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10. AN EINEN GEISTLICHEN ÜBER LANDWIRTSCHAFTLICHE
ANGELEGENHEITEN
P.Vindob. G 26699
Herkunft unbekannt
6,7  24,9 cm
wohl frühes 6. Jh. n. Chr.
Tafel 9
Das teils hell-, teils mittelbraune Papyrusblatt ist oben, links und möglicherweise unten vollständig
erhalten. Der obere Freirand beträgt 0,7 cm, der linke 1 cm (auf Höhe von Z. 2, wo das Kreuz nach
links ausgerückt ist, beträgt der freigelassene Raum nur 0,5 cm). Rechts ist der Papyrus abgebrochen.
Der Umfang des Textverlustes dürfte auf dieser Seite zwischen 5 und 7 cm (maximal 10 cm)
betragen. Die Konstruktion der Sätze und die Zeilenübergänge weisen ebenfalls darauf hin, daß
rechts einige Wörter fehlen. Ob das Blatt auch unten Texteinbußen aufweist, läßt sich nicht mit
Sicherheit entscheiden. Für diese Annahme spricht der Umstand, daß die Buchstaben der Z. 6
teilweise unten abgeschnitten zu sein scheinen. Für die Vollständigkeit des Blattes sprechen hingegen
der regelmäßige Verlauf der unteren Blattkante und vor allem die Tintenspuren am Ende der Z. 6, die
ein Kreuz darzustellen scheinen, das wohl die Funktion hatte, den Brief abzuschließen. Große Teile
der unteren Partie des Blattes (4,5 cm vom unteren Rand) sind weggebrochen. Von der oberen Lage
der Fasern ist nur ein Streifen in einer Breite von ca. 1,5–2 cm erhalten geblieben; der Rest ist
weggebrochen. Dadurch sind bedeutende Textschäden entstanden, was die Wiederherstellung eines
sinnvollen Kontextes in der unteren Hälfte des Briefes unmöglich macht. Die Schrift läuft quer zu
den Fasern, was die Annahme nahelegt, daß das Blatt transversa charta beschriftet wurde. Das stark
beschädigte Verso wies ursprünglich die Adresse des Briefes auf, die aber inzwischen
verlorengegangen ist. Die Glättung des Blattes hat die Faltungen verschwinden lassen; die Form der
weggebrochenen Papyrusstreifen weist aber deutlich darauf hin, daß der Papyrus mehrfach vertikal
und mindestens einmal horizontal gefaltet war.
 1
2
3
4
5
6
†
π(αρά)
Καταξιώσῃ ἡ ὑμετ̣
έρ̣
α̣ θεοφειλία σπέρματα διαφό̣
ρων
λαχάνων ἀποστῖλ̣
[αι - - -]
μικρὸ̣
ν πωμάριο̣
ν̣ [ 4–5 ]ο̣ φι̣
λοκαλέσαι, τοῦ δεσπότου
θεοῦ κελεύοντος καὶ τῶν ἁγίω̣
[ν - - -.]
αὐτ̣
ὸν οὖν τὸν̣ [πωμαρί]την ἀ̣
π̣
έστιλα πρὸς τὴν ὑμῶν
ἁ̣
γ̣
ιωσύνην ἵ̣
να δώσ[- - -]
ἀπ[ο]θ̣
[ή]κας τὸ ἱ[κανὸν (?) ̣ ̣
]
̣
υν̣ π̣
[ρὸς (?)] τ̣
ὴν
χρε̣
[ί]αν αὐτοῦ, καὶ ἐ̣
ὰν συνειδ[ῆ]σαι τὴν ̣[- -]
γρά̣
ψαταί μοι [ 5–6 δ]εσπ̣
ο̣
τ̣
[ 1–2 ] ± 8 [ 1–2
]α̣
ι̣
διαδε ̣
τασν ̣ ̣
τη ̣ ̣ ̣ ̣ ̣ ̣
̣ ̣ ̣ ̣
†.
2. l. θεοφιλία l. ἀποστεῖλαι 4. l. ἀπέστειλα 5. ϊ[ pap. 6. l. γράψατε
10. An einen Geistlichen über landwirtschaftliche Angelegenheiten
59
„Von. † Eure Gottgeliebtheit möge geruhen, Samen von verschiedenen Gemüsesorten
zu schicken … kleinen Obstgarten … in guten Zustand zu bringen, wenn Gott, unser Herr,
und die Heiligen … es befehlen. Diesen Gärtner habe ich also an Eure Heiligkeit geschickt,
damit … gibt / gebt … Speicher das Notwendige (?) … für seinen Bedarf, und wenn ich in
Erfahrung bringe … schreibt mir … Herr … †.“
Über die Korrespondenten erfahren wir sehr wenig. Ihre Namen bleiben ungenannt.
Aus den zwei Anreden in Z. 2 und 4: ἡ ὑμετ̣
έρ̣
α̣θεοφειλία und πρὸς τὴν ὑμῶν
ἁ̣
γ̣
ιωσύνην ergibt sich mit Sicherheit, daß der Adressat ein Geistlicher (etwa ein Priester,
Bischof, Mönch oder Abt) ist. Die Formulierung des Briefes zeigt, daß der Absender
großen Respekt vor dem Adressaten hat und daß er die höfliche Ausdrucksweise und den
frommen Stil der frühbyzantinischen Briefschreiber beherrscht. Es ist nicht auszuschließen,
daß er in einem hierarchischen Verhältnis zum Adressaten steht. Er könnte z. B. ein Mönch
gewesen sein, der sich an seinen Abt wendet, oder der Ökonom einer Kirche, der an einen
Priester oder Bischof schreibt.
Gegenstand des Briefes sind landwirtschaftliche Angelegenheiten. Der Adressat wird
vom Schreiber in Z. 2 darum gebeten, Samen von verschiedenen Gemüsesorten zu
übersenden. Die Zusendung könnte mit der Pflege eines kleinen Obstgartens (Z. 3) zusammenhängen. Der Schreiber teilt dem Adressaten in Z. 4 mit, daß er einen Gärtner (πωμαρίτης) zu ihm geschickt hat. Der Pomarites, möglicherweise ein Bediensteter des Schreibers
oder der Institution, die dieser vertritt, sollte vielleicht die Gemüsesamen abholen und sie
später bei den Gartenarbeiten im Rahmen der in Z. 3 erwähnten φιλοκαλία des
Obstgartens verwenden. Der Gärtner scheint auch der Überbringer des vorliegenden Briefes
gewesen zu sein. Für diese Annahme spricht das Demonstrativpronomen αὐτ̣
όν in Z. 4,
das andernfalls schwierig zu erklären wäre, vor allem angesichts der Tatsache, daß der
Gärtner hier erstmals genannt zu werden scheint (hierzu vgl. auch den Komm. zu Z. 4).
Wegen seines schlechten Erhaltungszustandes lassen sich aus dem abschließenden Teil des
Briefes (Z. 5–6) nur wenige Informationen gewinnen. Dabei handelt es sich eher um
Geschäftliches als um Höflichkeitsfloskeln. Die Erwähnung von Speichern (ἀποθῆκαι) in
Z. 5 ist vielleicht mit der Auslieferung oder Einlagerung der Gemüsesamen in
Zusammenhang zu bringen.
Die elegante und gleichmäßige Schrift verrät eine sehr geübte Hand, die sogar
Erfahrung mit dem Kopieren von literarischen Texten besessen haben könnte; vgl. z. B. den
aus der Mitte des 5. Jh. n. Chr. stammenden Andromache-Papyrus P.Berol. 13418 (LDAB
0983, Photo: G. Cavallo – H. Maehler, Greek Bookhands of the Early Byzantine Period
A.D. 300 – 800, BICS Suppl. 47, London 1987, 52–53, Nr. 22a), der paläographische
Ähnlichkeiten mit dem vorliegenden Text aufweist. Nach Schriftbild und sprachlichen
Kriterien (zu den letzteren vgl. unten den Komm. zu Z. 2 und 4) ist der Papyrus am ehesten
ins 6. Jh. zu setzen, wobei eine Datierung ins 5. Jh. nicht völlig ausgeschlossen werden
kann. Die Schreibweise von einzelnen Buchstaben wie etwa des α und des ν scheint mir
eher für eine Entstehung im frühen 6. Jh. zu sprechen.
1. Zu π(αρά) s. oben 8, Komm. zu Z. 1.
2. καταξιώσῃ ἡ ὑμετ̣
έρ̣
α̣ θεοφειλία … ἀποστῖλ̣
[αι: Ab dem 5. Jh., als der bis zu
diesem Zeitpunkt in den Privatbriefen vorhandene Anfangsgruß verschwindet, beginnen die
Schreiber, diesen in seiner Funktion durch eine Phrase zu ersetzen, die positive Gefühle gegenüber
dem Adressaten zum Ausdruck bringt, wie etwa Zuneigung, Liebe, Anerkennung und Respekt; s.
O’Callaghan, Cartas cristianas 219. Beispiele für diese Gewohnheit findet man in mehreren Briefen
10. An einen Geistlichen über landwirtschaftliche Angelegenheiten
60
des vorliegenden Bandes; abgesehen von der hier besprochenen Stelle auch in 8, 14, 15, 16, 27, 28,
30, 31 und 34.
Zu καταξιόω und zur vorliegenden, in den griechischen Papyrusbriefen häufigen
Konstruktion καταξιώσῃ + ἡ σὴ // ὑμετέρα + abstraktes Ehrenprädikat + Infinitiv, mit der
eine Bitte, ein Wunsch oder auch ein Befehl auf höfliche Art und Weise ausgedrückt wird, s. Steen,
Clichés épistolaires 146–148. Um drei unlängst edierte Beispiele aus der Abfassungszeit unseres
Textes zu nennen, vgl. BGU XVII 2728, 2 (5./6. Jh.): καταξιώσῃ σου ἡ ἐλλογιμότης
ὀνάριν ἀποστεῖλαί μοι κτλ.; P.Naqlun 12 (= SB XX 14513), 1 (Mitte 6. Jh.):
καταξιώσῃ ἡ ὑμετέρα ποθειν(ότης) ἀποδιδώναι τὰς δύο ἀποχὰς κτλ. und
SB XXIV 16188, 2–3 (zweite Hälfte 6. Jh.): κ̣
α̣
τ̣
αξιώσῃ σου ἡ θαυμασιό̣
[της
ἀπο]δ̣
οῦναι τὰ γράμματα τῷ δε̣
σ̣
π̣
ό̣
[τῃ] | ἡ̣
[μῶν κτλ.]. Zum imperativischen
Konjunktiv („jussive subjunctive“) καταξιώσῃ in den Papyri s. Mandilaras, Verb 251–252 (§
558).
θεοφειλία: Der abstrakte Begriff θεοφιλία wird in den Papyrusbriefen aus der
Abfassungszeit unseres Textes gerne als Ehrentitel von Geistlichen gebraucht; s. O’Callaghan,
Tratamientos abstractos 31. Er ist in den Papyri nicht besonders häufig, aber auch nicht selten. Die
PHI CD ROM #7 verzeichnet 23 Papyrusbelege für das Wort, alle datiert ins 6. und 7. Jh. (dazu s.
auch SB XX 14218, 1 aus dem 6. Jh.). Im Folgenden zitiere ich solche Belege, deren Formulierung
mit dem vorliegenden Passus verwandt ist: P.Fouad 86, Rekto 17 (6. Jh.): παρακληθῇ οὖν ἡ
ὑμ[ετέ]ρα πατρικὴ θεοφιλία κατὰ νοῦν ἔχειν κτλ.; P.Fouad 87, Rekto 34 (6. Jh.):
μὴ ὀλιγορήσῃ δὲ ἡ ὑμετέρα θεοφιλία κατὰ τοῦ γραμματηφόρο(υ); P.Grenf. I
66, 1–2 mit BL I 185 (6./7. Jh. [viell. 1. Hälfte des 6. Jh.; s. BL XI 86]): παρακληθήτω ἡ
ὑμετέρα πατρικὴ θεοφιλία τὸν χάρτην τοῦ θεοφιλεστάτου ἀββᾶ |
Κωνσταντίνου πέμψαι μοι κτλ. und W.Chr. 134, 2–3 (6./7. Jh.): … καταξήωσον (l. ίωσον) | οὖν ἡ ὑμετέρα θεωφελία (l. θεοφιλία) κτλ. Das Prädikat θεοφιλία ist
in der Spätantike und in der byzantinischen Zeit auch literarisch gut bezeugt; s. etwa Grünbart,
Formen der Anrede 166 und 273. Dinneen, Titles 26 bemerkt, daß der Begriff in der christlichliterarischen Epistolographie der Spätantike zur Bezeichnung von Geistlichen verwendet wurde. Dies
scheint auch in den spätantiken Gesetzestexten der Fall zu sein, wo der Ausdruck ἡ σὴ θεοφιλία
sich auf kirchliche Würdenträger wie etwa Bischöfe oder sogar auf den ökumenischen Patriarchen
von Konstantinopel bezieht; s. Avotins, Novels 103. Ähnlich ist der Sprachgebrauch auch in den
koptischen Papyrusurkunden, wo θεοφιλία zumeist als höfliche Anrede in monastischem Kontext
vorkommt; s. Förster, Wörterbuch s. v. (334). Von den Nicht-Geistlichen scheint nur der Kaiser mit
diesem Ehrenprädikat angeredet zu werden; s. Lampe, PGL s. v. (642).
σπέρματα διαφό̣
ρων λαχάνων ἀποστῖλ̣
[αι: Die engste Parallele für die vorliegende
Bitte liefert P.Grenf. II 92, 7–9 (6./7. Jh.): παρακαλῶ δὲ ὑμᾶς | ὀλίγα σπέρματα
λαχάνων διαφόρων ἀποστεῖλαί μοι διά τινος πεμπομένου | ἐνταῦθα κτλ.
Weitere verwandte Stellen sind: P.Hib. II 206, 10–11 (263/262 v. Chr.): ἀπόστειλον δέ μοι |
καὶ τὸ σπέρμα τοῦ χόρτου κτλ.; P.Hib. I 48, 7–10 (255/254 v. Chr.): πάλιν οὖν
γρά|ψας αὐτῶν τῶν σπερ|μάτων (l. τὰ -ματα) ἀπόστειλόν | μοι ἤδη κτλ.;
P.Petr. III 56 (c), 4 mit BL III 146 (3. Jh. v. Chr.): … τὰ σπέρματα ἀποστελε[ῖν αὐτὸν
κτλ.]; P.Amh. II 143, 20–21 (4. Jh.): ἀπέστιλά [σοι] | ὀλίγ̣
α λάχανα διὰ Σαᾶ. Für
den Begriff λαχανόσπερμον s. J. E. Lendon, The Face on the Coins and Inflation in Roman
Egypt, Klio 72 (1990) 106–134 (bes. 128–129); P.Paramone 16, Komm. zu Z. 6 sowie besonders die
Diskussion von R. S. Bagnall, Vegetable Seed Oil is Sesame Oil, CdÉ 75 (2000) 133–135 und F.
Morelli, Il λαχανόσπερμον, il ῥαφανέλαιον, e il sesamo: olii e oleaginose fantasma, ZPE 149
(2004) 138–142. Morelli zeigt, daß in der römischen und byzantinischen Zeit unter
λαχανόσπερμον das Ausgangsprodukt für die Gewinnung von ῥαφανέλαιον verstanden wurde
(zu diesem s. zuletzt P.Paramone 18, Komm. zu Z. 24). Zum λάχανον s. H.-J. Drexhage, Λάχανον
und Λαχανοπῶλαι im römischen Ägypten (1.–3. Jh. n.Chr.), MBAH 9.2 (1990) 88–117 sowie den
Kommentar von B. Palme zu P.Harrauer 60, 8.
ἀποστῖλ̣
[αι: Wie der vorliegenden Stelle und Z. 4 zu entnehmen ist, benutzt der Schreiber
itazistische Formen von ἀποστέλλω; zu diesem phonetischen Phänomen (ι anstelle des korrekten
ει) s. Gignac, Grammar I 189–190.
10. An einen Geistlichen über landwirtschaftliche Angelegenheiten
61
Am Ende der Zeile könnte man die Ergänzung ἀποστῖλ̣
[αι εἰς τό] in Erwägung ziehen;
vgl.
z. B. P.Oxy. XVI 1834, 4–5 (spätes 5. / frühes 6. Jh.): τ̣
ο̣
ὺ̣
ς̣δέ γ̣
ε οἰκοδόμους | πάραυτα
ἀπόστιλον μετὰ τῶν ἀπὸ Γεσσιάδος εἰς τὸ κτῆμα κτλ. Die Annahme, daß in der
ersten Hälfte der Z. 3 wieder die Konstruktion εἰς + Akk. vorkommen könnte (… [εἰς τ]ὸ̣
φι̣
λοκαλέσαι; s. unten den Komm. zur Stelle), bereitet keine sprachlich-stilistischen
Schwierigkeiten; vgl. etwa P.Rain.Cent. 133, 2–3 (5./6. Jh.): ἓξ μεγάλους κλάδους
συκαμηνέας … ἀπόστειλον εἰς τὸ ἐποίκιον Αἰλιανοῦ | εἰς οἰκοδομὴν
τοῦ μοναστηρίου. Die Hypothese, daß zwischen ἀποστῖλ̣
[αι und εἰς τό auch die
Person genannt wurde, welche den Transport der Gemüsesamen übernehmen sollte (etwa im
Ausdruck διά + Gen.; z. B. διὰ τοῦ πωμαρίτου o. ä.) ist zwar nicht auszuschließen, würde
aber voraussetzen, daß unser Papyrusblatt überdurchschnittlich breit war.
3. πωμάριο̣
ν:̣ Zu den πωμάρια und im allgemeinen zu den Obstgärten in den Papyri s.
Schnebel, Landwirtschaft 311–312. Zahlreiche Belege für das aus dem Lateinischen („pomarium“)
stammende Lehnwort bietet Daris, Lessico latino s. v. (97). Zum Begriff πωμάριον in arabischer
Zeit s. CPR XXII 28, Komm. zu Z. 14. Zur hiervon abgeleiteten Bildung πωμαρίτης s. unten den
Komm. zu Z. 4.
[ 4–5 ]ο̣ φι̣
λοκαλέσαι: Die genaue Formulierung der Stelle läßt sich nicht mehr
rekonstruieren. Mehrere Möglichkeiten sind denkbar, z. B. [εἰς τ]ὸ̣ φι̣
λοκαλέσαι oder
[πρὸς τ]ὸ̣ φι̣
λοκαλέσαι. Für die Rekonstruktion [καὶ τοῦτ]ο̣ φι̣
λοκαλέσαι wäre der
Raum dagegen zu knapp. Die Verwendung des Verbs φιλοκαλέω im landwirtschaftlichen Kontext
ist nicht überraschend; vgl. etwa SB XXII 15749, 3 sowie die Erwähnung der ἀμπελουργικὴ
φιλοκαλία in SB XX 14416, 8 (beide Texte stammen ebenfalls aus dem 6. Jh.). Die vorliegende
Form des Infinitivs Aorist φιλοκαλέσαι scheint in den spätantiken Papyrusurkunden die an sich
zu erwartende Form φιλοκαλῆσαι verdrängt zu haben. Da es sich somit bei φιλοκαλέσαι um
keinen Irrtum des Schreibers, sondern um einen allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit handelt,
habe ich auf die Angabe der im Standard-Griechisch üblichen Form φιλοκαλῆσαι im app. crit.
verzichtet.
τοῦ δεσπότου θεοῦ κελεύοντος καὶ τῶν ἁγίω̣
[ν: Zur Verwendung des auch in
weiteren Texten dieses Bandes (s. Index) vorkommenden Begriffs θεός in den Papyrusbriefen der
Spätantike s. Naldini, Cristianesimo 7–15. Zu den Briefen des 6. Jh. s. besonders J. O’Callaghan, El
nombre de Dios en las cartas cristianas griegas del siglo VI, Stud.Pap. 2 (1963) 97–124. In diesem
Beitrag diskutiert O’Callaghan ausführlich sowohl θεός als auch verwandte Termini wie κύριος,
δεσπότης usw. Die Wendung θεοῦ κελεύοντος ist sehr verbreitet in den griechischen Papyri
der byzantinischen und früharabischen Zeit (besonders des 7. und 8. Jh.)1. Ich kenne jedoch keinen
Beleg für den Ausdruck τοῦ δεσπότου θεοῦ κελεύοντος oder für die vorliegende
Kombination (τοῦ δεσπότου) θεοῦ κελεύοντος καὶ τῶν ἁγίων. Es ist mit der
Möglichkeit zu rechnen, daß ἁγίω̣
[ν das Subjekt eines darauffolgenden Partizips im Genitiv Plural
ist und die beiden Wörter zu einem genitivus absolutus gehören, etwa: τοῦ δεσπότου θεοῦ
κελεύοντος καὶ τῶν ἁγίω̣
[ν συμμαχούντων bzw. συνεργούντων. P.Oxy. LVI 3872,
2–3 (6./7. Jh.): το̣
ῦ̣ θεοῦ συμμ̣
[αχοῦν]τ̣
ος καὶ τῶ̣
ν̣ ἁ̣
γίω̣
ν κατελάβαμεν τὴν
Ἀλεξανδρέω(ν) | πο̣
λὺ πάνυ̣ χε̣
[ι]μ̣
α̣
σ̣
θέντες κτλ. zeigt, daß man das vorliegende
τῶν ἁγίω̣
[ν auch als substantiviertes Adjektiv („die Heiligen“) auffassen kann. Alternativ könnte
man ἁγίω̣
[ν als Adjektiv verstehen und annehmen, daß nach diesem Namen von Heiligen (z. B.
Κοσμᾶ καὶ Δαμιανοῦ) oder ein Wort wie Ἀποστόλων, Μαρτύρων o. ä. standen. Eine
weitere Alternative wäre anzunehmen, daß auf ἁγίω̣
[ν ein Wort wie πάντων folgte. Die
Annahme, daß ἁγίω̣
[ν von keinem Partizip begleitet wurde — dies ist im eben zitierten P.Oxy.
LVI 3872 der Fall —, ist eher unwahrscheinlich, da das Verb κελεύω im Gegensatz zum
συμμαχέω des oxyrhynchitischen Textes nur für Gott selbst und nicht für Heilige benutzt werden
kann. Die Gleichsetzung des Befehls Gottes mit dem Befehl eines oder mehrerer Heiligen würde für
1 Zu den verwandten Wendungen θεοῦ θέλοντος, θεοῦ βοηθοῦντος, θεοῦ
μέλλοντος + Inf., θεοῦ παρέχοντος, θεοῦ συνεργοῦντος usw. s. Tibiletti, Lettere
private 108–110.
10. An einen Geistlichen über landwirtschaftliche Angelegenheiten
62
das religiöse Gefühl der Zeit an Blasphemie grenzen und hätte in einem Brief nicht vorkommen
dürfen.
4. αὐτ̣
ὸν οὖν: Die an zweiter Stelle des Satzes stehende Partikel οὖν zeigt, daß mit αὐτ̣
όν
ein neuer Satz beginnt. Das Pronomen αὐτ̣
όν ist entweder dadurch zu erklären, daß der Gärtner
auch Überbringer des Briefes war, oder daß er in den Z. 2–3 bereits erwähnt worden war. Da der
πωμαρίτης im erhaltenen Teil des Briefes nicht vorkommt, scheint die erstgenannte Möglichkeit
wahrscheinlicher zu sein. Auf jeden Fall wird αὐτός hier im Sinne von οὗτος verwendet; zu
diesem Sprachgebrauch, der schon im Neuen Testament vorkommt, in der Zeit nach der Abfassung
unseres Textes auch in der byzantinischen Literatur begegnet und im Neugriechischen sich als
Standard etabliert hat, s. Psaltes, Grammatik 194–195.
τὸν̣ [πωμαρί]την: In der Spätantike und in der byzantinischen Zeit begegnen zahlreiche
Wörter, die von Nomina abgeleitet sind (hier πωμαρίτης von πωμάριον). Zu zahlreichen
Beispielen für die Bildung von Derivata auf -ίτης s. Psaltes, Grammatik 249–250. Für den Beruf
des πωμαρίτης, der in den byzantinischen Papyri (bes. im 6. und 7. Jh.) gut bezeugt ist, sei auf
Cadell, Renouvellement 63 und P.Heid. VII 404, Komm. zu Z. 8–10 verwiesen; über die dort angeführten Belege hinaus s. jetzt auch SB XX 14076, 17 (6./7. Jh.). Zum verwandten Wort πωμάριον
s. oben den Komm. zu Z. 3. Sowohl πωμαρίτης als auch πωμάριον kommen als Lehnwörter in
koptischen Briefen, Listen und Urkunden aus der spätgriechischen bzw. früharabischen Zeit
Ägyptens vor; s. Förster, Wörterbuch s. v. (708).
πρὸς τὴν ὑμῶν ἁ̣
γ̣
ιωσύνην: Dieser abstrakte Ehrentitel erscheint in den Papyri nur im 5.,
6. und 7. Jh., was die oben vorgeschlagene Datierung unseres Briefes bestätigt. Belege sind SB IV
7449, 13.14 (2. Hälfte des 5. Jh.); P.Bodl. 62, Rekto 1 (5./6. Jh.); P.Köln II 111, 4 (5./6. Jh.);
P.Cair.Masp. I 67021, Rekto 2 (567; s. BL I 103); P.Berl.Zill. 14, 19 (6. Jh.); P.Cair.Masp. I 67112,
Rekto 17 (6. Jh.); P.Fouad 86, Rekto 1.7.20 (6. Jh.); P.Fouad 88, Rekto 3 (6. Jh.); P.Meyer 24, 2 (6.
Jh.); P.Stras. VII 679, 2 (spätes 6. Jh.); P.Grenf. II 91, 2 (6./7. Jh.); SB I 4658, 8 (byzantinische Zeit);
SB I 4810, 1 (byzantinische Zeit); SB I 4817, 1 (byzantinische Zeit; teilweise ergänzt) und
P.Berl.Zill. 8, 11 (663). Das Wort ἁγιωσύνη stellt in den Papyri des 6. Jh. einen „außerordentlich
verbreiteten geistlichen Standestitel“ dar, daneben begegnet auch, freilich wesentlich seltener, der
Ausdruck ἁγιότης; s. Zilliacus, Abstrakte Anredeformen 64 und 86–87 sowie O’Callaghan,
Tratamientos abstractos 28. Zum Gebrauch des Begriffs in der christlich-literarischen
Epistolographie bis zur justinianischen Zeit s. Dinneen, Titles 2–3, zu seiner Verwendung in der
literarischen Epistolographie vom 6. bis zum 12. Jh. s. Grünbart, Formen der Anrede 45, 165, 193–
194, 211–213 und zu seinem Vorkommen als Lehnwort in den koptischen Urkunden Förster,
Wörterbuch s. v. (10–11). Der Titel dürfte als überaus starke Höflichkeitsbezeugung für den
angeredeten Geistlichen aufzufassen sein, wenn man bedenkt, daß selbst der ökumenische Patriarch
von Konstantinopel in amtlichen Texten mit diesem angeredet wurde; zu einem Beispiel aus den
justinianischen Novellen s. Avotins, Novels 1. Zur Bildung und Bedeutung der mit dem Suffix -σύνη
endenden Substantiva in den post-ptolemäischen Papyri s. Palmer, Grammar 107–108.
ἵ̣
να δώσ[ : Vielleicht ἵ̣
να δώσ[ῃτε αὐτῷ (Subjekt des Verbs wäre dann der Adressat;
zum Plural vgl. z. B. ὑμῶν in dieser Zeile), ἵ̣
να δώσ[ῃ αὐτῷ (Subjekt des Verbs wäre auch in
diesem Fall der Adressat [ἡ ὑμῶν ἁγιωσύνη, „Eure Heiligkeit“]) oder ἵ̣
να δώσ[ῃ ὑμῖν
(Subjekt des Verbs wäre dann der Gärtner).
5. τὸ ἱ[κανὸν (?)
̣ ̣
] ̣
υν̣ π̣
[ρὸς (?)] τ̣
ὴν χρε̣
[ί]αν: Zum Passus vgl.
P.Panop.Beatty 2, 253 (300): … καὶ τὸ ἱκανὸν̣ τῆς χρείας πληρώσαντες παράδοτε
τοῖς ναυκλήροις καὶ κυβερνήταις τῶν πλοίω̣
ν. Vom ε̣ bei χρε̣
[ί]αν sind
minimale Tintenspuren erhalten. Anstelle von τὸ ἱ[κανόν könnte man die Rekonstruktion τοῖ[ς
erwägen. Dagegen spricht jedoch der Umstand, daß das vorliegende Iota mit Trema versehen ist. Das
darauffolgende Wort ist sehr schlecht erhalten. Man liest am ehesten ]ο̣
υν̣und wäre damit versucht,
hier ein auf -ουν endendes Wort bzw., weniger wahrscheinlich, die Partikel οὖν zu rekonstruieren.
Für die Entzifferung bzw. Ergänzung des Wortes vor τ̣
ὴν χρε̣
[ί]αν kommen vor allem die
Präpositionen εἰς und πρός in Betracht. Die erhaltene Tinte vor der Lücke spricht für die Lesung
eines π und damit für die Rekonstruktion π̣
[ρός].
10. An einen Geistlichen über landwirtschaftliche Angelegenheiten
63
συνειδ[ῆ]σαι τήν ̣ [ : Zum Verb σύνοιδα vgl. etwa SB XX 14708, 20–21 (151 v.
Chr.): … διὰ τὸ συν|[ειδ]έναι τοῖς πράγμασιν κτλ.; BGU XVI 2636, 8–9 (spätes
1. Jh. v. Chr. / frühes 1. Jh. n. Chr.): σύνοιδα δὲ ἐμα<υ>τῷ | καλῶς κτλ.; P.Turner 34,
4–5 (216): [σύνοι]δ̣
ας, ἐπιτρόπων [μέγισ]τε, τὴν προτεταγμένην καὶ θείαν
διάταξιν | [ἥνπερ] καὶ προέταξα κτλ. und P.Panop.Beatty 2, 117–118 (300): ἐ̣
γὼ
μὲν καὶ τοῦτο ἀπ᾿ ἐμαυτοῦ συνειδὼν αἴτιον γιγνόμε|νον ἐνδείας περὶ
τὰς τροφὰς τῶν γενναιοτάτων στρατιωτῶν κτλ. Das Verb hat oft die Bedeutung
„etwas realisieren, Kenntnis von etwas haben“. Hier wäre wohl die Übersetzung „etwas erfahren“
zutreffend. Alternativ sollte man mit der Bedeutung „etwas für richtig erachten“ bzw. „etwas nach
Überlegung im Gewissen für richtig bzw. gerecht halten“ rechnen, die sich in den spätantiken Papyri
nachweisen läßt; hierzu vgl. P.Paramone 16, 8–10 (616 ?): … καὶ ἐφ᾿ ὥσον (l. ὅσον)
συνείδαμεν | καὶ παρέδοσεν (l. -ωσεν) ὁ θεὸς εἰς τὰς ψυχὰς ἡμῶν |
οὕτος (l. -ως) αὐτοῖς ἐγνόσαμεν (l. ἐγνώσαμεν) κτλ. sowie SB XXII 15764, 13–
14 (7. Jh.): … δ̣
ί̣
καιον | σ[υν]ε̣
ί̣
δα[μεν ὥ]στε αὐτοὺ̣
ς παραγενέσθαι κτλ. und
20–21: οὕ̣
τως γὰρ | συνείδαμεν δίκαιον εἶναι. Schließlich sei auf das Vorkommen
des Substantivs συνείδησις in SB XX 14954, 23–24 (Mitte des 4. Jh.): εἰ δὲ καθαρὰ[ν] |
συνείδησιν [ἔ]χετ[ε κτλ.] aufmerksam gemacht.
6. [ 5–6 δ]εσπ̣
ο̣
τ̣
[ 1–2 ]: Zu ergänzen ist wohl eine Form von δεσπότης; zu diesem Begriff
s. oben 6, Komm. zu Z. 15.
[ 1–2 ]α̣
ι̣
δια: Zur Lesung von α̣
ι̣ vgl. καί in Z. 3. Nicht auszuschließen wäre etwa die
Rekonstruktion π]α̣
ι̣
δία (hier eher in der Bedeutung „Kinder“). Zur Verwendung des Wortes παιδίον in den Papyrusbriefen des 6. Jh. vgl. z. B. PSI VIII 973, 4 (6. Jh.): καταξί̣
ωσον οὖν
φρόντισον τὰ δύο παιδ{ε}ία πάνυ καὶ τὸν θε<ῖ>όν σου.
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