlos genug, dass er ihn abgeben kann. Da sie eine eigene
Märchenhandlung bildet, ist sie schwerlich einzuordnen. Insgesamt stellt es
jedoch eine erneute Probe über den Besitz des Zaubermittels Augenstein dar,
weshalb sie als dreifache Abfolge Sch H Z gewertet werden kann: Lauschers
Charakter wird zunächst bei der Erstbegegnung mit Gisa geprüft. Er scheitert
und verliert zur Strafe den Augenstein. Beim Gericht kehrt der Stein scheinbar
zu ihm zurück, doch wieder versagt Lauscher. Die dritte Prüfung über das
Leben der Amsel jedoch besteht Lauscher, und so gelangt der Stein zurück in
seinen Besitz.
Lauscher reist weiter (Element W) und gelangt zu seinem Großvater, dem
nächsten Schenker innerhalb des Romans. Nun geht es um das Zaubermittel
der Silberflöte, und erneut kommt es zur Abfolge Sch H Z, die dieses Mal mehr
Raum innerhalb des Romans einnimmt, denn der Sanfte Flöter verlangt von
seinem Enkel drei Jahre Dienst bei Barlo (auch wenn die Dauer der Dienstzeit
zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht). Diese drei Lehrjahre sind die
Reaktion des Helden (Element H), denen nach überstandenem Kampf und dem
Sieg über Gisa nach der Rückkehr zum Haus des Großvaters die Übergabe der
Silbernen Flöte (Element Z) folgt.
„Der Khan nickte. ‚Du besitzt den Stein zu recht“, sagte er. „Arni hat ihn dir offenbar
gegeben, wenn dies auch von den unbegreiflichen Taten meines Bruders die unbegreiflichste
ist. Wie konnte er einen Feind zu seinem Erben einsetzen?’“; Stein und Flöte, S.382f.
41
29
Die Reise zur Arnis Leuten ist durchsetzt von kleineren Prüfungen und
Erzählungen sowie dem Zwischenstopp in Fraglund – diese Rückkehr nach
Hause hat auch den Sinn zu zeigen, dass dies nicht das Ziel der
Suchwanderung sein kann; es ging beim Aufbruch eben nicht nur darum, zu
reifen und die Flöte zu erlangen, sondern das Ziel liegt jenseits dieses Ortes
(allerdings ist es auch in Märchen nicht zwangsläufig nötig, dass ein Held in
die Heimat zurückkehrt; tut er dies jedoch, verbleibt er dort auch, da Mangel
bzw. Schädigung behoben wurden). Dadurch wird dieses Element W erneut
recht umfangreich.
Mit seiner Ankunft bei Arnis Leuten wiederholen sich die Prüfungen über
seine Würdigkeit, den Augenstein zu tragen. Narzia als neue Gegenspielerin
nimmt den Platz einer falschen Braut ein, um deretwillen Lauscher zu drei
weiteren Aufgaben aufbricht. Bereits die erste führt ihn zu Arnilukka, doch ist
diese noch nicht reif für ihre Rolle als Lauschers Braut (was innerhalb des
Romans durch ihre Jugend gekennzeichnet ist). Das Kind Arnilukka wird nur
durch Gisa als die Frau identifiziert, der Lauschers Liebe gelten wird42. Auch
dies ist also eine Prüfung, die Lauscher nicht besteht – allerdings deshalb, weil
er sie nicht bestehen kann.
Bezeichnend für die Funktion, die Lauschers erste Begegnung mit Arnilukka
einnimmt, ist jedoch sein Verhältnis zum Augenstein in direktem Vergleich mit
dem Mädchen: „Denn unter dem Blick ihrer Augen erscheint ihm auf einmal
alles wieder fraglich, was er sich eben zusammengedacht hatte, War dieser
Stein, der das Abbild (oder das Urbild?) dieser Augen war, wirklich nur ein
totes Stück Quarz?“43 Arnilukka hat also bereits die Stelle des Augensteins
eingenommen, der seinerseits nur ein Substitut für ihre Liebe ist. Damit ist
bereits das Element L erreicht: die Liquidierung des Mangels. Da beide Partner
noch nicht für eine Ehe bereit sind, folgt die zweite Sequenz, die wiederum
über einige Prüfungen zum eigentlichen Ende dieser Märchenhandlung führt.
42
43
Vgl. Stein und Flöte, S.350
Ebenda, S.338
30
Narzia erhebt nach den drei Fahrten Lauschers ein Anrecht auf ihn als
Bräutigam (Element U), obwohl sie ihn weder liebt noch die Frau ist, die
Lauscher mit dem Augenstein verbindet. Mit der Verwandlung in den Faun
beginnt eine erste schwere Prüfung für Lauscher (Element P), in deren Verlauf
er dreimal auf Arnilukka trifft, die jedes Mal erschrocken vor ihm flieht. Auch
die Suche nach seiner Erinnerung ist nicht so erfolgreich, wie es den Anschein
hat. Zwar findet Steinauge zu seiner Identifikation als Lauscher zurück, doch
die vollkommene Aussöhnung mit seiner Person fehlt (symbolisiert durch das
weitere Fehlen des Namens), da Lauscher über seine vergangenen Taten in
Scham und Schuld versinkt.
Es folgt daher eine zweite schwere Prüfung, in der Lauscher vom Helden zum
Objekt degradiert wird: die Versteinerung, die Arnilukkas Suchwanderung
auslöst. Diese ist jedoch nur implizit erwähnt; im späteren Verlauf werden
Kernelemente zwar in Erzählungen aufgegriffen, doch bleibt es innerhalb
dieser Märchenhandlung bei der Beschreibung von Lauschers erneuter Suche
nach seiner Identität, während er ein steinerner Faun ist.
Die Erlösung Lauschers durch Arnilukka (Element L) führt zur Transfiguration
Lauschers zurück in einen Menschen (Element T), wenn die beiden nicht nur
die Aufhebung der Verwandlung bemerken, sondern Lauscher auch
Menschenkleidung erhält.
Das letzte Element dieses Märchens, die Hochzeit zwischen Lauscher und
Arnilukka, bleibt aus; es kommt somit zu einem Element Hneg, die ich analog
zu Propps Alternativen für dieses Element einführen möchte. Die Ehe wird
aufgrund der Umstände verwehrt, doch die Suche Lauschers ist beendet, was
durch die endgültige Abgabe des Steins und sein Weiterreichen an Lauschers
Tochter Urla symbolisiert wird.
31
3.2.3.2. Das Barlo-Märchen
Element/Funktion
Handlungsinhalt
Seite
b
c
d
e
f
Mutter mahnt Lauscher, sich nicht aufhalten zu lassen
Lauscher lässt sich von Gisa aufhalten
Gisa fragt Lauscher über den Stein aus
Lauscher berichtet bereitwillig
Gisa nimmt Lauscher mit sich aufs Schloss und bietet
sich und ihre Herrschaft ihm an – sie fordert das Ablegen
des Steins
Lauscher folgt Gisa begierig und legt auch den Stein ab
Lauscher gerät unter Gisas Einfluss und lernt das Töten
und Herrschen
Barlo verliert durch Lauscher seine Zunge und Sprache
Barlo wird aus Barleboog vertrieben
Der Sanfte Flöter führt Barlo und Lauscher als Herr und
Diener zusammen und lehrt Barlo das Flöten
S.14
S.16
S.16
S.16
S.17
Lauscher erhält nach bestandener Prüfung Jalf als
Reittier
S.59-61
Barlo bricht wieder auf
S.64f.
Abreise von Lauscher und Barlo
S.79
Angriff der Wölfe; Sieg dank Jalf
Barlo und Lauscher ziehen über Land
S.88f.
Angriff des Knechts bei den Holzfällern; Sieg dank Jalf
Barlo erhält nach bestandener Prüfung das Tritonshorn
als Geschenk des Grünen
S.107ff.
S.126-128
Angriff der Wölfe im Moor; Sieg dank des Grünen
Angriff der Wölfe am Wasserfall; Sieg durch den
Grünen
Lauscher und Barlo sind zu Freunden geworden;
Aussöhnung
Barlo hat durch die Flöte und Eldrade wieder eine
Stimme erlangt
Gisa ist noch Herrin
Barlo, Lauscher und der Kriegszug ziehen vors Schloss
S.142f.
S.169f
Lauscher wird von Gisa aufgefordert, ihr den Stein zu
geben
Lauscher hilft Gisa und gibt ihr den Stein
S.187f.
Gisa wird zur Wölfin und vertrieben
Barlo und Eldrade heiraten
S.189
S.189f.
g
Element A
Element A
Element A
Element B
(Verbindendes
Element)
Elemente Sch H Z
(Schenker,
Reaktion des
Helden, Empfang
des Zaubermittels)
Element C
(einsetzende
Gegenhandlung)
Element ↑
(Abreise)
Element K/S
Element W
(Raumvermittlung)
Element K/S
Elemente Sch H Z
(Schenker,
Reaktion des
Helden, Empfang
des Zaubermittels)
Element K/S
Element K/S
Element L
Element L
Element Lneg
Element ↓
(Rückkehr)
Element P
Element Lö
(Lösung)
Element St
Element H
Tabelle 2
32
S.17
S.18ff.
S.26
S.26
S.33-38;
S.52-58
S.172
S.181
S.184
S.186
S.188
Innerhalb des Augenstein-Märchens integriert ist die Märchenhandlung des
verstoßenen Königssohns, der sein Reich zurückerobert, das Barlo-Märchen.
Eine Besonderheit ist jedoch die Position des Helden, denn in diesem Märchen
wird anhand eines doppelten Helden der Aduleszens- und Reifungsprozess des
Helden durchlaufen.
Der doppelte Held – Barlo und Lauscher
Im Verlauf des ersten Buches ändert sich Lauschers Position innerhalb der
Erzählung. War er zunächst noch der Protagonist, dessen Entscheidungen die
wichtigsten Handlungen in Gang gesetzt haben – der Pazifist unter den
Beutereitern, der den Stein als Belohnung erhält und danach beschließt, in die
Welt zu ziehen; der verführte Sünder, der unter Gisas Einfluss gerät und den
Unschuldigen damit Schaden bringt – so wird er durch Eingreifen seines
Großvaters zum Diener degradiert. Fortan nimmt Lauscher nicht mehr die
Stellung eines Helden, sondern nur noch die eines Helfers ein, während Barlo,
der bezeichnenderweise erst jetzt einen Namen erhält, zum wahren
Protagonisten wird. Lauscher wird nun erst einmal befolgen, was man ihm
sagt, gehen, wohin er befohlen wird, und an den entscheidenden Stellen Barlos
Worte übersetzen, statt eigene zu finden. Er kennt weder die wahre Identität
seines Herrn noch das Ziel der Reise, und seine Reaktionen und Gedanken
verraten deutlich, dass ihm diese Position nicht zusagt.
„Und wie lange soll ich der Diener eines ehemaligen Pferdeknechts sein?“,
fragte Lauscher trotzig.
Nachdenklich betrachtete der Sanfte Flöter seinen Enkel. „Wenn du so denkst“,
sagte er dann, „wird es wohl ziemlich lange dauern. Du wirst Barlos Diener
bleiben, bis er dich eines Tages nicht mehr braucht und aus freiem Entschluss
entlässt.“
Als er das hörte, ließ Lauscher den Kopf hängen. Das waren ja trübe Aussichten,
wenn ausgerechnet jener Mann über seine Freiheit bestimmte, der allen Grund
hatte, sich an ihm zu rächen.44
Lauscher wurde aus alledem nicht recht klug, zumal er spürte, dass der Schmied
auch ihn jetzt mit anderen Augen betrachtete. Offenbar war es nicht unbedingt
eine Schande, der Diener dieses Mannes zu sein, dessen Name Furro so
beeindruckt hatte.45
Lauscher war von diesen Aussichten nicht sonderlich begeistert. Er hatte gehofft,
mit Barlo über Land zu reiten, wie Furro sich ausgedrückt hatte, und dabei
womöglich ein paar denkwürdige Abenteuer zu erleben. 46
44
Ebenda, S.57
Ebenda, S.68
46
Ebenda, S.80
45
33
Erst im letzten Moment, der Entzauberung Gisas und damit auch ihrer
Vertreibung aus Barleboog, greift Lauscher wieder aktiv ins Geschehen,
während er zuvor nur passiv reagiert hat. Der Held der Rebellion und der
Besitzer des Tritonhorns ist aber Barlo.
Warum aber greift Bemmann zu dieser Dopplung des Protagonisten? Meiner
These nach hat Bemmann kaum eine andere Wahl, wenn er der
Märchenstruktur gerecht werden möchte. Im Prinzip liegt im ersten Buch die
Struktur eines Drachentöter-Märchens vor. Der Held (Barlo) bricht auf, um das
Ungeheuer (Gisa) zu erlegen; als Unterstützung erhält er nach einer Probe
(dem Erlernen des Flötens und der Suche nach Verbündeten innerhalb einer
dreijährigen Wanderschaft) nicht nur ein Zaubermittel (das Tritonshorn),
sondern auch einen Helfer mit übernatürlichen Fähigkeiten (Lauscher mit
seinem Stein). Am Ende eines solchen Märchens stehen die Heirat des Helden
und die Thronbesteigung.
Will Bemmann diese Märchenstruktur erhalten, darf nicht Lauscher der Held
sein, denn da das Märchen nur Teil einer größeren Struktur, die Lauschers
Suchwanderung nach seiner Braut beschreibt, darf er weder Herrscher werden
noch heiraten. Beides sind Zeichen des vollendeten Reifeprozesses, der bei
Lauscher zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen sein kann, und
so muss jemand anderes zumindest scheinbar die Rolle des Helden ausfüllen.
Barlos Rolle wird auch dadurch erleichtert, dass Bemmann ihm einen
familiären
Hintergrund
geben
kann,
der
vielen
Sagen,
aber
auch
Fantasyromanen zugrunde liegt: Barlo ist der vertriebene Königssohn, der
inkognito auf die Gelegenheit wartet, das an ihm begangene Unrecht zu rächen
und wieder Herr in seinem eigenen Land zu werden.
Von der Schädigung an übernimmt Barlo die Position Lauscher als aktiver
Märchenheld. Es kommt zu zwei Schädigungen (Element A): Zunächst verliert
er nur seine Zunge und damit die menschliche Sprache, doch darüber hinaus
wird er endgültig aus seinem Schloss vertrieben.
34
Der Aufenthalt beim Sanften Flöter ist das verbindende Element B, an dem
Lauscher durch seine Positionierung als Diener die Rolle des Helden auf Barlo
transfiguriert, denn fortan ist dieser derjenige, der aktiv das Geschehen
bestimmt, indem er beschließt, Gisa den Kampf anzusagen (Element C, auch
wenn sein Entschluss nicht explizit genannt wird), und gemeinsam brechen
Barlo und Lauscher auf (Element ↑).
Obwohl Lauscher nicht mehr der eigentliche Held des Märchens ist, erhält er
mit Jalf eine Art Zaubermittel-Ersatz, denn Jalf verfügt über keine
übernatürliche Fähigkeiten (er ist weder sprachbegabt, noch kann er Dukaten
speien oder besonders schnell laufen); allerdings ist Jalf im Verlauf der
Handlung mehrfach ein Helfer, dessen Fähigkeiten im Lauschen denen
Lauschers überlegen sind. Die Umstände, unter denen Lauscher Jalf erhält,
entsprechen zudem wieder einer Prüfung, denn der Eselwirt verlangt von
Lauscher, dass er Jalf bittet, auf ihm reiten zu dürfen, und nur durch Jalfs
Zusage kommt Lauscher in den Genuss dieses Reittiers (Elemente Sch H Z).
An ihrer ersten Station, dem Fischerdorf am See des Grünen, erhält auch Barlo,
nachdem er für den Grünen auf der Insel gespielt hat (Element Sch und H), mit
dem Tritonshorn ein Zaubermittel (Element Z). Dank der Wasserwesen, die er
damit rufen kann, werden die Begebenheiten im Verlauf erfolgreich gemeistert.
Die dreijährige Reise, die geschildert wird, beinhaltet auf mehreren Ebenen
Element W: Nicht nur, dass Barlo und Lauscher tatsächlich herumreisen –
Barlo sammelt auch Kampfgefährten, während Lauscher mehr über seinen
Herrn in Erfahrung bringt, bis er am Ende dieser Funktion weiß, dass er dem
wahren Herrn von Barleboog dient. Einzelne kritische Situationen und Kämpfe
können durch die Zaubermittel bereinigt werden. Am Ende der drei Jahre ist
eine der Schädigungen, Barlos Sprachlosigkeit, durch die Flöte und Eldrade,
die ihn auch wortlos versteht, beseitigt. Auch eine zweite Schädigung, das
zerrüttete Verhältnis zwischen Lauscher und Barlo, die in Barlos Mordversuch
an Lauscher gipfelt, ist aufgehoben, denn die beiden sind Freunde geworden.
Die ausbleibende Liquidierung der Schädigung durch Gisas unrechtmäßige
Inbesitznahme kann aber nur durch Barlos Rückkehr zum Schloss (Element ↓)
35
und eine schwere Prüfung beseitigt werden: Gisa muss gegenübergetreten
werden (Element P).
An dieser Stelle übernimmt Lauscher wieder die Rolle als Held und übergibt
Gisa freiwillig seinen Stein (Element Lö), durch den nicht nur sie geheilt
werden kann, sondern der auch trotz dreimaliger Warnung der Vorarbeiters,
der sie aufzuhalten versucht, die Verwandlung und Vertreibung Gisas auslöst
(Element St). Mit der Hochzeit zwischen Barlo und Eldrade und der
Thronbesteigung des rechtmäßigen Helden wird das Märchen gleichsam
glücklich zu einem Ende geführt.
36
3.2.3.3. Das Gisa-Märchen
Funktion
Handlungsinhalt
Seite
α (Mangel)
d
e
b
f
g
c
A
a
A
C (einsetzende
Gegenhandlung)
↑ (Abreise)
Sch
H
Gisa soll verheiratet werden, weist aber alle Freier ab
Fremder fragt Gisa über den Edelstein ihres Vaters aus
Gisa bereichtet ihm von dem Stein
implizites Verbot, den Stein jemandem zu zeigen
Fremder überredet Gisa, ihm den Stein zu zeigen
Gisa lässt sich auf den Wunsch des Fremden ein
Gisa verletzt das Verbot ihres Vaters
Diebstahl des Steins
Tod des Vaters
Gisa wird „böse“
Gisa schwört den Männern Rache und will reich werden
S.82
S.83
S.83
S.83
S.83
S.83
S.83
S.83
S.84
S.84
S.84
Gisa verlässt das Tal und reist in den Wald
Angriff der Wölfe
Gisa handelt mit ihnen ein Geschäft aus und schwört, die
drei Bedingungen zu erfüllen
Gisa erhält die Knechte als Untergebene
Gisa und die Knechte kommen nach Barleboog
S.84
S.84
S.84f
Gisa wird auf Fredebars Fest eingeladen
Wölfe töten Fredebar und den Hofstaat und Gisa beginnt
mit der Suche nach Edelsteinen
Gisa wird reich und mächtig
S.86
S.86f.
Z
W
(Raumvermittlung)
Element K
Element S
„L“
Sch H Z
Sch H Z
Sch H Z
A
M
P
Lö (Lösung)
L
T/St
P/Lö
P/Löneg
T
P/Lö
L
Tabelle 3
Gisa trifft auf Lauscher und entwendet ihm den Stein
Gisa entfernt mit Hilfe ihrer Knechte den Stein erneut
aus Lauschers Reichweite
Gisa versagt und kann Lauscher den Tod der Amsel
nicht abgewinnen
Gisa verliert Lauscher
Gisa wird auf der Stirn gezeichnet
Lauscher kehrt mit Barlo zurück, um Gisa zu besiegen
Gisa bittet um den Stein und erhält ihn
Gisa beginnt wieder zu lieben
Gisa wird in eine Wölfin verwandelt
Gisa stellt sich zwischen den Wolf und Lauscher;
Lauscher überlebt
Gisa versucht Arnilukka zu töten und wird stattdessen
von Lauscher getötet
Gisa wird unter dem Ebereschesetzling begraben
Gisa rettet Lauscher vor dem Geisterwolf
Gisa ist wieder gut
S.85
S.85
Tenor im
ersten Buch
S.16-19
S.25f.
S.27
S.27
S.27
S.187
S.188
S.188
S.189
S.198f
S.349f
S.351
S.578f.
S.579
Auf den ersten Blick scheint das Märchen von Gisa – wenn man es in seiner
chronologischen, nicht in der romanimmanenten Reihenfolge liest – ein
typisches Freiermärchen zu sein, indem ein Bewerber sich darum bemüht, die
von Flüchen belastete Braut zu befreien und für sich zu gewinnen. Dadurch,
dass sie selbst jedoch die Heldin ist, wird es zu einem Suchwanderungs- und
Erlösungsmärchen, denn Gisas Heilung kann nur durch Liebe bewirkt werden.
37
Der chronologische Anfang des Gisa-Märchens ähnelt dem Märchen vom
König Drosselbart. Auch hier lehnt eine ebenso schöne wie stolze Prinzessin
alle Freier hochmütig ab, bis es zur Trennung vom Elternhaus durch die
Zwangsverheiratung durch ihren Vater kommt. Bei Gisa erfolgt die Trennung
vom Elternhaus durch den Tod des Vaters (Element a), und die Hochzeit wird
durch den Pakt mit den Wölfen ersetzt.
Wenn Gisa im Roman eingeführt ist, ist die Schädigung an ihr bereits
begangen worden, wodurch diese nicht mehr behoben werden kann: Durch den
Betrug in ihrer Jugend und den Mord an ihren Vater hat sie dessen Stein bereits
verloren, und auch der Mangel eines Ehemannes lässt sich nicht mehr beheben.
Die zentrale Schädigung findet jedoch innerhalb der Binnenerzählung über
Gisa und die Wölfe statt, wenn sie der Liebe abschwört (Element A) und die
Männer verflucht. Hier verkehrt sich die bisherige leidende Heldin in eine
Figur, die außerhalb ihres eigenen Märchens Gegenspielerin ist, denn böse
Menschen sind von der Rolle des Märchenhelden ausgeschlossen, da es die
Dichotomie von Gut und Böse verwischen würde. Nur unter der
Voraussetzung, dass sie sich später ändern wird, kann Gisa überhaupt noch
Protagonistin bleiben; allerdings wird sie zu einer Anti-Heldin.
Zunächst erhält sie durch die Prüfung durch die Schenker, die Wölfe, mit deren
Fähigkeit, sich tagsüber in Menschen zu verwandeln, ein Zaubermittel (Sch H
Z); dieses setzt sie im folgenden Kampf auch ein, um ihren Gegner zu
vernichten (Kampf – Sieg). Dieser Sieg ist jedoch negativ konnotiert, da sie
damit Unrecht begeht, unschuldige Menschen mordet und einen Thron an sich
reißt, der ihr nicht gehört47. Die Liquidation, die damit erreicht wird (sie wird
reich, wie sie es gewünscht hat, und kann damit den Verlust des Steins ihres
Vaters verschmerzen), ist jedoch nur scheinbar: Einen Ersatz für den Stein
kann sie nicht finden, und die Jagd nach dem materieller Reichtum entzieht ihr
47
Märchenhelden müssen nicht zwingend moralisch sein (vlg. Bettelheim: Kinder brauchen
Märchen, S.13-18); wenn am Ende etwa der jüngste Sohn, der zuvor nur mit einem Kater als
Erbe betraut wurde, durch die Listen und den Betrug eben jenes Tieres die Königstochter
heiratet, definiert der Leser ihn dennoch als „gut“.
38
ihre Menschlichkeit Stück für Stück. Zu diesem Zeitpunkt ist Gisa eine Wölfin
in Menschengestalt.
Die Transfiguration Gisas setzt mit Lauschers Auftreten ein; hier haben wir
eine verkehrte Sch H Z Konstellation, denn Gisa wünscht den Stein zwar zu
besitzen, kann mit ihm aber nichts anfangen und entfernt ihn daher. Dennoch
will sie ihn auf jeden Fall von Lauscher, der als Besitzer des Steins die Rolle
des Schenkers übernimmt, trennen; dazu wendet sie erst Schmeichelei und
Bestechung an und wendet im zweiten Fall, wenn der Stein über Barlo zurück
zu Lauscher zu kommen droht, ihre angehäufte Macht an, um ihn aus dem
Fenster zu werfen. In zwei Prüfungen gelingt es Gisa, den Schenker zu
überzeugen, und als Folge geht das Zaubermittel nicht in ihren Besitz über,
sondern wird aus dem Besitz Lauschers entfernt. Die dritte Prüfungssituation
allerdings, der Versuch die Amsel zu erschießen, misslingt, und statt den Stein
weiterhin von Lauscher fernzuhalten, kehrt dieser zu ihm zurück, und Gisa
verliert im Gegenzug ihre Macht über Lauscher. Dabei wird sie von dem
Saphir, den Lauscher ihr nachwirft gezeichnet (Element M), auch wenn der
kritische Leser sich fragt, wie Lauscher den Stein an ihre Stirn werfen konnte,
wenn sie sich gerade von ihm entfernt hat. Allerdings gehört dies auch zum
Wunderbaren des Märchen: Nicht alles muss zwingend logisch sein.
Ohne Lauscher potenziert sich Gisas Bösartigkeit noch einmal, und eine
Erlösung
aus
der
Lieblosigkeit
scheint
ausweglos,
denn
der
Gerechtigkeitswunsch des Märchens verlangt nun Gisas Vertreibung oder Tod.
Bei Lauschers und Barlos Rückkehr zum Schloss kommt es daher zur
schweren Prüfung (Element P), auf der nicht weniger als Gisas Menschlichkeit
auf dem Spiel steht. Dieses Mal gelingt ihr die Probe, denn sie überwindet ihre
Gier und fragt Lauscher nach dem Stein, und dieser bietet ihn ihr freiwillig an.
Psychologisierend könnte man interpretieren, dass Gisa in der Gefühllosigkeit
ihrer Isolation (Gisa ist allein im Schloss, sie hat keinen Freund, keinen
Geliebten) von Selbstlosigkeit und Mitgefühl berührt zur Besinnung kommt.
Allerdings muss sie für ihre Taten bestraft werden, weshalb die Wölfin in
Menschengestalt nun zum Menschen in Gestalt einer Wölfin wird
(morphologische Doppelbedeutung des Motivs als Element St und T), und Gisa
39
erhält die Chance, sich in ihrer Menschlichkeit zu bewähren. Indem sie
Lauscher vor dem Wolf schützt, der ihr wie ein Schatten und damit als
Verkörperung ihrer Schuld folgt, bewältigt sie eine erste Prüfung ihrer
Menschlichkeit; wenn sie Arnilukka jedoch aus Eifersucht töten möchte,
scheitert sie, und eine neue Strafe ist nötig. Gisa wird nun vom Wolf befreit
und unter einer Eberesche begraben. (Element T). In dieser Verkörperung,
allen körperlichen Bedürfnissen entrückt, gelingt es Gisa, ihre Bösartigkeit
vergessen zu machen: Als Eberesche schützt sie die Menschen, was sie auch
beweist, als sie Lauscher vor dem Geisterwolf rettet. Gisa ist wieder gut
geworden, und die Schädigung damit getilgt (Element L).
3.2.3.4. Das Flötermärchen
Funktion
Sch
H
α
Z
C (einsetzende
Gegenhandlung)
a
↑ (Abreise)
P
Löneg
W
Pneg
P
Lö
P/ Löneg
P
Lö
P
Lö
P
Löneg
L
Tabelle 4
Handlungsinhalt
Sanfter Flöter verlangt, dass Lauscher Diener wird
Lauscher willigt ein
Lauscher wünscht sich Anerkennung und Macht
Lauscher erhält die Silberne Flöte von seinem
Großvater
Lauscher genießt die Ehrungen von Arnis Leuten und
verspricht, nach seinem Unterricht zu ihnen zu reisen
Tod des Sanften Flöters
Lauscher bricht auf
Kinder in Draglop wollen, dass er spielt
Lauscher bezaubert sie
Lauscher reist durchs Nebelmoor
Der Graue lockt mit Macht, wird aber vom Stein in der
Verführung gehindert
Der Graue verlangt den Stein
Lauscher behält ihn
Narzia-Märchen, in dem Lauscher der Macht der Flöte
erliegt
Der Graue verlangt, dass Lauscher die Ziegen tötet
Sein eigenes Entsetzen hindert Lauscher daran
Der Graue verlangt im Traum von Lauscher, auf Arni
zu schießen
Der Tod im Traum ist nicht real, und Lauscher wird
über Rinkulla von Arnilukka aus der Leere gerissen
Lauscher kann Arnis Leute vor den Beutereitern
warnen
Lauscher versagt, weil er auf den richtigen Moment
warten will
Lauscher vertreibt den Grauen und stirbt
Seite
S.193
S.202ff.
S.212
S.245
S.247
S.254
S.255f.
S.256-259
S.259-268
S.268f.
S.268f.
S.303ff.
S.551
S.551f.
S.554f.
S.556
S.559
S.560
S.816f.
In der Märchenhandlung des Flötermärchens geht es um Lauschers
Auseinandersetzung mit seinen eigenen Wünschen, seiner Gier und seinem
40
Machthunger. Es wird nicht zusammenhängend erzählt, sondern besteht aus
einzelnen Szenen, die in die Romanhandlung eingebunden sind.
Voraussetzung ist die Übergabe der Silbernen Flöte an Lauscher, die für
Lauscher eine scheinbare Macht und große Ehre repräsentiert. Konträr dazu
steht die Mangelsituation, die Auslöser dieser Handlung ist (Element α):
Lauschers fehlende Anerkennung als Held und seine Selbstzweifel angesichts
des vermeintlichen Versagens beim Sieg über Gisa.
Und doch lähmte ihn das dumpfe Gefühl, irgendetwas Entscheidendes versäumt
zu haben, das undeutliche Bewusstsein einer Schuld, von der er nicht wusste,
worin sie bestand. Gisas Gesicht war so nah gewesen, und jetzt sehnte er sich
danach, es zu berühren. War das Ziel, nach dem er suchte, mit ihrem grauen
Schatten für immer in den Wäldern entschwunden? Solange er hier an dem
Turmfenster saß und zu den Wäldern hinüberstarrte, würde er sich nicht davon
befreien können. Er würde wieder reiten müssen, dort aus diesem allzu lieblichen
Tal und hinein in das schattige Dickicht jenseits der sanften Wiesenhänge. 48
Dieses Mangelgefühl breitet sich nach der Hochzeit bei ihm aus und soll durch
eine neue Reise kompensiert werden, die ihn zunächst einmal zu seinem
Großvater führen soll, ehe er ein Ziel finden möchte, mit dem er „frei und
selbständig“49 werden kann. Als er auf Arnis Leute trifft, die ihn wegen des
Besitzes des Steins verehren, glaubt er, dieses Ziel gefunden zu haben und
beschließt, zu ihnen zu reisen (Element C). Ermöglicht wird die Abreise durch
den Tod des Großvaters (Element a). Es folgen nun diverse Prüfungs- und
Verführungsfunktionen, denn auf der einen Seite gerät Lauscher selbst immer
in die Verlockung, seine Flöte anzuwenden (in Draglop, bei den Beutereitern
und den Bergdachsen), wobei er jedes Mal der Versuchung erliegt und damit
die Prüfung scheitert; auf der anderen Seite wird er vom Grauen in seinen
Träumen besucht, der ihn dazu antreibt, die Macht der Flöte zu forcieren.
Einige diese Prüfungen vereitelt die Anwesenheit des Steins und damit
Arnilukka (Pneg), bei anderen kommt es erst gar nicht zu einer Prüfung, weil
der Graue Lauscher nur sein Gift ins Ohr träufelt, ehe er wieder verschwindet,
und jedes Kräftemessen dadurch verhindert wird, anderen schließlich
widersteht Lauscher, und bei jeder überstandenen Prüfung reift Lauschers
Persönlichkeit, bis er in der letzten Prüfung in der Lage ist, dem Grauen nicht
nur zu widersagen, sondern ihn zu vertreiben. Er hat die Liquidierung des
48
49
Ebenda, S.189f.
Ebenda, S.193
41
Mangels erreicht, indem er das Bedürfnis, das den Mangel erzeugt hat,
überwindet.
3.2.3.5. Das Narzia-Märchen
Funktion
Handlungsinhalt
Seite
Sch H Z
Lauscher erhält von seinem Großvater nach drei Jahren
Lehrzeit die Flöte
Lauscher verliebt sich in Narzia
S.240
α (Mangel)
α
B (Verbindendes )
C (einsetzende
Gegenhandlung)
α
↑ (Abreise)
W
K
S
L
α
↑ (Abreise)
W
K
S
L
α
↑ (Abreise)
W
K
S
L/A
V
P
Lö
L/T
A
P/Lö
St
Hneg
Arnis Leuten fehlen Geschäftsbeziehung nach Arziak
Lauscher erfährt, dass er großen Ruhm für Arnis Leute
erwerben kann, wenn er nach Arziak fährt
Lauscher beschließt, selbst etwas zu werden, damit er um
Narzia werben kann
Narzia wünscht ein Schmuckstück
Lauscher verlässt Arnis Leute
Lauscher reist über Urlas Hütte und Schiefmauls Haus
nach Arziak
Lauscher kämpft um die Gunst der Bevölkerung von
Arziak und besonders um Promezzo
Lauscher erhält alle nötigen Zusagen und das
Schmuckstück
Lauscher kehr zu Arnis Leuten zurück und erhält einen
Kuss von Narzia
Narzia wünscht den Teppich; Arnis Leuten wollen
Frieden mit den Beutereitern
Lauscher verlässt Arnis Leute
Lauscher reist durch die Steppe
Lauscher spielt gegen Hunli Schach
Lauscher gewinnt den Teppich
Lauscher kehrt zu Arnis Leuten zurück und erhält einen
großzügigeren Kuss von Narzia sowie das
Heiratsversprechen
Narzia wünscht den Ring des Großmagiers; Arnis Leute
wünschen einen Zuchthengst
Lauscher verlässt Arnis Leute
Lauscher reist über die Karpfenköpfe nach Falkenor
Lauscher überlistet den Hirten und spricht mit dem
Großmagier
Lauscher erhält Pferd und magischen Ring
Lauscher kehrt zu Arnis Leuten zurück, heiratet und wird
in den Faun verwandelt
Falke verfolgt Lauscher
Versteinerung
Arnilukka erlöst Lauscher aus der Versteinerung
Lauscher wird wieder zu einem Menschen
Lauscher leidet weiterhin unter Platzangst
Urla-Märchen
Narzia stirbt
Lauscher ist nur teilweise befreit; eine Aufhebung der
Schädigung ist nicht mehr möglich
Tabelle 5
42
S.303f.;
S.307-309;
S.317f.
S.318f.
S.318f.
S.319-321
S.321
S.321
S.321-332
S.332-356
S.356f.
S.362
S.378
S.378
S.378f.
S.386-389
S.390
S.397-399
S.405
S.405
S.408-417;
S.418
S.419-428
S.429: S.443
S.445-450
ab S.456
S.581
S.654
S.662
S.676
S.720ff.
S.757
S.758
Das Narzia-Märchen ist ein typisches Werbungsmärchen, indem der Freier
versucht, die Hand der Prinzessin zu erhalten. Als Zaubermittel für dieses
Märchen benötigt Lauscher die Silberflöte, die er schon vor Beginn der
eigentlichen Märchenhandlung von seinem Großvater vererbt bekommt. Mit
seiner ersten Begegnung mit Narzia verliebt er sich in sie und beschließt, sie
für sich zu gewinnen.
In Narzias Auftrag erfüllt Lauscher drei Fahrten, die vordergründig Arnis
Leuten dienen, allerdings immer noch einen privaten Auftrag von Narzia
beinhalten. Mit dem Erfolg dieser Aufträge gewinnt Lauscher sich ein Anrecht
darauf, Narzia zu heiraten. Sie erinnern an die klassischen Fahrten, um eine
Rätselprinzessin für sich zu gewinnen.
Das Märchen belohnt mit der ihm eigenen Gerechtigkeit den höchsten Einsatz –
und dafür könnte der Kopf schon gelten – mit dem höchsten Lohn. Immer steht
bei Todesstrafe eine Prinzessin auf dem Spiel, die als Mitgift ein Königreich und
einen Herrscherthron zu bieten hat (…). Rätselprinzessinnen treten darum auch
meist sehr selbstherrlich auf; sie wehren sich offensichtlich mit gutem Recht
gegen jeden untauglichen, oder im Sinne ihrer Rätsel, unwissenden Bewerber um
ihre Hand und ihren Thron.50
Narzia erfüllt viele Ansprüche dieser Definition einer Rätselprinzessin. Sie ist
als Tochter Hönis quasi die Prinzessin von Arnis Leuten und übernimmt auch
die Herrschaft über jene nach dem Tod ihres Vaters, dem sie zuvor Ratschläge
erteilt hat. Ihr Auftreten ist mit Steigen ihrer Macht umso selbstherrlicher, und
auch ihre Schönheit wird gerühmt. Lauscher ist dieser Schönheit gleich zu
Beginn erlegen; er setzt sein Vertrauen sehr schnell in sie, denn „ihre Augen
ließen ihm keine andere Wahl“51. Dem wichtigsten Punkt, das Stellen eines
Rätsels auf Leben und Tod, kann sie in Menschengestalt allerdings nicht
nachkommen. Erst als Falke geschieht es, dass sie die berüchtigten drei Fragen
stellt, deren Antworten eigentlich unmöglich zu erraten sind – außer man
verfügt über die benötigte Lebenserfahrung. Solche Elemente sind aus dem
Märchen bekannt, etwa aus KHM 125 oder – in umgekehrter Rollenverteilung,
da der Freier das Rätsel stellen und die Prinzessin es erraten muss – in KHM
22.
50
51
Snook: Auf den Spuren, S.121
Stein und Flöte, S.309
43
Mit dem Ende der drei Fahrten kommt es scheinbar zum gattungstypischen
Happy End, doch im Moment der Erfüllung ereignet sich die Katastrophe
(L/A), denn Narzia verwandelt Lauscher in einen Faun und verwandelt damit
gleichzeitig die Liquidierung in eine neue Schädigung, denn fortan ist Lauscher
zur Hälfte seiner Menschlichkeit beraubt und muss um seine Erinnerungen,
seine menschliche Identität kämpfen.
Auch die Struktur ändert sich nun, denn statt zusammenhängend setzt sich das
Märchen nun in Einzelszenen im Verlauf der übrigen Handlung fort. Immer
wieder versucht der Falke, Lauscher den Stein zu stehlen, und nachdem er eine
Weile diesem Schicksal entgehen konnte, gibt Lauscher den Stein her, um
dafür Erinnerungen zu erhalten; dennoch prophezeit er, dass der Stein Narzia
kein Glück bringen wird. Diese Prophezeiung erfüllt sich mit dem Sturm der
Beutereiter, in dem das Dorf von Arnis Leuten fast gänzlich zerstört und seine
Bewohner getötet werden. Dieses Ereignis führt zu Lauschers Entscheidung,
sich der Versteinerung zu übergeben, in deren Verlauft er sogar Erkenntnisse
über Narzia und die Kette ihrer Mutter gewinnt, die er zur Liquidierung der
Schädigung im Urla-Märchen braucht. Dieses ist dann auch Bestandteil des
Narzia-Märchens, denn darin wird Lauscher wieder mit Narzia konfrontiert
und hat nun die Chance, die letzte Schädigung, seine Platzangst, aufheben zu
lassen. Dieses wird durch Narzias Tod verhindert, so dass die einzige
Schädigung, die Lauscher von Narzia empfangen und durch sie liquidiert hat,
die misslungene Liquidierung in der Hochzeit war.
44
3.2.3.6. Das Arnilukka-Märchen
Funktion
a
b
c
A
d
Sch H Z
L/↑ (Abreise)
A
B
C
L
Hneg
Handlungsinhalt
Promezzo reist zu Arnis Leuten
Promezzo möchte nicht, dass Arnilukka mitkommt
Arnilukka setzt sich durch und begleitet ihn
Arnilukka wird zur Geisel
Narzia erkundigt sich über sie und Lauscher
Arnilukka rettet die Flöte aus dem brennenden Haus
Arnilukka flieht und ist wieder frei
Lauscher wird versteinert
Arnilukka erfährt durch das Lied vom Schicksal
‚ihres’ Flöters
nach Rücksprache mit Belarni entscheidet Arnilukka,
nach Lauscher zu suchen
Arnilukka erlöst ihn
Trotz ihrer gegenseitigen Liebe und ihrer Tochter
entscheiden sich die beiden gegen ein gemeinsames
Leben
Seite
S.665
S.665
S.665
S.666
S.667f.
S.672f
S.673
S.581
S.712
S.712
S.654/S.662
S.713f.
Tabelle 6
Das Märchen von Arnilukkas Suche nach ihrem Tierbräutigam und der
Erlösung des steinernen Fauns wird nur angedeutet; bedingt durch die
Fokussierung auf Lauschers Geschichte kann dieses Märchen nicht
eigenständige Handlung des Romans werden. Vielmehr erstreckt sich das
Geschehen über einen Großteil des Romans, während dem Leser nur einzelne
Elemente präsentiert werden, diese allerdings in zunächst unbewusst doppelter
Form.
Arnilukkas Suchwanderung beginnt, als Lauscher verschwunden ist und dauert
neun Jahre an. Drei entscheidende Situationen werden im Roman geschildert:
die Vorbereitung für die Schädigung in der Zeit, als Arnilukka als Geisel im
Dorf von Arnis Leuten gefangen gehalten wird (Elemente a, b und c), dort aber
die Flöte findet (Elemente Sch, H und Z); Arnilukkas Entschluss, nach
Lauscher zu suchen (Element C), dem vorangeht, dass sie von seinem
Schicksal erfährt (Element B), und natürlich die Erlösung (Element L). Die
ersten beiden Sequenzen erfährt der Leser aus den Berichten, die Arnilukka
Lauscher gibt, und dabei wird offenbar, dass Lauscher Arnilukka auf seiner
eigenen Suchwanderung begegnet ist, ohne dass die beiden einander erkannt
haben: drei Träume Arnilukkas finden sich in drei Träumen oder Visionen
Lauschers aus der Vergangenheit wieder; und auch während ihrer Flucht, die
mit Arziak dasselbe Ziel hatte, treffen sie sich zweimal: im Dorf und auf dem
45
Pass. Ein Erkennen in diesem Moment hätte jedoch die Versteinerung
Lauschers und damit auch seinen Erlösungsprozess durch Arnilukka
verhindert, zumal sie zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht reif genug gewesen
wäre, dem Faun das Fell zu kraulen und ihn dadurch zurückzuverwandeln; das
Element H, das eigentlich erwartet wird, entfällt jedoch.
3.2.3.7. Das Urla-Märchen
Funktion
α (Mangel)
B (Verbindendes )
C (einsetzende
Gegenhandlung)
↑ (Abreise)
V (Verfolgung)
R (Rettung)
Sch H Z
W
(Raumvermittlung)
Sch H Z
(Schenker,
Reaktion des
Helden, Empfang
des Zaubermittels)
Sch H Z
Sch H Z
K
S
L
↓ (Rückkehr)
P
Lö
T
St
Hneg
Tabelle 7
Handlungsinhalt
Urla kann die Sprache der Menschen nicht sprechen
Lauscher erfährt durch Weißfeders Geschichte von Urlas
Unglück und der Lösung dazu
Lauscher organisiert seine Flucht mit Schneefink
Seite
S.720
S.720-722
Flucht von Lauscher und Schneefink
Blutaxtleute folgen ihnen
Weißfeders Schwarm lockt sie auf die falsche Fährte
Lauscher erhält von der Forelle Hilfe bei der Suche nach
Kette, Ring und Falken
Lauscher und Schneefink reisen zur Ziegenhöhle
S.723-727
S.728
S.728f.
S.729f.
Lauscher besteht die Prüfung bei Rinkulla
S.732f.
Lauscher besteht die Prüfung bei Mollo
Lauscher besteht die Prüfung beim Direx
Lauscher tritt gegen das Wasser an im Kampf um die
Schätze
Lauscher erringt Kette und Ring
Lauscher hat die fraglichen Gegenstände
Lauscher und Schneefink kehren zum Waldrand zurück
Narzia fordert Kette, Ring und Augenstein
Urla hilft Narzia und gibt ihr den Stein
Urla beherrscht die Menschensprache; Lauscher soll
ebenfalls geheilt werden; dies scheitert jedoch
Narzia stirbt
Lauscher verabschiedet sich von Arnilukka und Urla
S.734-737
S.737-740
S.741-744
S.722f.
S.730f.
S.744
S.745
S.745f.
S.754f.
S.755
S.756f
S.757
S.761
Die Märchenhandlung des Urla-Märchens folgt den Vorbildern der Queste aus
der Fantasyliteratur, ohne dabei die Märchenmorphologie zu verletzen.
Lauscher ist nun ein gereifter Held, der selbstbestimmt die Prüfungen löst, statt
als Helfer nebenher zu laufen oder fremdbestimmt zu werden; er ist ein Akteur,
der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war – dass er darüber hinaus noch über
das Wissen und die Fähigkeiten verfügt, um die Queste zu lösen, ist ein
weiteres Zeichen seiner Entwicklung, denn solche Erfahrungswerte kann man
sich nur im Leben aneignen.
46
Ausgangspunkt ist der Mangel, dass seine Tochter Urla die Menschensprache
nicht sprechen kann. Damit Lauscher, der zu diesem Zeitpunkt ein Gefangener
ist, von Urlas Unglück erfahren kann, wird in Element B eine Botschafterin
geschickt: die Dohle Weißfeder, die ihm unwissentlich von Urla berichtet, als
sie davon den anderen erzählt (ein solche Motiv gibt es z.B. auch in KHM 6,
wenn die Raben sich über das Unglück des Königssohn unterhalten und der
treue Johannes dabei Zeuge wird). Lauscher bricht aus, um mit Schneefink
zurückzureisen und Ring und Kette zu erringen. Bemmann macht aus dieser
Sequenz – einer Ausarbeitung der Elemente V und R – eine spannende
Verfolgung, die nur durch die Mithilfe der Vögel, welche die Blutaxtleute auf
die falsche Spur locken, gelingt. Ebenso essentiell ist in diesem Märchen die
Zusammenarbeit von Tieren und Menschen, denn nicht nur mit den Vögeln
kommuniziert Lauscher, sondern auch mit einer Forelle, die Verbindung zu
Arnilukka aufnehmen und von seiner Rückkehr erzählen soll. Das
Zusammenspiel von Mensch und belebter Natur ist hierbei ein weiterer
Hinweis für Lauschers Reife, ebenso die Tatsache, dass er den Vögeln aufträgt
ihre Flucht zu decken. Märchenhelden fliehen selten aufgrund einer rationalen
Überlegung, sondern werden bei ihrer Flucht von Zaubermitteln oder dem
Schicksal beschützt.
Mit dem Abstieg in die Dunkelheit, den Lauscher unternehmen muss, spielt
Bemmann auf eine lange literarische Tradition an, die von der griechischen
Mythologie (Orpheus und Euridyke) über Dante (Göttliche Komödie) bis in die
Gegenwart reicht: Lauscher steigt in die Unterwelt hinab. Dabei begegnet er
zunächst Rinkulla, die ihm zwar den Weg weisen, seine Angst aber nicht
nehmen kann (obwohl ihre Augen Lauscher helfen, die Angst zu überwinden,
da sie seinem Stein ähneln). Die nächste Begegnung mit dem Wesen Mollo ist
eine klare Reminiszenz an Gollum aus dem Herrn der Ringe bzw. dem kleinen
Hobbit: ein Wesen, das in der Unterwelt haust und einen Schatz bewacht, das
unbelebtes Gold mit Kosenamen versieht, den Eindringling aber nur in der
dritten Person anspricht und einen Hang zu Ellipsen hat52. In der Begegnung
52
Es ist nicht die einzige Anspielung des Buches auf Tolkiens Werk. Wenn der alte
Steinsucher bei seiner ersten persönlichen Begegnung Lauscher fragt: „Was hast du denn
47
mit Mollo muss Lauscher seine Gier überwinden, denn Mollo bietet ihm Gold
an, das Lauscher jedoch ablehnt – und damit eine Prüfung besteht, bei deren
Misslingen Mollo ihn angegriffen hätte. Auch die dritte Begegnung auf dem
Weg in die Unterwelt, das Zusammentreffen mit dem Direx, erfordert von
Lauscher, eine seiner Eigenschaften zu überwinden. Nach Angst und Gier ist es
dieses Mal die Sucht nach Ordnung, denn während der Direx versucht, die
Welt zu ordnen, kann Lauscher mit seiner Musik das Chaos und die Varianz
der Wirklichkeit genießen.
Nachdem er diese Prüfungen überstanden hat, gelangt er ans Wasser, wo ihn
drei Wasserfrauen erst ins Verderben locken, Laianna aber rechtzeitig
erscheint, um sein Leben zu retten und ihm von der Möglichkeit des
Tauschgeschäfts zu erzählen. Auch dies ist typisch für Märchen: Der Held
kann sich nicht nehmen, was er möchte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen
– und er muss es persönlich holen, wenn er nicht scheitern will (das Motiv
eines Schmarotzers, der die Lorbeeren der Taten des Märchenhelden
einheimsen möchte, ist sehr schön in der Figur des Riesen aus KHM 121
geschildert, der seiner Braut den geforderten Apfel zwar bringen kann, aber ihr
den Ring als Beweis, dass er es selbst getan hat, schuldig bleibt und somit
scheitert).
Nachdem Lauscher errungen hat, was er braucht (Element S) kehrt er zu
Schneefink zurück und wird mit einer weiteren Märcheneigenart konfrontiert:
der unzuverlässigen Zeit. Denn während er eine unbestimmte Zeit in der
Unterwelt war, sind an der Oberfläche drei Tage vergangen (vgl. KHM 39, wo
die Magd sieben Jahre statt drei Tage bei den Wichtelmännern verbringt).
Nach diesem Ausflug ins Questenabenteuer, das in Ritterromane und
Fantasybücher oft frequentiert wird (das Erringen eines Schatzes unter Einsatz
des Lebens), kehrt die Handlung des Urla-Märchens in die reinen
Märchenstrukturen zurück, wenn es nach der Rückkehr Schneefinks und
erwartet (…)? Einen Zauberer mit spitzem Hut?“ (S.494), so erinnert dies Tolkien-Leser
unwillkürlich an die Beschreibung des Zauberers Gandalf, dessen spitzer Hut bei seinem ersten
Treffen mit Bilbo als Zeichen seines Standes erwähnt wird (vgl. Tolkien: Der kleine Hobbit,
S.10).
48
Lauschers und der Ankunft Arnilukkas, Belarnis und Urlas zur direkten
Konfrontation mit der Gegenspielerin Narzia kommt. Eine letzte schwere
Prüfung gilt es zu bestehen, wenn Narzia auch den Stein fordert. Parallel zu
den Handlungen ihres Vaters im Gisa- und Barlo-Märchen übernimmt nun Urla
die Rolle der Heldin, indem sie selbstlos den Stein an Narzia verschenkt und
damit den Fluch löst. Auch hier heilt die mitfühlend gespendete Liebe die
Spuren von Hass und Gier, und Narzia ist frei. Sie gewährt Urla die
menschliche Sprache (Element T) und versucht auch Lauschers Fluch noch zu
heben, scheitert allerdings darin, da der Prozess der Strafe (St) bereits in Gang
gesetzt wurde: Durch die Binnenerzählung über den Magier aus Falkenor und
Belenika weiß der Leser, dass Narzia mit der langen Zeit als Falke viele
menschliche Jahre eingebüßt hat, so dass es kein Wunder ist, dass sie nun
rasant altert und zu Staub zerfällt.
Nachdem die Gegenspielerin besiegt ist, versagt auch das Urla-Märchen
Lauscher die Integration in seine Familie, obwohl seine Gefühle für Arnilukka
sichtbar sind, aber um ihm zu erlauben, Urlas Vater und Arnilukkas Ehemann
zu werden, müsste Belarni aus dem Figurengefüge herausfallen, und das wäre
auch ihm gegenüber ungerecht, da er sich nie als grausam oder eigensüchtig
präsentiert hat. Belarni gehört zu den Guten, und daher würde es auch die
Gerechtigkeit des Märchens stören, falls er seinen Platz jetzt für Lauscher
räumen müsste.
49
3.2.3.8. Das Märchen vom fröhlichen König
Funktion
A (Schädigung)
B (Vermittlung)
C (einsetzende
Gegenhandlung)
Sch (Schenker)
H (Held)
Zneg
(Zaubermittel)
Sch
H
Zneg
Sch
H
Z
K (Kampf)
S (Sieg)
L (Liquidierung)
H (Hochzeit)
Tabelle 8
Handlungsinhalt
Riesen vertreiben die Schlossbewohner
König beobachtet das Treiben der Riesen und erkennt,
dass diese nicht gehen werden
König beschließt, etwas zu unternehmen
Seite
S.102
S.102
König bittet die Ritter um Hilfe
Ritter ziehen aus
König findet in Gewalt und Kraft kein Mittel gegen die
Riesen
König bittet die Zauberer um Hilfe
Zauberer ziehen aus
König findet in Magie kein Mittel gegen die Riesen
junger Bursche kommt des Wegs und fragt nach dem
Grund für die Trauer
König antwortet ihm und verspricht ihm die Hand seiner
Tochter
Bursche verspricht ihm Hilfe
König und sein Gefolge ziehen lachend zum Schloss
Riesen sind geschrumpft und können vertrieben werden
König hat das Schloss zurück, und der Bursche heiratet
die Prinzessin
S.102
S.102f.
S.103
S.102
S.103
S.193
S.103
S.103
S.103
S.103f.
S.104
S.104f.
S.105
Diese auch innerhalb des Romans als Märchen gekennzeichnete Geschichte hat
eine klare Märchenstruktur: Nach der Schädigung erkennt der König, dass die
Riesen nicht von allein weichen wollen, und setzt zur Gegenhandlung an. Nun
entpuppt der König sich als Figur in der Funktion des Schenkers, denn er bietet
die Hand seiner Tochter zu Belohnung. Zwei erfolglose Versuche durch
Brachialgewalt und Magie scheitern; beim dritten Versuch wird das
Zaubermittel des Lachens als Hilfe angeboten, und der darauf folgende Marsch
zum Schloss (Element K) endet gattungstypisch mit dem Sieg: Die Schädigung
ist aufgehoben, und der Bursche heiratet die Königstochter.
50
3.2.3.9. Das Rübe-Märchen
Funktion
α (Mangel)
C (einsetzende
Gegenhandlung)
Handlungsinhalt
Rübes Unlust zur Holzfällerarbeit
Rübe frühstückt und haut seine Axt in den
Baumstumpf
Seite
S.113
S.113
↑ (Abreise)
K (Kampf)
Rübe bricht auf und kommt zur Mühle
erste Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen
versucht
Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft,
Lachen und Flatulenz
zweite Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen
versucht
Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft,
Lachen und Aufstoßen
dritte Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen
versucht
Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft,
Lachen und Wasser abschlagen
Müller verliert sein Messer
Rübe kehrt nach Hause zurück
S.113
S.113f.
S (Sieg)
K (Kampf)
S (Sieg)
K (Kampf)
S (Sieg)
St (Strafe)
↓ (Rückkehr)
Tabelle 9
Das
Rübemärchen
ist
ein
Schwankmärchen,
das
S.114
S.114
S.114f.
S.115
S.115
S.115
S.115
nur
dadurch
als
Zaubermärchen gewertet werden kann, weil Rübes stetige Fröhlichkeit in der
Rahmenhandlung zu dem Mittel wird, mit dem die Gegenspieler besiegt
werden können; es steht also stellvertretend für ein Zaubermittel.
Die Struktur ist sehr simpel: Aus Langeweile (Element α) entschließt sich Rübe
zur Gegenhandlung und reist los (Element ↑); er tritt in den Wettstreit mit dem
zauberkundigen Müller und muss drei Aufgaben bewältigen (K-S), bei denen
der Zaubermüller stets zu betrügen versucht. Rübe schlägt die Magie jedoch
mit einem einfachen Mittel: seiner Physis. Den mystischen Zauberkräften stellt
er körperbetont und in humoristischer Schilderung seine Körperlichkeit
entgegen, indem er flatuliert, aufstößt und uriniert, und besiegt den Müller
damit stets doppelt: Ekel oder Schreck sorgen für die Aufhebung des Zaubers,
das Lachen erklärt Rübe darüber hinaus noch zum moralischen Sieger über den
griesgrämigen Müller, der zuletzt für seine Arroganz bestraft (St) wird und
seinen kostbaren Besitz an Rübe übergeben muss (der diesen wiederum für
profane Tätigkeiten wie Speck schneiden einsetzt). Ob damit eine Liquidierung
erreicht ist, bleibt jedoch offen, da nichts mehr über Rübes Gemütslage erzählt
wird – von seinem Appetit einmal abgesehen.
51
Wenn man das Rübe-Märchen ob seines doch etwas derben Humors nicht in
die Reihe der Schwankmärchen ordnen möchte, kann man es auch als
Verkehrung der Märchen vom dummen Riesen/dem dummen Teufel sehen
(vgl. 2.1.). In diesen Märchen geht es darum, dass der Mensch sich mit List
über einen scheinbar übermächtigen Gegner durchsetzt und durch seinen
Intellekt über das Rohe und Animalische triumphiert. Diese Rollen sind im
Rübe-Märchen vertauscht, so dass aus der Überlegenheit des Geistes eine
Unterlegenheit wird und das Rohe, scheinbar Dumme zuletzt siegt (dass
Dumme über angeblich Kluge siegen, belegen aber auch die zahlreichen
Dummlingsmärchen, z.B. KHM 6353, 8954 oder 3355).
3.2.3.10. Das Agla-Märchen
Funktion
c
A
a
B
A
B
C
P
Löneg
L
A
P
Lö
L
L
Tabelle 10
Handlungsinhalt
Jelosch heiratet eine Wasserfrau
Grüner verliert seine Wasserfrau
Mutter stirbt
Grüner ruft nach Aglaia
Fischfang ist schlecht
Grüner ruft erneut nach Aglaia
Fischer ziehen Erkundigungen ein und treffen eine
Absprache mit dem Grünen
Mädchen wird zum Wasser geführt
Mädchen verschwindet
Fischfang ist wieder normal
Verlust eines Mädchens pro Jahr
Agla wird zum See geführt
Agla singt für den Grünen und trifft eine neue
Absprache
Grüner ist glücklich
Mädchen kehren zurück
Seite
S.120/S.121f.
implizit
S.120
S.121
S.122
S.122
S.123f
S.124
S.124
S.124
S.124f.
S.125
S.126
S.126
Das Agla-Märchen wird zweifach präsentiert: in Form eines Liedes und einer
Geschichte. Das Lied thematisiert dabei jedoch nur die Elemente der Prüfung,
während die Geschichte das gesamte Märchen präsentiert und daher auch zur
Vorlage der Strukturanalyse genommen wurde.
53
Die drei Federn: Die als klug geltenden Königssöhne versagen, während der jüngste und als
dumm geltenden Sohn die Aufgaben des Vaters erfüllt, eine schöne Frau und das Erbe des
Throns erhält.
54
Die goldene Gans: Der Dummling erhält die Hand der Königstochter.
55
Die drei Sprachen: Der wegen seiner Dummheit schließlich verstoßene Grafensohn wird
durch Kenntnis der Tiersprachen reich und zum Papst.
52
Insgesamt handelt es sich bei der Geschichte, die wiederum nicht als Märchen
gekennzeichnet ist, auch im Proppschen Sinne um ein Minimalmärchen (vgl.
3.2.2.), denn neben der Schädigung kommt es nur noch zu den Funktionen
Schwere Prüfung – Lösung, ehe die Schädigung liquidiert werden kann. Durch
den Verlust der Wasserfrau liegt eine erste Schädigung beim Grünen vor
(Element A), der sie vermisst und dadurch traurig wird. In seinem Rufen nach
ihr lässt er die Fischer davon wissen (Element B), doch niemand reagiert auf
diese
Vermittlung.
Eine
zweite
Schädigung,
der
Einbruch
der
Existenzgrundlage, bedroht nun die Dorfgemeinschaft und lässt sie die
Initiative ergreifen, weshalb bei der Rückkehr des Grünen (Element B) eine
Gegenhandlung einsetzt, die in der Abmachung der Fischer mit dem Grünen
endet, ihm ein Mädchen an den See zu schicken.
Das Aussenden des Mädchens hat Prüfungscharakter (Element P); allerdings
versagt das Kind, da es statt der vermissten Fröhlichkeit nur noch mehr
Kummer ins Reich des Grünen bringt. Dennoch genügt dieses Element, um die
zweite Schädigung, den Verlust der Fische, aufzuheben (Element L); im
gleichen Zug tritt allerdings eine neue Schädigung auf, nämlich der Verlust der
Mädchen. Insgesamt ist dies die dritte Schädigung des Märchens, welche nach
dem Gesetz der Steigerung für die Fischer am schwersten wiegt. Erst die mit
Erfolg bestandene Probe durch Agla kann diese Schädigung aufwiegen; sie
liquidiert zunächst die Trauer des Grünen und bringt auch die verlorenen
Mädchen zurück (Element L).
Wunderbare Aspekte kommen in diesem Märchen nur begrenzt vor; die Mutter
und der Grüne, welcher die Rolle eines Gegenspielers einnimmt, gehören dem
Volk der Wassermenschen an, so dass der Grüne auch über die
übermenschliche Fähigkeit verfügt, die Fische von den Netzen der Fischer
fernzuhalten. Wichtigeres Zaubermittel sind jedoch der Gesang, mit dem Agla
den Grünen zu sich lockt (vgl. 5.6.), und das Zaubermittel des Lachens.
53
3.2.3.11. Das Traummärchen
Funktion
W
α (Mangel)
P
Sch H Z
Lö
W
P
Sch H Z
Lö
W
P
Sch H Z
Lö
W
P
Lö
P
Lö
P
Lö
W
L
T
H
Tabelle 11
Handlungsinhalt
Lauscher kriecht durch einen Wald
Lauscher muss einen ihm unbekannten Ort erreichen
Dornenhecke versperrt den Weg
Lauscher bittet Rotkehlchen um Hilfe und erhält sie
Lauscher kann die Dornenhecke überwinden
Lauscher reist über eine Wiese
Wassergraben versperrt den Weg
Lauscher bittet Ente um Hilfe und erhält sie
Lauscher kann den Wassergraben überwinden
Lauscher klettert eine Mauer empor
Spalt versperrt den Weg
Lauscher bittet Spinne um Hilfe und erhält sie
Lauscher kann den Spalt überwinden
Lauscher erreicht den Garten
Angst hält ihn auf
Spinne treibt ihn voran, weil er erwartet wird
Lust im Wasser hält ihn auf
Ente treibt ihn voran, weil er erwartet wird
Müdigkeit und Trägheit halten ihn auf
Rotkehlchen treibt ihn voran, weil er erwartet wird
Lauscher im Labyrinth des Gartens
Lauscher hat den Ort erreicht
Lauscher wird zum steinernen Faun
Lauscher und die Frau sind vereint
Seite
S.364
S.364
S.364f.
S.365
S.365
S.365f.
S.366
S.366
S.367
S.367f.
S.368
S.368f.
S.369
S.369f
S.370
S.370
S.371
S.371
S.372
S.372
S.372ff.
S.374
S.374
S.374
Das Märchen im süßen Traum folgt dem Schema jener Märchen, in denen der
Held auszieht, ohne einen eigentlichen Grund dafür angeben zu können, und
auf seiner Reise auf seine zukünftige Frau trifft, für die er drei Aufgaben
erfüllen muss, z.B. KHM 4 oder 121, die jedoch beide den Aspekt der
Furchtlosigkeit beim Helden beinhalten, der aus sich selbst heraus die
Aufgaben erfüllen kann.
Lauschers wandert durch einen Wald (Element W), ohne sein Ziel zu kennen.
Allerdings weiß er, dass er eines hat und dieses erreichen muss
(Mangelsituation). Nacheinander erreicht er drei Hindernisse, die er
überwinden muss (Elemente P – Lö). Um diese bewältigen zu können, braucht
er die Hilfe dreier Tiere, mit denen er gattungstypisch kommunizieren kann.
Da er sie höflich um Hilfe bittet (Elemente Sch und H), gewähren sie ihm
einen Rat und übernatürliche Hilfe (Z); so kann Lauscher eine Dornenhecke
durchqueren,
ohne
Schaden
zu
nehmen,
einen
Teich
über
sieben
Seerosenblätter überwinden und an einem Spinnenfaden über eine Kluft
54
klettern. Nun hat er den Zielort erreicht, muss aber drei weitere Prüfungen
ablegen, die von denselben Tieren in umgekehrter Reihenfolge angemerkt
werden, im Grunde aber in Lauscher selbst liegen und damit auch nur von ihm
allein überwunden werden können. Lauscher muss seine Angst, seine Lust,
etwas anderes zu tun, und seinen Trägheit überwinden, um das eigentliche Ziel,
den Brunnen mit den beiden Steinstatuen, zu erreichen (L). Durch plötzliche
und unmotivierte Transfiguration zum Steinfaun wird ihm die Möglichkeit
gewährt, Kontakt mit der Frau aufzunehmen, und in der sexuellen Vereinigung
beider56 kann die Auflösung des Märchens in Funktion H* gesehen werden,
wobei die Hochzeit durch den Akt sublimiert wird.
3.2.3.12. Das Märchen von Oleg und Boleg
Funktion
α
B (Vermittlung)
C (einsetzende
Gegenhandlung)
↑ (Abreise)
Sch H Z
C (einsetzende
Gegenhandlung)
↑ (Abreise)
Sch H Z
W
(Raumvermittlung)
L
R (Rettung)
X
U
P
Lö
E und Ü
St
H
Lneg
Tabelle 12
Handlungsinhalt
Vater ist krank
weise Frau berichtet von den heilkräftigen Beeren;
Vater erzählt seinen Söhne davon
Oleg entschließt sich, die Beeren zu holen
Seite
S.679
S.679
Oleg rudert drei Tage den Fluss hinauf
Fischotter bittet Oleg um eine Beere; Oleg verweigert
sie ihm; Elfenkönigin verzaubert Oleg
Boleg entschließt sich, die Beeren zu holen
S.679
S.680
Boleg rudert drei Tage den Fluss hinauf
Biber bittet Boleg um eine Beere, dieser gewährt sie
ihm; Biber bittet bei der Elfenkönigin für Boleg,
woraufhin dieser erlöst wird
Boleg und der von ihm frei gebetene Oleg machen
sich auf den Weg nach Hause; dabei betrügt Oleg
seinen Bruder
Oleg bringt die Beere zu seinem Vater; dieser
gesundet
Biber retten Bolegs Leben
Boleg kehrt nach Hause zurück, wird aber nicht als
derjenige erkannt, der den Vater gerettet hat
Oleg gilt als Held und ist Erbe seines Vaters
Boleg soll die Fischotter töten, obwohl er weiß,
weshalb diese seinem Bruder das Leben schwer
machen
Boleg erzählt die wahre Geschichte
Vater erkennt am Boot Boleg als denjenigen, der die
Wahrheit erzählt, und enttarnt Oleg als Lügner
Oleg wird verstoßen
Boleg ist als einziger anerkannter Sohn der Erbe
seines Vaters
Vater stirbt
S.680
S.681f.
S.679
S.680
S.682f.
S.683
S.684
S.685
S.685f.
S.686
S.686
S.687
S.687
S.687
S.687
Neuhaus spricht von einer sexuellen „Brachialsymbolik“ im Bild der Vereinigung unter der
Springbrunnenfontäne; vgl. Neuhaus: Märchen, S.329
56
55
Die Binnenerzählung über Oleg und Boleg folgt der morphologischen Struktur
des Märchens sehr genau, auch wenn sie nicht als Märchen gekennzeichnet
wird, sondern laut ihrem Erzähler Wazzek eine Geschichte ist, „die ich als
Junge in unserem Dorf von einem Fischer gehört habe“ (Stein und Flöte,
S.679); ob es sich dabei nur um eine Erzählung oder den Bericht eines
tatsächlichen Vorfalls handelt, lässt der Erzähler allerdings offen.
Die Geschichte von Oleg und Boleg beginnt mit Element α, der
Mangelsituation. Der Vater liegt auf dem Sterbebett und weiß durch eine
heilkundige Frau von den Beeren auf der Insel der Elfenkönigin, die ihn
genesen lassen würden. Er unterrichtet zunächst seinen Sohn Oleg darüber
(Element B), der auch sogleich bereit ist, aufzubrechen (Element C) und mit
seinem Boot den Fluss hinauffährt (Element ↑), wo er Insel und heilkräftige
Misteln findet. Aus eigensüchtigen Motiven fällt er eine der Pappeln, um die
Beeren zu erhalten und verletzt dabei einen Fischotter schwer. Dieser prüft ihn,
indem er ihn bittet, ihm zu helfen (Element Sch), doch Oleg versagt und lässt
den Otter sterben (Element H). Zur Strafe für seine Tat wird er von der
Elfenkönigin verzaubert und muss auf der Insel stehen bleiben (Zneg).
Nun wiederholen sich die Elemente B, C und ↑, als der zweite Sohn des
Fischers, Boleg, aufbricht, um die Aufgabe zu erfüllen und seinem Vater das
Leben zu retten. Auch er fällt eine Pappel und verletzt dabei ein Tier, doch als
der Biber ihn um Hilfe bittet (Element Sch), besteht Boleg die Prüfung
(Element H) und erhält zur Belohnung die Freundschaft des Bibers (Element
Z), die ihm auch gleich danach zugute kommt, als auch er von der
Elfenkönigin verzaubert wird, doch durch die Fürbitte des Bibers befreit wird
und mitsamt eines Mistelzweigs die Erlaubnis zu gehen erhält. Auf seine Bitte
hin wird auch sein Bruder befreit, und gemeinsam machen sie sich auf den
Rückweg (Element W).
Statt eines Kampfes kommt es zum Betrug an Boleg durch Oleg, der ihm den
Mistelzweig im Schlaf fortnimmt und seinen Bruder den Fluss hinab treiben
56
lässt. Dennoch erfolgt Element L, die Liquidierung des Mangels, denn der
Vater wird von Oleg dank der Beere geheilt und zum Erben erklärt.
Boleg wird mittlerweile von zwei Bibern gerettet (Element R) und kehrt
ebenfalls zurück, wo er jedoch die Wahrheit mit Rücksicht auf seinen Vater
verschweigt und Oleg in der Rolle des Helden belässt (Element U). Erst als er
die zu Recht auf Oleg erzürnten Fischotter töten soll (Element P), fasst Boleg
sich ein Herz und erzählt die Wahrheit (Element Lö). Der Vater durchschaut
nun Olegs Lügen anhand des Bootes (Elemente E und Ü) und verstößt Oleg
(Element St); Boleg ist somit auch der Erbe seines Vaters (Element H).
Zu diesem Märchen findet sich ein recht ähnliches in Grimms Märchen: Das
Wasser des Lebens (KHM 97). Die Ausgangssituation ist ebenfalls der
todkranke Vater, der ein Wundermittel zur Genesung benötigt, das Wasser des
Lebens (Element α). Ein alter Mann unterrichtet die drei Königssöhne darüber
(Element B), von denen der älteste aufbrechen will, um das Wasser zu finden
(Element C). Seine Motivation ist hierbei analog zu Olegs Motivation zu
sehen.
„Der Prinz dachte in seinem Herzen: ‚Bringe ich das Wasser, so bin ich meinem
Vater der liebste und erbe das Reich.’“ (KHM 97; S.69)
„Wenn ich dem Vater einen solchen Mistelzweig bringe, dachte er, dann wird er
mir so dankbar sein, dass er mich zu seinem alleinigen Erben einsetzt.“ (Stein
und Flöte, S.680)
Der Prinz bricht auf, auch wenn im Gegensatz zu Olegs Vater der König erst
überredet werden muss, seinen Sohn gehen zu lassen (Element ↑) und begegnet
einem Zwerg (Element Sch), auf dessen Frage nach dem Wohin er nicht
höflich antwortet (Element H) und zur Strafe in einem Berg gefangen gesetzt
wird (Element Zneg).
Nun wiederholt sich die Sequenz vom Aufbruch des Sohnes bis zur
Gefangensetzung im Berg beim zweiten Prinzen, der ebenfalls scheitert, und
beim dritten Prinzen, der die Prüfung besteht und zur Belohnung erfährt, wo
das Wasser des Lebens zu finden ist und wie er es erlangen kann (Element Z).
Der Prinz reist zum angegebenen Ort (Element W), wo er die Prinzessin erlöst
(erneut die Elemente Sch, H und Z) und nicht nur das Wasser des Lebens,
57
sondern auch ein magisches Brot und ein magisches Schwert erringt (sowie die
Hand der Prinzessin). Das Abschlagen der Ferse durch das zuschlagende
Schlosstor kennzeichnet den Helden (Element M).
Auch der Prinz bittet um Vergebung für seine Brüder, obwohl er vom Schenker
(dem Zwerg) gewarnt wird, wobei es wieder Parallelen zur Geschichte von
Oleg und Boleg gibt:
„Hüte dich vor ihnen, sie haben ein böses Herz.“57
„Hoffentlich bereust du es nicht, dass du deinen Bruder freigebeten hast.“ 58
Mit dem Erringen des Wassers des Lebens ist die Liquidierung des Mangels
erreicht (Element L), doch auf dem Rückweg (Element ↓) vollbringt der Prinz
nicht nur drei Wundertaten, sondern wird auch von seinen Brüdern verraten,
die das Wasser austauschen und eigene Ansprüche stellen (Element U). Dies
löst eine neue Sequenz aus: Der Prinz ist um sein Erbe gebracht (Element A)
und soll getötet werden. Der Jäger hat jedoch Mitleid und lässt ihn ziehen
(Element B6), woraufhin sich der Prinz versteckt (Element ↑). Nun wird durch
die erlöste Prinzessin eine neue Aufgabe gestellt (Element Sch), bei der seine
beiden älteren Brüder nacheinander versagen (Element H) und fortgeschickt
werden (Element Zneg), die der Prinz aber besteht (Element H), woraufhin er
nicht nur die Prinzessin heiratet (Element H), sondern auch erfährt, dass sein
Vater ihm mittlerweile verziehen hat (Element L). Nachgeschoben werden
auch die Brüder ihrer Lügen überführt (Element Ü) und entgehen nur deshalb
der Strafe, weil sie selbst schon geflohen sind (Element St).
Das KHM 97 ist umfangreicher in seinen Funktionen, allerdings vor dem
Rückweg beinahe identisch aufgebaut. Die Motive und handelnden Figuren
ähneln sich ebenfalls. Es gibt eine Vater-Sohn-Konstellation, in der der Vater
todkrank ist und die Söhne als Sucher ausgesandt werden. Egoistische Söhne,
die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, scheitern, während der selbstlose
Sohn, dessen Ziel nur das Leben seines Vaters ist, die Aufgabe bewältigen
kann. In beiden Märchen ist das gesuchte Objekt ein heilendes Zaubermittel,
57
58
KHM 97; S.72
Stein und Flöte, S.683
58
das bei einer Frauengestalt gefunden werden kann, und in beiden Märchen wird
die Information über das Heilmittel von einer dritten, weisen Person vermittelt.
Durch den Tod des Vaters am Ende büßt die Geschichte jedoch einen
wichtigen Teil ihrer Märchenhaftigkeit ein – nicht nur, dass dem Helden Boleg
nun eine erneute, nicht zu liquidierende Schädigung zugefügt wird; der Sinn
seiner Suchwanderung wird auch ad absurdum geführt, da Boleg statt des
gesetzten Ziels, der Errettung des Lebens seines Vaters, das genaue Gegenteil
bewirkt hat, nämlich den Tod seines Vaters.
3.2.4. Zwischenfazit
Die Tiefenstrukturen des Zaubermärchens lassen sich in allen aufgezeigten
zwölf Märchenhandlungen nachvollziehen, auch wenn die Reihenfolge der
Funktionen partiell variabel gestaltet ist. Auffallend ist, dass in fünf
Märchenhandlungen jedoch statt der Elemente L bzw. H eine Verweigerung
des glücklichen Endes folgt – ein klarer Bruch mit Märchentraditionen, denn:
Eine Grundlinie des Hollywood-Films, auf die in der Bezeichnung
„Traumfabrik“ ironisch angespielt wird, besteht darin, das das Happy End zu den
ungeschriebenen Gesetzen des Erzählens gehören. Hollywood-Filme gehen gut
aus. Und diese Tatsache verbindet sie mit den Märchen. 59
Diese Brüche sind für den Fortgang der Rahmenhandlung jedoch
unvermeidlich, da jede Erfüllung des Märchenanspruchs nach einem
glücklichen Ende auch das Ende von Lauschers Wanderung zur Folge hätte. So
aber entwickelt sich wie etwa beim Gisa-Märchen eine Verquickung der
einzelnen Bücher durch das Fortführen einer neuen Märchensequenz, in der die
Rollenverteilung verändert wird (aus der Gegenspielerin des Barlo-Märchens
wird die tragische Heldin des Gisa-Märchens), oder der scheinbar unglückliche
Ausgang, wie etwa die fehlende Verbindung zwischen Arnilukka und
Lauscher, erlaubt es dem Helden, weiterzuziehen (und bei den Blutaxtleuten
von der Lösung der Sprachlosigkeit seiner Tochter zu erfahren).
Die fortführenden neuen Schädigungen (Lauschers Ruhelosigkeit angesichts
Barlos Hochzeit, seine Verfehlungen als Flöter, die Verwandlung in den Faun
und in eine Steinfigur, sein Bruch mit Arnilukka usw.) unterstreichen
59
Schneider: Film – Märchen – Wirklichkeiten; S.83
59
zusätzlich noch die Kernaussage des Buches, die es auch schon im
vollständigen Titel trägt: „und das ist noch nicht alles“. Obwohl Lauscher sich
durch Bestehen seiner Abenteuer weiterentwickelt und als Persönlichkeit reift,
ist dieser Prozess nie abgeschlossen, wie sich in den Zwiegesprächen mit dem
Zirbel und den Vorwürfen des Holzstocks immer wieder zeigt.
„Du bist ein Esel!“, sagte er. „Da rede ich nun und rede, und du begreifst
überhaupt nichts. Hast du nicht immer wieder und hier in diesem Tal auf
besondere Weise erfahren, dass du geliebt wirst? Wärst du sonst überhaupt bis
hierher gekommen? Das sollte doch Grund genug für eine Hoffnung sein, die für
das ganze Leben reicht. Seit du diese Augen, die du nicht einmal beschreiben
kannst, zum ersten Mal gesehen hast, hättest du das schon spüren müssen, aber
du warst die meiste Zeit ja damit beschäftigt, bei alledem etwas für dich selber
herauszuschlagen! Was ist dir in dem bisschen Leben, das du hinter dir hast,
nicht schon alles geschenkt worden! Und du hast es eingesteckt, als stünde es dir
zu. Vielleicht solltest du einmal damit anfangen, etwas herzuschenken, damit du
merkst, was dir noch alles an Hoffnung bleibt. (…)“60
Beendet werden die Handlungen dadurch im Wesentlichen durch die Abgabe
der Zaubergegenstände, die sie ausgelöst haben: Lauscher übergibt den
Augenstein an Urla und vererbt damit seine Liebe an sein Kind; er überlässt die
Flöte seinem Schüler Schneefink, der ihn in der Kunst sowieso schon
übertrumpft hat, damit dieser die Musik und damit die Magie in die Welt
tragen kann, und im Angesicht seines Todes pflanzt er den Zirbel in der
Hoffnung ein, dass auch aus ihm neues Leben entsteht.
Die Botschaft des Romans ist somit ein Weiterschreiten, ein Fortdauern über
die Generationen. Diese Kontinuität stünde in erschreckendem Kontrast zu
einem traditionellen Märchenabschluss.
Auffällig ist ebenfalls, dass die Zahl der Märchenhandlungen, die nacheinander
oder parallel ins Geschehen geknüpft sind, mit Fortlaufen des Romans sinkt
und Märchenelemente in der Tiefenstruktur dort kaum noch vorkommen.
Möglicher Grund hierfür könnte die Betonung der Jugend in den meisten
Märchen sein, während hier das Alter eines Märchenhelden dargestellt wird.
60
Stein und Flöte, S.705f.
60
3.3. Übernahme äußerer Märchenelemente
Nachdem ich mich bisher um die auffällige Dreiteilung des Aufbaus und die
Tiefenstrukturen der Märchenhandlungen innerhalb des Romans bemüht habe,
möchte ich nun auf eine dritte strukturelle Beeinflussung von Stein und Flöte
zu sprechen kommen: die Übernahme äußerer Märchenelemente in die
Textform des Romans.
3.3.1. Anfangs- und Endsequenz
Da die formelartigen Anfänge und Schlüsse von Märchen als wohl bekannteste
äußere Merkmale anzusehen sind61, möchte ich auch überprüfen, inwiefern
dieses Märchenelement von Bemmann aufgegriffen wurde. Beschäftiget man
sich mit dem Romananfang und -ende bei Stein und Flöte, ergeben sich
deutliche Parallelen zu den Beginnen der Märchen.
3.3.1.1. Der Romananfang
„In Fraglund wurde vorzeiten ein Knabe geboren, von dessen merkwürdigem
Schicksal hier erzählt werden soll.“62
Die häufigsten Anfangsformeln in den KHM sind „Es war einmal“ und „Es
war(en)“; alternativ beginnen die Märchen direkt mit der Hauptfigur, ihrem
Gegenspieler oder einem ihrer Vorfahren, insbesondere Mutter oder Vater.
Bemmann wählt das weniger geläufige „vorzeiten“, das er nicht initial einsetzt,
sondern durch Beginn mit einem Lokalattribut erst an die dritte Stelle63 stellt.
Diese Formel wird bei wenigen Märchen genutzt; eine Auszählung der KHM
findet nur sechs Beispiele von Vorzeiten-Märchen, darunter allerdings zwei
Märchen, die zum bekannten Kanon der Gebrüder Grimm zählen, der in allen
Märchenbüchern abgedruckt wird: Dornröschen64 (KHM 50) und Tischlein
deck dich
65
(KHM 36). Die übrigen vier Märchen (KHM 57: Der goldene
61
Sie stehen bereits pars pro toto für das gesamte Genre, weshalb Märchentheoretiker wie
Lüthi oder Röhrich ihren Arbeiten solche Formeln zitiert oder in leichter Abwandlung als Titel
geben; vgl. „So leben sie noch heute“ bzw. „Es war einmal“ (Lüthi) oder „..und weil sie nicht
gestorben sind“ (Röhrich)
62
Stein und Flöte, S.11
63
Dritte Stelle bei Zählung der Satzteile; wörtlich gezählt ist es natürlich die vierte Stelle.
64
„Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: ‚Ach, wenn wir doch
ein Kind hätten!’, und kriegten immer keins.“ (KHM 50; Bd.1, S.257)
65
„Vorzeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine einzige Ziege.“ (KHM 36;
Bd.1, S.195)
61
Vogel66, KHM 134: Die sechs Diener67, KHM 175: Der Mond68 und KHM
194: Die Kornähre69) zählen hingegen zu den unbekannteren. Dennoch kann
„vorzeiten“ als Eingangsformel gelten, zumal der Märchencharakter des
Romananfangs im Gesamtzusammenhang unterstrichen wird.
Inhaltlich beginnen Märchen oft mit Nennung des Helden oder seiner Eltern;
Anzahl und Geschlecht der Kinder werden genannt (z.B. zwei Kinder, drei
Söhne, drei Schwestern). Mitunter wird auch zunächst die Geschichte der
Eltern angerissen, indem diese um die Geburt des Kindes bitten müssen (z.B.
KHM 50, wo ein Frosch Dornröschens Mutter die Erfüllung ihres Wunsches
ankündigt, oder KHM 144, in dem König und Königin ihre Unfruchtbarkeit
bejammern, ehe ihnen das Eselein geboren wird) oder ihnen ein besonderes
Schicksal widerfährt, das Auswirkungen auf das Leben ihrer Kinder hat (z.B.
KHM 85, in dem der Fischer einen verzauberten Fisch fängt und wieder
freilässt und zum Dank u.a. mit zwei goldenen Kindern belohnt wird, oder
KHM 29, wo den Eltern bei der Geburt prophezeit wird, dass das Glückskind
die Königstochter heiraten wird, und damit der König zum Gegenspieler wird).
„Der Märchenerzähler weist mit gewissen Anfangsformeln auf die
Unbestimmtheit von Zeit und Raum hin, in denen seine Geschichte spielt, wie
mit dem bekannten ‚Es war einmal’“70, wobei durchaus fest definierte Orte
(z.B. ein Wald oder ein Schloss) vorkommen, und ebenso verfährt auch
Bemmann. Drei Einstiegsfragen, die märchentypisch zu Anfang geklärt
werden, werden auch in Stein und Flöte beantwortet: wer, wann und wo.
„In Fraglund wurde vorzeiten ein Knabe geboren, von dessen merkwürdigem
Schicksal hier erzählt werden soll.“
„Es war vorzeiten ein König, der hatte einen schönen Lustgarten hinter seinem Schloss, darin
stand ein Baum, der goldene Äpfel trug.“ (KHM 57; Bd. 1, S.292)
67
„Vorzeiten lebte eine alte Königin, die war eine Zauberin, und ihre Tochter war das schönste
Mädchen unter der Sonne.“ (KHM 134; Bd.2, S.221)
68
„Vorzeiten gab es ein Land, wo die Nacht immer dunkel und der Himmel wie ein schwarzes
Tuch darübergebreitet war, denn es ging dort niemals der Mond auf, und kein Stern blinkte in
der Finsternis.“ (KHM 175; Bd. 2, S.328)
69
„Vorzeiten, als Gott noch selbst auf Erden wandelte, da war die Fruchtbarkeit des Bodens
viel größer, als sie jetzt ist: damals trugen die Ähren nicht fünfzig- oder sechzigfältig, sondern
vier- bis fünfhundertfältig.“ (KHM 194; Bd. 2, S.408)
70
Beit: Märchen, S.9
66
62
Wer
Der Protagonist des Romans wird noch ohne Namen eingeführt; zu Beginn ist
er nur ein Knabe. Seinen Namen erhält er noch auf derselben Seite, nachdem
Vater, Mutter und Großvater des Kindes angerissen wurden, und auch dieser
weist einige Parallelen zu Märchennamen auf, die aber später behandelt
werden. Zunächst einmal unterscheidet ihn nichts von den Söhnen, Töchtern,
Brüdern,
Schwestern,
Soldaten,
Schneidern
oder
Bauern,
die
in
Märchenanfängen vorstellt werden. Diese relative Offenheit zu Beginn über die
Art des Helden verbindet Lauscher mit den Protagonisten jener Märchen, die
ihrem Helden keinen Namen geben, sondern ihn Sohn, Prinz oder
Müllersbursche bleiben lassen – eine Neigung, die nach Taylor in der
Entwicklung der Märchen liegt: Da der Schwerpunkt auf der Handlung, nicht
auf dem Handelnden liegt, entwickeln sich die Namen der Figuren erst gar
nicht, da die Märchen im Typischen, Formelhaften und Allgemeinen
erstarren.71
Wo
Die meisten Märchen geben als Ort höchstens Lokalitäten wie Wald oder Berg
an, auch wenn einige wenige direkte Angaben machen72. Es sind stereotype
Schauplätze, die von den Hörern und Lesern in der Regel in ihrer Umgebung
wiedergefunden werden können, solange es sich nicht um goldene Berge oder
das Schlauraffenland handelt. Fraglund nun ist ein fiktiver Ort in der
imaginären Welt, in der Stein und Flöte spielt; in seiner Fremdheit signalisiert
er dem Leser prinzipiell eine Abkehr vom Märchen und eine Hinwendung zur
Fantasy, in der fremde Welten wie Mittelerde73, die Scheibenwelt74 oder
Phantasién75 zum vertrauten Inventar gehören. Die Fantasy verlangt geradezu
einen Bruch mit der herkömmlichen Wirklichkeit und unterstreicht den
Charakter der anderen Welt durch fiktive Geschichtschroniken oder Karten76:
„Wie Tolkien entwickelt Bemmann einen ganzen Mikrokosmos, eine
umfangreiche geschlossene Welt mit zahlreichen Figuren und einer eigenen
71
Taylor: Names in Folktales.
KHM 33 etwa spielt in der Schweiz und KHM 137 in Ostindien.
73
Schauplatz der Romane „Herr der Ringe“ und „Der kleine Hobbit“ von J.R.R.Tolkien
74
Schauplatz einer erfolgreichen Romanreihe des britischen Fantasyautors Terry Pratchett
75
Schauplatz der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende
76
Vgl. Zgorzelski: Time and Space, S.135ff. für ein Beispiel anhand Tolkiens Mittelerde
72
63
komplexen Handlung.“77 Die Einführung Fraglunds transferiert Lauschers
Abenteuer somit schon zu Beginn nicht nur ins Märchenhafte, sondern auch in
eine Fantasywelt.
Wann
Die bekannteste Eingangsformel für Märchen ist wohl „Es war einmal“.
Ebenso wie „vorzeiten“ erweckt sie den Eindruck einer Zeitlosigkeit; ein
solcher Anfang „ruft mit einem Schlag den Sinn für eine weite Welt
unermesslicher Zeiten wach“78. Bemmann verzichtet an diesem Punkt auf eine
genauere temporäre Einordnung; im Verlauf des Buches wird er immer wieder
durch Angaben der Reisezeit oder der Jahreszeit den Eindruck einer
fortlaufenden Zeitschiene erwecken. Das „vorzeiten“ suggeriert jedoch, dass es
jederzeit oder niemals sein könnte; dies unterscheidet Bemmann von
Fantasywerken wie etwa dem Herrn der Ringe, der schon zu einer ganz
bestimmten Zeit seiner fiktiven Chronik von Mittelerde einsetzt.79
3.3.1.2. Das Romanende
Im Gegensatz zum Märchenanfang ist das Ende nicht so stark formal
festgelegt. Zwar gibt es einige Schlussformeln, die als märchentypisch
wahrgenommen werden, wie „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie
noch heute“ oder „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer
Tage“; de facto sind diese Formeln aber die Ausnahme bei den Märchen. Das
eigentliche Ende eines Märchens wird durch seinen Inhalt geprägt: Wenn die
Schädigungen behoben oder die Hochzeit angesetzt ist, kann sich der Hörer
beruhigt zurücklehnen, denn er weiß ja bereits, was nun kommt: ein
vollkommen glückliches Ende.
Dass
dennoch
Schlussformeln
analog
zu
den
Eingangsformeln
als
gattungstypisch begriffen werden, hängt wohl an der starren Form der
Märchen, in denen die Strukturen mehr oder minder flexibel festlegen und
Formeln oder zumindest fast wortwörtliche Wiederholung
77
Neuhaus: Märchen, S.324
Tolkien: Über Märchen, S.82
79
Vgl. Zgorzelski: Time and Space, S.128f.
78
64
bestimmter
Ereignisse vom Hörer nicht abgelehnt, sondern erwartet werden.80 Darüber
hinaus weckt auch der Aufbau der phantastischen Welt der Märchen eine
weitere Erwartung im Hörer:
Der Erzähler, der seine Hörer auf diese Weise in die Wunderwelt einführt und
dann den Einblick in sie vermittelt, führt aber auch seine Hörer mit einer
Schlussformel wieder aus ihr heraus, indem er die erlebten Geschehnisse in ihrer
Bedeutung für den Hörer relativiert. 81
Bemmann hat sich durch seinen häufigen Bruch mit den Erwartungen der
Leser eine gewisse Freiheit von dieser Erwartung erwirkt. Wenn so viele Dinge
anders verlaufen als im Märchen, warum sollte Lauscher am Ende dann
glücklich und zufrieden bis an das Ende seiner Tage leben? Doch gerade hier
gelingt Bemmann eine kunstvolle Wendung: Er schließt einen Kreis.
Zum Ende des Romans hat Lauscher alle Verpflichtungen abgegeben. Frühere
Befehlsgeber wie Barlo sind verstorben, die Zaubermittel haben ihre Erben
gefunden,
mit
Rikka,
seiner
Enkeltochter,
und
Schneefink,
seinem
Meisterschüler, hat er Menschen gefunden, die das fortführen und besser
machen können, was er als Jüngling im wahrsten Sinne des Wortes verbockt
hat82. Den letzten Konflikt mit dem Grauen entscheidet er auch für sich und hat
damit nicht nur Liebe und Verpflichtungen, sondern auch seine Angst
überwunden. Lauscher ist frei, um zu gehen, wohin immer er möchte. Da der
Roman aber seine gesamte Lebensgeschichte beinhaltet, kann sein Ende nur
der Tod sein.
Der Roman hat den Leser gelehrt, dass es keine Rückkehr aus dem Tod geben
kann; wer in Lauschers Welt einmal stirbt, bleibt auch tot und erhält keine
zweite Chance durch ein märchenhaftes Wunder. Durch die Öffnung einer
zweiten, einer transzendentalen Welt nach dem Tod, einer Jenseitsvorstellung,
in der Lauscher auch dem Sanften Flöter wieder begegnet, kann Bemmann
jedoch die Botschaft der Schlussformeln wie „Und wenn sie nicht gestorben
sind…“ adaptieren. So wie diese nämlich ein ewiges Leben suggeriert,
verkündet auch der Sanfte Flöte: „Was du bisher erfahren hast, das war doch
80
Lüthi: So leben sie noch heute, S.24f.
Von Beit: Märchen, S.10
82
Zur Strafe seines Fehlverhaltens mit der Flöte und der Ignoranz dessen, was ihn den Stein zu
lehren versucht hat, nämlich die Zugehörigkeit zu Arnilukka, erhält Lauscher schließlich
Bocksbeine.
81
65
nur eine Vorahnung vom Anfang und längst/noch nicht/alles.“83 Auch dies
vermittelt den Anspruch von Ewigkeit und Zeitlosigkeit, den Roman wie
Märchen mit den Anfangsformeln geschaffen haben. Darüber hinaus sind diese
letzten Worte nicht nur ein beliebtes Leitmotiv, das den Roman in Variationen
durchzieht84, sondern auch ein Zitat des vollständigen Buchtitels – und somit
ergibt sich tatsächlich ein Kreislauf vom Anfang zum Ende.
3.3.2. Erzählsituation
Frühe Märchenbücher (z.B. die Märchen von 1001 Nacht oder die
Sammlungen von Straparole oder Basile) sind eine Sammlung von einzelnen
Geschichten, die in einer Rahmenerzählung eingebettet sind, wobei die
einzelnen Märchen mehr oder weniger mit dieser Rahmenhandlung verknüpft
sind.
Ähnlich ist auch Stein und Flöte aufgebaut, das über 29 Binnenerzählungen85
verfügt, die Lauscher berichtet werden, dazu zehn in sich geschlossene,
rückblickende Geschichten, die er als Steinfigur miterlebt, neun in sich
geschlossene Träume, 25 Balladen und Lieder86. Bei jedem dieser Binnentexte
ist die Einbindung gleich. Zunächst wird die Erzähl- bzw. Vortragssituation
(bei den Träumen die Umstände des Einschlafens) geschildert; anschließend
erfolgt die Erzählung bzw. Traum oder Lied, und im Anschluss daran
reflektiert Lauscher über das Gehörte, die Umstände seines Erwachens und
seine Erinnerungen an den Traum werden geschildert oder aber die Reaktionen
des Publikums werden dargestellt. Somit wird jeder Binnentext in eine erneute
Dreierstruktur gegliedert, die aus Einführung, Hauptteil und Reflektion besteht.
83
Stein und Flöte, S.818
Vgl. Stein und Flöte, S.14, S.53, S.90, S.19, S.30, S.94, S.112, S.140, S.208, S.244, S.268,
S.282, S.455, S.497, S.567
85
Vgl. 7.1.
86
Vgl. 7.2.
84
66
Die folgenden Beispiele sind typisch für die Einbindung einer Geschichte (1
und 2), eines Traums (3) und einer Ballade bzw. eines Liedes (4):
Einführung
Hauptteil
Reflexion
(1) So ging der Nachmittag
vorüber, und als auch noch
ein nicht minder reichhaltiges
Abendessen
aufgetischt
worden war und keiner mehr
so rechte Lust hatte, von
seinem Platz aufzustehen,
sagte Kurlosch zu Barlo und
Lauscher: „Jetzt ist es an der
Zeit, dass ihr erfahrt, bei
welcher Gelegenheit ich
Arnis Stein zum ersten Mal
gesehen habe“, und er begann
mit der
Stein und Flöte; S.132)
Geschichte von
Arni und den
Leuten am See
Stein und
Flöte;
S.132-140
„Jetzt weißt du, woher ich
deinen
Stein
kenne,
Lauscher“, sagte Kurlosch
noch.
„Ich weiß noch lange nicht
alles“, sagte Lauscher, „und
durch deine Geschichte habe
ich viel über den Stein
erfahren. Arni konnte mir
nicht mehr viel sagen, als er
ihn mir gab.“ Bald darauf
verabschiedete sich das Hochzeitspaar, und alle gingen
schlafen.
Stein und Flöte; S.140
(2) „So einfach ist es nun auch
wieder nicht“, sagte Wazzek
lächelnd. „Ich will dir eine
Geschichte erzählen, die ich
als Junge in unserem Dorf
von einem Fischer gehört
habe.
Stein und Flöte; S.679
Geschichte von
Oleg und
Boleg
Stein und
Flöte;
S.679-687
Nun frage ich dich, Flöter:
Wer war schuld am Tod
dieses Mannes: Oleg, der ihm
mit dem Mistelzweig das
Leben zurückbrachte, oder
Boleg, der ihn mit seiner
Wahrheit tötete?“
Lauscher dachte lange nach
und sagte dann: „Boleg hat
den Tod seines Vaters
verursacht, (…)?“
Stein und Flöte; S.687
(3) Seine Enttäuschung ließ ihn
nicht einschlafen. (…) Noch
einmal ließ er den braunen
Saft auf seinen Handteller
tropfen, und diesmal warf es
ihn sofort zurück auf sein
Bett, sobald seine Zunge den
bittersüßen
Geschmack
aufnahm, und im nächsten
Augenblick begann schon
Stein und Flöte; S.400
Der schwarze
Traum
Stein und
Flöte; S.400f.
Dieses
Bewusstsein
der
Verlorenheit
und
des
unaufhaltsamen
Sturzes
beherrschte ihn noch, als er
im Morgengrauen aufwachte.
Im fahlen Dämmerlicht kam
ihm alles unwirklich vor, die
Gegenstände
der
Stube
schienen aus allzu dünnem
Stoff zu bestehen, als dass
man sie hätte greifen können.
Stein und Flöte; S.402
(4)
In
der
hektischen
Lustlosigkeit dieser Tonfolge
schwang ein Misslaut von
untergründiger Bösartigkeit
Refrain des
Liedes über
den Goldwanst
Stein und
Sobald sie diesen Gesang, der
auch ihnen anscheinend nicht
unbekannt war, zu hören
bekamen,
ließen
die
67
mit, der ihm Unbehagen, ja
fast Angst verursachte. Den
Junkern schien diese Art von
Musik jedoch zu gefallen,
und der Text zu diesem Lied
war ihnen offenbar schon
vertraut; denn sie scharten
sich sogleich um den Flöter,
und einer fing an, mit hoher
greller Stimme vorzusingen,
während die anderen im Chor
den Refrain herausschrieen:
Stein und Flöte; S.780
Flöte; S.780
Goldschmiedesöhne Belarni
einfach stehen und kamen
langsam
herangeschritten,
doch jetzt war in ihrer
gemessenen Gangart schon so
etwas wie verhaltene Wut
spürbar, etwa auch darin, wie
sie sich enger zusammenschlossen und auch in einer
gewissen Steifnackigkeit ihrer
Haltung.
Stein und Flöte; S.781
In der Einführung werden alle relevanten Fragen beantwortet. Es wird erläutert,
wer wem an welchem Ort in wessen Gesellschaft und zu welcher Zeit etwas
erzählt, manchmal aus auch welcher Motivation heraus oder in welcher
Stimmung sich der Erzähler befindet.
Vergleicht man dies nun etwa mit Basiles Pentamerone, ergibt sich eine
Parallelstruktur. Auch Basile setzt jedem Märchen eine kurze Einführung vor
und lässt eine Reaktion auf die Erzählung im Anschluss folgen; allerdings sind
diese Textpassagen genreabhängig kürzer als in Stein und Flöte. Im
Pentamerone umfassen Einführung und Reflexion jeweils nur einen Satz; beide
stehen unmittelbar hintereinander am Anfang eines Märchens (zunächst die
Reflexion auf das vorangehende Märchen, dann die Einführung für das neue
Märchen); Ausnahmen bilden nur das erste und das letzte Märchen eines
Tages, bei denen die Einführung bzw. die Reflexion etwas länger ausfällt und
eine Aufzählung des übrigen Geschehens außerhalb der Märchen enthält.
Für gewöhnlich sind die Übergänge aber wie folgende zwei Beispiele
aufgebaut:
„Mit so unbeschreiblichem Vergnügen wurde das Märchen Zezas vernommen,
dass, wenn es auch noch eine Stunde gedauert hätte, diese den Zuhörern wie ein
Augenblick erschienen wäre. Als nun hierauf die Reihe an Cecca kam, so begann
sie also zu reden:“87
„Als die Erzählung Antonellas zu Ende geführt und wegen ihrer Schönheit und
Anmut und weil sie für ein ehrbares Mädchen von so gutem Beispiel sein
könnte, lebhafte gelobt worden war, begann Ciulla, welche jetzt die Reihe traf,
auf folgende Weise:“88
87
88
Pentamerone, S.19
Ebenda, S.76
68
Die Kommentare über die Märchen mögen kurz sein, sind in ihrem Umfang
jedoch dem der Märchen angepasst. Die Übergänge zwischen den einzelnen
Geschichten in Tausend und eine Nacht sind sogar noch knapper gefasst; hier
wird in der Regel nur auf den Wechsel zwischen Tag und Nacht und die
Tatsache, dass Scheherazade ihre Erzählung daher beendet, hingewiesen.
In der Struktur sind die Parallelen zwischen der Einbindung der Geschichten in
Stein und Flöte und der Einbindung der Märchen des Pentamerone deutlich.
Auch bei Basile werden die Kerninformationen in diesen Einleitungen genannt:
wie die Zuhörer das Märchen aufgenommen haben und welches Mädchen nun
an der Reihe ist. Die Fragen nach Ort oder Zeitpunkt stellen sich nicht, da dies
bereits durch die allgemeine Rahmenhandlung genannt ist.
Diese Ähnlichkeiten zwischen Märchensammlungen und Stein und Flöte sind
meines Erachtens zu frappierend, um etwa wie Neuhaus Bemmanns Vorbilder
für
diese
Erzählweise
im
Bildungsroman
und
der
Tradition
des
gesellschaftlichen Erzählens zu sehen, zumal auch er Tausend und eine Nacht
anführt.89 Bemmann erzählt keine Lehrstücke oder Anekdoten; er eröffnet
einen Reigen aus Märchen oder zumindest Erzählungen, die Märchenmotive
oder -funktionen enthalten. Neben diesem Erzählzyklus erreicht Bemmann
jedoch noch ein zweites Ziel: Indem er Rückblicke auf Geschehnisse der
Vorgeschichten einzelner Figuren in die Binnentexte verlegt, kann die
Haupthandlung linear fortschreiten, wie es sie es auch im Märchen tut, von
einigen Schicksalssprüchen oder Visionen einmal abgesehen, die aber stets die
Zukunft, nie die Vergangenheit des Geschehens betreffen.
3.3.3. Bruch mit der Fiktion
Bemmanns Erzählstil geht sogar noch einen Schritt weiter. Durch Kommentare
eines Erzählers verweist er auf den Erzählcharakter des Romans selbst, der
bereits im Anfangssatz angestimmt wird: „von dessen merkwürdigem
Schicksal hier erzählt werden soll“. Der Leser wird in jene Situation gesetzt,
die für das mündlich tradierte Märchen typisch ist: Es wird ihm etwas erzählt,
89
Neuhaus: Märchen, S.328
69
er ist der Adressat einer Geschichte, deren Wahrheitsgehalt abhängig davon ist,
wie viel Vertrauen man in die Existenz von Lauschers Umwelt setzt.
Diese fiktionale Erzählhaltung wird durch Kommentare immer wieder
aufrechterhalten, in denen Bemmann erneut darauf hinweist, dass man nur
indirekt über den Bericht Anteil an der Geschichte hat und dass bewusst
ausgewählt wurde, was erzählt werden soll.
Das Frühstück am nächsten Morgen ist für diese Geschichte bedeutungslos; (…).
90
Über die Ereignisse dieses Sommers auf der Schafweide gibt es sonst kaum
Nennenswertes zu berichten.91
(…) und redeten über dies und das, doch darüber braucht hier nicht mehr
berichtet zu werden, weil es für diese Geschichte keine Bedeutung hat.92
Die Speisefolge braucht hier nicht weiter beschrieben zu werden. 93
(…) was dann noch weiter geschah, kann sich jeder selbst ausmalen. 94
Von dem Ritt am Fluss entlang ist diesmal nichts Besonderes zu berichten. 95
Über den Rest der Rückreise ist nichts weiter zu berichten, als dass (…) 96
Bemmann durchbricht bewusst die Illusion des Lesers, der sich in der
Geschichte fallen lassen könnte und erinnert ihn durch solche Kommentare an
die tatsächliche Situation: dass dem Leser die Geschichte Lauschers erzählt
wird. Solche Verben sind an den entsprechenden Stellen dann auch dominant,
wenn zu lesen ist, dass auf das Berichten oder Beschreiben verzichtet wird.
Ein solcher Bruch mit der Illusion der Fiktion ist auch bei den Brüdern Grimm
zu finden. Eine Reihe von Märchen beinhalten auch Kommentare oder
Sprüche, die mit den eigentlichen Geschichten nichts mehr zu tun haben, etwa
das Ende von Hänsel und Gretel97 (KHM 15) oder den Bremer
Stadtmusikanten98 (KHM 27). Somit adaptiert Bemmann auch in diesem Punkt
ein Spezifikum des Märchens: Nicht nur, dass er Märchen erzählt, er macht es
seinen Lesern auch bewusst und simuliert die Erzählsituation.
90
Stein und Flöte, S.53
Ebenda, S.87
92
Ebenda, S.105
93
Ebenda, S.132
94
Ebenda, S.189
95
Ebenda, S.251
96
Ebenda, S.397
97
„Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große, große
Pelzkappe daraus machen.“
98
„Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“
91
70
Auffällig ist auch, dass in den Bereichen des Romans, die weniger stark in
Märchenhandlungen eingebunden sind, die Anzahl der Binnentexte zurücktritt,
nämlich im dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches, wenn das Alter
Lauschers beschrieben wird. Märchenfunktionen sind nur noch rudimentär
enthalten: Der Kampf zwischen den Brüdern endet tragisch mit dem Tod der
Schwester, die beerdigt wird und nicht ins Leben zurückkehrt, der Wettstreit
zwischen dem Protagonisten Lauscher und seinem ehemaligen Schüler Döli
wird von Schneefink, einer externen Figur dieses Kampfes, beendet, und
letztlich kann auch an Lauschers Tod keine Märchenfunktion geknüpft werden.
Die einzige Binnenerzählung des dreigeteilten letzten Kapitels sind Spottverse
auf die Goldjunker sowie Dölis Version des Agla-Märchens. Die Spottverse
(S.780ff sowie S.790f.) tragen kein neues Sujet vor, sondern unterstreichen nur
die zuvor schon geschilderten Zwistigkeiten, und Dölis Version ist ein Zerrbild
des Agla-Märchens, indem es um Untreue und Betrug geht – ein Antimärchen,
dem keine Märchenfunktionen zugeschrieben werden können.
4. Märchenmotive und –symbole
Die Märchenhaftigkeit eines Textes wird oft an den vorhandenen
Märchenmotiven
festgemacht.
So
führten
die
„zahlreichen
kaum
rationalisierten Märchenmotive“99 der Artusromane die Literaturwissenschaftler zu weiteren Recherchen und zur Rückführung des Romans auf
keltische Mythologie und Märchenstrukturen100. Auch für Kreuzer101 oder
Neuhaus102 ist die Häufigkeit von Motiven, die dem Märchen zugerechnet
werden, ein sicheres Anzeichen für die Zugehörigkeit eines Textes zu den
Kunst- oder Zaubermärchen. Solche Motive sind vielzählig und reichen von
Kleinigkeiten wie den Attributen einzelner Gegenstände bis hin zu
umfassenderen Symboliken – und in jeder dieser Formen sind sie in Stein und
Flöte auch enthalten.
99
Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.147
Ebenda, S.147-178
101
Kreuzer: Einleitung, S.8
102
Neuhaus: Märchen, S.9ff
100
71
4.1. Zahlensymbolik
Die vermutlich bekannteste Zahl des Märchens ist die Drei, „Vierzahl,
Sechszahl, Siebenzahl werden seltener gewählt“103. Drei eiserne Bänder liegen
um das Herz des Eisernen Heinrichs (KHM 1); drei Nächte muss der, der
auszog, das Fürchten zu lernen, im verwunschenen Schloss ausharren (KHM
3); an drei Quellen ziehen Brüderchen und Schwesterchen vorbei, und von der
dritten trinkt Brüderchen (KHM 11); drei goldenen Haare muss das Glückskind
vom Teufel holen und dabei auf drei Fragen die Antwort finden (KHM 29);
drei Söhne hat der Schneider im Tischlein deck dich (KHM 36); drei Kleider
lässt sich Allerleihrauh machen (KHM 65); drei Tropfen Blut erhält die
Gänsemagd als Pfand ihrer Mutter (KHM 89), drei Tage Qual muss der König
vom Goldenen Berg ertragen, ehe er drei Riesen drei Zaubergegenstände
entwendet (KHM 92) – diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Oft steht die
Drei auch im Titel (KHM 13, 14, 16, 29, 33, 63, 79, 96, 118,120, 124, 137,
151), von den Titeln, in denen drei Gegenstände oder Personen genannt sind,
ganz zu schweigen.
Dreimalige Wiederholung, ja Steigerung finden wir häufig im Märchen. Sie wird
verschieden erklärt. Die einen führen die Heiligkeit der Dreizahl an, andere
erklären es dynamisch, also als Dreitakt, oder aber psychologisch, indem die
Drei die kleinste erlebbare Vielzahl bedeute. Uns liegt es fern, eine dieser
Vermutungen als alleingültig hinzustellen, denn man kann mit dem besten
Willen nicht Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte im lebendigen Gefüge der
Dichtung auf einen Nenner bringen. Was wir sagen können ist dies: Die Dreizahl
ist eines der wichtigsten Kompositionsmittel im Märchen. 104
Die Vier, Sechs und Sieben treten ebenfalls auf, etwa bei den vier kunstreichen
Brüdern (KHM 129), den sechs Schwänen (KHM 49), den sechs Dienern
(KHM 134) oder den Sechsen, die um die Welt kommen (KHM 71), bei den
sieben Zwergen (KHM 53), den sieben Geißlein (KHM 5) oder den sieben
Schwaben (KHM 119).
Auch Bemmann bezieht sich stark auf eine Zahlensymbolik. So ist die Fünf
stark rund um Falkenor vertreten, wo alles auf diese Zahl aufzubauen scheint:
5-Ton-Musik, fünfeckige Stadtmauern, Gebäude und Räume (S.311ff.) – selbst
in Kleinigkeiten wird die Fünf aufgegriffen. So treibt der Stallmeister Ernebar
in einem Anfall fünf mal fünf Pferde los, als der Sanfte Flöter nach Falkenor
103
104
Von der Leyen: Zum Problem der Form, S.75
Spanner: Märchen als Gattung, S.169
72
kommt (S.432), und der Hengst aus Falkenor hat bei Arnis Leuten fünf Fohlen
gezeugt (S.665).
Stärker als die Fünf hat jedoch die Drei Anteil an der Symbolik des
Romans.„Dreigliedrigkeit
ist
im
Märchen
zwar
häufig,
aber
nicht
notwendig“105 Diese Aussage kann man in Bezug auf Stein und Flöte nicht
unterschreiben, denn im Roman ist die Drei die zentrale Zahl, was sich nicht
nur im Romanaufbau niederschlägt (vgl. 3.1). Die Drei durchzieht alle Kapitel
wie ein roter Faden; es vergehen kaum einmal zehn Seiten, ohne dass sie
implizit oder explizit genannt wird.
Bei Reisen oder Entfernungen generell wird die Drei häufig genannt,
zumindest für eine einzelne Etappe der Reise. So müssen Barlo, Lauscher und
der Sanfte Flöter dem Fluss drei Biegungen lang folgen, bis sie vom Haus des
Sanften Flöters aus den Eselwirt erreichen (S.59). Von Furro aus reisen Barlo
und Lauscher drei Tage nach Draglop (S.95). Rübe geht innerhalb der
Binnengeschichte über ihn mehrfach drei Schritte. Drei Tage sind Lauscher,
Lagosch und Barlo nach dem Nebelmoor unterwegs, als sie auf der Straße Trill
treffen, und wiederum drei Tage zwischen Draglop und dem Dorf Dagelors.
Bragar braucht nach seiner Befreiung drei Tage, um zum Hof seines Vaters zu
kommen. Mit drei Sprüngen verschwindet die Wölfin Gisa im Wald und mit
ebenso vielen Sprüngen bringt sich Lauscher in den Schutz der Eberesche. Drei
Tage reitet Höni mit der Gesandtschaft aus Falkenor, bis sie die Stadt
erreichen, und drei Monate braucht er, bis er nach seiner ersten Reise dorthin
zurückkehrt.
Zeiträume sind generell oft in der Dreizahl angegeben: Der Zaubertrank aus
dem Krüglein gibt Schlaf für drei Tage, Barlo ist drei Jahre lang als Knecht in
Barleboog, Lauscher und Barlo reiten drei Jahre lang übers Land, ehe sie sich
Gisa zum Kampf stellen; drei Jahre verbringt Lauscher als Faun Steinauge im
Wald, neun Jahre (also drei mal drei) ist er eine Steinstatue, zwölf Jahre (drei
mal vier) lebt Lauscher bei den Blutaxtleuten.
105
Lüthi: Aschenputtel-Zyklus, S.54
73
Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch Altersangaben, die
häufig eine Vielzahl der Drei sind. So ist der Zirbel 369 Jahre alt; Arnilukka ist
etwa 12 bei ihrem ersten Treffen und damit neun Jahre jünger als Lauscher.
Urla ist 30 Jahre alt, als ihr Mann ermordet wird und sie von den Beutereitern
entführt wird – was wiederum einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellt, da
sie anschließend als Eremitin in ihre Hütte zieht.
Die Dreiersymbolik geht jedoch noch weiter. Personen sind häufig zu dritt
unterwegs, ob es nun Lauscher, Barlo und Lagosch auf dem Weg durchs
Nebelmoor oder Promezzo, Arnilukka und Lauscher auf ihrer Reise durch den
Schauerwald sind, Gurlo, Rauli und Trill in der Silbernen Harfe oder drei
Beutereiter beim Großen Brüller, als Lauscher nach Fraglund zurückkehrt.
Khan Hunli hat drei Söhne, Belarni und Arnilukka ziehen ebenfalls drei Kinder
auf, Lingli bekommt drei Töchter.
Ereignisse und Prüfungen beinhalten ebenfalls diese Zahl, denn neben den
schon erwähnten drei Jahren Dienstzeit bei Barlo muss Lauscher auch drei
Fahrten für Narzia unternehmen, und auf dem Weg zum See, um Kette und
Ring zu holen, begegnet er dreimal jemandem, der ihn aufzuhalten versucht
(Mollo, den Direx, die drei Wasserfrauen). Von kleineren, wenn auch
wichtigen Details wie den drei Farben, die im Stein gesehen werden können,
oder dem Dreiklang des Amselrufs und des Pfiffs, der die Mäuse herbeilockt,
bis hin zu der Dreizahl an Frauen, in die Lauscher sich verliebt (Gisa, Narzia,
Arnilukka) und die Anzahl der Zaubermittel, die ihm zugestanden werden
(Augenstein, Silberflöte, Zirbel) beweist sich der nahezu exzessive Gebrauch
der Zahl immer wieder aufs Neue.
4.2. Metallisches und Mineralisches
Das Märchen grenzt sich vom Volkslied insbesondere dadurch ab, dass die
Vorliebe für die Natur, das Grüne und Braune bei den Märchen in den
Hintergrund rückt106. Die Wälder sind nicht grün, sondern golden, silbern und
aus Diamant (KHM 133); die Früchte eines Baumes ebenfalls aus Gold oder
Silber (KHM 57; KHM 130), die Haare der Prinzessin sind golden, ebenso wie
106
Lüthi: Freiheit und Bindung, S.3f
74
ihre Kleidung (KHM 65), und auch Körperteile können zwischen lebendigem
Fleisch und Metall wechseln (KHM 31, in dem das Mädchen ohne Hände
zunächst Hände aus Silber erhält, die später wieder zu echten Händen
verwandelt werden).
In Stein und Flöte spielt Metall keine so wundersame Rolle wie in den
Märchen, außer im Zaubermittel der Flöte. Dort ist das wertvolle Metall jedoch
ambivalent konnotiert. Die Silberflöte verfügt über eine besondere Macht, die
sich auch in dem Rätselspruch andeutet, der in ihr Metall geprägt ist: „Lausche
dem Klang/folge dem Ton/doch übst du Zwang/bringt mein Gesang/dir bösen
Lohn“107, doch nicht nur dadurch unterscheidet sie sich von den übrigen
Flöten. Sie ist auch haltbarer als etwa die Weidenflöte, die Lauscher sich als
Faun Steinauge baut: „Seine Weidenflöte hatte er längst weggeworfen; denn
die vertrockneten Rohre hatten sich verzogen und gaben keinen klaren Ton
mehr.“108 Die Silberflöte in ihrer Macht und Stabilität wird somit ein begehrtes
Objekt. Auf seiner ersten Fahrt für Narzia beschenkt Promezzo Lauscher
allerdings mit einem Goldüberzug, der auch den warnenden Spruch überdeckt.
Zu diesem Zeitpunkt hat Lauscher bereits damit begonnen, den Spruch zu
missachten, da er mit seiner Musik sein Publikum in die Weise beeinflusst, die
ihm gerade recht ist: Er beendet einen Streit in der Silbernen Harfe (S.252f.)
oder lockt die Kinder aus Draglop wie der Rattenfänger aus Hameln hinter sich
her (S.254ff.), er verscheucht die Pferde der Beutereiter (S.295f.) oder versucht
den Bergdachsen eine Handelsbeziehung mit Arnis Leuten schmackhaft zu
machen (S.330). So verwundert es nicht, dass ihm die Worte auf der Flöte nicht
mehr in Erinnerung sind, als diese von Gold überzogen werden 109. Mit dieser
Goldflöte richtet er unbewusst weiteren Schaden an, als er die Bergdachse
tatsächlich von einer Partnerschaft mit Arnis Leuten überzeugt oder die Pferde
der Beutereiter langfristig befriedet. Nur in Falkenor versagen seine Künste an
den Menschen. Mit dem Feuer, das die Beutereiter in Folge von Lauschers
Taten, die sie in Hunger, Not und Rachedurst treiben, im Dorf von Arnis
Leuten legen und aus dem Arnilukka die Flöte gerade noch retten kann, wird
107
Stein und Flöte, S.202
Ebenda, S.532
109
„Er versuchte sich an die Worte zu erinnern, die dort gestanden hatten, aber sie wollten ihm
nicht mehr einfallen.“; Stein und Flöte, S.340
108
75
die Goldhaut abgesprengt, und die Silberflöte mitsamt ihrem Rätselspruch tritt
wieder ans Licht. Mit der Abkehr vom wertvolleren Gold und der
Rücktransformation in die Silberflöte enden auch Lauschers Versuche, durch
die Musik Einfluss zu gewinnen; nur bei der Flucht vor den Blutaxtleuten nutzt
er sie, um diese zum Tanzen zu bringen.
Neben dem Hang zum Metallischen neigt das Märchen auch zu einer
Wandlung des Mineralischen. Da werden Berge zu Glas oder Gold und Fleisch
zu Stein, wenn Menschen zur Strafe verwandelt werden (KHM 6, KHM 60).
Diese Versteinerung ist ein typisches Motiv, das durch den Bruch eines Veroder Gebots110 ausgelöst wird und dem stets die Erlösung durch einen treuen
Gefährten folgt111.
Dieses Motiv ist Stein und Flöter vertraut. Mit dem Augenstein spielt ein Stein
eine Titelrolle, der sich darüber hinaus im ersten Buch schon mit Edelsteinen
messen muss, denen er an materiellem Wert unterlegen ist, dafür aber
übernatürliche Kräfte hat112: Der Glanz des Scheins, die nur im
Zusammenhang mit Licht zu Tage tritt113, bewirkt eine Herzenswärme in
seinen Betrachtern, die nur von einer lebendigen Kraft verliehen werden kann.
Rikka und Eldrade, die Kröte und Arnilukka verspüren dieses Gefühl, und Arni
offenbart das Geheimnis des Steins Belarni:
Wenn ich ihn anschaue, ist es, als blicke ich in die Augen des Menschen, den ich
am meisten geliebt habe, und dann fällt es mir nicht schwer, das zu tun, von dem
ich eigentlich schon vorher wusste, dass es das richtige ist. 114
Der Stein steht somit als Substitut für jene Frauen, die Urlas Augen haben
(welche dem Stein ja gleichen, da alle drei Farben, blau, grün und violett, darin
110
In KHM 6 weiß der treue Johannes, dass er dem Prinzen die Wahrheit nicht offenbaren darf;
er bricht das Verbot aber. Der später versteinerte Bruder in KHM 60 geht auf die Jagd, obwohl
ihn seine Frau bittet, dies nicht zu tun.
111
Der König und seine Frau opfern Johannes für seine treuen Dienste das Leben ihrer Kinder
(KHM 6); der Bruder sucht nach seinem Zwilling, als er den halb rostigen Dolch als Zeichen
findet, dass mit ihm etwas nicht stimmt (KHM 60).
112
Vgl, Neuhaus: Märchen, S.326; Neuhaus sieht darin eine Kapitalismuskritik Bemmanns,
übersieht jedoch, dass es auch in Märchen eine typische Wendung ist, dass jene, die nur auf
den scheinbaren materiellen Wert achten oder zu gierig werden, bestraft werden, z.B. die
beiden älteren Brüder in KHM 54, der Reiche in KHM 87 oder die Frau des Fischers in KHM
19.
113
Im Schatten des Waldes bei Gisas und Lauschers erster Begegnung bleibt er ebenso stumpf
wie in der Zeit, wenn Lauscher an ihm zweifelt und ihn nachts befragt, oder wenn Narzia ihn
nutzen möchte bzw. ihn in die Goldschale in Arnis Hütte legt.
114
Stein und Flöte, S.646
76
enthalten sind, und von denen Lauscher über den Stein Visionen, Trost oder
Warnungen erhält), und da Lauscher für Arnilukka ebenso empfindet wie Arni
für seine Frau, kann man den Augenstein als symbolisches Substitut für Liebe
sehen. Zu dieser Deutung passt auch die Eigenschaft des Steins, dass er nur
dann Glück bringt, wenn er freiwillig weitergegeben wird, da man auch Liebe
nicht kaufen oder erzwingen kann.
Die zweite Bedeutung von Stein innerhalb des Romans ist die Versteinerung
Lauschers während des zweiten Teils der dritten Buches, die er als Strafe für
seine bisherigen Verfehlungen auf sich nimmt – aus Verzweiflung, da er
Arnilukka nicht retten konnte, und aus Scham, weil er die Chance, die er dazu
hatte, vertan hat115. Seine Erlösung wird zur Prüfung für Arnilukka, deren
Liebe und Treue ihn schließlich befreit.
Bemmann verquickt im Stein die Dichotomie von Tod und Leben; ob nun
etwas eigentlich Totes lebendige Gefühl ausstrahlt oder etwas eigentlich
Lebendiges zu etwas Totem wird – stets ist es ein Wechsel zwischen beiden
diametralen Zuständen.
4.3. Orte
Die Orte in Stein und Flöte sind recht breit gefächert. Es gibt Dörfer und
Städte, die entweder wie Fraglund, Draglop, Barleboog, Falkenor oder Arziak
einen Namen tragen oder wie das Dorf am See des Grünen, das Dorf von Arnis
Leuten oder die Dörfer, denen Barlo und Lauscher auf ihrer Reise Besuche
abstatten, nach einer geografischen Besonderheit in ihrer Nähe bzw. ihren
Einwohnern bezeichnet werden. Darüber hinaus sind verschiedene Wälder,
Höhlen, Seen, die Steppe und das Nebelmoor wichtige Handlungsorte, denen
Bemmann mehr Raum für die Beschreibung einräumt als den Städten. Er
nimmt sich insbesondere dann Zeit für dezidierte Naturbeschreibungen, wenn
es sich um unheimliche oder gefährliche Orte handelt wie bei der Beschreibung
des Nebelmoors im Herbst116 und des Schauerwalds117.
115
Statt Arnis Leute vor dem Herannahen der Beutereiter zu warnen, von dem er durch die
Krähen weiß, verschläft Steinauge den Moment, weil er gehofft hat, als großer Held auftreten
zu können; vgl. S.559f.
116
Stein und Flöte, S.256ff sowie S.270f.
77
Viele dieser Orte gehören auch zum Repertoire der Volksmärchen; in diesen
nehmen insbesondere der Wald, der Berg und das Wasser in Form eines Sees,
eines Flusses oder eines Meeres wichtige Positionen ein. Von Beit118 führt in
ihrer Arbeit für alle diese Orte auch auf Naturmythen zurück. Alle drei Orte
stellen Plätze des Übergangs dar. Der Berg grenzt an den Himmel und damit an
das Transzendentale, das Wasser ist in der Erde und somit die Verbindung zum
Totenreich (zumindest in der Mythologie der Naturvölker). Wasser und Wald
sind Zwischenreiche; Orte der wunderbaren Begegnung, Lebensraum für
übermenschliche Gestalten wie Wasser- oder Baumfrauen. Diese Orte können
schützen (wie in KHM 97, wenn der Königssohn sich im Wald verbirgt, oder
KHM 53, wenn Schneewittchen sich vor ihrer Stiefmutter versteckt); sie
können aber auch eine Gefährdung darstellen (wie bei KHM 15, wenn sich
Hänsel und Gretel im Wald verirren, oder bei KHM 11, wenn Brüderchen
durch das Trinken aus einer Quelle verwandelt und Schwesterchen im Bad
getötet wird).
Auch für Lauscher ist das Wasser ein Ort des Schutzes und der
Kommunikation ebenso wie der Gefährdung. Wichtige Handlungen finden in
unmittelbarer Nähe des Wassers statt, z.B. seine Versteinerung und Erlösung.
Im Grünen, dem mystischen Herrscher der Wasserwesen, hat Lauscher einen
Schutzgeist gefunden, der ihm mehrfach das Leben oder zumindest die Freiheit
schenkt. Der Große Karpfen hält seine Hand schützend über ihn, um ihn
während des Schachspiels gegen Hunli zu kühlen und ihm im Braunen Fluss
das Leben zu schenken.
Er merkte, wie er sank. Vor seinen Augen war nichts mehr als das grüne
Geflimmer des Wassers. Er sank und hielt den Atem an, bis seine Lungen zu
bersten drohten, doch mit einem Male wurde seine Brust leicht, er fühlte
sichgetragen von glatten, breiten Rücken und spürte sanften Flpssenschlag unter
seinen Schultern. Und ehe ihm die Sinne vergingen, hörte er aus der Teife des
Wassers einen volltönenden Gesang wie das auf- und abschwellende Dröhnen
einer Glocke.119
Auch die Wasserfrau Laianna hilft Lauscher, indem sie Ratgeberin und
Beschützerin der Zaubergegenstände ist und diese später an Lauscher ausleiht,
117
Ebenda, S.347f.
Von Beit: Symbolik, S.38-40 sowie S.46-56
119
Stein und Flöte, S.410f.
118
78
damit dieser seiner Tochter helfen kann. Bei dieser Begegnung droht Lauscher
allerdings auch zu ertrinken120, ebenso wie im Braunen Fluss.
Eine letzte, wichtige Bedeutung hat das Wasser im Zusammenhang mit
Arnilukka, die mit Fischen reden kann. Auf diese Art werden die
Wasserbewohner zu Boten für Lauscher, als er nach Arnilukka sucht bzw. sie
warnen möchte.
Der Wald nimmt ebenfalls eine ambivalente Stellung als Ort des Schutzes und
der Bedrohung ein. Die Begegnungen mit den Wölfen können nur dank Jalf
oder dem Tritonshorn gut ausgehen, und auch vor Barlo muss Lauscher
zunächst durch den Wald fliehen. Den Krüppelwald, den er auf dem Weg zu
Arnis Leuten zu durchqueren versucht, bewohnen gefährliche Baumtrolle, die
Menschen nach dem Leben trachten121. Selbst nach Lauschers Verwandlung in
einen Faun, mit der er selbst der Sphäre des Waldes angehört und nun auch
mit den Birkenmädchen spielen kann – eine Anspielung auf Pan und die
Dryaden aus der griechischen Mythologie –, birgt der Wald noch die Gefahr
des Geisterwolfs, vor dem ihn Gisa rettet. Die Furcht im Wald wird durch
Narzias Fluch in eine Angst vor dem Leben ohne Wald umgekehrt, in
Platzangst.
Berge schließlich stehen für Grenzen, Hindernisse und Prüfungen. Urla wird
auf dem Pass auf die Probe gestellt, indem sie ihre Entführer nicht vor dem
Schneesturm warnt, Kurgis Leben jedoch rettet. Dieser Pass wird die
Verbindung zwischen den Beutereiter und den Bergdachsen, aber auch ein Ort
für Entscheidungen. In Urlas Hütte, die zwischen den beiden Welten steht,
müssen Hunli und Arni ihre Wahl treffen, und auch Lauscher muss sich dort
entscheiden, in welche Richtung er reiten möchte: weiter nach Arziak oder
zurück zu Arnis Leuten122. Hier kommt es auch zweimal zu einer
transzendentalen Begegnung zwischen der toten Urla und Lauscher: als
Lauscher auf Fahrt für Narzia ist123 und in der Zeit seiner Versteinerung124.
120
Ebenda, S.742
Ebenda, S.289-293
122
Ebenda, S.325
123
Ebenda, S.322-324
124
Ebenda, S.614-616
121
79
Somit übernimmt Bemmann die mythisch-transzendentale Bedeutung solcher
Orte als Zwischenräume, die ambivalent Gefahr und Schutz anbieten, und
integriert sie in die recht offen gehalten Geografie seiner Welt.
4.4. Zeit
Märchen werden meist in der Zeitlosigkeit gehalten. Selten werden
Jahreszeiten genannt (Ausnahmen sind Märchen, in denen eine bestimmte
Witterung notwendig ist, z.B. die Anfangssequenz von Schneewittchen, die im
Winter stattfindet, oder der Auszug des Mädchens, das im Winter Erdbeeren
finden soll in KHM 13); häufiger ist eine Umschreibung mit „einmal“, „eines
Tages“, „einst“ oder „vorzeiten“.
Diese Zeitlosigkeit ist jedoch ein Merkmal des Gesamtmärchens; einzelne
Stationen im Verlauf haben durchaus eine chronologische und stets lineare
Abfolge. Rückblicke kommen im Märchen kaum vor; wenn überhaupt in der
Aufklärung einer Verzauberung, in der das Opfer vom Zeitpunkt seiner
Verwünschung berichtet. Vorgriffe treten nur in Form von Träumen auf.
Typisch für Märchen sind eine Abfolge von Tag und Nacht, Zeiteinheiten von
drei Tagen, einer Woche, einem Jahr, drei Jahren oder hundert Jahren. Ebenso
sind aber auch Formulierungen wie „eines Tages“ zum Abschluss eines
undefinierten Zeitraumes üblich, wenn etwa zuvor die Familiensituation
beschrieben wurde und nun der Übergang zur eigentlichen Handlung markiert
wird.
Stein und Flöte ist zu großen Teilen eine Abbildung von Lauschers fiktiver
Biografie und verfolgt bis auf wenige Ausnahmen eine beinahe tägliche
chronologische Abfolge. Leerstellen gibt es lediglich in der Kindheit, bei
Reisen, während der Versteinerung, wenn Lauscher losgelöst ist von der Zeit,
und im zweiten und dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches, in dem
Lauschers Alter aufgezeigt wird.
Da es in einer anderen Realität angesiedelt ist, erhält das Geschehen
selbstverständlich keine zeitliche Einteilung in den geschichtlichen Kontext der
80
Wirklichkeit, und Bemmann verzichtet auch auf eine große geschichtliche
Chronik seiner Welt. Durch den Aufbau einer Familiengeschichte und der
ständigen Verzweigung erweckt er jedoch den Eindruck der Kontinuität. So
kann man Arnilukkas Stammbaum bis zu ihrer Urgroßmutter aufschlüsseln,
und auch der Stammbaum Belarnis (den Stammbaum seines Ziehvaters) kann
man bis zum Urgroßvater zurückverfolgen, dessen Sohn Urla vor dem
Schneesturm gerettet hat.
Auf diese Weise gelingt es Bemmann eine in sich geschlossene Geschichte in
völliger Zeitlosigkeit zu erschaffen – ein Konzept, das er mit der
Zukunftsvision im zweiten Teil des dritten Kapitels des dritten Buches125 zwar
gefährdet, durch die vagen Andeutungen dort jedoch nicht vollständig zerstört
(vgl. auch 2.2.).
4.5. Weitere Übereinstimmungen
Die Parallelen zwischen den Märchen und Stein und Flöte sind mannigfaltig.
So kommt es in Märchen zur Erlösung von Menschen, die in Tiere verwandelt
wurden (z.B. KHM 1: Der Froschkönig, oder KHM 25: Die sieben Raben).
Auch in Stein und Flöte erlöst Lauscher die von Narzia in Hunde verwandelten
Menschen. Diese Verwandlung erfüllt ähnliche Kriterien wie die in den
beispielhaft angeführten Märchen, denn Narzia ist zu diesem Zeitpunkt der
Geschichte die Gegenspielerin der Opfer ihrer Zauber, da sie herrisch über
Arnis Leute regiert und jene bestraft, die ihr nicht gehorchen. Der Froschkönig
wurde von einer Hexe verwandelt, die sieben Raben werden von ihrem Vater
verflucht. Zumindest für die Verwandelten gibt es keine neuerliche Begegnung
mit ihrer Schädigerin (Lauscher begegnet Narzia sehr wohl noch, allerdings ist
mit der Erlösung Linglis und ihrer Leidensgenossen dieser Handlungsstrang
bereits abgeschlossen). Die Erlösung erfolgt durch den Märchen- bzw.
Romanhelden und ist von Dauer; das Gute triumphiert also über das Böse. Die
Erlösung erfolgt jedoch nicht durch Liebe oder große Selbstopfer; Lauscher ist
einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um sie vornehmen zu können,
125
Ebenda, S.649-653
81
was ihn jedoch schicksalgebunden in die Rolle des Erlösers geraten lässt statt
aus eigenem Antrieb126.
Tiere sind im Roman vor Lauschers Verwandlung in einen Faun zwar in der
Regel nicht sprachbegabt, d.h. sie können Lauscher keine Antworten in
menschlicher Sprache geben, doch redet er mit Jalf wie mit einem Freund oder
„wie mit einem Bruder“127, wie der Eselwirt es ihm vorschlägt. Nur in der
Traumsequenz vom Traum von Lauschers Besuch bei Arnis Leuten ist Jalf eine
Stimme gegeben. Auch zwischen dem Sanften Flöter und der Amsel besteht
ein ähnliches Freundschaftsverhältnis, und Arnilukka ist in der Lage, mit
Fischen zu sprechen. Eine Ausnahme bildet zusätzlich die Kröte Goldauge;
schon von seiner ersten Begegnung mit ihr an spricht Lauscher mit ihr von
gleich zu gleich128.
Es gibt verschiedene Motive, weshalb jemand auf Wanderschaft zieht. Barlo
etwa ist ein vertriebener Königssohn (vgl. KHM 92, indem der König mühsam
zu seiner Frau und seinem Königreich zurückfinden muss, oder KHM 97,
indem der jüngste Königssohn auf Befehl des Vaters beinahe getötet wird und
fliehen muss). Wie König Drosselbart (KHM 52) tarnt er sich als Spielmann
auf seiner Reise durch das eigene Königreich.
Auch das Motiv des Lachens variiert Bemmann aus den KHM, in denen
Lachen oft dazu führt, dass eine Aufgabe gelöst wird (z.B. KHM 64, wo die
Prinzessin zum Lachen gebracht wird und der Besitzer der goldenen Gans sie
nach drei Prüfungen heiraten darf) oder den Unterschied macht zwischen dem
positiven Helden und seinem Gegenspieler (z.B. der fröhliche Schneider und
der griesgrämige Schuster in KHM 107)129. „Wer nicht lacht, der hat ein böses
Gewissen“, heißt es in KHM 9, dem Märchen von den zwölf Brüdern.
Insbesondere im ersten Buch werden sämtliche Gegenspieler durch Lachen
126
Auch Märchenhelden entscheiden nicht, wo sie sein wollen; sie sind eingebunden in die
Handlung und haben keine eigene Wahlfreiheit.
127
Stein und Flöte, S.61
128
Ebenda, S.29ff.
129
Vgl. Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind“, S.185-205, wo Röhrich zwischen dem
Lachen innerhalb des Märchen und dem Lachen über die Märchen ebenso differenziert wie die
gesellschaftlichen Umstände, unter denen etwas komisch wirkt. Er kommt zum Schluss, dass
das Volksmärchen zur eher ernsthaften Literatur zählt (S.204).
82
entwaffnet: die Riesen aus dem Märchen vom fröhlichen König ebenso wie
Gisas Knechte. Sie haben ein schlechtes Gewissen, denn sie sind nicht einmal
zum Lachen fähig. Dieser zutiefst menschlichen Eigenschaft wird quasi zum
komisierenden
Diskurs,
der
einen
zerstörerischen
Einfluss
auf
das
Phantastische im Sinne des Dunklen und Unbekannten hat130.
Der Traum ist im Roman ein Ort für zukunftsweisende Visionen. So nimmt der
Traum von Lauschers Besuch bei Arnis Leuten einige Ereignisse vorweg –
dass Lauscher sich verloren fühlt und des Zaubertranks bedarf, der ihm Kraft
verleiht – und auch Elemente des Traums vom (fast) perfekten Flöten
bewahrheiten sich, als Lauscher mit seiner Flötenmusik Tiere und Menschen
becirct131. Auch Elemente aus dem süßen Traum kehren in Lauschers
wirklichem Leben zu ihm zurück:
„Auch das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass ich hinüber muss über diese
Mauer auf die andere Seite.“
„Welche Mauer?“, fragte das Wiesel. „Ich sehe weit und breit keine Mauer.“
(…)
„Wer redet hier von einer Mauer? Über’s Gebirge möchte ich.“ 132
Eine Mauer musste Lauscher jedoch im süßen Traum auf seinem Weg zu
Arnilukka überwinden133. Auch auf andere Weise nehmen die Träume Einfluss
auf Lauschers Leben, denn Warnungen, die er darin erhält, schützen ihn vor
dem Verlust des Steins. Ein solches Zusammenspiel aus Traum und
Wirklichkeit kennt auch das Märchen. In Jorinde und Joringel (KHM 69) weist
ein Traum Joringel der Weg zur Erlösung Jorindes, in KHM 181 folgt eine
Frau, die ihren Mann an eine Nixe verloren hat, ihrem Traum, und auch in
KHM 42 wiederholt der Vater, der auf der Suche nach einem Paten für sein
Kind ist, erfolgreich eine Traumhandlung.
Selbst bei der Auswahl der Berufe und Tiere wirken die Details aus Stein und
Flöte selbst beim ersten Lesen vertraut, denn Schäfer, Bauern, Hirten und
Spielmänner sind aus den Märchen bekannt, ebenso wie die Fauna des
130
Vgl. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S.313
„Während dieser Worte des Khans war Lauscher eine vage Erinnerung durch den Kopf
geschossen, dass er die Kraft seiner Flöte schon einmal an Tieren ausprobiert habe. Damals
waren es Hunde gewesen, nur konnte er sich nicht entsinnen, wo und wann das gewesen war.“;
Stein und Flöte, S.295
132
Ebenda, S.477
133
Ebenda, S.368
131
83
Romans. Wölfe (KHM 26 oder KHM 5), Pferde (KHM 89), Esel (KHM 27),
Vögel (KHM 21,96, 157 oder 64) und Fische sind ebenso in Märchen zu finden
wie Ziegen (KHM 5), Mäuse (KHM 2) oder Kröten (KHM 63); nur beim
Wiesel und dem Falken fehlen die Entsprechungen in den KHM . Auch die
Kontaktaufnahmen sind ähnlich: Während Lauscher das Wiesel Nadelzahn
oder die Maus Der-mit-der-Schlange-spricht töten könnte, bitten auch in
Märchen Tiere darum, verschont zu werden (KHM 60 oder 19).
Teilweise adaptiert Bemmann ganze Stoffe (wie den Lockzug des Rattenfänger
aus Hameln, der in Stein und Flöte noch relativ harmlos damit endet, dass ein
überraschter Lauscher feststellt, dass die Kinder, die ihm zuvor tanzend und
springend gefolgt sind, kraftlos zu Boden sinken) oder zitiert Stellen aus den
Märchen mehr oder minder versteckt. Auffällig sind hierbei etwa die
Aufbruchsszene Lauschers im ersten Buch, als die Mutter ihn warnt, sich nicht
aufhalten zu lassen, während er auf dem Weg zu seinem Großvater ist, und die
unwillkürlich an Rotkäppchen denken lässt, das eine ähnliche mütterliche
Mahnung mit auf den Weg bekommt, als es zu seiner Großmutter möchte. Am
Ende der Geschichte vom jungen Barlo zitiert Eldrade eine Märchenstelle:
„Man sagt ja, dass ein Messer stumpf und rostig wird, wenn der Besitzer
stirbt“134. Gesagt wird dies in KHM 60: „Wann ihr euch einmal trennt, so stoßt
dies Messer am Scheideweg in einen Baum, daran kann einer, wenn er
zurückkommt, sehen, wie es seinem abwesenden Bruder ergangen ist, denn die
Seite, nach welcher dieser ausgezogen ist, rostet, wann er stirbt; solange er aber
lebt, bleibt sie blank.“
5. Figuren
Die Figuren des Romans lassen sich in mehrere Strukturen gliedern. So wäre es
möglich, sie nach ihrem Stellenwert als Haupt- oder Nebenfigur zu
kategorisieren
oder
etwa
nach
ihrer
Position
Lauscher
gegenüber
(Gegenspieler, Geliebte, Ratgeber, Helfer). Eine entscheidende Eigenschaft der
Romanfiguren gegenüber den Figuren eines Märchens würde dabei aber außer
134
Ebenda, S.180
84
Acht gelassen werden: die Möglichkeit zum Wandel. Tatsächlich kann man die
Figuren in zwei Klassen einteilen, die statischen und die veränderlichen.
Die statischen Figuren sind in der Regel Charaktere, denen einen gewisse
Transzendenz zu Eigen ist oder die in ihrer Entwicklung beschränkt sind. Sie
treten selten in Erscheinung, dann aber immer auf dieselbe Art und Weise, und
sind Ratgeber, Verführer oder Helfer Lauschers. Zu diesen Figuren zählen
einerseits der alte Steinsucher, der Graue, der Sanfte Flöter, die alte Urla und
Arni mit dem Stein, andererseits Tierfiguren wie Goldauge, Nadelzahn,
Rinkulla, Einhorn oder die Mäuse. Auch der Zirbel kann zu diesem
Figurenkreis gerechnet werden.
Die veränderlichen Figuren treten zumindest eine Zeitlang regelmäßig auf und
kehren nach einer bestimmten Ruhephase wieder in den Lauf der Handlung
zurück. Dabei durchlaufen sie eine Wandlung, die sich meist auch körperlich
niederschlägt und gleichzeitig einen Wechsel ihrer Beziehung zu Lauscher zur
Folge hat. Zu diesem Figurenkreis zählen Barlo, Gisa, Narzia, Arnilukka,
Belarni, Döli, Schneefink und die kleine Urla.
Die Veränderung trifft in besonderem Maße auch auf Lauscher zu, dessen
Entwicklung der Roman schließlich verfolgt und der von Probe zu Probe
stolpert oder eilt. „Alle Erfolge sind im Märchen an Bewährungsproben
geknüpft: Geduldsproben, Gehorsamsproben, Geschicklichkeitsproben, Mutund Kraftproben, Klugheits- und Scharfsinnsproben. Die Läuterung des
Menschen, seine Reifung ist ein zentrales Thema des Märchens; insbesondere
verlangt das Märchen immer wieder die selbstlose Opferbereitschaft des
Helden.“135
5.1. Lauscher – ein Märchenheld?
Als Protagonist einer Biografie durchläuft Lauscher die Wandlung von einem
gerade geborenen Baby zu einem alten Mann, der schließlich stirbt. Dabei wird
135
Röhrich: Sage und Märchen, S.18
85
er durch mehrere Eigenschaften ausgezeichnet, die ihn auf der Suche nach
seiner Identität begleiten werden.
Schon zu Beginn ist er als Außenseiter gekennzeichnet, der in einen
natürlichen Konflikt mit seinem Vater tritt, denn der Große Brüller ist für das
Kind, das laute Stimmen nicht ertragen kann, zunächst einmal eine Bedrohung.
Zu einer Aussöhnung zwischen beiden wird es nicht kommen, denn obwohl der
Große Brüller sich bemüht, seine Lautstärke in Lauschers Gegenwart zu
dämpfen, kann Lauscher die Erwartung seines Vaters, zu seinem Nachfolger zu
werden, nicht erfüllen – er schlägt mehr nach der Art seines Großvaters.
Dennoch versucht Lauscher, seinem Vater keine Schande zu bereiten – das
Toben und die Scham angesichts seiner Wut, wenn er erfährt, was sein Sohn in
Barleboog als Richter getrieben hat, verhindern Lauschers Rückkehr nach
Fraglund, nachdem er Gisa entkommen ist. Dieser Generationskonflikt wird in
viele Märchen hineingelesen. Sei es nun bei Hänsel und Gretel, wo die
glückliche Rückkehr der Kinder zu ihrem Vater eine Lösung des Konflikts
suggeriert, oder bei Schneewittchen, wo die Eifersucht der (Stief-)Mutter auf
die junge Prinzessin nur durch Flucht und den Tod der Gegenspielerin
kompensiert
werden
kann,
oder
einem
Märchen
wie
den
Bremer
Stadtmusikanten, die die vermeintliche Nutzlosigkeit der Alten in der
Gesellschaft ad absurdum führt – die Problematik zwischen jung und alt, Eltern
und Kindern ist in Märchen allgegenwärtig.
Anders sieht es mit der Sesshaftigkeit aus. Wie Lauscher ziehen viele
Märchenhelden aus, doch enden ihre Märchen damit, dass sie heiraten, einen
Thron erben oder nach Hause zurückkehren. Lauscher hingegen bleibt ein
Einsiedler, bedingt durch seine ständige Wanderschaft bzw. seine Platzangst.
Sesshaft wird Lauscher nie und versagt somit die völlige Integration in die
Gesellschaft.
Dabei ist er ehrgeizig und möchte etwas erreichen. Schon früh träumt er davon,
mit Barlo auf Abenteuerreise zu gehen und Heldentaten zu vollbringen. Seine
Ungeduld und die ihm eigene Ernsthaftigkeit verhindern, dass er tatsächlich in
die Fußstapfen seines Großvaters tritt und ein richtiger Flöter wird, denn schon
86
seine Bemühungen, ein brauchbarer Flöter werden zu wollen, stoßen beim
Sanften Flöter auf Unverständnis, denn Brauchbarkeit hält dieser für Flöter für
unpassend: „Es wird nicht deine Aufgabe sein, dich nützlich zu machen.“136
Allerdings ist es dieser Wunsch nach Nützlichkeit, der Lauscher für die
Einflüsterungen des Grauen und den Missbrauch der Flöte empfänglich macht.
Märchenhelden müssen sich mit solche psychologischen Fragen, ob sie etwas
tun sollen oder nicht, nur in den Prüfungselementen stellen; für gewöhnlich
agieren sie, statt zu reflektieren. Selten richten sie beim Agieren allerdings
soviel Schaden an wie Lauscher, der die Mitschuld am Hass der Beutereiter auf
Arnis Leute und die Bergdachse trägt, an Gisas Tod und an Wazzeks Unglück.
Allerdings ist der Roman bereit, diese Schuld zu relativieren und ihn ein Stück
seiner Verantwortung zu entheben137
Die Frage, ob Lauscher ein Märchenheld ist, ist schwer zu beantworten, denn
Lauscher durchläuft nicht nur eine Entwicklung (was ihn als Märchenheld a
priori atypisch macht, da deren Entwicklung höchstens äußerlich, nicht aber
innerlich vonstatten geht – der arme Geselle wird zum Königssohn oder die
Magd zur Prinzessin; eine charakterliche Veränderung gibt es jedoch nicht, da
Märchenhelden zu stereotyp sind, um überhaupt einen Charakter zu besitzen),
sondern wechselt auch zwischen einem aktiven und einem passiven Status.
Im aktiven Status trifft er seine eigenen Entscheidung, die meist darin
bestehen, weder auf den Spruch des Steins noch den der Flöte zu hören oder
den Zirbel zu konsultieren, sondern seinen eigenen Wünschen nach Sex (Gisa)
oder Macht, nach verlockender Ehe (Narzia) oder Heldentum folgt.
Entscheidungen, die er in diesem Status trifft, führen in der Regel zu einer
Schädigung für ihn selbst (wie die Verwandlung in einen Faun oder die
Versteinerung) bzw. sein Umfeld (wie etwa der Verlust von Barlos Stimme
oder der die Bestrafung Wazzeks). Solche negativen Folgen werden bei den
Taten eines Märchenhelden nicht geschildert138.
136
Stein und Flöte, S.203
Vgl. ebenda, S.687 und S.691
138
In KHM 54 schickt der Held Soldaten aus, die aus einem mit List an sich gebrachten
Zaubermittel stammen. Er führt Krieg gegen den rechtmäßigen König und legt Gebäude in
Schutt und Asche. Allerdings erzählt das Märchen nichts von den Getöteten, den Waisen, den
137
87
Neben dem aktiven Status gibt es noch einen passiven Status, in dem Lauscher
keine eigenen Entscheidungen trifft, sondern sich jemandem anvertraut. Im
ersten Buch trifft Barlo die Entscheidungen, während Lauscher als Diener
folgt; als er zum Faun verwandelt wird, erhält Lauscher Unterstützung vom
Zirbel und von tierischen Helfern, die ihn in die richtige Richtung lenken, und
während seiner Versteinerung überlässt er die Handlung notgedrungen
Arnilukka. Im passiven Status beschränken sich Lauschers Entwicklungen auf
innere Prozesse: die Reifung während der Dienerschaft unter Balro vom
Jüngling zum Mann, der Gisa gegenübertreten und widerstehen kann, die
Identitätssuche Steinauges, der nun das Ausmaß seiner Handlungen
einigermaßen überblicken kann, und die inneren Erlebnisreisen des Steinfauns,
die ebenfalls der Erkenntnis über seine Umwelt dienen.
Im passiven Status erfüllt er den Stand des Helden besser als im aktiven, doch
‚leidet’ sein Heldenstatus darunter, dass sein Handlungsraum sehr viel größer
ist als der eines stereotypen Prinzen, Gesellen oder Spielmanns – Lauscher
besitzt Handlungsfreiheit, die dem Helden nicht zusteht, und nutzt diese auch,
um Fehler zu begehen.
5.2. Statische Figuren
5.2.1. Menschliche Ratgeber
Drei Menschen werden von in Stein und Flöte als Ratgeber und Mentoren
Lauschers eingeführt: Urla, der Sanfte Flöter und Arni mit dem Stein. Sie
geben ihre Weisheiten an Lauscher weiter, auch wenn dieser nicht unbedingt
auf sie hört, und teilen ansonsten ein gemeinsames Schicksal: Angesichts ihres
hohen Alters überleben sie den Roman nicht.
Urla ist bereits zu Beginn des Romans gestorben und agiert nur noch in
Geschichten oder Visionen. Sie steht für die alte weise Frau, die als Helferin
im Märchen fungiert, Wege weisen und Antworten geben kann. Solche
Kriegsversehrten oder Hunger und Krankheit, da die Figuren im Märchen isoliert agieren statt
in einer Gesellschaft. Somit kann das Verhalten der Märchenhelden nur auf Gegenspieler oder
zu erlösende Bräute/Bräutigame reflektieren.
88
Frauengestalten finden sich etwa in Die drei Spinnerinnen (KHM 14), wenn
drei seltsame, körperlich entstellte Frauen der Protagonistin helfen, oder in Der
Teufel und seine Großmutter (KHM 125). Auch Frau Holle (KHM 24) wird als
alte Frau beschrieben, und in KHM 181 stammt der Rat, mit dem die Frau
ihren Mann von der Nixe erlöst erneut von einer alten Frau.
Der männliche Ratgeber ist in den Märchen seltener; allerdings übernehmen
Könige oder Vaterfiguren mitunter die Aufgabe, Wissen weiterzureichen (z.B.
der König in KHM 6). In Stein und Flöte teilen sich zwei Männer diesen
Posten: Arni mit dem Stein und der Sanfte Flöter. Beide fungieren auch als
Übergeber eines Zaubermittels kurz vor ihrem Tod, den Lauscher jeweils
miterlebt, und auch in ihren Ratschlägen sind sie ähnlich. Sie üben auf
Lauscher Vorbildfunktion aus, zumal er mit dem Wissen aufwächst, mehr nach
seinem Großvater zu schlagen (der im Gegensatz zum Großen Brüller ein
ruhigerer Mann ist), und von Arni erhält er schließlich den Stein und damit den
Auftrag, dem Schimmer zu folgen und das Geheimnis zu ergründen. Spätestens
in seiner Funktion als Träger des Steins tritt Lauscher auch offiziell in die
Fußstapfen des zu diesem Zeitpunkt zur Heilsgestalt verklärten Arnis.
Alle drei Ratgeberfiguren werden auch nach ihrem Tod noch einmal in die
Handlung eingebunden; sei es nun als Vision wie Urla oder als Geistergestalt
wie Arni oder zu guter Letzt wie der Sanfte Flöter, der Lauscher nach dessen
Tod willkommen heißt. Auch hier übernimmt er sofort wieder die Rolle
desjenigen, der sich besser auskennt als sein Enkel.
5.2.2. Übermenschliche Gestalten
In den beiden Figuren des Grauen und des alten Steinsuchers schafft sich Stein
und Flöte eine eigene Dichotomie von Gut und Böse.
Der Graue ist dämonische Verführergestalt, der mit Vorliebe nachts auftaucht
und Ansprüche stellt; so fordert er bei der ersten Begegnung Lauschers Stein.
Seine Ziele sind destruktiv, denn auch wenn er mit Macht und Reichtum lockt,
ist er stets von Zerstörung umgeben (etwa im dritten schwarzen Traum, wenn
89
er die Statuen des Fauns und der Frau zerstört, oder in den Träumen des Fauns,
mit denen er ihn dazu locken will, die Ziegen zu töten).
Der alte Steinsucher ist das Gegenteil des Grauen, denn er ist die Quelle der
drei wichtigsten Zaubermittel im Roman: Er gab Urla den Stein, dem Sanften
Flöter die Flöte und Lauscher den Zirbel. Bis auf das letzte Unterkapitel des
Romans bleiben dies auch seine einzigen Auftritte; dann jedoch, wenn
Lauscher alt geworden ist, begegnet er ihm in I, II und III. Als Schöpferwesen
nimmt er zumindest theistische Züge an, nähert sich aber auch dem Tod an,
wenn er in I verkündet, Barlo besuchen zu wollen, dessen Tod wenig später
bekannt wird, und in III das Stück vor Lauschers Tod an seiner Seite geht.
Beide Figuren sind transzendentale Erscheinungen, die sich mit dem
Auftauchen des Teufels als Verführer (z.B. KHM 100 und 101) bzw. dem
göttlichen Wirken in den KHM (z.B.KHM 87 oder 135) vergleichen lassen.
5.2.3. Belebte Natur als Helfer
Im Roman gibt es zahlreiche Tiere, die als Helfer auftreten und sich eigentlich
nur in ihrer Sprachbegabung unterscheiden. Jalf und die Amsel etwa sind in der
Lage, sich dem Menschen verständlich zu machen, ohne dessen Sprache zu
verstehen, und entwickeln zu Lauscher bzw. zum Sanften Flöter eine wahre
Freundschaft. Solche Tierfreundschaften kennt man z.B. von Aschenputtels
Tauben (KHM 21) oder dem Löwen des Königssohn, der sich vor nichts
fürchtet (KHM 121).
Die Kröte verfügt über die menschliche Sprache, ohne dass dieser Umstand je
thematisiert wird. Ihr Auftauchen stets bei Nacht lassen ihre Wahrhaftigkeit
jedoch in Zweifel ziehen; womöglich handelt es sich bei ihr nur um ein
Traumgespinst. Andererseits sind sprachbegabte Tiere im Märchen weit
verbreitet, z.B. Fallada in KHM 89, der Wolf in KHM 26 oder die Kröte in
KHM 63.
Mit Lauschers Verwandlung in den Faun, der die Sprache der Tiere versteht,
wird das Spektrum an tierischen Helfern erweitert. Das Wiesel Nadelzahn sorgt
90
für Lauschers leibliches Wohl und bezieht sich auch häufig aufs Essen. Die
Ringelnatter Rinkulla ist weise Ratgeberin und mit ihren Achataugen ein
weiteres Substitut für den Augenstein und Arnilukka139. Die Mäuse schließlich
sind fleißige Helfer, die meist unterschätzt werden und sich doch als wahre
Helden erweisen140.
Einen übernatürlichen Helfer aus der Natur erhält Lauscher im Zirbel, der ihm
Ratgeber und gleichzeitig Spötter ist. Als Zaubermittel, das er direkt vom alten
Steinsucher erhält, ist es nicht verwunderlich, dass eine der Methoden des
Zirbels, Lauscher etwas verständlich zu machen, das Gleichnis ist. Der Zirbel
enthält auch die Zirbelin, deren markantes Zeichen ihr Duft ist, und die für eine
etwas körperbetonte Art des Trostes und Beistand steht.
5.3. Veränderliche Figuren
5.3.1. Barlo
Barlo erhält die Rolle des Märchenprinzen, dessen treuer Diener Lauscher wird
(etwa vergleichbar mit dem Königssohn und seinem Diener in KHM 6 oder
KHM 22). Er ist Autoritätsperson und Sympathieträger, denn als leidender
Held, der Zunge, Vater und Herrschaft verloren hat, gönnt man ihm sein
glückliches Märchenende mit Eldrade.
Für Lauscher ist er Herr und Freund zugleich; in seiner Gegenwart kann er die
Verantwortung abgeben und Barlos Junge sein, und somit begegnet Lauscher
ihm, je älter er wird, mit umso gemischteren Gefühlen, bis es ihm im hohen
Alter sogar peinlich wäre, Barlo nach Arziak zu holen141.
Der Autoritätsanspruch Barlos verliert sich jedoch bei Lauschers Besuch beim
alten Barlo, denn wo der junge Barlo noch tatkräftig und kämpferisch war, wo
er mit seiner Musik die Menschen zu begeistern wusste, ist er nun ein alter
Mann, der immer noch seine Ordnungen schätzt und sich voller Würde
139
Dass Bemmann gerade eine Schlange, die schon in der Bibel als Tier der Verführung gilt,
als Erinnerung an Arnilukka gewählt hat, könnte man im Zusammenhang mit dem Thema der
Erotik auch als sexuelles Motiv deuten.
140
Das Motiv, dass viele kleine Tiere, zu denen man freundlich war, Taten vollbringen können,
die für mächtigere Tiere oder Menschen unmöglich sind, wird mehrfach in Stein und Flöte
thematisiert und lässt sich auch in den KHM finden (z.B. KHM 62 oder 107).
141
Stein und Flöte, S.787
91
präsentiert. Der jugendliche Held von einst hat sich zu „einem Denkmal seiner
selbst“142 verwandelt, eine Karikatur beinahe, über die Lauscher und sein Pferd
sich amüsieren können.
5.3.2. Die Frauenfiguren
Gisa ist zu Beginn ganz die schöne, aber böse Hexe:
Nach dem ‚Hexenhammer’ von 1487, der Rechtsgrundlage der Hexenprozesse,
besitzen Hexen übernatürliche Kräfte und treiben Zauberei. Sie sind zur Liebe
unfähig. Sie haben Gewalt über andere Menschen. Sie gestehen niemals ihre
Schuld ein und vergießen niemals Tränen. Sie vertrauen auf die eigene Macht.
Sie gebären keine Kinder und maßen sich Männerrollen an. 143
Für Röhrich ist dieses Hexenbild nur bedingt in Grimms Märchen tradiert, in
denen Hexen in der Regel als böse, alte Weiber dargestellt werden, denen die
sexuelle Ausstrahlung und der Tanz zur Walpurgisnacht nicht mehr nahegelegt
werden können. Wer fände die Hexe aus dem Knusperhaus schon anziehend?
Von
einem
solchen
Hexenbild
unterscheidet
sich
Gisa,
Lauschers
Gegenspielerin aus dem ersten Buch, ganz erheblich, denn schon vom ersten
Moment an ist er von ihrer Schönheit wie verzaubert – zunächst von ihren
Augen („und diese Augen übten eine solche Gewalt auf ihn aus, dass es ihm
Mühe machte, den Blick abzuwenden“144), später von ihrem gesamten Körper.
Schöne, zauberkundige Frauen, die dem Hexenbild des Hexenhammers näher
stehen als dem aus Hänsel und Gretel, treten in der Fantasyliteratur häufiger
auf. Die Hauptfigur der Nebel von Avalon von Marion Zimmer-Bradley, die
der Morgaine aus der Artus-Sage angelehnt ist, ist eine solche moderne Hexe.
Auch in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende wird Bastian von der
schönen Xayíde becirct, bis er all seine Erinnerungen hinzugeben droht und
sich auch gegen seine Freunde wendet. Ist Gisa daher eher der Fantasyliteratur
als den Märchen zuzuordnen?
Obwohl es auf den ersten Blick so scheint, kennen Grimms Märchen bei
genauerer Betrachtung die schöne, zauberkundige Frau sehr wohl, die sich auf
Hexenkünste versteht, auch wenn die Knusperhexe weiter verbreitet ist. Die
142
Ebenda, S.770
Röhrich: „und weil“, S.129
144
Stein und Flöte, S.16
143
92
bekannteste Gestalt dieses Typus ist wohl die böse Stiefmutter aus
Schneewittchen145 (KHM 53), aber auch in KHM 49 heiratet der Vater der
später in sechs Schwäne verwandelten Prinzen eine junge Hexe146. Deren
Beschreibungen zeigen deutliche Parallelen zur Hexe Gisa: „Dieses Mädchen
galt als das schönste weit und breit. Viele junge Männer kamen und warben um
Gisa, aber sie war stolz und wies alle ab.“147
Nach ihrer Verwandlung in eine Wölfin ändert sich Gisa jedoch – zunächst zu
einer ambivalenten Figur, die mal Lauscher schützt, dann versucht, Arnilukka
zu töten, und anschließend in einen hilfreichen Baum auf ihrem Grab, durch
den sie nur noch Gutes tun kann.
Auch Narzia durchlebt eine Veränderung. Zu Beginn tritt sie als
Rätselprinzessin auf, als schöne und stolze Frau, die Lauscher als Braut
gewinnen möchte und um deretwegen er jedes Risiko auf sich nimmt.
Rätselprinzessinnen sind klug und dabei von so blendender Schönheit, dass die
Bewerber um ihre Hand entweder kopflos werden oder dahinsiechen in
Hoffnungslosigkeit oder ihrem Vater den Krieg erklären. Und mögen diese
Schönheiten auch innerlich mit sich uneins sein, treten sie dennoch selbstherrlich
und imponierend auf, so dass ihr eigener Vater ihrem Willen nachgibt und sie
mit ihren Todesurteilen gewähren lässt.148
Hinter der Schönheit lauern allerdings ihre Berechnung und ihr Drang zu
herrschen, und ihre Grausamkeit und ihr Stolz gewinnen mit der Zeit die
Oberhand über Narzia. Aus der Geliebten wird die Gegenspielerin, die als
Falke verwandelt Lauscher hinterher jagt, um den Stein zu ergattern.
Ganz zum Schluss ihrer Geschichte wandelt sich Narzia sogar noch in eine
dritte Figur: Sie kehrt teilweise zu der Rätselprinzessin zurück, in die sich
Lauscher verliebt hat, verliert aber ihre Bösartigkeit. Kurz vor ihrem Tod, als
Narzia ihre Zauberkunst einsetzt, um Urla zu heilen und zu versuchen, auch
den Fluch von Lauscher zu nehmen, wird sie zur reinen Prinzessin, doch ihr
„Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass
sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden.“; „mit Hexenkünsten, die sie verstand,
machte sie einen giftigen Kamm“ (KHM 53)
146
„er sah wohl, dass sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie
ohne heimliches Grausen nicht ansehen“; „und da sie von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt
hatte, so nähete sie einen Zauber hinein“ (KHM 49)
147
Stein und Flöte, S.82
148
Snook: Auf den Spuren, S.126
145
93
Tod, die Strafe für die lange Zeit als kaltherziger Vogel, verhindert eine
vollständige Aussöhnung mit ihren Taten.
Arnilukka ist zu Beginn nur ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, das durch
seine Unschuld, seine Fröhlichkeit und seine Augen die Freundschaft
Lauschers erwirbt. Für den Leser sind diese Augen schon Anzeichen genug,
dass sie im Verlauf des Romans noch eine Rolle spielen wird, und auch Gisa
erkennt in ihre eine Gefahr, weshalb sie sie töten möchte. Lauscher sieht in ihr
jedoch nur ein Kind, und durch dieses Fehlurteil erwirbt sich Arnilukka einen
Status als eine Variation von Aschenputtel.
Das tragende Thema aller zum Aschenputtel-Zyklus gehörenden Märchen ist das
Auseinander klaffen von Schein und Sein. Die gering geschätzte Titelfigur
erweist sich als die Beste. Sie ist eine besonders eindrückliche Repräsentantin
des unterschätzten Märchenhelden, für den die angelsächsische Forschung den
Terminus ‚unpromising hero’ geprägt hat.149
Arnilukkas Verwandlung hängt mit ihrem Alter zusammen, denn sie wandelt
sich vom unreifen Kind, das nur Begleitung, Trost und Freundschaft zu bieten
hat, zur jungen Frau, die über den Augenstein auf mystische Weise mit
Lauscher verbunden ist und auserkoren scheint, mit ihm glücklich zu werden,
wenn vorher nicht die Schädigungen der Verwandlung und Versteinerung in
Lauschers Leben einbrechen würden. Das Kind Arnilukka wird mit der Zeit
reif genug, um als Frau aufzubrechen, um Lauscher zu erlösen.
Diese Geschichte Arnilukkas bleibt quasi unerzählt, da sie nur aus der
Perspektive
Lauschers
miterzählt
wird,
aber
gewisse
Aspekte
der
Märchenheldin einer Suchwanderung vereinen sich in ihrem Charakter, ohne
jedoch in völliger Konsequenz beibehalten zu werden.
Eine wesentliche und für den Verlauf der Erzählung oftmals entscheidende
Eigenschaft der Frau ist ihre unbeirrbare Treue, ihre totale Opferbereitschaft und
Selbstlosigkeit, ihre Leidensfähigkeit und Durchhaltekraft. Dies sind die
Eigenschaften, die von der Frau, die ihren Mann oder der Schwester, die ihre
Brüder erlösen will, gefordert werden. Das Schicksal, ihren verlorenen Mann
wiederzufinden bzw., neu zu gewinnen, was man auch als die Motivik der
„Suchwanderung“ bezeichnet, zeigt das häufige Lebensschicksal von Frauen im
Märchen.150
Arnilukka leidet; sie wird von Narzia gefangen und mit einer Verwandlung zur
Maus gequält; sie verliert beim Fluchtversuch ihre einzige Vertraute; sie
149
150
Lüthi: Der Aschenputtel-Zyklus, S.53
Röhrich: „Und weil…“, S.115
94
überlebt die Flucht beinahe nicht, weil sie schwer erkrankt und verliert
obendrein ihren Vater. Dennoch gibt Arnilukka nicht auf und beschließt,
Lauscher zu suchen. Dabei hat ihre Suchwanderung schon vor ihrer Geiselhaft
bei Narzia begonnen, wenn auch unbewusst – denn dreimal begegnet sie
Lauscher in seiner Gestalt als Steinauge, und jedes Mal läuft sie erschrocken
vor seiner Tierhaftigkeit fort. Dennoch bricht sie mit dem Bild der leidenden
Märchenheldin, denn als sich die Auflösung ihrer Konflikte ankündigt und sie
Lauscher heiraten könnte, entscheidet sie sich gegen ihn und für die Stabilität
an Belarnis Seite.
5.4. Namen
Bei den Namen ist erneut ein Spagat zwischen Märchengepflogenheiten und
der klassischen Namensgebung in der Fantasyliteratur bemerkbar. Eine ganze
Reihe von Figuren, vorneweg der Protagonist und seine männlichen Vorfahren,
haben sprechende Namen, die sich auf eine Eigenschaft ihres Charakters
zurückführen lassen. Der Große Brüller ist physisch wie akustisch eine
mächtige Erscheinung, während der Sanfte Flöter ein friedlicher Mann ist. In
Lauschers Fall ist sein ganzes Leben aufs Lauschen ausgelegt; dies ist die
Aufgabe, die er meistern soll und zu der er immer wieder von seinem
Großvater angehalten wird. Er erhält seinen Namen auch aus optischen
Gründen:
„Er schaut aus, als ob er lauscht.“151
„Ihm schien es fast so, als habe ihn dieses Instrument, das ihm allzu früh in die
Hand gelegt worden war, daran gehindert, das Zuhören so zu lernen, wie es
seinem Namen entsprochen hätte“152
Dies erinnert an Dornröschen (KHM 50), deren Name für ihr Leben (soweit es
für das Märchen von Bedeutung ist) programmatisch ist153: Sie ist die Rose
hinter den Dornen. Ebenso ließe sich das Glückskind aus dem Märchen von
des Teufels drei goldenen Haaren (KHM 29) als Vergleich heranziehen, das
seinen Namen ebenfalls fatalistisch erhält und damit gleich eine wichtige
Charaktereigenschaft verliehen bekommt. Schneewittchen wird sogar nach
ihrem Namen gebildet, denn der Wunsch der Mutter nach einem Kind rot wie
151
Stein und Flöte, S.11
Ebenda, S.765
153
Vgl. Schmidt-Knaebel: Volksmärchen in der textlinguistischen Analyse, S.47-50; SchmidtKnaebel unterscheidet die gattungstypischen Namen in besondere und alltägliche Namen.
152
95
Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz erfüllt sich, weshalb das
Kind den Namen Schneewittchen erhält (KHM 53).
Bei den Blutaxtleuten und den Tieren, deren Namen Lauscher als Faun erfährt,
sind die Namen stärker ans Physische gebunden und erinnern nun endgültig an
Märchennamen wie den von Aschenputtel, Schneewittchen, Rotkäppchen,
Allerleihrauh, Schneeweißchen oder Rosenrot, die allesamt ihren Namen dem
Aussehen verdanken. Nadelzahn das Wiesel, die Kröte Goldauge oder der
Ziegenbock Einhorn, der sein zweites Horn bei einem Unfall verloren hat,
besitzen entweder schon einen Namen, der eher Bezeichnung ihres Aussehens
ist, oder bekommen ihn von Lauscher verliehen154. Beispielhaft ist Lauschers
Bemühung, mit dem Stock in Kommunikation zu treten, den ihm der alte
Steinsucher übergeben hat, denn dazu muss er erst dessen Namen finden. Der
Ziegenbock gibt ihm den Rat: „Suche einen Namen, der seiner Art entspricht.
So wird das wenigstens bei uns gemacht.“155 Lauscher gelingt es nun, über
Holzling und Bäumler auf Zirbel zu kommen – die Ausarbeitung eines
Namens, der Ausdruck der Art der Figur ist. Auch dies ist märchentypisch,
denn: „Die einmaligen Märchennamen dagegen ziehen automatisch eine
Textstelle nach sich, die Hörerin und Leser zu Zeugen der Namensgebung
macht.“156
Schließlich gibt es noch eine Reihe von Figuren, die allein nach ihrem Beruf
oder ihrer Familienbeziehung benannt sind; insbesondere bei Müttern fällt auf,
dass sie seltenst einen Namen erhalten. Lauschers Mutter etwa wird
konsequent nur in Abhängigkeit ihrer männlichen Bezugspersonen bezeichnet:
als Lauschers Mutter, Frau des Großen Brüllers oder Tochter des Sanften
Flöters – ein Schicksal, das sie wiederum mit ihrer Mutter teilt, die ebenfalls
nur die Großmutter oder die Frau des Sanften Flöters ist (als Mutter ihrer
Tochter kann sie nicht bezeichnet werden, da diese ja keinen eigenen Namen
hat). Zwar könnte man darauf beharren, dass diese Figuren nicht wirklich
handlungstragend, sondern nur Nebenfiguren sind, doch im Vergleich mit der
154
Vgl. ebenda S.464, wenn Lauscher Einhorn einen Namen verleiht und im Gegenzug den
Namen Steinauge erhält, oder S.194, wenn er die Kröte mit dem Namen Goldauge anspricht
155
Ebenda, S.508
156
Schmidt-Knaebel: Volksmärchen in der textlinguistischen Analyse, S.48
96
Blutlinie Urlas fällt die Ungleichheit der Namensgebung besonders auf. Als
mystische Stammmutter besitzt Urla einen Namen; ihrer Tochter und
Enkeltochter widerfährt dieses Glück schon nicht mehr – allerdings erfährt der
Leser die Namen ihrer Ehemänner. Akkas und Rikkas Ehemänner haben
ebenso Namen wie Arnilukkas beide Geliebten und ihre Kinder; erst bei Urlas
Ehemann verzichtet der Autor erneut auf einen Namen; er wird nur als „der
Schmied“ bezeichnet; ein Beruf, den mit Ausnahme Belarnis alle Ehemänner
von Urlas Nachkommen ausübten.
Nebenfiguren schließlich werden häufig allein über ihren Beruf identifiziert,
insbesondere bei Figuren aus dem ersten Buch. Der Eselwirt hat ebenso wenig
einen Namen wie der Schäfer oder der Bauer, bei denen Barlo und Lauscher in
ihrem Jahr als Schafhirten Unterschlupf finden. Selbst Barlo wird lange Zeit
nur als „Pferdeknecht“ geführt, ehe er die Rolle als Lauschers Herr einnimmt.
Diese Namensgebung aufgrund von Äußerlichkeiten oder Weglassen einer
individuellen Bezeichnung, um Familiengrad bzw. Beruf zu verwenden, trifft
nun auf die Namensgebung innerhalb der einzelnen Völker. Zieht man hier
Tolkiens Mittelerde zum Vergleich, wird bald deutlich, was Bemmann
bezweckt hat: Zumindest die männlichen Namen lassen in ihrer Endung bereits
eine Kategorisierung in einen Volksstamm zu. So enden die typischen Namen
der Beutereiter auf –i; ein Suffix, das man bei mehr als einem Dutzend Namen
antrifft und das sowohl für männliche wie weibliche Namen zutrifft, denn auch
die Magd, neben Narzia die einzige Frau unter den Beutereitern, die
namentlich erwähnt wird, trägt mit Lingli einen Namen mit typischer Endung.
Unter den Bergdachsen scheint bei Männern eine Endung auf –o mit
vorangehendem doppelten Konsonanten verbreitet, wie die Beispiele
Promezzo, Azzo, Arnizzo, Sparro oder Ruzzo nahe legen, während
Frauennamen wie auch in den meisten anderen Völkern auf –a enden. Bei den
Fischern wiederum enden männliche Namen meist auf –sch, während die
Männernamen aus dem Gebirge auf –os enden und Männernamen in Falkenor
auf –ar.
97
Die Archetypen im Märchen erhalten bisweilen die Namen Hans, Grete, Lise
oder Else; typische Namen zur Zeit der Niederschrift durch die Gebrüder
Grimm und somit austauschbar geworden. Bemmann nutzt eine vergleichbare
Technik, indem er Namen eines einzelnen Volkes in fast inflationärer Anzahl
einführt. Bestes Beispiel ist das Volk der Beutereiter, bei denen mehr als ein
Dutzend Namen genannt werden, deren Inhaber z.T. nur sehr kurze Auftritte
haben und schon bald in der Erinnerung des Lesers miteinander
verschwimmen. Registriert wird die Endung in Verbindung mit der
Beschreibung des äußeren: den schwarzen, strähnigen Haaren, den flachen
Nasen, der olivfarbenen Haut. Abgesehen von jenen Beutereitern, die eine
wichtigere Rolle einnehmen (Arni, Hunli, Höni, Belarni), tragen die
auftretenden Beutereiter kaum individuelle Merkmale. Diese Technik legt
nahe, dass es bei der Namensgebung nach Volksstämmen auch darum ging, aus
den nur scheinbaren Individuen einen austauschbaren Abkömmling eines
Volkes zu machen.
Eine Besonderheit betrifft noch die Bezeichnung der Hauptfigur. Ähnlich wie
Aragorn aus dem Herrn der Ringe wechselt auch Lauscher seine Namen. Nach
der Verwandlung in den Faun wird er Steinauge getauft, und als er sämtliche
Erinnerungen verloren hat und als steinerner Faun an der Quelle steht, wird er
nur noch mit „er“ bezeichnet. Dabei vollzieht er die Änderung eines Namens,
der durch eine Eigenschaft verliehen wird, zu einer Bezeichnung, die er seinem
Stein verdankt, bis hin zum entpersonalisierten Personalpronomen in der
völligen Identitätslosigkeit – und auch wieder zurück. Diese Rückwandlung ist
an den Namen Arnilukkas, der damit sinnstiftende Bedeutung erhält, und an
die Flöte gebunden. In der Musik findet er die Erinnerung wieder, und erst, als
der Text ihren Namen wieder aufgreift, erhält auch Lauscher innerhalb der
Bezeichnungen des Romans seinen menschlichen Namen zurück, obwohl die
Verwandlung in den Faun noch anhält.
Zusammenfassend gibt es also drei Typen von Namen in Stein und Flöte (vgl.
Tabelle 13). Namen des ersten Typus findet man bei Figuren, die statt eines
Namens eine Bezeichnung tragen, die etwas über ihr Äußeres bzw. ihren
Charakter verraten. Diese Namensgebung steht dem Märchen am nächsten.
98
Namen des zweiten Typus sind in erster Linie Nebenfiguren vorbehalten. Es
sind Bezeichnungen ihres Beruf- oder Familienstandes oder aber Namen, die
nach den Regeln einer bestimmen Volksgruppe innerhalb der Romanwelt
gebildet wurden. Durch fehlende individuelle Ausbildung der Figuren sind
diese Namen wie Platzhalter für die Bezeichnung der Volksgruppe. Diese
Namensgebung stellt eine Mischform von Märchen- und Fantasystruktur dar,
da Berufsbezeichnungen märchentypisch sind, die Zuordnung zu einer
Volksgruppe hingegen oft in Fantasyromanen benutzt wird. Die Identifizierung
über die Namenssuffixe weisen zudem eine gewisse Ähnlichkeit zur Nutzung
von Namen wie Hans oder Grete im Märchen auf.
Namen des dritten Typus sind individuelle Phantasienamen, die einer Figur
ihre Herkunft aus einer wunderbaren Welt (im Gegensatz zur realistischen
Welt) sowie häufig auch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk dieser
Welt belegt. Diese Namen lassen häufig Interpretationsspielraum für ihre
Bedeutung und stehen eher dem Fantasyroman nahe, da sie nach Regeln der
phantastischen Welt gebildet werden und nicht originär der üblichen
Namensgebung des Sprachraums des Autors entstammen.
Typus 1
Typus 2a
Typus 2b
Typus 3
Stein und Flöte
Lauscher, Sanfter Flöter,
Einhorn, Nadelzahn,
Der-dem-Falkenweissagt, Schiefmaul,
Großer Brüller
Eselwirt, Mutter,
Großmutter, Verwalter,
Pferdeknecht, Diener,
Bauer, Schäfer
Russo, Sparro, Ruzzo,
Kurgi, Günli, Orri,
Wanli, Blörri, Lujos,
Rullos, Hurlusch,
Bargosch
Arnilukka, Belarni,
Rinkulla, Barlo, Urla
KHM
Aschenputtel,
Dornröschen,
Schneewittchen,
Rotkäppchen,
Allerleihrau,
Brüderchen,
Schwesterchen, Soldat,
(Königs-)Tochter, Bauer,
Großmutter, König,
(Königs-)Sohn
Hans/Hänsel, Grete(l),
Else
Herr der Ringe
Baumbart, Streicher
---
Faramir, Boromir,
Eomer, Eowyn,
Gandalf, Frodo
Ork, Ent, Goblin,
Zwerg, Elb
Stolzfuß, Spachtler,
Sackheim, Balbo,
Bungo157
Tabelle 13
157
Hobbitzu- und Vornamen, zitiert nach den Anhängen und Registern, S.100
99
5.5. Liebe und Erotik
Im Märchen sind Liebe und Erotik stark von einander getrennt. Liebe wird als
Motivation oder Konfliktlösung genutzt; so bricht etwa der jüngst Sohn in Das
Wasser des Lebens (KHM 97) aus Liebe zu seinem Vater auf, um das rettende
Zaubermittel für die Genesung des Todkranken zu finden. Der Prinz in
Schneewittchen (KHM 53) verliebt sich in die scheinbar Tote und kann durch
seine Bitten die Zwerge erweichen, sie ihm zu überlassen – wobei auch die
Zwerge es bereits aus Zuneigung zu Schneewittchen nicht über das Herz
gebracht haben, sie zu begraben. Die geschwisterliche Liebe sorgt in vielen
Märchen für die Erlösung derer, die verzaubert sind; die Brüder werden sowohl
in Die zwölf Brüder (KHM 9) als auch in Die sieben Raben (KHM 25) oder
Die sechs Schwäne (KHM 49) von ihrer Schwester erlöst, die dafür stets
schwere Prüfungen auf sich nimmt.
Die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau hingegen wird –
womöglich kindgerecht oder aber von der Prüderie des 19. Jahrhunderts
gefördert – lediglich im Substitut der Ehe behandelt. Eine Braut zu finden oder
den Bräutigam zurückzugewinnen, sind häufige Motive. Für Propp ist die
Brautwerbung sogar zentrales Element und Motivation, die Hochzeit
angestrebtes Ende der Morphologie aller Zaubermärchen. Auch viele GrimmMärchen enden mit der Hochzeit des Helden bzw. der Heldin. Liebe wird dabei
nahezu mit Ehe gleichgesetzt; das höchste der Gefühle ist das Ergreifen der
Hand oder ein Kuss, der häufig auch erlösend wirkt (z.B. bei Dornröschen in
KHM 50). Alle weitere Erotik oder Geschlechtlichkeit verschweigt das
Märchen jedoch. „Als Werbungs- und Liebesgeschichte hätte das Märchen
zwar mannigfachen Anlass zur Darstellung erotischer Szenen, aber es macht
davon so gut wie keinen Gebrauch, und man wundert sich, dass erotischsexuelles Verlangen in ihm eine so geringe Rolle spielt.“158
Dass Teil der Ehe auch Sexualität ist, dass die Kinder, die in Märchen geboren
werden, im sexuellen Akt gezeugt werden müssen – diesen Punkt
verschweigen die Märchen gern. Das Bett ist Schlafplatz; dass es auch für
andere Zwecke dienen könnte, wird nur selten angedeutet, etwa wenn in Die
158
Röhrich: „und weil“, S.35f.
100
zwei Brüder (KHM 60) der unerkannte Zwillingsbruder nachts ein Schwert
zwischen sich und die Frau seines Bruders legt. Aus einigen Märchen sind
Andeutungen, dass die Protagonisten sexuellen Verkehr hatten, sogar
herausgestrichen; so merkt die Hexe in anderen Fassungen von Rapunzel, dass
ihr Schützling Männerbesuch erhält, daran, dass ihre Kleider am Bauch nicht
mehr passen, da Rapunzel geschwängert worden ist159.
Stein und Flöte nähert sich diesen Konzepten an, ohne sie jedoch vollkommen
zu erreichen. Da der Roman den Gedanken des Protagonisten und seiner
Gefühlswelt mehr Raum bietet, als einem Märchenhelden je zugestanden
wurde, geht seine Liebesvorstellung über einen Kuss oder die Heirat weit
hinaus. Auch seine fleischlichen Gelüste werden nicht verschwiegen.
Andererseits sind auch Lauschers erotische Abenteuer weitestgehend stilisiert
worden. Doch beschäftigen wir uns zunächst mit den Liebesbeziehungen.
5.5.1. Liebesbeziehungen
Lauscher verliebt sich in seinem Leben in drei Frauen. Die erste wichtige Frau
ist Gisa, der er zu Beginn seiner Abenteuer erliegt und der er jeden Wunsch
erfüllt160. Da jede Frau zunächst über ihre Augen Eindruck auf Lauscher
macht, ist es der saphirblaue Blick, der ihn zuerst fesselt.
Gisa werden Zauberfähigkeiten zugeschrieben; in der Binnenerzählung „Die
Geschichte von Gisa und den Wölfen“ geht sie einen Pakt mit den Wölfen ein;
auch in diesem ist mit der Forderung der Wölfe, dass sie ihr Blut mit ihnen
teilen, bei ihnen liegen und ihnen den Pelz kraulen muss, bereits erotische
Anspielungen enthalten161. So kann explizit nur eine Jungfrau durch ihr Blut
den Wölfen menschliche Gestalt verleihen.
In der Beziehung zwischen Lauscher und Gisa, in der er wie im gesamten
ersten Buch eher Objekt und passiver Teil zu sein scheint – der einzige
Entschluss, den er wirklich selbst trifft, nämlich das Leben der Amsel zu
verschonen, entzweit das Paar, befreit ihn von Gisas Zauber und bringt ihm den
159
Rölleke: Nachwort, S.607f.
Stein und Flöte, S.16ff.
161
Ebenda, S.84f.
160
101
Augenstein zurück162 – ist es Gisa, für die die Liebe die tragenderen
Auswirkungen hat. Sie hat sich tatsächlich in Lauscher verliebt, wie ihre
Verwandlung in die Wölfin beweist. Ihre Eifersucht auf Arnilukka führt zum
Angriff auf das Kind und somit zu ihrem Tod, der ausgerechnet von Lauscher
initiiert ist: Sein Pfeil tötet Gisa als Wölfin, nachdem ihre Liebe zu ihm ihr
Leben als Herrin von Barleboog beendet hat. Doch auch über den Tod hinaus
hat diese Liebe Auswirkungen auf Gisa, denn die Eberesche auf ihrem Grab
rettet Lauscher später das Leben:
Er versuchte das Hindernis zu überspringen, blieb aber mit dem Huf an
irgendetwas hängen und stürzte der Länge nach ins Gras. „Halte dich an den
Baum, den du mir gesetzt hast“, raunte eine Stimme, und ehe er nicht recht den
vollen Sinn dieser Worte begriffen hatte, packte er den armstarken, glatten
Stamm einer jungen Eberesche, der unmittelbar vor ihm stand. Dann hörte er
hinter sich den Wolf wütend aufheulen und meinte schon, seinen stinkenden
Atem im Nacken zu spüren.163
Dass aus dem Grab eines geliebten Menschen etwas Gutes entspringt, ist
gängiges Märchenmotiv. So wächst auf dem Grab von Aschenputtels Mutter
der Baum, auf dem die beiden Tauben sitzen, die ihr Kleider und Geschmeide
für den Ball zuwerfen (KHM 21), im Märchen Von dem Machandelbaum
(KHM 47) fliegt ebenfalls ein Vogel von eben dem Baum los, unter dem der
Bruder begraben wurde und sorgt für die Strafe der bösen Stiefmutter und die
Wiederbelebung des Kindes. In Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein (KHM
130) ist es wiederum das Grab, auf dem ein hilfreicher Baum wächst (auch,
wenn nur die Eingeweide der zauberfähigen Ziege dort begraben sind).
Lauschers Gefühle für Gisa werden von Schuldgefühlen abgelöst; zwar hat er
sie von dem Zauber befreit, der sie gierig und böse hat werden lassen, doch
verliert sie dadurch auch ihre menschliche Gestalt. Dennoch vergisst er sie
recht bald, als er auf Narzia trifft.
In seiner zweiten Liebesgeschichte finden sich gleich zwei klassische
Märchenkonfigurationen wieder. Zunächst übernimmt Narzia die Rolle der
Rätselprinzessin, um deren Hand Lauscher zu drei Fahrten aufbricht. Gelingt es
ihm, alle drei Aufgaben zu meistern und Narzia drei Liebesbeweise zu bringen,
darf er sie heiraten.
162
163
Ebenda, S.27f.
Ebenda, S.578
102
Bemmann variiert die klassischen drei Aufgaben, die der Bewerber bestehen
muss, ehe er die Prinzessin heiraten darf, indem er sie logisch in die Mentalität
der Beutereiter einfügt, deren Sitten dies von allen Freiern verlangen; eine
solche Erklärung wird in Märchen nie gegeben.
Dass Narzia Lauschers romantischen Überschwang nicht teilt, erkennt der
Leser sehr schnell, denn wo er sich glühende Küsse vor Wiedersehensfreude
erhofft, gewährt sie ihm nur eine flüchtige Berührung ihrer Lippen.164
Darüber hinaus thematisiert sich in der Beziehung zwischen Lauscher und
Narzia als zweites der Konflikt von Unschuld und Sexualität, den
Märchenforscher nach Bettelheim häufig in der Beziehung Mensch zu Tier in
Märchen erkennen. In Adulenzenzmärchen wie Rotkäppchen und Märchen
vom Tierbräutigam wie dem Froschkönig symbolisiert die Verkörperung des
Mannes als Tier die Hilflosigkeit und Ohnmacht der unerfahrenen Mädchen
gegenüber der Sexualität. Auf das Tierbräutigam-Motiv gehe ich noch einmal
gesondert ein (vgl. 4.2.2.).
Die Liebesbeziehung zwischen Arnilukka und Lauscher variiert wiederum die
Beziehung zwischen Lauscher und Narzia. Beide Frauengestalten trifft er kurz
hintereinander, denn Arnilukka begegnet er auf der ersten Fahrt, die er für
Narzia unternimmt. Auch hier wird er gleich von ihren Augen gefangen
genommen, die nun keine Leerstelle im Farbenspektrum mehr offen lassen –
nach Gisas lediglich blauen und Narzias nur grünen Augen vereinen
Arnilukkas Augen wie der Stein blau, grün und violett. Somit entfällt auch der
sonst übliche Vergleich mit einem Edelstein (Gisas Augen sind wie Saphire,
Narzias wie Smaragde), denn Arnilukkas Augen sind wie der Stein. Über
diesen Stein führen die beiden Liebenden eine Kommunikation jenseits von
Zeit und Raum, in deren Verlauf der Stein sich wiederum Arnilukkas Augen
anpasst.
Die erste Vision eines Gesichts hat Lauscher, nachdem seine Großmutter ihn
im ersten Buch in einem tranceähnlichen Zustand auf die junge Frau
164
Ebenda, S.362
103
aufmerksam gemacht hat, die sie aus dem Stein anschaut165. Auch Lauscher ist
zu dieser Zeit noch recht jung, so dass es sich lediglich um erste Andeutungen
der Liebesgeschichte handelt, doch je öfter er von nun an den Stein betrachtet,
um so klarer erhält er ein Bild von der Frau: im ersten Winter an Barlos Seite
kann er bereits ihre Stimme hören und glaubt, ihre Augen zu sehen166, kurz vor
Ende seiner Lehrzeit erblickt er schon ein Gesicht, „und er wusste nicht, war es
das Gesicht einer uralten Frau oder eines Kindes, unter dessen Blick sein herz
wieder anfing zu schlagen, und dann hörte er wieder diese Stimme, die wie von
weither läutende Glocken klang“167
Zum Zeitpunkt ihres ersten realen Treffens ist Arnilukka noch ein Kind, und
entsprechend unschuldig gesteht sie dem Flöter, dass sie ihn mag. Schon in
dieser ersten Zeit geben sie einander Schutz; allerdings ist es beim Ritt durch
den Schauerwald nur Lauscher, der Arnilukka schützt: Er erzählt ihr
Geschichten, um ihre Angst zu vertreiben168, und tötet Gisa. Deren
Andeutungen, weshalb sie das Kind töten wollte, versteht er nicht:
„Vielleicht habe ich gemeint, ich könne dich zurückgewinnen, wenn ich das
Kind aus der Welt schaffe. (…)“
„Was hat Arnilukka damit zu tun?“, fragte Lauscher.
„Du kannst nicht erwarten, dass ich dir das erkläre“, sagte Gisa. 169
Auch die weitere Beziehung zwischen Lauscher und Arnilukka ist eher vom
Schutzbedürfnis gegeneinander geprägt, obgleich zu diesem Zeitpunkt in
Lauschers Träumen eine deutlichere Sprache gewählt wird, denn etwa im
süßen Traum tritt Arnilukka bereits als Erwachsene und als Ziel seiner
sexuellen Gelüste auf. Grund für diese Trennung ist der Alters- und
Reifeunterschied, denn während Lauscher die Pubertät beendet hat und mit
etwa einundzwanzig Jahren als erwachsen gelten muss, ist Arnilukka noch ein
Kind. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden muss also auf eine mystische
Ebene der Zeitlosigkeit verlegt werden, in der die gereifte Arnilukka auf
Lauscher zurückblicken kann und durch den Stein in Visionen und Träumen
mit ihm in Verbindung tritt. Von dreien dieser Begegnungen berichtet sie
Lauscher nach dessen Erlösung.
165
Ebenda, S.52
Ebenda, S.93f.
167
Ebenda, S.185
168
Ebenda, S.346f.
169
Ebenda, S.350
166
104
Die
Liebesgeschichte
zwischen
den
beiden
endet
entgegen
aller
Gattungszwänge mit ihrer Trennung – und ihrer gemeinsamen Tochter Urla.
Arnilukka heiratet Belarni, während Lauscher alleine durch die Welt zieht und
von den Blutaxtleuten verschleppt wird. Nun kann man zwar interpretieren,
dass Belarni durch seinen Namen und seine Familiengeschichte mehr Anrecht
auf eine Ehe mit Arnilukka hat (beide tragen Arni im Namen, der mit
Arnilukkas Großmutter verheiratet war, und durch den Trick, dass Belarni nur
angenommenen Sohn Hunlis ist, wird auch das Tabu der Blutschande geschickt
umgangen); und ebenso kann man darauf hinweisen, dass auch bei späteren
Besuch das Band zwischen Arnilukka und Lauscher noch ein herzliches ist;
einen Sinn ergibt diese Trennung aber nur mit Blick auf die Struktur des
Romans, dessen Dreiteilung noch mindestens zwei Kapitel einforderte und in
dem der Konflikt zwischen Lauscher und Narzia noch nicht beendet ist. Mit
der Hochzeit wäre allerdings der Zwang aufgetreten, dass sie glücklich und
zufrieden leben würden bis an das Ende ihrer Tage.
5.5.2.Tierbräutigam
Im
Tierbräutigam-Motiv
überschneiden
sich
die
Liebes-
und
Erotikvorstellungen, denn das stark Sexualisierte führt zur Verwandlung in den
Faun, während die reine Liebe zur Erlösung führt, da „das Tierische des
Partners erst durch wahre Liebe überwunden werden muss“170.
Nachdem Narzia ihrer Rolle als Rätselprinzessin abgelegt hat, kommt es zur
Hochzeit und damit zur Konfrontation der unschuldigen Narzia mit dem bereits
durch Gisa erfahrenen Liebhaber Lauscher. Narzia erschrickt jedoch bei
Lauschers Anblick, und es kommt zur Verwandlung.
Er sah nur noch Narzias grüne Augen, als er auf das Lager zuschritt, doch sobald
er in den Lichtschein der Kerze trat, weiteten sich diese Augen zu einem
Ausdruck von Entsetzen. „Nein!“, schrie Narzia, und in ihrem verzerrten Gesicht
stand Abwehr und blankes Grauen. „Ein Fell wie ein Tier!“, flüsterte sie tonlos
und starrte auf die Mitte seines Körpers. Und dann schrie sie wieder gellend:
„Ein Fell wie eine Tier! Du bist wie eine Tier!“ Sie kauerte sich zusammen und
umklammerte ihren Körper mit beiden Armen, als wolle sie ihn vor dem Zugriff
dieses haarigen Unholds schützen oder vielleicht auch, weil ihr bewusst wurde,
dass sie unfähig war, irgendetwas von sich selbst preiszugeben und fremden
Händen auszuliefern.171
170
171
Röhrich, Sage und Märchen, S.14
Stein und Flöte, S.449
105
Vergleicht man Narzias Reaktion nun mit Bettelheims Ausführungen über den
Tierbräutigam172, entdeckt man gewisse Parallelen. Die Verwandlung in das
Tier, das nur auf das Verlangen seines Es instinkthaft reagiert, geschieht auch
in Stein und Flöte im Augenblick der direkten Auseinandersetzung mit der
Sexualität. Narzia, die bisher stets selbstbestimmt und gelassen und sogar in für
Lauscher als romantisch erwarteten Augenblicken beinahe kühl geblieben ist,
fällt hier in kindliche Angst- und Abwehrhaltung zurück. Auch handelt es sich
hierbei um eine von Narzia als Bedrohung aufgefasste männliche Sexualität,
was sich mit Bettelheims Analysen deckt. „So hat man den Eindruck, dass das
Märchen zwar die Sexualität ohne Liebe und Hingabe als tierisch hinstellt, dass
aber wenigsten in der westlichen Tradition ihre Tieraspekte nicht bedrohlich,
sondern sogar liebreizend erscheinen, wenn es sich um ein Mädchen handelt;
nur die männlichen Aspekte der Sexualität erscheinen tierhaft.“173 Beide
Beobachtungen treffen zu: Trotz Eheversprechen handelt es sich um eine
Sexualität, in der nur von Lauschers Seite Liebe und Hingabe entgegen
gebracht werden. Von derselben Quelle tritt nun auch die Tierhaftigkeit auf.
Weder Lauscher noch Narzia sind tatsächlich integriert, sondern stehen im
Missverhältnis zur Gesellschaft; in Lauschers Fall verhindern Eigenansprüche
und Selbstsicht die Erkenntnis, dass er wie eine Schachfigur genutzt worden ist
und keinesfalls als der strahlende Held betrachtet wird, der er gern sein möchte.
Auch sein Bild von Narzia ist gestört, da er davon ausgeht, in ihrem
Einverständnis zur Hochzeit den Beweis zu haben, dass sie seine Gefühle
erwidert. In der Hochzeitsnacht wird aus diesem gestörten Verhältnis die
Konsequenz gezogen, und es kommt zum Bruch.
Bettelheim stellt drei Hauptzüge der Märchen über den Tierbräutigam heraus:
Erstens erfahren wir nicht, auf welche Weise und weshalb der Bräutigam in ein
Tier verwandelt wurde, und das, obwohl die meisten anderen Märchen uns über
solche Dinge aufzuklären pflegen.174
Stein und Flöte verrät diese Umstände im Gegensatz zum Märchen; der Roman
hebt sogar den Grund hervor, weshalb die Verwandlung nur zur Hälfte glückt
und Lauscher statt in einen Ziegenbock in einen Faun verwandelt wird.
172
Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S.324-364
Ebenda, S.334
174
Ebenda, S.331
173
106
Zweitens hat eine Zauberin die Verwandlung vorgenommen, wird aber für ihre
Untat nicht bestraft.175
Auch in Stein und Flöte ist es eine weibliche Figur mit Zauberkraft, die den
Zauber ausspricht. Eine direkte Bestrafung entfällt ebenfalls, auch wenn Narzia
im Verlauf des Romans eine Generalstrafe für ihre Handlungen erhält und erst
ihre Macht, dann ihre menschliche Gestalt und zuletzt ihre Jugend und das
Leben verliert.
Drittens veranlasst der Vater die Heldin dazu, das Tier zu heiraten, und sie tut es
aus Liebe zum Vater oder aus Gehorsam gegen ihn; die Mutter spielt
vordergründig keine Rolle dabei.176
Dieser Zug entfällt im Roman komplett. Weder wird Narzia zur Heirat
gedrängt oder gezwungen, auch wenn Höni diese Entwicklung unterstützt,
sondern ist selbst die treibende Kraft in der Verbindung, noch ist dies bei
Arnilukka, der späteren Heldin der Tierbräutigamssequenz, der Fall. Bei
Arnilukka und Lauscher kommt es nicht einmal zur Ehe, sondern lediglich zu
Sex und einer gemeinsamen Tochter; die bürgerliche und romantische
Legitimation bleibt ihnen versagt.
5.5.3. Erotik
„Die KHM der Brüder Grimm scheinen – mindestens vordergründig – jeder
Erotik zu entbehren.“177 Diese Feststellung trifft Röhrich und begründet sie
damit, dass zeitgenössische Moralvorstellungen, weibliche Quellen und Kinder
als Zielgruppe Argumente dafür waren, dass erotische Anspielungen aus den
KHM gestrichen wurden (während sie in arabischen Kulturkreisen, wo
männliche Erzähler und andere Moralvorstellungen vorherrschen, durchaus in
Märchen vorhanden sind)178.
Stein und Flöte kennt diese Bedenken gegen erotische Anspielungen oder
Beschreibungen nicht179. Das erste Treffen zwischen Gisa und Lauscher endet
damit, dass sie die Nacht gemeinsam verbringen und Gisa Lauscher zu ihrem
Liebhaber macht. Lauschers Sehnsucht nach Narzias Körper wird ebenso
175
Ebenda, S.331
Ebenda, S.331
177
Röhrich: „und weil“, S.43
178
Ebenda, S.41-48
179
Neuhaus liest gar eine „starke erotische Spannung“ aus dem Roman; vgl. Neuhaus:
Märchen, S.329
176
107
beschrieben wie seine Träume, die sexuell kodiert gelesen werden können (vgl.
3.2.2.11.) Arni wird vom Kluibenschedl gefragt, ob er es mit kleinen Kindern
treibt180. Lauschers Genitalien, die in seiner faunischen Form nur von Fell
bedeckt sind, erschrecken Arnilukka, als sie ihm noch als halbes Kind
begegnet, und vertreiben sie auch nach Lauschers Erlösung: „Es hat mich
erschreckt, als dein Fell plötzlich nicht mehr von Stein war und dein Körper
sich regte.“181 Erotik wird als Teil des Charakters der Figuren erfasst und
beschrieben, so dass sie im Verlauf des gesamten Romans den gleichen Rang
wie Liebe einnimmt, hinter dem bürgerliche Begriffe wie die Ehe zurücktreten
(keine der beiden Frauen, mit denen Lauscher schläft, ehelicht er zuvor oder
anschließend; die Ehe, die er schließt, wird nicht vollstreckt, da Narzia ihn
zuvor verwandelt).
5.6. Musik und Magie
Stein und Flöte ist auch die Geschichte eines Musikers, der über seine Kunst
Einfluss auf das Geschehen in seiner Umgebung zu nehmen versucht. Zwar
wird schon früh der Mythos der Musik als Zaubermusik gebrochen, wenn der
Sanfte Flöter Barlos herausgeschnittene Zunge nicht einfach heilen kann182,
doch bleibt die Flötenmusik bis zum letzten Handlungsort des Romans, dem
verklärten Jenseits, in dem der Sanfte Flöter ohne Instrument flötet, Trägerin
einer wirklichkeitsändernden, quasi magischen Macht. Dies wiegt umso
stärker, da Magie innerhalb des Romans im Vergleich zu anderen
Fantasybüchern sparsam eingesetzt wird. „Die Welt der Fantasy ist somit in
einem ganz besonderen Sinne eine Welt, die aus Sprache aufgebaut ist; es
verwundert darum auch nicht, dass die Sprache die Möglichkeit gibt, diese
Welt zu verändern.“183 Zauberformeln und Beschwörungen, die traditionelle
Form, mit Sprache die Wirklichkeit zu formen, finden sich im Roman jedoch
wenig; lediglich das Versprechen, das Gisa den Wölfen gibt und das sie
einholt, als sie sich in Lauscher verliebt, und Narzias Befehle, z.B. „Sprich wie
180
Stein und Flöte, S.233
Ebenda, S.659
182
„‚So meinst du das also’, sagte Lauscher ein wenig enttäuscht. ‚Ich hatte angenommen, du
brauchst nur ein paar Töne auf deiner Silberflöte zu spielen, und schon kann er wieder
reden.’“; Stein und Flöte, S.54
183
Pesch: Fantasy, S.163
181
108
ein Mensch, kleine Urla!“184 oder das abgebrochene „Sei ein …“185 können
hier als Fallbeispiele angeführt werden.
Zu magischen Vorkommnissen zählen in erster Linie die Verwandlungen in
Tiere oder Tierartige (instrumentalisiert durch Ring und Kette), die magischen
Visionen, die durch den Augenstein hervorgerufen werden, die wundersamen
Wirkungen der Kräutertränke aus Falkenor, deren kryptische Beschriftungen
zukunftsahnende Kraft haben, und eben die Musik.
Dass Musik eskapistische oder zauberhafte Wirkungen vermitteln kann, zählt
zu den modernen Mythen, die wir längst akzeptiert haben; ihre Wirkung im
Einsatz als Film- oder Werbemusik ist untersucht, und auch in den allgemeinen
Sprachgebrauch ist dieser ‚Zauber der Musik’ übergegangen. In Märchen wird
diese Floskel jedoch zu fiktiver Wirklichkeit. „Diese zentrale Rolle des
Musikinstruments in diesen Märchen kann man kurz als ‚magische Funktion’
umschreiben. Im Märchen wird ein Instrument nicht aus künstlerischen
Gründen und nicht zur Unterhaltung gespielt, es dient vielmehr zur magischen,
zauberischen Erwirkung einer Handlung.“186
Musik nimmt also einen gleichwertigen Rang zur Magie innerhalb der
Märchen ein. Auch in den KHM wird sie nicht um ihrer selbst willen gespielt.
Der wunderliche Spielmann (KHM 8) lockt mit seiner Musik Tiere herbei und
bezaubert einen Holzfäller, um ihn gegen die Tiere zu unterstützen. Für
Rapunzel (KHM 12), die im Turm eingesperrt ist, bleibt der Gesang die einzige
Methode, ihre Außenwelt zu erreichen und damit Gesang den Prinzen
anzulocken – wenn sie dies auch unbewusst tut. Hans mein Igel (KHM 108)
lockt ebenfalls mit seiner Dudelsackmusik die Menschen zu sich In KHM 28
wird aus dem Knochen eines Ermoderten das Mundstück für ein
Blasinstrument geschnitzt; die Musik, die darauf gespielt wird, entlarvt den
Mörder. Der Heldin und dem Liebsten Roland (KHM 56) gelingt die Flucht
vor der Hexe einmal, indem die Hexe durch Zaubermusik zum Tanz
gezwungen wird.
184
Stein und Flöte, S.756
Ebenda, S.757
186
Schmidt: Kulturgeschichtliche Gedanken zur Musik im Märchen, S.210
185
109
Die Musik in Stein und Flöte wird zu ähnlichen Zwecken genutzt. Der Sanfte
Flöter nutzt sie, um Zornige zu besänftigen (etwa Barlo, als er seinen Enkel vor
dessen Wut rettet187, oder die Beutereiter bei ihrem Angriff auf die
Bärenleute188) bzw. um Menschen damit Freude zu bringen, durch welche sie
ihren Stolz vergessen können (z.B. in der Liebesgeschichte des Bauern189).
Barlo nutzt ähnlich wie Rapunzel und Hans mein Igel die Musik zur
Kommunikation; da ihm die Artikulation menschlicher Sprache genommen
wurde, ersetzt die Musik ihm die Stimme. Dieser Ersatz geht nicht nur soweit,
dass seine ungefähre Stimmung übermittelt werden kann, sondern dass seine
Zuhörer die unausgesprochenen Strophen seiner Lieder verstehen190 und schon
nach kurzer Zeit mitsingen können:
Voran ritt Barlo und flötete ein Lied, das alles aus den Häusern trieb, die noch
bei ihrem Frühstück gesessen hatten. Die anderen Musikanten nahmen die
Melodie auf, und bald sangen viele den Text mit; denn Barlo beherrschte seine
Sprache inzwischen auf eine Weise, dass jeder den Sinn seines Spiels verstehen
konnte.191
Döli missbraucht seine Musik, um Hohn und Spott über die Goldschmiede aus
Arziak auszuschütten192 (vgl. Flötenwettbewerb), ebenso wie Lauscher aus
Eigennutz seine Musik immer wieder dazu genutzt hat, um andere Menschen
oder Tiere damit zu manipulieren. Schneefink schließlich, der fünfte Flöter des
Romans, übernimmt die Tugenden der Flöter vor ihm, indem er es ebenfalls
vermag, Geschichten und Worte mit seiner Musik zu übermitteln, übt dabei
aber niemals Zwang auf die Zuhörer aus und übertrifft seinen Lehrmeister noch
in seiner Kunstfertigkeit193.
Auf diese Weise wird Musik nie um ihrer selbst gespielt. Sie drückt Emotionen
aus oder erzählt ganze Geschichten, lenkt und leitet Menschen oder zwingt
ihnen den Willen des Musikanten auf.
187
Stein und Flöte, S.32f.
Ebenda, S.49
189
Ebenda, S.92f.
190
„Er nahm die Melodie der Ballade auf, und jedermann konnte verstehen, was er spielte“;
ebenda, S.97
191
Ebenda, S.146
192
Vgl. ebenda, S.790ff.
193
Ebenda, S.764: „Ich habe lange genug auf ihr gespielt, doch wie ich sie hätte spielen sollen,
habe ich erst von dir gelernt. Du wirst sie besser spielen als ich.“
188
110
6. Fazit
Was sagt nun diese Arbeit über Bemmanns Roman aus? Dass in einem
Märchenroman Märchenmotive zu finden sind, ist nicht verwunderlich;
insbesondere dann nicht, wenn man bedenkt, dass in der Literaturwissenschaft
auch jene Theorie Anhänger gefunden hat, die ich in meiner Einleitung erst
einmal ausgeschlossen habe: nämlich jene, die Wardetzky wie folgt postuliert
hat:
Die narrativen Strukturen sind vor den Märchen in die Psyche des Menschen
eingeschrieben gewesen. Das Märchen bedient sich ihrer, statt sie
hervorzubringen.194
Das Märchenhafte in der Literatur wäre danach nur das Herausgreifen
bestimmter
Strukturen
der
Psyche,
und
eine
Ähnlichkeit
zwischen
verschiedenen Gattungen oder Genres demnach nicht mehr zwangsläufig die
Befruchtung der einen durch die andere, sondern womöglich nur eine
Parallelentwicklung.
Also wäre es nur Zufall, dass sich bei Bemmann, der gezielt einen Roman mit
einer Sammlung von Binnengeschichten verfasst hat, neben Märchenstrukturen
auch Märchenmotive zu einem Werk vereinen? Oder kann man nicht vielmehr
davon ausgehen, dass soviel Zufall nicht existieren kann, sondern dass jemand
sehr gekonnt und gezielt mit den Stoffen und Strukturen des Märchens
gearbeitet hat, dass der Autor einen märchenhaften Roman schreiben wollte,
der sich an die Geschichten anlehnt, die wir alle im Laufe unserer Kindheit auf
die eine oder andere Art konsumiert haben?
Dies erinnert dann doch stark an Kunstmärchen-Definitionen wie denen von
Wührl, der erst einmal verneint, dass es das Kunstmärchen geben kann,
sondern dass darunter eine große Anzahl von Novellen- oder Romantypen gibt,
die man unter dem Sammelbegriff des Kunstmärchens zusammenfassen
kann195.
194
195
Wardetzky: Schöpferische Potentiale, S.196
Wührl: Kunstmärchen, S.15
111
Ebenso könnte man den Ansatz Neuhaus’ verfolgen, für den das Volksmärchen
ebenso künstlich wie das Kunstmärchen geschaffen wurde und seinen
Gattungsbegriff dem Vorurteil verdankt, das im 18. Jahrhundert Naturpoesie
genannt wurde und von Jolles mit Einfache Formen umschrieben wurde. Für
Neuhaus ist auch Stein und Flöte ein Märchen, und die Vorstellung, dass man
mit dem Erstellen von Märchenstrukturen mehr erreichen könnte als eine
Fleißarbeit, die das Herz der Strukturalisten erfreut, nahezu absurd.196
Allerdings stößt Neuhaus bei seiner Besprechung Bemmanns an die Grenzen
seines Märchenverständnisses, wenn er keinen Grund finden kann, weshalb
Arnilukka und Lauscher kein Paar bleiben dürfen. Hätte er Bemmanns
akribische Freude an Dreiteilungen und die Neigung zur Verquickung von
Märchen und Fantasy ähnlich aufgefasst, wie ich es tue, würde sich diese Frage
nicht für ihn stellen:197 Bemmann kann die Dreierketten seines Aufbaus nicht
durchbrechen, weshalb er Lauscher keine Sesshaftigkeit erlauben darf. Er
bricht mit den ehernen Gesetzen des Märchens, eröffnet seinem Protagonisten
dadurch jedoch neue Möglichkeiten.
Wenn man die Märchenstrukturen in Stein und Flöte untersucht, kommt man
nicht umhin, neben den gravierenden Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede
festzustellen, die nicht weniger wichtig sind. Bemmann hat ein rationales
Moment ins Märchen eingebracht, durch das die Aufweitung der Motive zu
Romanhandlungen erst möglich werden. Er erklärt, warum Figuren zu
bestimmten Kenntnissen gekommen sind, indem er dem Leser zeigt, wie z.B.
Lauscher auf wunderbare Weise von Belenikas Kette erfahren hat, oder indem
er
rationale
Erklärungen
für
Wunder
sucht198.
Er
entwickelt
eine
Persönlichkeit, die auch bereit ist, an den Anforderungen ihrer Gesellschaft zu
scheitern, und führt vor, wie jemand selbst in der Welt des Wunderbaren
zutiefst unglücklich und einsam werden kann.
196
Vgl. Neuhaus: Märchen, S. 5ff.
Da Phantastik für ihn kein Gattungsbegriff ist, sondern nur eine „Merkmalsbezeichnung
literarischer Texte“ (ebenda, S.16), kann sich ihm diese Frage sowieso nicht stellen.
198
Dies gelingt ihm z.B., wenn er Gisas Verwandlung über eine Binnengeschichte einen Grund
verleiht. Sie wird nicht zur Wölfin, weil sie böse ist, sondern weil sie einen mit ihrem Blut
besiegelten Pakt geschlossen hat. Dieser wiederum ist ebenfalls nicht aus ihrem abgrundtief
schlechten Charakter erwachsen, sondern weil sie auf einen Betrüger hereingefallen ist, der
ihre Gefühle benutzt hat, um ihren Vater zu ermorden und sich dessen Kleinod anzueignen.
197
112
Bemmanns Zauber sind ähnlich wie die Magie, die Gandalf in Herr der Ringe
wirkt, subtiler und realistischer als fliegende Feuerbälle oder einstürzende
Wände, denn die Magie, die in Stein und Flöte gewirkt ist, ist eine Magie der
Gefühle, transponiert durch die Kunst der Musik, und der Erinnerung,
transponiert in der Kunst der Erzählung. Sie kann jedoch die Grenzen des
Lebens nicht dauerhaft überschreiten, und so ist der Mensch auch weiterhin
Krankheit, Tod und Leiden ausgesetzt. Durch die Verweigerung solcher
Wunder wie der Wiederbelebung Verstorbener oder das Nachwachsen
verlorener Körperteile, gelingt es Bemmann, einen neuen Reiz im Märchen zu
wecken.
„Der Märchenhörer steht in der Sicherheit, dass das Erwartete auch wirklich
eintreten wird.“199 Der Leser von Stein und Flöte kann dies nicht; denn
Bemmann eicht die Waage aus Erwartetem und Unerwartetem neu, so dass
sich der Leser nicht zurücklehnen und allein die Form der Erzählung oder des
Vortrags genießen kann, sondern sich um das Schicksal der Romanfiguren
sorgen muss. Der Leser kann weder darauf vertrauen, dass Lauscher und
Arnilukka ein Paar werden, noch dass Urla überlebt, obwohl sie die Tochter
des Helden ist. Das Wunderbare wird ein Stück weit entmachtet, so dass etwa
die Wirklichkeitsstiftung des Märchens bei Bemmann nur rudimentär
vorhanden ist. Wo das Märchen klare Normen aufstellt, behält sich Bemmann
die Möglichkeit zur Relativierung. So schreibt er z.B. über Gisa: „Dieses
Mädchen galt als das schönste weit und breit.“200 In einem reinen Märchen
hätte sie nicht als solches gegolten, sie wäre das schönste Mädchen weit und
breit, denn: „Im Märchen entsteht ein Mensch von vollkommenere Schönheit,
ohne jeden abnormen Zug in Gestalt oder Verhalten.“201
Vollkommenheit ist aber ein Mythos, den Bemmann zerstört, denn jede Frau,
die als besondere Schönheit beschrieben wird, entpuppt sich als Mensch ohne
Liebe, dessen Gier dem Augenstein gilt, weil er etwas Seltenes ist, das man
weder kaufen noch stehlen kann. Hier sägt Bemmann am Schein der perfekten
199
Lüthi: So leben sie noch heute, S.24
Stein und Flöte, S.82
201
Lüthi: Volksmärchen und Volkssage, S.50
200
113
Märchenfiguren, die wissen, was sie zu tun haben, aber dafür ganz entschieden
an Charakter vermissen lassen, da sie unter der Feder von Jakob und Wilhelm
Grimm nur reine Archetypen geworden sind, denen Erotik, Lachen und Tod
fremd sind (alles Motive des Märchens, die sich bei den Vorläufern der KHM
wie den Märchen von Perrault noch finden lassen202).
Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was sagt nun diese
Arbeit über Bemmanns Roman aus? Nun, sie kommt zu dem Schluss, dass er
sehr geschickt mit einer Vielzahl an selbst verfassten Märchen jongliert hat, die
vertraute Bilder und Handlungen ansprechen, sich gegenseitig beeinflussen
oder auseinander folgen und die ein breites Spektrum an Einblicken in
Lauschers Welt gewähren. Bemmann nutzt die Symbolik und Strukturen des
Märchens, um seine Leser auf modernere Art mit den Themen zu
konfrontieren, die wir auch aus den Märchen kennen: Liebe, Tod,
Generationskonflikte, Treue, Hass oder Gier. Als deutliche Stütze seiner
Vorlage verleiht er dem Roman ein Korsett aus Zahlensymboliken, die
womöglich etwas übertrieben sind, aber auch die Wirkung erzielen, dass man,
wenn man schon nicht weiß, ob eine Liebe am Ende erfüllt ist oder nicht, doch
zumindest ahnt, dass die Liebenden drei Schritte brauchen werden, um sich zu
treffen oder zu trennen.
Darüber hinaus sorgen Erzählstrukturen wie der Anriss der kleinen Rikka oder
die Hoffnung auf den Zirbel, der Wurzeln treibt, für eine Lebendigkeit des
Leitmotivs des Romans: „und das ist noch nicht alles.“ Selbst wenn Roman
und diese Arbeit nun zuende sind, irgendwer wird irgendwann mit den Stoffen,
Motiven und Strukturen weitermachen.
202
Röhrich: „und weil“, S.190ff.
114
7. Anhang
7.1. Liste der Binnengeschichten in Stein und Flöte
Ausgewählt wurden alle längeren, zusammenhängenden und möglichst wenig
unterbrochenen Geschichten, die Lauscher innerhalb des Romans vorgetragen
werden. Titel mit einem * sind von Bemmann für die Geschichte ausgewählt
worden; die übrigen Titel sind nach Inhalt der Erzählung und in Anlehnung an
Bemmanns Titel von mir vergeben worden.
Seiten
Erzähler(in)
Titel
38-52
62-64
70-76
78-79
82-87
91-93
102-105
113-115
120-126
132-140
151-167
Sanfter Flöter
Eselwirt
Rikka
Furro
Schäfer
Bauer
Gurlo
Krautfass
Lagosch
Kurlosch
Dagelor
176-180
195
206-211
226-237
242-244
265
281-282
Eldrade
Goldauge
Günli
Sanfter Flöter
Sanfter Flöter
Sperling
Lauschers Mutter
310-317
Narzia
432-435
Wendikar
534-539
633-636
665-675
679-687
688-691
Wazzek
Barnulf
Arnilukka
Wazzek
Wazzek
704-705
709-722
720-722
748-749
Zirbel
Arnilukka
Weißfeder
Ruzzo
Geschichte von Arni mit dem Stein *
Geschichte des Eselwirts
Geschichte von Urla *
Geschichte von Furro dem Schmied
Geschichte von Gisa und den Wölfen *
Liebesgeschichte des Bauern
Märchen vom fröhlichen König *
Geschichte von Rübe und dem Zaubermüller *
Geschichte von Schön Agla und dem Grünen *
Geschichte von Arni und den Leuten am See *
Geschichte vom alten Barlo und seinem Sohn
Fredebar *
Geschichte vom jungen Barlo *
Geschichte von der Kröte, die hoch hinaus will
Geschichte von der Großen Scheidung
Geschichte von Arni und den Blutaxtleuten
Geschichte von der Silbernen Flöte
Fabel von Löwe, Nachtigall, Drossel und Spatz
Geschichte vom zweiten Besuch des Sanften Flöters
bei Urla
Geschichte von Hönis erstem Besuch bei den
Falkenleuten
Geschichte vom Besuch des Sanften Flöters bei den
Falkenleuten
Geschichte vom Pferdesklaven Wazzek
Geschichte von Gisas Machtübernahme
Geschichte von Arnilukka und Narzia
Geschichte von Oleg und Boleg
Geschichte von den 3 Angriffen der Beutereiter auf
Arziak
Geschichte von dem Baum, der alles wollte
Geschichte von Arnilukkas Zwickmühle
Geschichte von Falke und Maus
Geschichte von Ruzzo und der Karpfenschuppe
115
7.2. Liste der Lieder in Stein und Flöte
Ausgewählt wurden alle Lieder, deren Text in Strophenform abgedruckt
worden ist; ob es sich dabei um einen Spottvers oder eine Ballade machte,
spielte bei der Auswahl keine Rolle. Die Titel sind von mir gewählt.
Sänger(in)
Titel
Rauli
Barlo
Lied über Gisa
Lied über den Drachen von
Draglop und den Bär von
Barleboog
Spottlied über Gisa
Spottlied über Lauscher, Barlo
und dessen Antwort
Spottlied über Gisas Knecht
Lied über Schön Agla
Trill
Holzfäller und Barlo
Holzfäller
Marla
unbekannt
Arnilukka
Fischermädche
Schön Agla
Trill
Barlo
Aglas Lied für den Grünen
Spottlied über Barlo, Lauscher
und Lagosch
„Kampfgesang“
Krautfass
Lauscher/Jalf
Arnilukka
Spottvers über Gisa
Lauschers Hilferuf-Lied
Haust einer im Wald
alte Frau/Arnilukka
Kinder von Draglop
Aufforderung für den
Großartigen Flöter
Lauscher
Ballade von Klein Rikka
Arnilukka
Arnilukkas Suchlied
Krähen
Fresslied
Laianna
Suchlied nach Arnilukka
Eiren
Wiegenlied für das Baby
Birkenmädchen
Steht eine im Wald
Lauscher
Vogellied für Arnilukka
Maus
Heldenlied für Der-dieHoffnung-nie-aufgibt
Pferdejunker/Arnizzo Lied vom Goldwanst
Döli/Lauscher
Was geht uns an
Grüner
Antwortlied des Grünen
Döli
Ballade von der Fischermaid und
dem alten Grafen
116
Strophen &
Variationen
Seite
9 Strophen
6 Strophen
S.96f.
S.98f.
1 Strophe
3 Strophen
S.101
S.106f.
4 Strophen
6 Strophen
2 Zeilen
7 Strophen
6 Strophen
1 Strophe
wiederholt
S.108f.
S.117f.
S.271
S.486
S.639f.
S.125
S.800
1 Strophe
2 Strophen
3. Strophe
1 Strophe
4 Strophen
3 Strophen
1. Strophe
wiederholt
2. Strophe
wiederholt
wiederholt
1 Strophe
S.144
S.146
S.181
S.186
S.214ff.
S.249
S.613
5 Strophen
5 Strophen
1 Strophe
1 Strophe
1 Strophe
3 Strophen
1 Strophe
3 Strophen
S.328
S.487
S.557
S.571
S.620
S.661
S.662
S.695
4 Strophen
2 Strophen
2 Strophen
7 Strophen
S.780ff.
S.790f.
S.800
S.801ff.
S.641
S.652f.
S.255
8. Literaturliste
Primärliteratur
BEMMANN, Hans: Stein und Flöte und das ist noch nicht alles. Stuttgart 2000.
BRÜDER GRIMM: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den
Originalanmerkungen der Brüder Grimm. 3 Bände. Stuttgart 2001.
ENDE, Michael: Die Unendliche Geschichte. Stuttgart; Wien 2001.
TOLKIEN, J.R.R.: Der kleine Hobbit. Deutsch von Walter Scherf. München 2002.
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119
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