Gonschorek, G./ Schneider, S. Aufgaben und Funktionen von Schule Aus: Gonschorek, G./ Schneider, S.: Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichtsplanung. Donauwörth 2000, S. 40-50. 1 Aufgaben der Schule In seinem Buch „Die Schule neu denken" schreibt Hartmut von Hentig: „Die Schule ist unwirksam - auch in der Erfüllung ihrer herkömmlichen Aufgaben" (Hentig 1993,196). In diesem kurzen Zitat zeigen sich bereits zwei Aspekte des Aufgabenbereichs von Schule: Zum einen gibt es '.herkömmliche' Aufgaben im Sinne von gesellschaftlich und staatlich vorgegebenen Zielen und Erwartungen, zum anderen werden der Schule immer wieder neue Aufgaben übertragen, die dazu führen können, dass Schule in innere Widersprüche gerät, sie durch unvereinbare Forderungen nicht leisten darf, was sie soll: Bildung verbreitern und knapp machen, Chancengleichheit gewähren und Ungleichheit produzieren, soziale Tugenden vermitteln und auf den Konkurrenzkampf vorbereiten. Die übertragenen, erteilten Aufgaben/Vorgaben finden sich z. B. in den Schulgesetzen, dort kann es dann (z. B. in Baden-Württemberg) heißen: § 1 Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule (1) Der Auftrag der Schule bestimmt sich aus der durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Landes Baden-Württemberg gesetzten Ordnung, insbesondere daraus, dass jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung hat und dass er zur Wahrnehmung von Verantwortung, Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft sowie in der ihn umgebenden Gemeinschaft vorbereitet werden muss. (2) Die Schule hat den in der Landesverfassung verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verwirklichen. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler in Verantwortung vor Gott, im Geiste christlicher Nächstenliebe, zur Menschlichkeit und Friedensliebe, in der Liebe zum Volk und Heimat, zur Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, zu Leistungswillen und Eigenverantwortung sowie zu sozialer Bewährung zu erziehen und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Begabung zu fördern, zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen, die im Einzelnen eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ausschließt, wobei jedoch die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie in Grundgesetz und Landesverfassung verankert, nicht in Frage gestellt werden darf, auf die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten vorzubereiten und die dazu notwendige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln, auf die Mannigfaltigkeit der Lebensaufgaben und auf die Anforderungen im Berufs- und Arbeitsleben mit ihren unterschiedlichen Aufgaben und Entwicklungen vorzubereiten. 1 (3) Bei der Erfüllung ihres Auftrags hat die Schule das verfassungmäßige Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder mitzubestimmen, zu achten und die Verantwortung der übrigen Träger der Erziehung und Bildung zu berücksichtigen. (4) Die zur Erfüllung der Aufgaben der Schule erforderlichen Vorschriften und Maßnahmen müssen diesen Grundsätzen entsprechen. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung der Bildungs- und Lehrpläne sowie für die Lehrerfortbildung. Schulgesetz des Landes Baden-Württemberg von 1993, 1. Teil, § 1 Das Vorwort des Bildungsplanes ergänzt: „Es ist das besondere Ziel des Bildungsplanes, den erzieherischen Auftrag der Schule zu betonen und die genannten übergreifenden Erziehungsziele bis in die einzelnen Lehrpläne transparent zu machen. Dies wird besonders deutlich in den Formulierungen der Ziele der einzelnen Lehrpläne. Die Zielformulierungen sind wo immer möglich so gefasst, dass die Verschränkung von Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule deutlich wird." Die Aufgaben, die die Schule zu erfüllen hat, sind also in den Lehr- und Bildungsplänen mehr oder weniger verbindlich formuliert als Bildungs-, Erziehungs- oder Lernziele. Dabei geht es bei weitem nicht nur um Kenntnisse (Satz des Pythagoras) oder Fertigkeiten und Fähigkeiten (mündliche/schriftliche Ausdrucksfähigkeit in Deutsch oder Fremdsprachen), sondern vor allem um gesellschaftliche Normen und Werte, um Rollen und Verhaltensweisen, um kulturelle Interpretationsmuster. Diese Sozialisationsprozesse dienen der Vorbereitung auf das berufliche und gesellschaftliche Leben, die Schule führt den jungen Mensch in die politischrechtliche Ordnung unseres Staates ein. So lernt der Schüler bei der Abstimmung über das Ausflugsziel am Wandertag schon früh und lebensnah, was .Demokratie' und .gleiches Recht für alle' bedeutet - andererseits wird ihm durch das Notensystem schnell klar: Wer etwas nicht kann, wird bestraft, ist benachteiligt. Hier wird die Ambivalenz schulischer Sozialisationsprozesse deutlich: Neben den offiziellen Lernzielen werden noch viele weitere prägende Erfahrungen vermittelt (vgl. „heimlicher Lehrplan" Kapitel 3.3). H. v. Hentigs Kritik an der Schule bezieht sich sowohl auf diese unbeabsichtigten Folgen als auch auf die Nichterfüllung der gestellen Aufgaben: Welcher Schulabgänger erinnert sich noch an alle mathematischen Formeln und Gesetze, die er mühselig pauken musste, kann sich selbst nach neun Jahren Englischunterricht wirklich fließend mit einem Engländer unterhalten? Und warum müssen immer mehr Schüler Nachhilfeunterricht nehmen, um in der Schule mithalten zu können? Seine Forderungen beschränken sich aber nicht nur darauf die Aufgabenerfüllung anzumahnen, sondern weisen auf eine Neuorientierung hin: Die sich immer schneller entwickelnde Welt verlangt der Schule die Übernahme neuer Aufgaben ab, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, die Schüler auf das sie erwartende Leben tatsächlich ausreichend vorzubereiten. Neue Technologien, Umweltschutz, Friedenserziehung etc. werden zwar in manchen Fächern thematisiert, bleiben aber für die Schüler weiterhin fremd und rufen keine wirkliche Verhaltensänderungen hervor. „Dies vermag die Schule nicht, die Erziehung nur ,durch Unterricht' treibt - durch etwas, was sich nun seinerseits nur durch mehr Erziehung zu behaupten vermag." Für ihn stellt sich der 'neuen' Schule folgende Aufgabe: „Wir müssen es mit den Lebensproblemen der Schüler aufnehmen, bevor wir ihre Lernprobleme lösen können, die sie auch nicht haben müssten" (Hentig 1993,190). Schule soll Lern-, aber auch Lebens- und Erfahrungsort sein. Auch „die Wirtschaft" klinkt sich wieder stärker in die bildungspolitische Diskussion ein, sie fordert von der Schule die Vermittlung sogenannter Schlüsselqualifikationen. Berufsfähigkeit hängt nicht nur von angehäuftem Wissen in verschiedenen Fächern und einem guten Notendurchschnitt ab, sondern bedarf zentraler, berufsübergreifender Grundfähigkeiten, 2 die das selbstständige Organisieren und Arbeiten im Team, in einem Betrieb ermöglichen. Viele Großfirmen haben die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen als eigenständigen Bereich in ihre Ausbildungslehrgänge eingebaut und Tests zur Überprüfung von Auszubildenden entwickelt. Folgende Eigenschaften zählen zu den geforderten Schlüsselqualifikationen: Handlungskompetenz: Dazu gehört die Fähigkeit zu Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme, die schnelles und unabhängiges Reagieren auch in unvorhergesehenen Situationen erlauben. Kognitive Kompetenz: Die Fähigkeit zu Hypothesenbildung, problemlösendem, transferleistendendem und deduktivem Denken und die Kenntnis von Lerntechniken werden vor allem für den mobilen Einsatz in verschiedenen Arbeitsbereichen und zur Weiterbildung benötigt außerdem in der Entwicklung neuer Konzepte und Strategien. Teamorientierung und Sozialkompetenz: Nicht mehr karriereorientiertes Einzelkämpfertum ist heute gefragt, sondern die Eingliederungsfähigkeit in Arbeitsgruppen und teams. Arbeitsteilige, kooperative Arbeitsformen, die Übernahme verschiedener Positionen innerhalb einer Gruppe, dazu Kommunikationfähigkeit und kritische Reflexion, damit zwischenmenschliche oder arbeitsbedingte Probleme (z.B. innerhalb einer Abteilung) schneller zur Sprache gebracht und geklärt werden können. Institutionenkompetenz: Auch der richtige Umgang mit Bestimmungen und Gesetzen (z.B. Betriebsverfassungsgesetz, Urlaubsverordnungen) sowie innerbetrieblicher Strukturen und Hierarchien ist eine wichtige Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf des Berufsalltags. Von der Teamfähigkeit... 2 Funktionen der Schule © Marie Marcks (aus: ZEIT Nr. 15 vom 2. 4. 1976, S. 35) „Schule ist ein gesellschaftliches Artefakt. Den Zweck setzen die Menschen. Es gibt keine Schule von Natur" (Hentig 1993, 183). Diese schon von Rousseau konstatierte Tatsache mit den Worten Fends: „Schulsysteme sind Orte der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation" (1980, 4). Dem Schulsystem, als von der Gesellschaft geschaffenen Institution, werden von dieser bestimmte Aufgaben als Ziele (mehr oder weniger gesellschaftlich legitimiert) vorgegeben. Indem die Schule diese Ziele zu erreichen sucht, diese Aufgaben zu erfüllen versucht, erfüllt sie gleichzeitig darüber hinausgehende Funktionen für die Gesellschaft, zum einen 3 durch ihre inneren Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufe, zum anderen durch ihre Bedeutung und Wertschätzung in/durch die Gesellschaft: Wie wird unterrichtet, bewertet, gelobt, getadelt? Wer hat was zu bestimmen, zu entscheiden? Welche Maßstäbe gelten wann und warum? Wozu berechtigen die Zeugnisse? Wer anerkennt die Abschlüsse, was kann man damit anfangen? Nicht nur durch ihre Inhalte, bereits allein durch ihre Strukturen zeigt die Schule Wirkung. „Die Schule - als Institution - erzieht!" In diesem Satz fasste bereits 1925 S. Bernfeld diese Sichtweise zusammen. Ein einfaches Beispiel soll den Unterschied zwischen Aufgaben/Zielen einerseits und tatsächlich darüber hinaus (gleichzeitig auch noch) erbrachten Funktionen andererseits verdeutlichen: Dadurch, dass die Schule alle Kinder vormittags zusammenfasst, mit dem Auftrag und dem Ziel, sie Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren, sind diese auch aufbewahrt und beaufsichtigt; die Schule erfüllt also gleichzeitig eine Funktion als „Kinderbewahranstalt". Dies wiederum ermöglicht es den von dieser Pflicht nun freigestellten Eltern/Müttern z.B. dann, einer anderen Tätigkeit nachgehen zu können (eine Halbtagsbeschäftigung anzunehmen, sich weiterzubilden U.A.). H. Fend (1980) hat die wichtigsten Funktionen des Schulsystems übersichtlich zusammengefasst: Schulen dienen zu allen Zeiten und unter allen politischen Systemen in erster Linie der Reproduktion der jeweiligen Gesellschaft über die Sozialisation der heranwachsenden Generation. Diese Hauptfunktion erfüllen sie, indem sie drei Teilfunktionen erfüllen. Qualifikationsfunktion umschreibt die Vermittlung aller Kenntnisse und Fertigkeiten, die zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind; angefangen von elementaren Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen bis hin zu speziellen z. B. musischen oder handwerklichen Interessen und Kenntnissen. Umfassende Kenntnisse und Fähigkeiten sind zunächst für den einzelnen Bürger der Schlüssel zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (man denke an die Schwierigkeiten, denen Analphabeten gegenüberstehen), liegt aber auch im übergreifenden Interesse der Wirtschaft, denn „die Infrastruktur der Bürger eines Landes bestimmt die wirtschaftliche Entwicklung" (ebd., 26). Es besteht also ein sehr direkter Zusammenhang zwischen dem Schulsystem und der Wirtschaftslage. Einerseits müssen sich schulischer Unterricht und Erziehung deshalb zwar auch nach den Anforderungen der Wirtschaft richten (grundlegende Kenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen und Schlüsselqualifikationen vermitteln), andererseits muss Schule aber in erster Linie die umfassende Bildung der ihr anvertrauten jungen Menschen zu mündigen Subjekten anstreben und nicht nur die Produktion von zukünftigen Arbeitnehmern. Selektionsfunktion: Über Prüfungen, Noten, Zeugnisse usw. wird dem Schüler seine Stellung innerhalb der Klasse zugewiesen und die Berechtigung erteilt, einen bestimmten Schulabschluss zu machen, der wiederum ganz bestimmte Studien- oder Berufschancen eröffnet (und andere verschließt). Dadurch nimmt die Schule der Gesellschaft die Aufgabe ab. jedem seinen Platz im sozialen System zuzuweisen und trägt so zur Reproduktion der Sozialstruktur bei. Da immer wieder nachgewiesen wird, dass hierbei schichtspezifische Ungleichheiten bestehen, erfüllt das traditionelle Schulsystem diese Funktion leider noch immer nicht so neutral und objektiv wie nötig bzw. gerne behauptet. Hinzu kommt z. Zt. das Problem, dass man mit manchem (Haupt)Schulabschluss „kaum noch etwas anfangen kann", d.h. keinen Ausbildungsplatz und dann später keinen Arbeitsplatz mehr findet. Wenn auch das Abitur nicht mehr für einen Studienplatz qualifiziert, die Hochschulen sich nach eigenen Kriterien ihre Studierenden aussuchen, wird spätestens offenbar werden, welche wichtige Funktion das Schulsystem für die „Abnehmer" bisher hatte und wie viel Arbeit es ihnen abgenommen hat. 4 In den meisten Fällen gilt nach wie vor: je höher die Schulform, desto geringer der Anteil der Kinder aus unteren Sozialschichten - und umgekehrt. P. Büchner und H.-H. Krüger konnten kürzlich erneut nachweisen, dass die Auslese im allgemeinbildenden Schulsystem keinesfalls nur eine Auslese aufgrund von schulischen Leistungen ist, sondern immer noch auch - gewollt, geduldet oder ungewollt - soziale Auslese. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn man die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler nach der sozialen Stellung der Herkunftsfamilie im Ost-West-Vergleich differenziert analysiert (vgl. oben Grafik l u. 2). Schülerinnen und Schüler aus Familien mit hohem sozialen Status besuchen in Ost- und Westdeutschland das Gymnasium. Mit sinkendem Sozialstatus sinkt auch der Anteil dieser Schüler auf dem Gymnasium. Von der niedrigen sozialen Statusgruppe besuchen in Westdeutschland nur noch 13,7 % ein Gymnasium, in Ostdeutschland sind es sogar nur 2,5%. Umgekehrt verhält es sich beim Hauptschulbesuch: eine Hauptschule besuchen 12,7% aller ostdeutschen und 40,7 % aller westdeutschen Kinder und Jugendlichen aus der niedrigen Sozialstatusgruppe, während nur 2,6 % der westdeutschen und 0 % der ostdeutschen Jugendlichen mit hohem Sozialstatus zur Hauptschule gehen. Entsprechend gilt für die Hochschulen und Universitäten: je höher die Sozialschicht, um so höher der Anteil der Studierenden. Die unteren Sozialschichten sind unter den Studierenden immer weniger vertreten. Die Tabelle unten gibt diese Entwicklung während der Ära Kohl wieder (nach: SPIEGEL, Nr. 35/24.8.98, S. 48). 5 Ihre Integrations- und Legitimationsfunktion erfüllt die Schule, indem sie die Schüler durch die Vermittlung der systemstabilisierenden Werte, Normen und Interpretationsmuster in das bestehende Gesellschaftssystem eingliedert, wodurch dieses ganz elementar gesichert wird und darüber hinaus das Bewusstsein und die Überzeugung in die Rechtmäßigkeit dieses Systems, seine Legitimation, vermittelt wird. Indem der Staat Schulen baut, Lehrer ausbildet, das Schulsystem organisiert und in den Lehrplänen verbindliche inhaltliche Anordnungen für Lehrer und Schüler vorgibt, greift er in jeden Bereich schulischer Erziehung ein. „Legitimation ist ein globaler Vertrauensvorschuss, den die Empfänger von Anordnungen den Anordnenden entgegenbringen; Legitimation erhöht damit die Bereitschaft auf bereitwillige Ausführung der Herrschaftsordnung" (Kaiser 1991,198). Die Reproduktionsfunktionen des Schulsystems (nach Fend 1980, 17) 6 Neben diesen Hauptfunktionen wird immer wieder auch auf die kustodiale Funktion der Schule hingewiesen, die Schule als „Kinderaufbewahrungsanstalt", mit Lehrern - zukünftig vermutlich verstärkt auch Sozialpädagogen -als Aufpassern und Animateuren. Haller/Flechsig (1975) haben die Hervorhebung gerade dieser Funktion unter Hinweis auf ihre besonders starke juristische Absicherung begründet. Schüler dürfen nicht einfach nach Hause geschickt, aus dem Klassenzimmer verwiesen werden, ausfallende Unterrichtsstunden werden durch Vertretungsstunden ersetzt, deren einziger Zweck die Beaufsichtigung der Schüler ist. Die Eltern wollen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder während der Vormittagsstunden wohl behütet sind - und sie selbst sich anderen Tätigkeiten/Aufgaben widmen können (Geldverdienen, Freizeit, Weiterbildung o. Ä.). „Lehrer erhalten von der Gesellschaft offenbar einen erheblichen Teil ihres Gehalts schlicht dafür, dass sie Kinder und Jugendliche während bestimmter Zeiten des Tages beaufsichtigen, anders gesagt: Sie werden nur zum Teil für die Vermittlung von Qualifikationen und Haltungen bezahlt. Lehrer können disziplinarisch dafür belangt werden, wenn sie ihre kustodialen Funktionen versäumen, im Falle mangelhafter Erfüllung von Lehrfunktionen bestehen praktisch kaum solche Möglichkeiten. Könnte dies nicht ein Hinweis sein, die kustodiale Funktion des Lehrers deutlicher zu sehen, als dies bisher üblich ist, auch wenn die Aufklärung dieses Sachverhalts nicht überall Freude auszulösen vermag?" (ebd.,260). Auf diesem Hintergrund sollten auch die vielfältig erhobenen .Forderungen nach mehr Ganztagsschulen diskutiert werden. . Die folgenden Thesen fassen diese Aufgaben und Funktionen des Schulsystems nochmals mit anderen Worten zusammen. Schulen sind Institutionen methodischen, systematischen und zielgerichteten Lernens unter Anleitung professionellen Lehrpersonals (Unterricht). Die Ziele sind in Lehr- und Bildungsplänen mehr oder weniger verbindlich formuliert als Bildungs-, Erziehungs- oder Lernziele. Dabei geht es nicht nur um den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern auch um die Übernahme, von Normen und Werten, Rollen, Verhaltensweisen und kulturellen Interpretationsmustern mit dem Ziel der Mündigkeit (Erziehung und Sozialisation). Schulen erhalten und stabilisieren die Gesellschaft, indem sie die von dieser vorgegebenen Normen, Werte, Interpretationsmuster und Verhaltensweisen vermitteln und dadurch die Jugendlichen durch Anpassung in diese bestehende Gesellschaft integrieren. Gleichzeitig bilden Schulen aber auch ein Regulativ der Gesellschaft; sie bieten einen Raum zur Erprobung von Mündigkeit und Emanzipation und ermöglichen und beeinflussen so auch die (maßvolle) Weiterentwicklung der Gesellschaft. Schulen sind ein Instrument von Herrschaft und Politik. In demokratischen pluralistischen Gesellschaften wie der unseren stehen sie unter den Ansprüchen gesellschaftlicher Gruppen (Parteien, Verbände, Kirchen, Arbeitgeber, „Abnehmer" i. w. S.), die die Schulen ihren politischen Zielen dienstbar machen wollen. Hier haben die Schulen gleichzeitig die Aufgabe, Anwalt der Heranwachsenden zu sein gegenüber unangemessenen, überzogenen Ansprüchen der Erwachsenenwelt und sind insofern auch Schonraum für kindliches und jugendliches Eigenleben hier und jetzt. Schulen reproduzieren von Generation zu Generation noch zu stark die bestehenden sozialen Positionsverteilungen und die personalen Besetzungen der jeweiligen Positionen; sie sollten in unserer Leistungsgesellschaft viel stärker Verteilerstelle für soziale Chancen und Positionen sein. 7