Klaus-Ove Kahrmann KLEINE ÄFFCHEN Hartmut von Hentig, die Bielefelder Laborschule, PISA und die Misere der ästhetischen Erziehung ‚Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte,was es zu lehren hatte, damit ich nicht wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, daß ich nicht gelebt hatte.’ (H.D. Thoreau)1 Wenn von der Bielefelder Laborschule die Rede ist, dann ist auch deren Gründer Hartmut von Hentig sofort im Gespräch. Hartmut von Hentig hat nicht nur die Idee für diese außergewöhnliche und zukunftsweisende Schule ‚vom Kinde aus und für das Kind’ gehabt, er hat sie auch direkt mit der Universität verbunden, so daß die Kinder und Jugendlichen sich ganz normal in der Uni bewegen können und ebenso die Lehrenden selbstverständlich auch in der Laborschule unterrichten, besonders wenn es um die Ausbildung junger Lehrerinnen und Lehrer geht. Anläßlich des 30. Geburtstages der Laborschule im Jahre 2004 gab Hartmut von Hentig ein Radiointerview2. Dieses soll an dieser Stelle Anlaß geben, über einige seiner Äußerungen einmal nachzudenken und an andere Schriften von ihm zu erinnern, die direkt oder indirekt etwas mit ästhetische Erziehung zu tun haben. Es ist bekannt, daß Hartmut von Hentig sich intensiv und nachhaltig für die ästhetische Erziehung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt hat. Einige seiner Werke und Aufsätze sind Meilensteine in der jüngeren Geschichte der Kunstpädagogik. In ,Ergötzen, Erkennen, Begreifen’ geht es um das Schaffen einer kreativen Grundstruktur durch gestalterische Tätigkeit. ‚Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit’ thematisiert den Einbruch der technischen Medien in unsere Gesellschaft, wie wir damit umgehen und wie wir darauf im Unterricht eingehen. In ‚Die Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft’ gibt es ein Kapitel mit der Überschrift ‚Der ganze Mensch’.3 Darin ist von grundlegenden, natürlichen Bedürfnisse des Menschen die Rede, wozu auch die ästhetischen gehören – die er ausdrücklich nicht auf die Fächer Kunst und Musik eingrenzen will, sondern als wesentliches Merkmal von Schule überhaupt ansieht. ‚Schule’ darf sich nicht nur auf das die Institution repräsentierende Gebäude beziehen, sondern hat auch andere Orte im Blick, die räumlich erheblich davon getrennt sein können. Exkursionen, so Hentig, sollten viel häufiger sein als wir es heute kennen.4 Aber auch die ‚Ästhetik des Unterrichts’ ist sein Thema, der Unterricht als Erziehungskunst. Das, was an der Laborschule erstmalig institutionalsiert wurde, ist für Hartmut von Hentig Prinzip. Dabei geht es ihm vor allem darum, den Kindern den Zyklus von Wahrnehmen, Denken und Handeln näherzubringen, und zwar so lebensähnlich wie möglich. Es steht also nicht die Einzelstunde im Unterricht im Vordergrund. Leider wird im Referendariat für Lehrerinnen und Lehrer, also im Vorbereitungsdienst für die Schulpraxis, immer noch vielfach die Beurteilung von Einzelstunden praktiziert. 1 Thoreau 1999, S. 97 von Hentig 2004 3 von Hentig 2003, S. 226-227 4 Ebenda S. 227 2 1 Die Einzelstunde kann in die Hose gehen. Dann ist trotzdem der Unterricht nicht erfolglos gewesen. Ich sehe das unter dem Gesichtspunkt der Kinder. Sind sie aufmerksam und gucken sie mich freundlich an? … Was dabei gelernt werden kann, muß man anders prüfen, ganz gewiß nicht durch das Fragen von Wortsignalen – ich frage dies und du sagst das. Das ist es meistens nicht, denn wir wollen ja viel komplexere Dinge erreichen, wir wollen ja nicht kleine Äffchen haben … Was meint Hartmut von Hentig mit diesen komplexen Dingen? Das Abfragen allein kann es nicht sein. Es geht vielmehr darum, im Gespräch Denkprozesse in Gang zu setzen und sukzessive Erkenntnisse zu vermitteln. Für Hartmut von Hentig ist es in erster Linie die Kinderpersönlichkeit, um die es geht. Diese möchte er in ihrer Entwicklung fördern. Die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten folgt dann automatisch daraus, steht aber nicht funktionslos an erster Stelle. Auf die Kinderpersönlichkeit muss man sich einstellen; das geht nicht von heute auf morgen – und das Ergebnis ist weder planbar noch vorhersehbar. Mich erfreut dieses Kind. Ich werde auch eine Blume nicht unter botanischen Gesichtspunkten ansehen und ein Tier nicht in den … Brehm einordnen. Ich sehe etwas Schöneres, etwas Interessantes, ich sehe etwas Unvorhersagbares … Ein wahrer Lehrer, eine wahre Lehrerin hat immer diese Kinderpersönlichkeit im Auge und läßt sich durch bürokratische Vorgaben nicht so einschränken, daß diese die erste Rolle übernehmen und damit die Lehrperson zum Erfüllungsgehilfen für außerpädagogische Direktiven machen. Man merkt, daß die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit und die Autonomie der Lehrerinnen und Lehrer in Hinblick auf Bildung und Erziehung sehr bedeutend sind. Die interpersonalen Beziehungen spielen deswegen bei Schule und Unterricht eine herausragende Rolle. Das Lernen von Selbstbestimmung und Selbstorganisation ist für junge Menschen von großer Bedeutung – aber auch das Wahrnehmen von Verantwortung und das Befolgen und Erdenken von Regeln, die das Zusammenleben erleichtern. Darüber schreiben die dänischen Autoren Jesper Juhl und Helle Jensen in ihrem Buch ‚Vom Gehorsam zur Verantwortung’5, und obwohl in ihrem Literaturverzeichnis Harmut von Hentig nicht auftaucht, stehen sie doch in seiner erzieherischen Tradition. Lehrer kümmern sich nicht um Erlasse, und wenn sie über Erlasse stöhnen, dann stöhnen sie über das Politische … Erlasse kann die Bürokratie machen noch und noch, unten kommt ganz wenig davon an … Die verbürokratisierte Pädagogik dominiert in unserem Schulsystem. Sie verbraucht so viel Kraft, daß für den Erziehungsauftrag nicht mehr genug davon zur Verfügung steht. Hartmut von Hentig hält die gängige Struktur der heutigen Schule für nicht hinreichend. Das betrifft zum einen die übliche Fächerstruktur und zum anderen den 45-Minuten-Takt, der wenig den natürlichen Lernformen entspricht. Sein Interesse konzentriert sich mehr auf ganzheitlichen Unterricht, auf projektorientiertes Arbeiten 5 Juul / Jensen 2004 2 und Lernen, auf das Erarbeiten von Zusammenhängen in Epochen und übergeordneten Einheiten, das der Selbstorganisation der Kinder breiten Raum gibt. Wer einen Menschen bilden will und sich dazu erst einmal selbst zu einem Fachidioten machen lassen muß …. Ich bin für Mathematik und er ist für Chemie und er ist für Englisch, und das liefere ich den Kindern in 45-Minuten-Packungen Montag, Mittwoch und Freitag … Diese Art von Stückelungswerk, das man dann betreibt, das müsste den Lehrer mehr beunruhigen als die unangenehme Tatsache, daß er leider auch mal Zeugnisse hat schreiben müssen … Hartmut von Hentig ist der Auffassung, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihren Freiheitsspielraum oft nicht ausnutzen, dass ihnen oft der Mut dazu fehlt, für das, was ihnen wichtig ist, einzutreten. Es versteht sich von selbst, dass sich die notwendige Empathie bei den Lehrpersonen nicht entwickeln kann, wenn sie von dem, was sie tun, nicht überzeugt sind. Unbestrittenermaßen dient die Schule der Wissensvermittlung und der Einführung in unsere Kultur. Sie hat aber gleichzeitig auch einen Erziehungsauftrag, der erfüllt werden will und bei dem es um die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen geht, auch um die Schwierigkeiten, die mit dem Erwachsenwerden zusammenhängen. Diese Aufgabe von Schule dürfen wir nicht vernachlässigen, und es stimmt nachdenklich, wenn diese Aufgabe entweder nicht erwähnt wird oder stillschweigend in den Hintergrund gerät.6 Ich habe wenig Verständnis, wenn Lehrer behaupten, sie seien nicht frei dazu, ihren Beruf auszuüben. Sie sollten das tun, wovon sie überzeugt sind und den Gegenstand vortragen, der ihnen wichtig ist und keinen, der ihnen unwichtig ist. Wenn er ihnen unwichtig ist, kann er ihn auch den Schülern nicht vermitteln. In einer so unruhigen Welt, wo auch die Erwachsenen keine wirkliche Lebenszuversicht haben, durch alles Mögliche verwirrt und beunruhigt sind, überträgt sich das auch auf die Kinder. Lehrerinnen und Lehrer müssen also Zuversicht und Ruhe ausstrahlen, wenn sie mit den Kindern zu tun haben. Sie haben, wenn sie erfolgreich sind, eine wohlwollende und positive Einstellung den Kindern gegenüber, und trotz aller auch ihnen bewussten Unsicherheiten bilden sie einen Ruhepol und eine Lebensorientierung, eben das, was man früher ‚Vorbild’ nannte. Kinder sind heute nur mit wirklich guter Pädagogik einigermaßen zu der Ruhe zu bringen, in der man lernen kann. Sonst quirlt das so weiter wie es draußen auf der Straße quirlt, in den Medien und in den Kopfhörern. Von Hentigs kritische Einstellung gegenüber einem hemmungslosen und ungesteuertern Mediengebrauch wird hier deutlich.7 Was aber, um Himmelns willen, ist „gute Pädagogik“? Darauf geht er in seinem Interview nicht ein. Wir werden jedoch fündig, wenn wir den Sokratischen Eid für 6 vgl. Frederking / Heller / Scheunpflug 2005, S. 60. Hier wird die Vermittlung von Wissen und Können deutlich an die erste Stelle gesetzt, die Erziehung soll sich dann daraus ergeben. 7 Diese Auffassung wird aktuell durch Manfred Spitzer unterstützt, der aus neurologischer Sicht die negativen Folgen insbesondere langen unkritischen Mediengenusses betont; vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14.8.2005, S. 32: ‚Macht Fernsehen dumm?’, vgl. auch Spitzer 2005 3 Lehrer und Erzieher aus dem Buch ‚Die Schule neu denken’ lesen. Dort heißt es unter anderem: „Als Lehrer und Erzieher verpflichte ich mich, - die Eigenart eines jeden Kindes zu achten und gegen jedermann zu verteidigen; - für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen; - auf seine Regungen zu achten, ihm zuzuhören, es ernst zu nehmen; - zu allem, was ich seiner Person antue, seine Zustimmung zu suchen, wie ich es bei einem Erwachsenen täte; - das Gesetz seiner Entwicklung, soweit es erkennbar ist, zum Guten auszulegen und dem Kind zu ermöglichen, dieses Gesetz anzunehmen; - seine Anlagen herauszufordern und zu fördern; - es zu schützen, wo es schwach ist, ihm bei der Überwindung von Angst und Schuld, Bosheit und Lüge, Zweifel und Misstrauen, Wehleidigkeit und Selbstsucht beizustehen, wo es das braucht; - seinen Willen nicht zu brechen – auch nicht wenn er unsinnig erscheint; ihm vielmehr dabei zu helfen, seinen Willen in die Herrschaft seiner Vernunft zu nehmen; es also den mündigen Verstandesgebrauch und die Kunst der Verständigung wie des Verstehens zu lehren; - es bereit zu machen, Verantwortung in der Gemeinschaft und für diese zu übernehmen …8 Dieses Credo umfasst wesentliche Punkte, die für „gute Pädagogik“ im Sinne von Hentigs notwendig sind. Und er ist sich sicher, dass Unterricht besser wird, wenn sich die Lehrerinnen und Lehrer stets dieser Punkte bewusst sind, dazu stehen und selbstkritisch zu sich selbst sind, wenn sie sich daran nicht halten. Derjenige, der Kinder liebt, wird die nötige Geduld haben, der wird auch sich selbstkritisch betrachten. Nicht überragende Sachkompetenz, sondern in erster Linie Liebe zu den Kindern ist es, was die LehrerInnenpersönlichkeit auszeichnet. Reformpädagogische Vorstellungen, bei denen die Kinderpersönlichkeit vorrangig ist, haben hier Pate gestanden. Wenn wir als Erzieher nicht von den Kindern auszugehen versuchen, werden wir sie nicht verstehen und auch keinen entsprechenden Unterricht geben können. Ich könnte mir eine viel radikalere Schule ausdenken als die, die wir da in Bielefeld gehabt haben. Es ist ja gar nicht die Beste aller denkbaren Schulen; jedenfalls kann ich mir bessere ausdenken. Aber sie war ja gar nicht so gemeint. Sie sollte den anderen Schulen helfen, sich aus den verschiedenen Fesseln und Beschränkungen zu befreien. Schulen laufen nach Lehrplan und werden regiert vom Schulgesetz. Wie soll man da eigentlich was anderes ausprobieren? Man kann es gar nicht in Deutschland. Es ging nur in der Konstruktion, die wir in Bielefeld haben. Man erklärt eine Schule zu einem wissenschaftlichen Projekt. Die Wissenschaft steht unter dem Artikel 5 des Grundgesetzes, … wir unterstanden dem Wissenschaftsminister und nicht dem Kultusminister. Der Auftrag hieß: „Versucht mal, was herauskommt, wenn man die 8 von Hentig 2003, S. 258 4 Altersgruppen nicht systematisiert, versucht mal, was herauskommt, wenn man keine Noten gibt, wenn man die Fächer anders organisiert. Das kann man doch an einer anderen Schule nicht. Dieses war ein offizieller Auftrag an uns, und man hält das so lange durch, bis man das woanders übernehmen kann. … Die Kontrolle darüber hat das Land, hat die Öffentlichkeit nie aufgegeben; sie wurde nicht nur durch Schulbeamte und mit dem Schulgesetz und dem Lehrplan in der Hand gemacht, sondern (auch) durch Wissenschaftler, die das (Ergebnis) mit anderen Ländern und mit woanders üblichen Methoden vergleichen konnten. Es war (alles) sehr gebremst, denn wir mussten viele Bedingungen der Normalschule auch haben. Es ist der Versuch, aus den Bedingungen, die Schulen allgemein haben, die Freiheiten herauszuschlagen, die … möglich sind. Hier werden die formalen Schwierigkeiten deutlich, die bei der Gründung der Laborschule Pate gestanden haben. Insofern ist es bemerkenswert, daß erstens die Laborschule überhaupt zustande kam und daß zweitens sie bis heute bestehen konnte, ohne daß sie ihre Philosophie aufgegeben hat. Es stimmt allerdings nachdenklich, daß diese Schule im eigentlichen Sinne keine Nachahmer gefunden oder Ableger provoziert hat. Auch ist die Laborschule keineswegs in ihrer Existenz gesichert; immer wieder hört man von der Kürzung der Mittel und von grundsätzlichen Bedenkungen einzelner Bildungspolitiker. Ich hatte eine andere Absicht, (nämlich) … als Reformer unseres Schulsystems etwas zu tun, … nicht die meinem Herzen am nächsten liegende Schule zu entwickeln. Die wäre nämlich ganz klein gewesen. Ich hätte mir herausgenommen, die Kinder selbst auszuwählen. Ich hätte (examinierte) Lehre rausgeschmissen und nicht (ver)beamtete reingenommen. Das sind die Dinge, die weiter gegangen wären … so extrem anders – Summerhill in Deutschland. Neills „Summerhill“9 war als Outsidermodell der Pädagogik lange Zeit die wesentliche Orientierung der jungen Lehrerinnen und Lehrer, etwas, was es anzustreben galt und was in einzelnen Teilen auch tatsächlich Eingang in das Schulleben fand. Nicht viel ist davon geblieben. Inzwischen gilt Summerhill wieder als nicht realisierbares Extremmodell. Wenn wir ausprobieren sollen, wie Schule besser werden kann, dann muß auch das Gebäude flexibel sein. Ich habe mir einen ‚Schuppen’ ausbedungen, in dem ich die Innengliederung nach meinen, nach unseren Bedürfnissen selber machen kann. Und das kann ich nicht mit einem Haus, das die Wände schon hat. In der Regel werden weder Schülerinnen und Schüler noch Lehrerinnen und Lehrer bei der Neuplanung einer Schule mitreden und schon gar nicht mitbestimmen dürfen. Die Fachleute, also Architekten, Ingenieure, Juristen, Amtsleiter bestimmen, wie eine Schule auszusehen hat. Steht das Gebäude erst einmal fertig da, sind die Gestaltungsspielräume gering, und man muss sich mit dem abfinden, was die Administration für ein geeignetes Schulgebäude hält. Auch das ist bis heute so geblieben. Nur an einer Waldorf-Schule oder einer der wenigen anderen Privatschulen wird man eventuell ein anderes Procedere und auch eine andere Baukultur erleben. 9 Neill 1969 5 Man sucht sich seinen Ort. Das muß man im Leben auch tun. Für Hartmut von Hentig wird dieser Ort durch Wissenschaft und Kunst gleichermaßen bestimmt. ‚Die Wissenschaft ist eine Tätigkeit, in der jede Erkenntnis von Wirklichem methodisch für alle verfügbar und kritisierbar gemacht wird …’, schreibt er in ‚Die Schule im Regelkreis’. Und er ergänzt zur Kunst: ‚ Die Kunst ist eine Tätigkeit, in der unmethodisch das Mögliche erkennbar wird.’ Und schließlich folgt zusammenfassend das, was für ihn Grundlage jeglicher Bildung ist: ‚Beide, Kunst und Wissenschaft, dienen damit der Freiheit, der Veränderlichkeit, der Offenheit.’10 Derselbe Gedanke taucht in Ernst Peter Fischers Buch ‚Die andere Bildung’ auf. Der Autor zitiert in dem Kapitel ‚Kunst mit Wissenschaft verbinden’ Frank Zöllner: „Wir sind mit der Kunst ohne Wissenschaft ebenso wenig zufrieden, wie wir andererseits einer Wissenschaft ohne künstlerische Momente misstrauen. Wahrscheinlich wünschen wir uns in der Wissenschaft mehr künstlerische Elemente, um sie uns vertrauter zu machen, und mehr Wissenschaft in der Kunst, um sie uns verständlicher zu machen.“11 Bemerkenswert ist, dass hier einhellig von einer Gleichberechtigung des wissenschaftlichen und künstlerischen Denkens ausgegangen wird. Davon sind wir in der Schulwirklichkeit noch weit entfernt. Die Noten sind eine Lüge. In einer Welt, wo die Note die allgemeine Währung ist, ist es auch das, womit bezahlt wird …12 Alle, auch die Bildungsexperten wissen, dass Noten nicht gerecht sein können. Und trotzdem bleibt dieses System erhalten, weil ein Instrumentarium notwendig ist, mit dem die soziale Auslese durchgeführt werden kann. Der Blick hin zu Ländern, die Noten erst spät einführen so wie z.B. Dänemark und Finnland, sind eher verhalten und von Misstrauen geprägt. Wo sind die Modelle, die zumindest für die Schule ein Gegensystem formulieren, das neben den Noten auch andere Kriterien für Lernen und Erfahren zeigt? Sie sind rar gesät. Besonders heikel sind Noten in den ästhetisch orientierten Fächern. Schlechte Noten demotivieren hier besonders stark und stellen oft lebenslang wirkende Weichen für das kulturelle Interesse. Zu viele gute Noten bringen die Fächer in Misskredit, stellen ihre ‚Versetzungswirksamkeit’ in Frage. Wahrscheinlich sind in den Fächern Kunst, Musik und Sport Entwicklungsberichte mit positiven Ausblicken besser geeignet. Nur – können diese Fächer so einfach aus dem Regelsystem austreten, ohne gänzlich im Abseits der Hobbypflege zu landen? Wir haben zu viel Einengung, zu viel Lehrplan gehabt und zu wenig Leben. Schon 1969 beklagt von Hentig die ‚Gefahr einer totalen Pädagogisierung’13. 10 von Hentig 1969, S. 25 Aus dem Artikel „Wie herrlich leuchtet ihr die Natur“, FAZ Nr. 164 (18. Juli 2000), S. 49, zit. nach Fischer 2002, S. 415 12 So wie viele andere auch versucht Monika Rebitzli recht und schlecht, Vorschlänge für produktive Notengestaltung zu unterbreiten, wobei das grundlegende Problem, das in der ästhetischen Erziehung eine besonders kritische Rolle spielt, nicht gelöst wird. Rebitzki 1999 13 Ebenda, S. 25 f. 11 6 Er meint damit vor allem verbürokratisierte Formen von Pädagogik. Anschließend warnt er ausdrücklich vor der Verselbständigung dieser Pädagogik, und er ist sich sicher, daß ‚…Bildung nicht richtig definiert ist, wenn man sie auf Ideen beschränkt, und daß Wirklichkeit einigermaßen harmlos wäre, wenn sie in Zahl und Statistik aufginge.’14 Auch in ‚Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule’ aus dem Jahre 1972 äußert sich von Hentig kritisch über verschulte und verschulende Schulen. Schule soll kein fertiger Apparat sein, welcher der Zwangsbenutzung dient, sondern ein lebender Organismus, der nicht immer so bleibt wie am Anfang, sondern sich stetig entwickelt.15 Die Rollen sind dort nicht festgeschrieben, Lehrer lehren nicht nur und Schüler lernen nicht nur. ‚… die Eltern ‚schicken’ ihre Kinder nicht nur zur Schule, sie nehmen als Helfer, Anreger und Betreuer an dem teil, was die Kinder in der Schule oder von der Schule aus tun, und öffnen, so gut das geht, ihre Häuser, Gärten, Küchen, Läden, Höfe, Werkstätten dem, was dort für Kinder interessant und lehrreich ist.’16 Den Gefühlen muss Raum gegeben werden, denn sie sind für das, was gelernt wird, von entscheidender Bedeutung. Die Schule oder das ‚Haus des Lernens’, wie auch immer man es nennt, ist so anzulegen, dass sie Stimmungen, Einstellungen, Interessen und Motivationen positiv beeinflusst. Leider wird daran oft nur randständig gedacht.17 Die Lehrerpersönlichkeit ist wichtiger als Lehrpläne und Richtlinien. Ihr sollte in Studium und Ausbildung Raum gegeben werden. Durch die Einsparungen besonders in der zweiten Phase der Lehrerbildung – es gibt kaum noch qualifizierte Fort- und Weiterbildung, und die alten Studienseminare werden in einem Bundesland nach dem anderen aufgelöst – wird der Anpassungsdruck größer und die Chance zur individuellen Ausbildung der Lehrerpersönlichkeit kleiner. Altkanzler Helmut Schmidt sieht für die Politik das ähnlich. Die Persönlichkeiten sind ihm wichtiger als die Programme.18 Schule als Lebens- und Erfahrungsraum (ist der Standartsatz) für die Hentigsche Pädagogik. Wenn man den ein bisschen schmeckt, dann ist es doch deutlich, daß Kinder zu einem großen Teil ihres Tages … mit Schule beschäftigt (sind). Dann darf das doch nicht ohne Leben sein, das muss das Leben mit enthalten … und es muss die Erfahrungen enthalten, die für unser Leben und unsere Gesellschaft bedeutsam oder auch gefährlich sind. Natürlich ist ‚learning to the best’, wie die Amerikaner sagen, einfacher. Man weiß genau, wo man hinsoll. Das ist aber keine Bildung. Bildung ist ‚learning to the life’, und life is different. Über die PISA-Studie denkt Hartmut von Hentig sehr kritisch. Nach seiner Auffassung mißt sie „… weder, was unsere Schulen wollen und sollen, noch was sie tun. (Sie) misst einen winzigen Ausschnitt ihrer Absichten, Tätigkeiten und Wirkungen; (sie) blickt mit großer Intensität auf drei Einzelfunktionen, die erst im Zusammenspiel mit anderen Bildung ausmachen …“19 Natürlich weist von Hentig an 14 Ebenda, S. 26 von Hentig 1972, S. 110 f. 16 Ebenda, S. 110-111 17 ‚Die entscheidenden Operatoren bei der Bewertung von Erfahrung und Zuweisung von Bedeutungen sind Emotionen … .’ Welzer 2005, S. 11 und Kp. 5 18 Die ZEIT, 15.9.2005, S. 5. Helmut Schmidt: ‚Die Parteien sind nicht so wichtig wie das Land und sein Schicksal. Und die Programme der politischen Parteien sind nicht so wichtig wie ihre Führungspersonen’. 19 von Hentig 2002, S. V 24 / V 25 15 7 dieser Stelle auch darauf hin, daß die gesamte ästhetische Erziehung bei PISA überhaupt nicht berücksichtigt wurde – weil es dafür kein passendes Evaluationsinstrumentarium gab20. 1969 schreibt Hartmut von Hentig über das Leben in der modernen Gesellschaft, dass es anstrengend sei und daß wir vieles nur lustlos tun würden … und das obwohl gerade diese Gesellschaft viele Erleichterungen erschaffen hätte, die eigentlich uns glücklich stimmen sollten. Er spricht hier das an, was oft in wichtigen Entwicklungsphasen der menschlichen Gesellschaft übersehen wird, nämlich dass Errungenschaften und Vorteile auch Nachteile mit sich bringen. Hier nennt er insbesondere ’… die Vereinsamung des Menschen, die Langeweile, der Mangel an einsehbarem Sinn so vieler abstrakt gewordener und kollektivierter Tätigkeiten, die kafkahafte Unentrinnbarkeit der ‚Verrichtungen’ …“21 Das kommt durchaus aktuell daher, obwohl diese Sätze bereits vor 35 Jahren verfasst wurden. Zumindest scheint sich seitdem nichts wirklich entscheidend geändert zu haben. Nur durch Bildung schaffen wir es, mit diesen Problemen klar zu kommen, nicht durch mechanistisches Speichern von Wissen, Eindrillen von Verhaltensmustern und Orientierung an Statistiken. Wissenspyramiden sind es nicht, sondern Kompetenzen. Wie erwerben sich die Kinder an der Schule Kompetenzen? Nicht dadurch, indem sie ‚Grundkanons’ auswendig lernen, ohne über Hintergründe und Kontexte nachgedacht zu haben. Kompetenzerwerb setzt Arbeitsformen wie selbstorganisierendes Lernen, Freie Arbeit, Offenen Unterricht und Werkstattunterricht voraus. Auch die Rolle der Lehrenden ist hier eine andere als beim Frontalunterricht. Informationserarbeitung ist produktiver, mehr Kompetenzen vermittelnder als Informationsvorgabe. Wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht Vortragende von Wissen sind, müssen sie sich auf ihre Fähigkeiten als Supervisoren und Organisatoren besinnen. Und – in einer Schule nach den Vorstellungen Hartmut von Hentigs wären diese Fähigkeiten wichtiger als andere. Dann haben sie nur drei (Fächer) ausgewählt, nämlich diejenigen, die sich messen lassen, und die anderen haben sie beiseite gelassen. Der Rest, das sind so die Zierate, die sind so drangehängt. Damit verkümmert das, was in der Schule geschieht. Auch die ästhetische Erziehung, auch der Kunstunterricht ist so ein Zirat, ein Anhängsel. Sie sind nach der PISA-Studie noch randständiger geworden, als sie es vorher ohnehin aus Gründen der Bildungstradition ohnehin waren. Etwas, was man nicht in Zahlen ausdrücken kann, ist auch nicht erst zu nehmen. Erziehung und Bildung, wo der ‚Mehrwert’ nicht klar ausgedrückt werden kann, ist ineffektiv, und es lohnt sich nicht, darin zu investieren. Diese Auffassung, die sich immer mehr verbreitet, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Schule entseelt wird, ihren Charakter verliert und der Individualkompetenz der Schülerinnen und Schüler nichts mehr bietet. Leider ist in Veröffentlichungen zu den PISA-Studien in der Regel überhaupt nichts über ästhetische Erziehung zu finden. Was nicht überprüft wurde, Vgl. auch: Fuld 2004; ‚Wenn bei uns über Bildung gesprochen wird, heißt das vor allem nach PISA: Unsere Kinder müssen wieder mehr lernen. Aber das miserable Ergebnis bei diesem internationalen Test hat eben nicht gezeigt, dass sie zu wenig lernen, sondern das Falsche.’ 21 Ebenda, S. 9 20 8 wird hinausselektiert. Damit gerät auch nicht in den Blickwinkel, ob vielleicht die Vernachlässigung der ästhetischen Erziehung an unseren Schulen etwas mit dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schülern bei PISA zu tun haben könnte.22 Von Hentig beklagt ‚Die Angepasstheit der Schule an sich selbst’. Er fragt sich, wie man es verhindern kann, daß die Erziehung nicht der Anpassung an gesellschaftliche Normen verfällt und damit dogmatisch wird, sondern sich die Offenheit erhält, die den kommenden Generationen die Möglichkeiten zu einer produktiven Veränderung offenhält.23 Wir werden unsere dumme Fächereinteilung behalten und wir werden unsere dreigliedrige Schule behalten, wonach nämlich immer die oberen Schulformen die ‚nichttauglichen’ Schüler nach unten herausdrücken können, bis sie irgendwo weg sind. Das ergibt für uns das schlechte Ranking, dann sind wir nämlich Nr. 23, weil die nachher alle mitzählen, die wir da unten weggedrückt haben. Die zählen auch im gesellschaftlichen Leben. Die haben wir. Mit denen müssen wir doch leben können, aus deren Leben etwas machen (können). Auch in seinem Buch ‚Ach, die Werte!’24 stellt Hartmut von Hentig unsere traditionelle Fächerstruktur in Frage: ‚Wir haben unter Fachleuten aufgeteilt, was nicht aufteilbar ist – und behaupten doch, das Ganze zu erreichen.’25 Ein Unterricht, der durch Fachwissenschaft dominiert ist, erscheint ihm zutiefst fragwürdig. Schule in der jetzigen Form ist zu wenig Lebens-Erfahrungsraum; sie existiert nur als Ausnahme, z.B. in Landschulheimen. Wie glücklich können sich die Dänen schätzen mit ihrem weitverzweigten Netz an nichttradionellen Lehrorten wie den Umdongs- und Folkehojskolen, die neben den Schulen existieren. Kunstunterricht gedeiht auch besser in diesen ‚Sonderräumen’, also in ästhetischen Werkstätten, auf Klassenfahrten oder in Projektwochen, wo neben Fachinhalten Zusammenhänge vermittelt werden und wo die Schlagbäume von Fach zu Fach weit offen stehen. Schauen wir uns einmal an, was Hartmut von Hentig in seinem Buch „Ergötzen, Belehren, Befreien“ über das Wesen des Kunstunterrichts schreibt: „Der Kunstunterricht kann … erstens in Zusammenhang mit den anderen Fächern, besser noch innerhalb der anderen Fächer, vor sich gehen … Der Kunstunterricht kann zweitens den anderen Pädagogen als pädagogisches Modell dienen, weil er, anders, als sie es gewöhnlich in ihren Bereichen tun, von einer fast unendlichen Fülle der Ausdrucks-, Darstellungs- und Kommunikationsweisen ausgehen kann … Der Kunstunterricht kann sich aber auch drittens der transfer-Kritik aussetzen und dabei dies heimholen: Es ist besser, wenn der junge Mensch wenigstens an einer Stelle lernt, seine Individualität anzunehmen, auf die Möglichkeiten des Zufalls zu achten, auf Improvisation angewiesen zu sein …“26 Deutlich wird, dass Kunstunterricht hier nicht eine abgeschlossene Nische sein soll, sondern dass ästhetische Erziehung und damit Kunstunterricht eine 22 Vgl. z.B. Frederking / Heller / Scheunpflug 2005: von Konsequenzen für die ästhetische Erziehung an unseren Schulen ist in diesem Werk nicht einmal eine Fußnote vorhanden. 23 von Hentig 1969, S. 36 24 Von Hentig 2001, S. 62 ff. 25 Ebenda, S. 62 26 von Hentig 1985, S. 88 9 allgemeinpädagogische Angelegenheit ist, die alle Fächer und das Schulgeschehen insgesamt betrifft. Wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Maße heute an Schulen die Kunstlehrerinnen und Kunstlehrer ernst genommen werden, inwiefern sie in Prozesse anderer Fächer einbezogen werden, in wieweit ihr Wort bei wichtigen Entscheidungen an der Schule gehört wird, so kommt man leider zu dem Ergebnis, dass die Randständigkeit des Kunstunterrichts immer noch vorherrschend ist. Die Fächereinteilung, die Projekte und Epochen verhindert, ist dafür ein Grund. Und ein peinliches Kapitel ist das Wegdrücken der ‚Schwachen’, denen durch eine andere Schulgestaltung vielleicht Möglichkeiten gegeben würden, die ihnen jetzt nicht offen stehen. Hauptschulen haben heute nur selten handwerkliche Schwerpunkte aufzuweisen, wobei gerade die handwerkliche Tätigkeit oft das ausgraben kann, was im wissenschaftlich orientierten Unterricht verschüttet oder einfach durch die logische Reduktion im wahrsten Sinne des Wortes ‚übersehen’ wurde. Das politische Verständnis ist eben nicht einfügbar wie die Mathematik, das Englisch und das Leseverständnis. Und gerade das politische Verständnis von Schule, auch als Träger der ästhetischen Erziehung, ist wichtig. Es darf nicht aus formalen Gründen ausgegrenzt werden. „Die Schule ist Bestandteil eines gesellschaftlichen Regulierungsprozesses. Sie kann weder hoffen, die bessere Gesellschaft zu machen, noch darf sie sich einfach in die schlechtere Gesellschaft begeben …“ Um sich nicht in dem Prozess der Selbstanpassung zu verlieren, empfiehlt von Hentig „… die Wissenschaft als offenes System, die Kunst als Modell des Möglichen, die Individualität als Motor.“27 Das Vertrauen in die eigenständige Leistung, die persönliche Entwicklung und das Lernen aus Fehlern und Irrtümern, das Erwerben von Urteilsfähigkeit und die Eigenschaft, auch sich selbst gegenüber kritisch zu denken und daraus Schlüsse zu ziehen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel müssen Säulen des Erziehungsprozesses sein. In der ästhetischen Tätigkeit erprobt man diesen Katalog zwangsläufig, wenn man sie erst nimmt. Nicht von ungefähr nennt Wolfgang Klafki eine Schule mit vernachlässigter ästhetischer Bildung und Erziehung eine inhumane Schule28. Nicht versetzungswirksame Nebenfächer Kunst und Musik, die ohne Verbindung zum Kontext der Schule ein Schattendasein fristen, sind in der Tat überflüssig. Schule hat die Aufgabe, auf die Ernsthaftigkeit des kreativen Tuns immer wieder hinzuweisen und die zarten Pflanzen, die sich in diese Richtung entwickeln, kräftig zu begießen. Und die angehenden Kunstpädagogen sollten das Gewicht dieser Werte auch bereits im Studium erfahren. In der letzten Zeit wird dem Methodentraining nach Klippert große Aufmerksamkeit 29geschenkt. Für die Unterrichtsgestaltung bietet dieses Konzept viel Vorteile und holt das auf, was lange vernachlässigt wurde, nämlich die Schaffung eines Repertoires an Verhaltensmaßregeln und Arbeitsverfahren, die für das Lernen in Gruppen von großer Bedeutung sind. Es ist allerdings die Frage, ob dieses Methodentraining die Hentigschen ‚Werte’ ersetzt – sicher nicht. Sie werden aber im Zusammenhang mit dem Training kaum angesprochen. Und die Schülerinnen und Schüler haben keine Möglichkeit, selbst Arbeitsverfahren zu generieren, die ihnen gefallen und die sie persönlich weiterbringen. Bei genauer Prüfung der Materialien 27 von Hentig 1983, S. 180 Klafki 1992, S. 1 29 Klippert 1994 und 1997 28 10 stellt sich der Verdacht ein, dass schnell sinnentleertes Lernen sich einstellt, wenn man nicht nach Hintergründen zu fragen angeleitet wird. Dazu bemerkt Stövesand: ‚Die schiere Zurichtung auf das Erfordernis, … Namen zu finden und benennen zu können, befreit zwar von allem unnötigen Ballast des Lernens, zugleich aber auch von jedweder Bedeutung und Kenntnis.’30 Wie anders sind doch die Schwerpunkte beim von Hartmut von Hentig bevorzugten Theaterspiel31, wo zwar Arbeitsmethoden auch eingeübt sein müssen, das Wesen des Theaters und die differenzierten Aussagen und Interpretationen der entsprechenden Stücke eine viel größere Bedeutung haben. Und diese lassen sich nicht durch Methodentraining vermitteln. Eine kritische Hochschullehrergruppe hat sich gegen ‚die technokratische Umsteuerung des Bildungswesens‘ organisiert. Sie formuliert fünf Einsprüche, die in der Johann Wolfgang Goethe – Universität in Frankfurt am 10.10.05 diskutiert wurden. U.a. steht dort vermerkt: ‚Wir wenden uns gegen die Illusionen einer alle politischen Parteien übergreifenden Bildungspolitik, die das Bildungssystem nach betriebswirtschaftlichen Mustern in den Griff zu bekommen sucht ... Wir widersprechen der völlig irreführenden Behauptung, bei der gegenwärtigen Umorganisation der Bildungsinstitutionen gehe es um mehr Autonomie von Schulen und Hochschulen ... Wir halten es für einen folgenschweren Irrtum, wenn behauptet wird, Erziehungswissenschaft erfülle ihren öffentlichen Auftrag nur dann, wenn sie unmittelbr verfügbare und kurzfristig nutzbare Ergebnisse für Politik und Praxis zeige.‘32 Hier entdecken wir vieles wieder, was in diesem Beitrag angesprochen worden ist. Die von Hartmut von Hentig verfassten Maximen zur Erziehung, die auch in dem Radiointerview wiederzufinden sind, haben dazu erheblich beigetragen, dass der kritische Impetus zur Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens trotz vielerlei Verharrungen in den letzten Jahren erhalten geblieben ist und sich nicht technokratisch überformen läßt. Die kursiv geschriebenen Stellen des Textes sind dem genannten Radiointerview mit Hartmut von Hentig entnommen In Klammernvom Autor eingefügte Wörter dienen dem leichteren Verständnis des Kontextes. LITERATUR Das Bildungswesen ist kein Wirtschafts-Betrieb! Fünf Einsprüche gegen die technokratische Umsteuerung des Bildungswesens; Johann Wolfgang Goethe – Universität Frankfurt 2005; http://web.uni-frankfurt.de/fb/fb04/einsprueche/index.html 30 Stövesand 2000/2001, S. 86 f. vgl. von Hentig 1999, S. 38 32 Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! Johann Wolfgang Goethe - Universität 2005 31 11 Fischer, Ernst Peter: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte; 7. Auflage, München 2002 Fuld, Werner: Die Bildungslüge, Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen; Berlin 2004 Frederking, Volker / Heller, Hartmut / Scheunpflug, Annette (Hrsg.): Nach Pisa. Konsequenzen für Schule und Weiterbildung nach zwei Studien; Wiesbaden 2005. von Hentig, Hartmut: Die Schule im Regelkreis. Ein neues Modell für die Funktionen von Erziehung und Bildung; 2. Auflage, Stuttgart 1969 von Hentig, Hartmut: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule? Stuttgart und München 1972 von Hentig, Hartmut: Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person; München und Wien 1983 von Hentig, Hartmut: Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung; München und Wien 1985 von Hentig, Hartmut: Bildung; Weinheim / Basel 1999 von Hentig, Hartmut: Ach, die Werte! Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert; Weinheim und Basel 2001 von Hentig, Hartmut: Radiointerview anläßlich des 30 jährigen Bestehens der Laborschule in Bielefeld, WDR 5, 9.9.2004 Juul, Jesper / Jensen, Helle: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur; Düsseldorf und Zürich 2004 Klafki, Wolfgang: Ästhetische Bildung ist unverzichtbar; in: DLZ 7/92, S. 1 Klippert, H: Schule entwickeln – Unterricht neu gestalten. Plädoyer für ein konzerntriertes Innovationsmanagement; in: Pädagogik 2, 1997, S. 15 ff. Klippert, H: Methodentraining; Übungsbausteine für den Unterricht; Weinheim/Basel 1994 Neill, Alexander S.: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: Das Beispiel Summerhill; Hamburg 1969 Rebitzki, Monika: Leistungsbeurteilung ist sinnvoll; Weinheim 1999 Spitzer,Manfred: Macht Fernsehen dumm? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14.8. 2005, S. 44 Spitzer, Manfred: Vorsicht Bildschirm! Stuttgart 2005 12 Stövesand, Helmut: Schulentwicklung nach Klippert. Über den Anspruch, mittels Dressur Selbsttätigkeit zu fördern; in: Pädagogische Korrespondenz 26; 2000 / 2001 Thoreau, Henry David: Walden; Köln 1999; Original Boston 1854, nach der Übersetzung von Emma Emmerich 1897 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung; München 2005 Die ZEIT Nr. 38, 14.9.05, Interview mit Helmut Schmidt und Kurt Biedenkopf ‚Kommen Sie uns nicht mit 1945!’ (Interviewer: Giovanni di Lorenzo und Jan Ross), S. 4-5 Veröffentlicht in: Johannes Kirschenmann, Frank Schulz, Hubert Sowa: Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006, S. 147-160 13