Dialogische Hörgeschädigtenpädagogik Ursula Horsch Als mich Herr Günther gebeten hat, vor Ihnen über Dialogische Hörgeschädigtenpädagogik, über Erziehung und Bildung zu sprechen, habe ich gleich „ja“ gesagt. Er ist ja so nett und ich kann ihm nur schwer etwas abschlagen. Doch es war bereits zu einer Zeit, in der man Pisa nicht mehr nur für eine Stadt in der Toskana hält. Es gibt ja in unseren Kreisen keine Fachzeitschrift mehr, die sich nicht damit befasst. In der HÖRPÄD (2002) wurde als erste Konsequenz eine noch stärker akustisch gestaltete Schule gefordert; und es gibt fast keine Geselligkeit mehr, die sich nicht mit den durch die Pisa-Studie aufgeworfenen Fragen auseinander setzt. Häufig genug mündet dies in das Ausrufen eines Bildungsnotstandes, den man mit unterschiedlichen Maßnahmen beheben möchte. Was „Pisa“ verursacht hat, ist sicher nicht linear zu erklären und isolierte Maßnahmen helfen m.E. nicht weiter. Ich meine, dass sich grundsätzlich etwas ändern muss. Mich stimmt in diesen ganzen Diskussionen nachdenklich, dass Kollegen davon sprechen, dass nun noch mehr Druck zu erwarten sei. So fürchten sie, dass z.B. die Projektarbeit der Abschlussklasse gestrichen werden könne, dafür jedoch noch mehr Wissen vermittelt werden müsse und dass für das, worüber ich im Kontext der Pisa-Studie gerne sprechen würde, nämlich über Dialogik, Erziehung, Bildung und Werte in der Schule überhaupt keine Zeit mehr bliebe. Warum, worin liegt dafür die logische Konsequenz? Wie hängen Dialogfähigkeit, Wissensvermittlung, Bildung und Erziehung zusammen? HARTMUT VON HENTIG hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Ach die Werte“(2001).Ich würde diesen Seufzer von VON HENTIG gerne erweitern durch den Zusatz „Ach die Bildung“ und diesem die Frage anschließen, welchen Bildungsanspruch die Hörgeschädigtenpädagogik hat, welcher Erziehungstheorie und welchen Erziehungszielen sie folgt. Erziehungsziele sind, das wissen wir, immer eingebunden in Fragen nach dem, was Bildung ist, was wir darunter verstehen. Noch vor ein oder zwei Generationen waren Aussagen hierzu einfacher zu formulieren, weil die Zukunft der Schüler im Kontext der Gesellschaft, in der sie leben sollten, klarer zu beschreiben war. Nicht erst seit POPPER (1984), aber durch seine Aussagen, dass die Zukunft grundsätzlich offen sei, kann es keine Sicherheit über Welt und Wahrheit geben. Wobei diese grundsätzliche Offenheit ja bereits wieder hinterfragt wird, denn selbst wenn die Welt im Jahre 2099 völlig anders aussehen mag als 1999: die nächsten 30 Jahre, für die die heutige Erziehung und Bildung bestenfalls vorbereitet, werden deutlich Züge der Gegenwart und damit früherer Vergangenheit tragen, mehr haben auch die Pioniere der Zukunftsforschung Ende der 70er Jahre nicht vorherzusagen gewagt (VON HENTIG 2001). Damit steht auch die Schule für Hörgeschädigte in dem Dilemma, dass sie die für frühere Schülergenerationen noch möglichen Sicherheiten und die sich daran orientierenden Erziehungsziele für ihre Schüler heute in Frage gestellt sieht. Es gibt diese Sicherheit nicht mehr, bezogen auf das, was wir verbindlich als zu lernende Inhalte für die Zukunft beschreiben können, weil wir nicht wissen, was diese Zukunft von unseren Schülern fordern wird. In einem eher als bescheiden einzuschätzenden Tageblatt meiner Heimatstadt stand kürzlich auf der ersten Seite, als Randspalte links, unter „Guten Morgen“: Lehrer müssen ihren Stil ändern! Mehr Führungskompetenz (VBE)! Dem ersten Satz könnte ich unter gewissen Bedingungen noch beipflichten: Lehrer müssen ihren Stil ändern! Er stimmt von der Grundintension mit dem überein, was auch mir notwendig erscheint. Aber stimmt das, den Stil ändern? Lieber wäre mir die Formulierung: Lehrer sollten darüber nachdenken, welche Haltung sie zu ihren Schülern haben und ob sie daran etwas ändern können. Die in der Zeitung jedoch daraus gezogene Konsequenz – mehr Führungskompetenz – geht schon sehr in Richtung Management von Erziehung oder „Erziehung - Machen“. Soll ich den Studierenden der Hörgeschädigtenpädagogik hinsichtlich ihres Berufsbildes vermitteln: Morgens geht es in die Schule und dort zeigen Sie bitte ihre Führungsqualitäten, damit die hörgeschädigten Schüler zu mehr Bildung und Tugenden zurückfinden. 2 Führungsqualitäten haben sie, oder sie haben sie eben nicht. Auf Kommando werden sie übergestülpt und ebenso nach dem Unterricht wieder abgelegt. Ein solches Verständnis von Erziehung bedeutet für mich überspitzt formuliert: Wir spielen Erzieher, aber wir sind es eben nicht! Das merkt auch das Kind. Haltungen, und um solche geht es hier, kann ich ebenso wie die viel beschworenen Werte nicht einfach anknipsen wie einen Lichtschalter oder auf einen Termin fixieren: Am 1. Januar 2002 trat der Euro in Kraft; am 15. Dezember 2000 wurde der Gotthard-Tunnel eröffnet; seit dem 11. September setzte die Wiedergeburt der Werte ein. Ich halte es für leichtfertig, die natürliche Reaktion auf ein schreckliches Ereignis gleichzusetzen mit der Initialzündung für eine grundsätzliche Änderung der Lebenseinstellung. Werte sind nun einmal keine Fertigkeit, die man anlernen oder lehren kann. Werte müssen gelebt und erlebt werden, sie können nicht unterrichtet werden nach dem Motto: Heute nehmen wir das Verantwortungsgefühl durch, oder, heute lernen wir die Toleranz oder die Beziehung. Gewiss thematisieren kann ich alles, aber erzogen werden wir dadurch nicht. Theoretisch sind wir uns demnach einig, dass wir die Verpflichtung haben: So viel Belehrung wie möglich durch Erfahrung zu ersetzen (VON HENTIG 1999). Beteiligung statt Belehrung! Erfahrung statt Belehrung! Was steht hinter diesen Forderungen? Die Ereignisse der vergangenen Monate und Jahre, die Zunahme an Gewaltbereitschaft, vor allem bei Jugendlichen, deutet auf einen Verlust von Werten hin. Ich meine damit: Achtung vor dem Anderen, Toleranz, Selbstständigkeit, Verantwortung übernehmen für sich selbst aber auch für andere. Dies mündet zunehmend häufiger in der Forderung, dass die Schüler zur Dialogfähigkeit erzogen werden müssen (BUBER 1995; HABERMAS 2001; VON HENTIG 1993; HORSCH 2002; KLAFKI 1993; u. a.). Dialogfähigkeit wird hierbei als Fähigkeit verstanden, aufeinander zuzugehen, den Anderen als Partner wahrzunehmen, ihn ernst zu nehmen, Beziehung zu ihm herzustellen, Lösungen miteinander auszuhandeln, konstruktiv Probleme angehen und sie lösen zu können. Führende Erziehungswissenschaftler 3 sehen deshalb in der Dialogfähigkeit den zentralen Erziehungsauftrag, den Schule erfüllen soll, weil diese Fähigkeit konstituierend für das Zusammenleben ist. In einem solchen Kontext stellt sich erneut die Frage, welchem Erziehungs- und Bildungsauftrag die Schule für Hörgeschädigte folgt. Ist die Erziehung zur Dialogfähigkeit Ziel der Hörgeschädigtenpädagogik? Eine solche Frage lässt sehr schnell die Vermutung aufkommen, dass die Erziehungs- und Bildungswirklichkeit der Schule für Hörgeschädigte noch von anderen Zielen bestimmt ist, die wenig mit den oben genannten Fähigkeiten zu tun hat. Haben wir in der Hörgeschädigtenpädagogik die Frage nach der Dialogfähigkeit jemals gestellt, und welche Antworten haben wir darauf gegeben? Ein kritischer Blick auf das Selbstverständnis der Hörgeschädigtenpädagogik bislang zeichnet ein Bild, in dem sie sich vorrangig als eine Sprachpädagogik versteht. Der Erziehungs- und Bildungsauftrags wird im Vermitteln von Sprache gesehen. Die Fragestellung, welche Sprache die beste sei für hörgeschädigte Schüler führt (immer noch) zu erbitterten Auseinandersetzungen. Fragen der Erziehung werden deshalb vorrangig als Fragen der sprachlichen Erziehung gesehen und das gestellte Ziel ist der Aufbau und die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz der Schüler. Dadurch werden Fragen der Methodik der Sprachvermittlung und des Sprachunterrichts zu zentralen Fragen der Bildung und Erziehung. Sie standen und stehen an oberster Stelle. Stillschweigend wurde damit akzeptiert, dass dies die ausschließlichen Fragen der Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder seien. Hinter einem solchen Erziehungsanspruch lässt sich ein Menschenbild vermuten, das eher Defizit orientiert ist und das um den Ausgleich dieses Defizits bemüht ist. Ich halte dies für eine äußerst problematische Sicht von Erziehung und formuliere diese in nachfolgenden Thesen: Ein auf die Hörschädigung reduziertes Bild des hörgeschädigten Kindes und ein Verharren in der Methodendiskussion sind unzulässig. Es führt zu einer Einschränkung der Fragen der Erziehung und Bildung auf Fragen der Spracherziehung und deren Methode. Es ist bestimmt von der Haltung, dass ich dem Kind zuwenig zutraue. 4 Bevor wir diese Thesen detaillierter betrachten, ist es mir wichtig festzustellen, dass ich nicht der Eindruck erwecken möchte, die Hörgeschädigtenpädagogik wäre eine Pädagogik ohne Verantwortung gewesen. Verantwortung soll nicht in Abrede gestellt werden. Nur, die Verantwortung des Pädagogen lag vorrangig in der Sicherung der sprachlichen Entwicklung. Sie sollte auf den Weg gebracht werden, damit die Schüler nach dem Erwerb der Sprache kommunizieren können. In der Regel war damit gemeint, dass die Schüler nach dem Schulabschluss fähig sind, sich mit ihrer hörenden Umwelt sprachlich auseinander zu setzen. An diesem Ziel ist an sich nichts auszusetzen, es wurde allerdings viel zu selten erreicht. Es ist eine theoretische Fehleinschätzung, davon auszugehen, dass Sprache und Dialogfähigkeit identische Fähigkeiten sind. Es ist zudem eine Verkennung der Wirklichkeit anzunehmen, dass Sprachkompetenz zu Dialogfähigkeit führt, sie folglich deren Endprodukt darstellt. Es bleibt ein grundlegender Irrtum zu glauben, dass das Kind, wenn es Sprache sicher verwenden kann, aufgrund dieser Fähigkeit in der Lage ist, dialogisch zu handeln. Dialogfähigkeit und Beziehungsfähigkeit bedürfen einer Entwicklung. Darauf hat schon VOIT (1977) vor vielen Jahren verwiesen. Ihnen liegen basale Erfahrungen zugrunde, die in anderen Bereichen gemacht werden, als in einem Sprachsystem. Ich nenne sie deshalb basale dialogische Kompetenzen. Sie sind notwendig, um den Sinn des Miteinander zu entdecken, um selbstbewusst und selbstbestimmt zu werden und Verantwortung für sich und für andere übernehmen zu können. Auf die Schule bezogen bedarf es dazu eines auf Dialog ausgerichteten Lehrers, der diesen Prozess initiiert und mit trägt. Der Mensch wird am Du zum Ich (BUBER 1995). Gerade darin zeigt sich aber das eigentliche Problem. Dem Erziehungsziel Sprachkompetenz lag ein systematisches Denken zugrunde, dem das Handeln des Lehrers folgen musste. Nur dann war es erfolgreich. Es bedurfte einer kontrollierenden Haltung des Lehrers, der alle Lernprozesse initiieren und kontrollieren musste. Im System dieser auf Sprache ausgerichteten Erziehungstheorie war dies konsequent. Dem eigenaktiven und selbstverantwortlichen Handeln der Schüler konnte dann jedoch kaum Raum gegeben werden, weil man ihm letztendlich nicht zugetraut hat, dass er kompetent und selbstverantwortlich Wissen erwerben kann. In der Konsequenz dieser Haltung wurden zu wenig offene Unterrichtsformen angeboten, 5 weil der frontale Unterricht als der sichere Weg angesehen wurde. Dies gilt, mit ganz wenigen Einschränkungen, oft genug auch heute noch, auch dort wo wir keinen systematischen Sprachaufbau mehr betreiben. Warum dies so ist, vermag ich nur schwer zu beurteilen. Möglicherweise hat sich zwar die Methode geändert, die sich daran orientierende Haltung des Lehrers aber nicht. Es verwundert deshalb nicht, dass weiterführende Schulen immer wieder über mangelnde Selbständigkeit der hörgeschädigten Schüler geklagten. Junge erwachsene Hörgeschädigte warten darauf, dass ihnen Entscheidungen abgenommen werden. Selbstständig wirkende hörgeschädigte Erwachsene, die bereits im Berufsleben stehen, fordern, dass wir, die Älteren, die früheren Lehrer, mehr für sie tun müssen, anstatt dass sie selbst die Initiative ergreifen. Hinsichtlich ihrer Kompetenzen wären sie durchaus in der Lage, selbst etwas zu organisieren und auf den Weg zu bringen; es fehlt die notwendige Handlungskompetenz, es fehlt vor allem aber die Kraft und der Mut, sich selbst etwas zuzutrauen um selbstverantwortlich eigene Schritte zu gehen, es fehlt m. E. das Vertrauen zu sich selbst. Was ich damit sagen möchte ist folgendes: Selbstverantwortlichkeit, Mitverantwortlichkeit und Dialogfähigkeit sind nicht automatisch dann gegeben, wenn die Schüler sprachlich kompetent sind, sondern diese Fähigkeiten müssen sich entwickeln: Selbstbestimmt kann ich nur werden, wenn ich Erfahrungen hierzu machen kann; Verantwortlichkeit kann ich nur erwerben, wenn ich den Raum dazu erhalte; beziehungsfähig werde ich nur, wenn ich selbst Beziehung erlebe; Dialogfähigkeit entwickelt sich nur im Dialog; Sie alle müssen als eine kontinuierliche Erfahrung den schulischen Weg des Kindes begleiten; sie kennzeichnen sowohl den Weg als auch das Erziehungsziel. Von diesen Erziehungszielen her kann erst entschieden werden, welche Methode für das jeweilige Kind die geeignete ist. Deshalb halte ich eine Reduktion der Erziehungsziele auf Fragen der Methode für unzulässig, weil dadurch leicht der Blick auf den Menschen mit all seinen Fähigkeiten 6 verloren geht. Es ist unbestritten, dass sprachaufbauende Verfahren, hörgerichtete Ansätze und bilinguale Konzepte aus ihrer Sicht alles getan haben, um das Kind kommunikationsfähig zu machen. Aber als oberstes Erziehungsziel genügt dies nicht, weil die Entscheidungen im System der Methode gefangen bleiben: Es wird von der Methode und nicht vom Kind her gedacht. Das Erziehungsziel Hörgerichtet fordert Hörgerichtetheit von allen Schülern ein; das Erziehungsziel Bilingual tut dies ebenso. Wo bleibt dabei die Selbstbestimmtheit, die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen? Wo bleibt das Kind? Ich möchte diese Gedanken unter den nachfolgenden These zusammenfassen: Eine sich an den Potenzialen des hörgeschädigten Kindes orientierende dialogische Hörgeschädigtenpädagogik ist offen für Fragen der Methode. Methoden müssen dem Erziehungsziel Dialogfähigkeit dienen. Sich an den Potenzialen des Kindes orientieren heißt, spüren was das Kind braucht (BUBER 1995; FROMM 1956 ; VON HENTIG 2001; HORSCH 1998), die Lernangebote darauf ausrichten und beobachten, wie das Kind damit umgeht. Eine Haltung des Lehrers, die von den Potenzialen des Kindes ausgeht, setzt darauf, dass der Schüler neugierig ist, interessiert ist, dass er sich einlässt auf Unbekanntes; dafür macht er macht Mut, dazu gibt er Vertrauensvorschub. Durch eine solche Haltung erfährt das Kind aber auch, dass es als Partner ernst genommen wird,( z.B.) weil der Lehrer ihm zuhört, weil er auf seine Vorschläge eingeht, weil er ihm etwas zutraut, und weil er ihm hilft, wenn etwas schief geht, und es somit auch lernen kann, zu seinen Fehlern zu stehen. Für mich sind dies zutiefst pädagogische Haltungen, die nicht unmittelbar mit dem Wissenserwerb zu tun haben, sondern eher davon bestimmt sind, das Kind in seinen Potenzialen zu sehen. Haltungen stehen immer im Zusammenhang von Bildung, Erziehung und Werten .Dies hat bereits Dilthey (1894) im vor vergangenen Jahrhundert festgestellt. Für ihn sind Erziehung und Bildung zwei Seiten einer Medaille, wobei Erziehung immer in einer Beziehung zwischen Erwachsenem und 7 Heranwachsendem konkret wird, und die konkreten Inhalte dieses Bildungsprozesses den jungen Menschen etwas angehen, ihn interessieren ihn betreffen müssen. Was aber ist Bildung – in der heutigen Zeit? Häufig wird Bildung verwechselt mit Allgemeinbildung oder manchmal sogar mit Ausbildung. Allgemeinbildung ist ja fast schon eine anachronistische Floskel! Die Welt ist zu groß geworden! Die klassischen Bildungsinhalte sind nicht mehr die ausschließlich akzeptierten, was früher klassisch war vom Umfang her, weiß heute jede Frisöse. Denken sie doch nur an Günther Jauch und wer dort Millionär wird. Es zeigt sich hierin ein anderes Verständnis von Allgemeinbildung: Hätten sie gewusst, wer 1974 das entscheidende Tor schoss, oder wo die Beskiden liegen? Bildung wird ebenso oft verwechselt mit Ausbildung. Ausbildung jedoch ist zweckorientiert, hat nicht den Menschen, sondern seine Funktion im Auge. Bildungspolitik reduziert sich darauf immer mehr. Unter dem Druck der Integrations – und Arbeitsmarktfähigkeit stehen die Schulen steht auch die Schule für Hörgeschädigte. Aber das reibungslose Funktionieren in die Arbeitsgesellschaft gelingt nicht immer. Darüber hinaus unterliegen Fertigkeiten und Wissen einer hohen Vergänglichkeit (= niedere Halbwertzeit). Was gestern noch beim Frisör oder Günther Jauch mit sehr viel Eifer diskutiert wurde (um auf mein Beispiel von oben zurückzukommen) ist heute im wahrsten Sinne des Wortes schon wieder Schnee von gestern. Wir müssen die Schüler dazu befähigen, mit einer zukünftigen (Arbeits-) Welt zurecht zu kommen (vgl.Popper) und das dient beiden: dem Schüler und der Arbeitswelt. Senecca fällt mir hierzu ein, der fordert, nicht für die Schule, sondern für das Leben zu lernen. Aber schwierig ist das schon! Ich sehe das in der Diskussion mit Studierenden, die den Gebrauchswert ihres Studiums im Auge haben. Sie sitzen in den Seminaren, den Bleistift gezückt wie 8 eine Waffe auf dem Schlachtfeld auf dem um den Erfolg gekämpft wird. Die implizite Frage hierbei lautet: “Brauchen wir dies?“ – „Wenn wirs brauchen müssen wirs mitschreiben“. Brauchen meint zunächst für die Prüfung brauchen. Dahinter steckt eine Denkhaltung der Verwertbarkeit. Wenig Mut zu Fehlern, zum Querdenken, zum Aushalten von Unsicherheiten, spüre ich da. Gegen Ende des Studium ändert sich dies – die Studierenden entwickeln eine Haltung, auf der sie ihr zukünftiges Lehrersein hin reflektieren Dies geschieht m.E. weniger durch Belehrung als durch Erleben, durch Reflexion, durch Erfahrung, durch Mutmachen, den eigenen Weg zu gehen und Vertrauen in ihre Potenziale zu erfahren.. Beteiligung statt Belehrung – Erfahrung statt Belehrung (V.Hentig). Dies gilt unabhängig vom Alter des Menschen. Konkret heißt das, wenn ich Achtung erwarte, muss ich auch sie (die Studenten) respektieren mit ihren bunten Haaren und gepiercten Nasen und nicht sauertöpfisch sie als Scheußlichkeiten hinnehmen, sondern als altersadäquate Form sich darzustellen und auszudrücken. Wir (die Älteren) haben sie doch auch! Oder meinen Sie eine Krawatte sei etwas anderes! Kurzum: es reicht nicht, dass ich fachliche Kompetenz einbringe um Wissen zu vermitteln, die ganze Person muss sich einbringen, um auf das Leben vorzubereiten, muss ehrlich sein, kongruent sein, Vertrauen geben, nur dann kann ich ziehen, mitziehen, erziehen. Es fällt mir kein Zacken aus der Krone wenn auch ich Fehler eingestehen und um Verzeihung bitten kann. Fazit: Der hörgeschädigte Mensch braucht mehr als eine halbwegs funktionierende Sprache. Steht damit die Erziehungskompetenz im Widerspruch zur Fachkompetenz und wo bleibt das Spezifische der Hörgeschädigtenpädagogik? 9 Immer wieder werden Ängste dahingehend geäußert, dass das hörgeschädigtenspezifische Wissen und die sich darin begründende fachliche Kompetenz in einem dialogischen Erziehungskontext nicht mehr gefragt seien. Ich behaupte entschieden, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie ist gefordert, und zwar auf aktuellem Wissenstand, der in unserer Disziplin ganz entscheidend ist. Ich erinnere nur an die Entwicklungen um das Cochlear-Implant, die neuen Erkenntnisse in der pädagogischen Audiologie, das Wissen um die Prozesse des Hörenlernens, den Spracherwerbs und des Gebärdenspracherwerbs. An dieser Entwicklung lässt sich auch die Veränderung hinsichtlich der Verantwortung im fachlichen Bereich festmachen. Das fachliche Wissen von Heute ist gegenüber dem von vor 30 Jahren ein anderes geworden. Die Schule von Heute muss diese Veränderungen als Angebote verstehen und aufgreifen, weil dadurch die Möglichkeiten ihrer Schüler andere, bessere geworden sind. Es wäre verantwortungslos, die Veränderungen die dieses Wissen mit sich bringt nicht als Chance zu verstehen. Wissen gehört zur fachlichen Kompetenz des Hörgeschädigtenpädagogen. Es ist heute dringlicher denn je gefordert. Es war jedoch der entscheidende Fehler der Hörgeschädigtenpädagogik, in Fragen der fachlichen Kompetenz zu verharren, ja, sie häufig genug zu reduzieren auf eine einzige Frage: Welches ist die richtige Methode? Dies macht Flexibilität in methodischer Hinsicht, wie wir gesehen haben, nahezu unmöglich. Ich behaupte: Nicht im Verharren in methodischen Konzepten, sondern im dialogischen Antworten auf das, was das Kind braucht, und in der Haltung des Lehrers liegen die Kompetenzen, die erzieherisch wirksam werden, denn wir haben einen Erziehungs- und Bildungsauftrag, und nicht nur den Auftrag, Wissen zu vermitteln (KLAFKI 1973). Aus diesem Grund umfassen die Kompetenzen die heute vom Hörgeschädigtenlehrer gefordert werden die Erziehungs- und Beziehungskompetenz, in welcher Haltungen bzw. Einstellungen hinsichtlich der Beziehung zu und dem Dialog mit dem Kind sichtbar und erfahrbar werden sowie die fachliche Kompetenz in der Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten verankert sind. 10 Ich verstehe die Ängste, die dadurch entstehen können, weil immer noch mehr gefordert wird. Kollegen vor Ort haben mir glaubhaft versichert, dass sie der Fülle der Wissensvermittlung ohnehin kaum gerecht werden. „Ich kann es mir nicht leisten, Zeit für diese anderen Dinge aufzubringen, wie: Beziehung zum Kind herzustellen. Wenn ich Zeit habe, sprechen wir weiter“. Dem stelle ich gegenüber, dass es kaum ein Lehrer aushalten kann, immer nur dem Druck der Wissensvermittlung zu folgen. Ich stelle den Studierenden die Gegenfrage: Warum wollen sie Lehrer werden? Doch sicher nicht wegen der Ferien, wie böse Zungen immer wieder behaupten! Nein, weil sie mit Kindern zusammen arbeiten wollen, weil sie es spannend finden an deren Entwicklung teilzunehmen und auf diese Einfluss zu nehmen, weil sie sich den Schulalltag mit Kindern als für sie bereichernd vorstellen können. Dahinter stehen Erwartungen, die ich so formulieren möchte: Wenn ich Lehrer bin, gehe ich davon aus, dass ich von den Schülern auch Antworten erhalte, die mich bestärken. Der Dialog hat sehr viele Facetten. Auch der Lehrer braucht dieses Bestätigt-Werden durch seine Schüler. Wenn sie sich vertrauensvoll an ihn wenden, oder ihm sagen „Wir sind gerne bei dir“ oder „Du machst es gut“ sind dies dialogische Angebote der Schüler an ihren Lehrer. Sie helfen weit mehr als manches andere einem „burn out“ und einer Resignation im Schulalltag entgegen zu wirken. Im Übrigen behaupte ich: Sie spüren es, wenn Sie in eine Klasse kommen, die miteinander im Dialog steht. Wir sind gerade dabei, diese Behauptung auch mit harten Daten zu unterlegen (Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt: Schule für Hörgeschädigte neu denken). Offen bleibt in diesen Überlegungen, in wieweit sie auch die Frage nach dem, was als Bildung heute angesehen wird, klären kann. Wenn Erziehung und Bildung nicht mit Wissensvermittlung und Wissen gleichgesetzt werden dürfen, Bildung jedoch Wissen voraussetzt und Erziehung zum Ziel hat, um den jungen Menschen von Heute auf das Leben von Morgen vorzubereiten, in der sein aktueller Wissensstand möglicherweise nur noch die Hälfte oder weniger wert ist, muss Bildung die Aufgabe haben, mit dieser unsicheren Zukunft zurecht kommen zu können (POPPER 1984 ). HARTMUT VON HENTIG (1999) beschreibt sechs Bildungskriterien von denen ich drei auswähle: Die Dialogfähigkeit als die Fähigkeit und den Willen sich zu verständigen; die Bereitschaft Selbstverantwortung und Verantwortung für andere und in der „res 11 publica“ zu übernehmen und der Fähigkeit der Wahrnehmung von Glück. Es kann, so VON HENTIG, davon auch sehr wenig sein, aber es darf nicht fehlen. Tomi Ungerer hat kürzlich in einem Interview gesagt, die Jugend, sei die beste, die es je gab. Natürlich übertreibt er ein wenig, aber der Blick ist in Ordnung. Wir brauchen nicht die Weltverbessererstirn, sondern den liebevollen Blick. Und wem das eine zu idealistische Sicht ist, der mag sich vielleicht eher VON HENTIG (1993) anschließen, der sagt: „Eine gute Pädagogik wird nicht die Verhältnisse ändern, sondern nur die jungen Menschen gegen diese Verhältnisse stärken“. Vielleicht sollten wir es mit Liebe probieren statt mit Lamentieren, mit Dialogik und Beziehung statt mit Wissensdruck. Schritte in die Dialogik Genau diese: den jungen Menschen gegen die Verhältnisse stärken, versuchen wir in Heidelberg im Rahmen von Märchenprojekten bei hörgeschädigten Kindern des Kindergartens Heidelberg/Neckargemünd auf den Weg zu bringen. Ich möchte diesen zur Diskussion stellen. Ein Video dazu habe ich vorbereitet. Ausgangspunkt (vor Jahren) waren Beobachtungen von hörgeschädigten Kindern im Kindergarten, die zusätzliche Lernprobleme hatten. Es entstand für uns der Eindruck, dass die Kinder mit wenig Freude die gestellten Aufgaben erledigten und, was uns noch viel nachdenklicher stimmte, die Kinder konnten mit dem, was sie den Tag oder die Woche über gelernt hatten, relativ wenig anfangen. Die erworbenen Begriffe wie bspw. „Schal“, „Mütze“, „Handschuh“, wurden im alltäglichen Prozess des An- und Ausziehens für die Pausen von den Kindern nicht verwendet. Wir sahen, dass der Lernbereich mit dem Lebensbereich von den Kindern nicht in einem Zusammenhang gesehen wurde. Diese Situation wollten wir ändern. Nicht „nur ein bischen“, sondern grundlegend! Die konsequente Frage war: Wie kann das geschehen? Wir entwickelten die Idee eines Märchenprojekts (insgesamt wurden es 7 im Laufe von 7 Semestern), weil dies ein altersadäquates Angebot ist. 12 Unsere Grundhaltung war von folgenden Annahmen bestimmt: Wir müssen uns lösen von all den Gutachten, den Daten, den Aussagen, die wir von den Kindern haben und ihnen Angebote machen, von denen wir annehmen dürfen, dass sie ihnen helfen, sich zu entwickeln zu entdecken, was in ihnen steckt. Der nächste Schritt war: Wir wollten dies in einem Märchenprojekt tun, weil dies ein altersadäquates Angebot ist. . An der Entwicklung von Timo in dem Märchenprojekt Dornröschen will ich Sie teilnehmen lassen. Seine ersten Schritte in die Gemeinschaft mit anderen Kindern und Erwachsenen will ich nachfolgend sichtbar machen. Eine grundlegende Aufgabe musste dazu gelöst werden. Es stellte sich die Aufgabe: Wie kann man einem gehörloses Kind, das zusätzlich Lernprobleme hat, ein Märchen erzählen: über einen Film, über ein Bilderbuch? Wie kann man absichern, dass das Kind auch nur eine Idee von dem Märchen entwickeln kann und vor allem: Wie kann man das, was ein Märchen für das Kind zu dem macht, was es ist, für das Kind erlebbar machen; wie kann der Zauber eines Märchens für das Kind Wirklichkeit werden, vor allem dann, wenn nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig davon, ob dies nun ein Film, ein Bilderbuch oder Handpuppen sind? Als nächste Aufgabe musste die Frage gelöst werden, wie wir eine Märchenwelt im echten Sinn entstehen lassen können. Es sollten Situationen geschaffen werden, in denen das Kind wirklich die Anmut von Dornröschen erleben kann, deren Trauer oder Angst spüren kann, vielleicht selbst als böse Fee spürt, wie es Furcht erzeugen kann und sich letztendlich freuen kann, weil Dornröschen lebt und mit dem Prinzen Hochzeit hält. Nach Meinung erfahrener Pädagogen war dies nicht zu leisten. Märchen zeigen uns in der Hörgeschädigtenpädagogik, noch dazu unter solchen erschwerten Bedingungen, nun einmal die Grenzen! In der Diskussion haben wir Antworten gesucht. Die wichtigsten, richtungsweisenden und entscheidenden waren: Wir müssen versuchen, diese Grenzen zu überschreiten! Unsere Argumente, die gleichzeitig unsere pädagogische Grundhaltung kennzeichnen, waren: 13 Wo die traditionellen Wege der Bildungsvermittlung an ihre Grenzen stoßen, darf die Antwort darauf kein hilfloses Achselzucken sein oder ein „Schade, die Kinder können das eben nicht“, sondern es ist Aufgabe der Pädagogik, darüber nachzudenken, welche Angebote die Kinder brauchen, um ein Märchen als Bildungsgut für sich zu erwerben. Diese Forderungen sind in der Hörgeschädigtenpädagogik noch keine Selbstverständlichkeit. Nicht, weil den Kindern Märchen vorenthalten werden sollen, sondern weil da die Angst ist, den Kindern zu viel zuzumuten, ihnen ihre Grenzen zu zeigen, sie zu entmutigen, ihnen zu zeigen, was sie nicht können! Das wollten wir sicher auch nicht. Wir waren jedoch davon überzeugt, dass das Kind mehr kann als diagnostische Daten ihm zutrauen lassen, dass es Potentiale in sich trägt, die es entwickeln kann, aber nur dann, wenn wir ihm eine Chance dazu geben; wenn es Angebote erhält, die ihm die Möglichkeit geben, das was in ihm steckt, zu entdecken, sich selbst zu entdecken, mit seinen Gefühlen, mit seinen Emotionen, sich erleben und seine Grenzen erfahren kann, als sozial handelnder Mensch mit anderen in den handelnden und sinnlichen Dialog zu treten, in der Freiheit, alle diese Angebote auch abzulehnen bzw. nicht zu beachten, wenn sie ihm nichts sagen, wenn es nichts mit ihnen anfangen kann. Märchen enthalten solche Angebote. Märchen sind ein Bildungsgut im traditionellen Verständnis; sie gehören zu unserem kulturellen Erbe. Sind Märchen auch im heutigen Verständnis ein Bildungsgut? Im landläufigen Sinne ist diese Frage ohne Zweifel zu bejahen. Man muss einfach wissen, dass der Wolf die Großmutter frisst und hinterher auch noch das Rotkäppchen, und das alles deshalb gut endet, weil der Jäger kommt, der alles wieder richtet. Was macht diese Erfahrung aus Kindertagen in uns heute noch so lebendig, oftmals so stark, dass wir ein Leben lang den ewigen Prinzen oder die schöne aber sanfte Prinzessin suchen? Es muss mehr damit verbunden sein als der kindliche Glaube, dass das Gute immer siegt, auch wenn wir als Erwachsene uns manchmal nichts sehnlicher wünschen als das. Ich wage eine Behauptung: Die Bedeutung der Märchenerfahrung hängt damit 14 zusammen, dass sie uns als Kinder eine Ahnung davon vermittelt haben, was Glück ist. Mit diesem Gedanken schließe ich mich VON HENTIGs (1999) kritischer Auseinandersetzung an, wie er Bildung heute verstanden haben möchte. Er nennt sechs Kriterien, von denen ich drei auswähle, weil sie im Prozess des Märchenprozesses sehr schön zu beobachten sind. Es sind dies: Die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen sich zu verständigen; und die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zur Verantwortung in der „res publica“. Wenn Märchen dies leisten, haben alle Kinder ein Recht auf Märchen; sie haben ein uneingeschränktes Recht auf Bildung. Wie können wir Anlässe schaffen, in denen Erfahrungen dieser Art möglich werden? Konkret: Wie sind diese Forderungen umzusetzen? Vor allem dann, wenn die Kinder noch nicht über ein Symbolsystem verfügen, wenn die Sprache nicht gehört wird, die Gebärdensprache noch nicht gelernt ist, vielleicht deshalb noch nicht gelernt werden konnte, weil auch sie eine differenzierte kognitive Kompetenz voraussetzt; vielleicht, weil auch sie auf Grundfähigkeiten zurückgreift, die entwickelt sein müssen: - dialogfähig sein, - beziehungsfähig sein. Nicht immer können Kinder diese Fähigkeiten für sich entwickeln. Timo, von dem ich berichte, war aufgrund monatelanger Krankenhausaufenthalte sowie Behinderungen in der körperlichen Motorik (er kam beim ersten Besuch noch im Rollstuhl) noch nie mit anderen Kindern zusammen gewesen. Erschwerend war für ihn darüber hinaus, dass er Probleme mit dem Sehen hatte, dass er fast nichts hören konnte, dass er noch nicht selbstständig essen konnte und durfte, weil seine Luft- und Speiseröhre noch nicht getrennt waren, dass er noch nicht sauber war und dass seine kognitiven Fähigkeiten als schwach eingeschätzt wurden. Seine Welt war eine noch weitgehend einsame Welt, in der er seine Dialogfähigkeit, seine Beziehung zu anderen Kindern und auch zu Erwachsenen nicht altersgemäß entwickeln konnte. Diese Fähigkeiten sind jedoch Voraussetzung, um auf andere und auf die Angebote dieser Welt zuzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. 15 Auf folgende Fragen haben wir Antworten gesucht: Ist es möglich, hörgeschädigten Kindern, denen aufgrund zusätzlicher Lernprobleme die traditionellen Wege der Bildungsvermittlung weitestgehend verschlossen sind, ein Märchen so zu „erzählen“, dass sie den Zauber des Märchens erleben und für sich erschließen können, und dass sie dadurch in der Lage sind, das Märchen zu konstruieren und zu erzählen? (Mit Erzählen ist gemeint, dass die Kinder in der Lage sind, das Märchen mit uns zusammen oder miteinander so zu spielen, dass es in diesem Spiel erzählt wird). Wird ein Kind wie Timo, das die Sicherheit noch nicht entwickeln konnte, mit anderen Menschen in Beziehung, in den Dialog zu treten, ihre Gesten, ihre Gesichter, ihre Sprache zu deuten, die Aufgabe lösen, darin einen Sinn für sich zu entdecken? Wie könnte sein Weg in die Dialogik aussehen? Welche pädagogischen Angebote und erzieherischen Grundhaltungen helfen ihm dabei? Dürfen wir sagen, das Timo das Märchen kennt, wenn er sich (z.B.) als böse Fee im Märchen Dornröschen erlebt hat? Ist das Märchen dann zu einem Bildungsgut für ihn geworden? Sind die geforderten Bildungskriterien (von Hentig): die Fähigkeit zum Dialog; die Wahrnehmung von Glück; die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen beobachtbar? Wie sind wir dabei vorgegangen? Methodisch haben wir die schon in früheren Projekten erprobte Form der Märchenerarbeitung beibehalten. Wir haben den Erlebensweg gewählt, wobei die Musik ganz besondere Akzente setzte, da sie die Botschaft der jeweiligen Situation verdichtend widerspiegelte. Konkret sah das so aus: Die Studierenden haben das Märchen Schritt für Schritt entwickelt. Dabei spielten sie zunächst das Märchen in ansprechenden Kostümen mit entsprechenden Requisiten und dekorativen Kulissen vor. Mit jedem Projekttag wurde so ein Stück mehr vom Märchen erzählt. Dabei sind 16 wir in den sinnlichen Dialog mit den Kindern getreten, das heißt, wir haben sie mit allen Sinnen angesprochen. Im Anschluss an dieses Spiel der Studierenden schlüpften die Kinder in die zur Verfügung gestellten Kostüme und konstruierten jeweils für sich, jedoch alle miteinander, ihre Rolle (vgl. HORSCH/MAIER 1999). Erstaunlicherweise haben die Kinder vom ersten Projekttag an, diese Aufgabenstellung verstanden. Auch das Entwickeln und Interpretieren des jeweils Spezifischen der eigenen Rolle in der Interaktion mit anderen, gelang ohne Schwierigkeiten. Ebenso erwies sich eine weitere Sorge als gegenstandslos. Die Angst war, die Kinder würden, schnell den Blick für die Grenzen ihres Tuns aus den Augen verlieren und den anderen den Platz nicht mehr geben, den sie brauchten, um ihren Part spielen zu können. Der eigene Part könnte so leicht zum „Solo“ werden, der den Dialog nicht mehr sucht. Dies ist jedoch in keinem der Projekte geschehen. Die Kinder haben Verantwortung im Rahmen ihres Tuns für sich selbst und auch für andere gelebt. Von der Grundkonzeption haben wir das Märchen in Dialogsequenzen entwickelt; das heißt, es waren immer wenigstens zwei Personen miteinander in Interaktion. Unsere Aufgabe war, die Dialogik im Spiel miteinander sichtbar zu machen. Sie musste für die Kinder ein zentrales, wahrnehmbares Element werden, das sie verstehen konnten und das sie für ihr Handeln als sinnvoll einschätzen sollten. Welche basalen dialogischen Elemente sind damit gemeint? Blickkontakt herstellen! Er ist die Verständigungsebene schlechthin und er bestätigt das Kind „ich bin da für dich“ das Turn-taking, das nichts anderes signalisiert als das dialogische Wechselspiel „Jetzt bist du dran – jetzt bin ich dran“ das Kind als Partner ernst nehmen, auf seine Angebote eingehen und ihm antworten das Kind in seinem Tun bestätigen dem Kind vertrauen, ihm etwas zutrauen dem Kind Mut machen, in den Dialog zu treten dem Kind Verantwortung geben für sein Tun. 17 Wir waren uns sicher: Wenn Timo subjektiv einen Sinn darin entdecken kann, mit den anderen in den Dialog zu treten und eine Verständigungsebene herzustellen, wird er diese Chance auch nutzen. Ein weiteres dialogisches Angebot war die Musik. Sie wurde auf jede Szene hin hervorragend ausgewählt, damit sie die Freude, die Bedrohung, die Angst, die Trauer nochmals verdichtete. Nicht für uns (oder nicht nur für uns) war es dadurch viel einfacher, die emotionale Botschaft in unseren Handlungen sichtbar zu machen. Wir konnten beobachten, dass ausnahmslos alle hörgeschädigten Kinder die Prosodie der jeweiligen Melodie wahrgenommen und ihren Handlungen zugrunde gelegt haben. Und noch etwas war uns ganz wichtig: wir haben nie für uns alleine gespielt. Immer haben wir die Kinder, die uns beobachtet haben, mit in das Spiel hineingenommen, sei es durch Gesten, sei es durch auffordernden Blickkontakt, sei es durch Fragen – die Kinder waren auch in der Position des Noch-Zuschauers immer aktiv in das Geschehen miteinbezogen Die dialogische Entwicklung geht in kleinen Schritten voran. Wird Timo seinen Platz auf der Bank verlassen und in das gemeinsame Spiel einsteigen, unsere Angebote verstehen als eine Einladung zum Dialog? Ergebnisse und Diskussion Die Ergebnisse belegen, dass unsere Eingangsfrage positiv beantwortet werden kann. Sie können sich im Video selbst davon überzeugen. Timo konnte das Märchen in unterschiedlichen Rollen erzählen und damit zeigte er uns, dass er das Märchen kennt und von unterschiedlichen Positionen aus gestalten kann. KLAFKI würde sagen, dass es zum Bildungsgut für ihn geworden ist. Am Anfang haben die anderen Kinder ihm in seiner Rolle geholfen. Auch dies ist eine wichtige Projekterfahrung für Kinder, die mit Verantwortung zu tun hat: Rücksicht aufeinander zu nehmen und zu sehen, was der andere braucht. Dadurch entsteht 18 Vertrauen zu anderen, aber auch Vertrauen in die eigene Kompetenz. So wächst Timo zunehmend in seine Rollen hinein, ja manchmal auch über diese hinaus. Foto Keiner konnte als böse Fee so gefährlich sein und keiner konnte soviel Mitgefühl und Fürsorge zeigen wie er, keiner war so traurig wie er und keiner konnte trösten wie er und letztendlich: keiner wirkte so glücklich wie er. Seine Bereitschaft, mit anderen in den Dialog zu treten, hat von Projekttag zu Projekttag zugenommen. Er machte Vorschläge, verhandelte mit den anderen über den weiteren Verlauf, achtete darauf, dass alle zu ihrem Recht (in der Rolle) kamen und machte Mut. Dies alles in einer sanften, ernsthaft lächelnden Art, die zu seinem "Markenzeichen" wurde. Ohne die Erfahrungen im Märchenprojekt hätte Timo diese Kompetenzen nie erleben können. Betrachten wir die Entwicklung von Timo unter den Kriterien „Bildung“ wie sie von VON HENTIG genannt werden, dann sind die drei eingangs von mir genannten sehr gut in ihrer Entwicklung zu beobachten. Dazu zähle ich die Fähigkeit mit anderen in den Dialog zu treten, also die Fähigkeit und den Willen sich zu verständigen; die Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst aber auch für andere zu übernehmen sowie die Wahrnehmung von Glück. Dies sind sicher keine Inhalte, die ich messen kann, aber sie sind vermittelbar und erfahrbar. Der Weg dieser Erfahrungen ist das Entscheidende. Timo bekam nicht gesagt: Dies ist Glück, das ist Trauer, das ist Verantwortung für dein Tun. Das haben wir ihm nicht gesagt. Aber wir haben im Dialog mit ihm für ihn eine Ahnung davon entstehen lassen, eine differenzierte Wahrnehmung für das, was er erlebt hat. Die Erfahrung von Dialogen mit anderen, die Wahrnehmung von Verantwortung für sich selbst und für andere und die Wahrnehmung von Glück. Sie waren sicher nur ein wenig da, wie VON HENTIG hierzu anmerken würde. Aber sie haben auch nicht gefehlt. 19 Literatur BUBER, M. (1964): Reden über Erziehung. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider BUBER, M. (1989): The Knowledge of Men. Appendix. Dialogue between Martin Buber and CARL R. ROGERS. Baltimore Hebrew University. BUBER, M. (19958): Reden über Erziehung. Gerlingen. BRUNER, J. (1987): Wie das Kind sprechen erlernt. Verlag Huber, Bern DANNER, H. (1985): Martin Buber - Dialogische Erziehung zur Verantwortung. In: Danner (Hrsg.) zum Menschen erziehen. Frankfurt 75- 82 DILTHEY, W. 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