Das Grundgesetz - Lehren aus Weimar Der Publizist Sebastian Haffner untersucht, welche Konsequenzen die Gestalter des Grundgesetzes aus den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung gezogen haben. Von 1945 bis 1949 lagen reichlich drei Jahre zwischen dem demokratischen Neuanfang und der nationalsozialistischen Niederlage - und was für einer Niederlage, und was für Jahre! Diesmal war kein Raum für eine Dolchstoßlegende. Hitlers Deutschland hatte bis fünf Minuten nach zwölf gekämpft, die Niederlage war total, und ihre Folgen, die jeder drei Jahre lang am eigenen Leib erfuhr, waren fürchterlich. Welches System Schutt und Asche, Hunger und Elend zu verantworten hatte, darüber blieb kein Zweifel möglich, und seiner nachträglichen Verklärung war gründlich vorgebaut, als 1948/49 der demokratische Neubeginn gemacht wurde. [...] Auf die Frage, wodurch sich eigentlich die Bonner Demokratie von der Weimarer unterscheidet, haben die meisten Leute nur ein Achselzucken. Für sie ist Demokratie Demokratie. Aber die Unterschiede sind gewaltig. Der einfachste und grundlegendste Unterschied ist wohl dieser: Die Weimarer Verfassungsarchitekten waren Optimisten, die Väter des Grundgesetzes eher Pessimisten. [...] Die Weimarer Verfassung zeigt in ihren wesentlichen Einrichtungen - Volksbegehren und Volksentscheid, Volkswahl des Reichspräsidenten, leichte Auflösbarkeit des Reichstags - ein fast unbegrenztes Vertrauen in die demokratische Vernunft und staatsbürgerliche Verantwortung des Wählers. Das Bonner Grundgesetz ist eher von Mißtrauen geprägt, seine Verfasser waren gebrannte Kinder: Sie hatten erlebt, wie verführbar und schwankend in seinen Stimmungen der Wähler sein kann, wie leicht eine Demokratie gerade durch zu schrankenlose Demokratie sich selbst zugrunde richten kann, und sie wollten es nicht noch einmal erleben. Die Weimarer Verfassung setzte ein Volk von unbeirrbaren Demokraten und musterhaften Staatsbürgern voraus. Das Bonner Grundgesetz will eine demokratische Verfassung sein, die auch unter fehlbaren und verführbaren, unvollkommenen Menschen funktionieren kann, es will die Demokratie auch vor sich selber schützen. [...] Für die Lehren, die das Grundgesetz aus dem Scheitern der Weimarer Republik j gezogen hat, ließen sich Beispiele in Menge anführen. Ich will mich auf die [. . .] wichtigsten beschränken: die Stabilisierung der Regierung [...] und [...] die Mediatisierung des Wählers. Die Weimarer Republik hat in den vierzehn Jahren ihres Bestehens dreizehn Reichskanzler verbraucht. [...] Das Bonner Grundgesetz macht es sehr schwer, einen einmal gewählten Bundeskanzler zu stürzen: Der Bundespräsident kann es überhaupt nicht, der Bundestag nur, indem er einen anderen Kanzler wählt. Dieses berühmte „konstruktive Mißtrauensvotum" [,..] stellt keineswegs die einzige Erschwerung des Kanzlersturzes dar, die ins Grundgesetz eingebaut wurde. Mindestens ebenso wichtig sind die vielen Hindernisse, die das Grundgesetz einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages in den Weg legt: Denn eine neue Bundestagswahl bedeutet ja auch eine neue Kanzlerwahl, und die will das Grundgesetz eben nicht so leicht machen. Nicht jede Schwankung in der Wählerstimmung soll sofort auf Parlament und Regierung durchschlagen. [. . .] Viel stärkere, immer wieder einmal aufflammende Kritik hat die grundgesetzliche Mediatisierung des Wählers gefunden. [...] Da ist zunächst einmal die peinliche Wahrheit der Ausgangslage. Gewiß hat zum Untergang der Weimarer Demokratie die Instabilität der Regierungen, die übermäßige Häufigkeit der Wahlen, die allzu starke Machtposition des Reichspräsidenten und ihr Mißbrauch beigetragen. Aber nicht zu leugnen ist, daß schließlich der deutsche Wähler selbst der Weimarer Republik den Todesstreich versetzt hat. Auch wenn Hitlers Nationalsozialisten in freien Wahlen nie die absolute Mehrheit erreicht haben: Im letzten Jahr der Republik waren sie die bei weitem stärkste Partei, und zusammen mit den Kommunisten konnten sie seit Juli 1932 jede verfassungskonforme, auf eine parlamentarische Mehrheit gestützte Regierung verhindern. Es ist nicht daran vorbeizukommen: Spätestens 1932 stimmte eine Wählermehrheit, so oder so, für den Sturz der demokratischen Republik. Der Wähler ist der demokratische Souverän. Die Wählermehrheit entscheidet: Das ist die Quintessenz jeder demokratischen Verfassung. Wie aber, wenn die Wählermehrheit gegen die Demokratie entscheidet? Ist es dann die Pflicht der Demokratie, im Namen der Demokratie Selbstmord zu begehen? Umgekehrt: Begeht nicht eine Demokratie auch dann Selbstmord, wenn sie - im Namen der Demokratie - die Entscheidung der Wählermehrheit mißachtet? Gehört es zum Wesen demokratischer Freiheit, daß sie auch sich selbst zur Disposition des Wählers stellen muß? Oder darf sie sagen: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit? [. . .] Unlösbares Dilemma! Jede Antwort ist unbefriedigend. Festzustellen aber ist, daß die Weimarer Verfassung und das Bonner Grundgesetz entgegengesetzte Antworten gegeben haben beziehungsweise geben. Weimar war bereit, sich dem Wählerwillen unbedingt unterzuordnen - bis zur Selbstpreisgabe. Bonn ist es nicht. Das Grundgesetz [...] proklamiert eindeutig das Prinzip: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Die Artikel 18 und 21 sind in dieser Hinsicht eisenhart. [...] Die Weimarer Verfassung liest sich wie eine Aufforderung an den Wähler, sich recht viel einfallen zu lassen und sich politisch jederzeit so recht auszutoben. Vom Grundgesetz kann man das nicht sagen. Es geizt mit der Macht, die es dem Wähler zubilligt, und es trifft viele Vorkehrungen, um ein zu schnelles und leichtes Durchschlagen des schwankenden Wählerwillens auf die Staatsführung zu verhindern. [...] Das bedeutet zunächst einmal den Verzicht auf jede direkte, plebiszitäre Demokratie. Kein Volksbegehren, kein Volksentscheid, keine Volkswahl des Bundespräsidenten - alles im bewußten Gegensatz zu Weimar. [...] Sodann ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, und darüber wacht das Bundesverfassungsgericht - eine sehr mächtige Institution, die keine frühere deutsche Verfassung kannte. Die meisten Regierungen, die die Bundesrepublik bisher gehabt hat, haben das Bundesverfassungsgericht mehr gefürchtet als die Opposition im Parlament, und das mit Grund. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Grundgesetz eine sehr wirksame Waffe in die Hand gegeben in der Gestalt der Grundrechte, die, wiederum anders als in Weimar, nicht nur Programm künftiger Gesetzgebung, sondern unmittelbar geltendes Recht sind und nur mit verfassungsändernden Mehrheiten - zum Teil sogar überhaupt nicht - abgeändert oder eingeschränkt werden können. Das setzt der Macht der gesetzgebenden Körperschaften oft peinlich enge Schranken. Sebastian Haffner, Im Schatten der Geschichte, Stuttgart 1985, S. 191 ff. L Worin sieht Haffner den entscheidenden Unterschied in der Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung und unseres Grundgesetzes? 2. Welches unterschiedliche Menschenbild setzen Weimarer Verfassung und Grundgesetz voraus? 3. Arbeiten Sie heraus, welche Lehren die Väter des Grundgesetzes aus der Weimarer Verfassung gezogen haben. Beurteilen Sie die Bedeutung dieser Lehren im Hinblick auf die Stellung der Regierung. 4. Wodurch wird nach Ansicht Haffners die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichtes begründet? Bringen Sie Beispiele, aus denen man ersehen kann, wie das Bundesverfassungsgericht den „gesetzgebenden Körperschaften oft peinlich enge Schranken" setzte.