Raketenabwehr und Europa

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Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung – Was macht Europa?
Jürgen Scheffran, Regina Hagen
Artikel für Wissenschaft & Frieden 2/2001
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Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung Was macht Europa?
Jürgen Scheffran, Regina Hagen
Die Pläne der Bush-Administration zum Aufbau einer nationalen Raketenabwehr (National Missile
Defense, NMD) und zur Aufrüstung im Weltraum bedeuten auch für Europa eine ernste
Herausforderung. Versuche, es den USA gleichzutun, stärken nicht die Eigenständigkeit der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sondern untergraben internationale Bemühungen zur
Abrüstung und Nichtverbreitung, zur Friedenssicherung und Konfliktvermeidung.
Die Herren der Welt?
Kaum hatte George W. Bush die Wahl zum US-Präsidenten denkbar knapp gewonnen, machte er
deutlich, daß es auch im neuen Jahrtausend für die USA vor allem darum geht, die militärische
Dominanz weiter auszubauen. Besonders der neue Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, unter
Präsident Ford schon einmal mit dem Amt betraut, bewies, daß sich auch nach dem Ost-WestKonflikt mit Feindbildern Politik machen läßt. Bereits 1998 kam die von ihm geleitete „Kommission
zur nationalen Sicherheit“ zu dem Ergebnis, „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea, Iran oder Irak
könnten die USA in wenigen Jahren mit ballistischen Raketen bedrohen, was zu einem
wesentlichen Auslöser für das NMD-Programm wurde. Nach dem gleichen Muster verfuhr auch
die zweite von ihm geleitete Kommission, die mit ihrem Bericht vom 11. Januar 2001 die Gefahr
eines „Pearl Harbor im Weltraum“ ausmalte.1 Die Begleitmusik dazu lieferte Bush selbst, als er
seinem Vater zum 10. Jahrestag des Golfkriegs einen Angriff auf den Irak schenkte. Mit den zu
erwartenden Drohungen Saddam Husseins bekam Bush, was er wollte: eine verstärkte Nachfrage
nach Raketenabwehr.
Anläßlich der Münchner Wehrkundetagung vom 3. Februar 2001 ließ Rumsfeld, ungeachtet
europäischer Kritik, keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA, eine weltumspannende
Raketenabwehr zu errichten.2 Außenminister Joschka Fischer sorgte sich um ein Wettrüsten in
Asien und im Weltraum, und der außenpolitische Experte der Unionsfraktion, Karl Lamers, warnte,
die USA wollten die „Herren der Welt“ werden. Seine Partei hatte sich in den am 15. Januar
vorgelegten „Leitsätzen für eine deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ jedoch
bereits für eine Raketenabwehr mit den USA ausgesprochen. Da wollte auch Bundeskanzler
Schröder nicht abseits stehen, der sich in München noch um eine Schwächung der NATO gesorgt
hatte, aber schon am 28. Februar einen „Kurswechsel“ der Bundesregierung einleitete. Einen
Monat vor seinem Antrittsbesuch bei Bush setzte er sich für eine deutsche Beteiligung am
Raketenabwehrsystem der USA ein, nicht nur aus bündnispolitischen Erwägungen, sondern auch
aufgrund des „eminenten wirtschaftlichen Interesses“ (FAZ 28.2.2001). Als bester Bündnispartner
der USA erwies sich aber der britische Premierminister Tony Blair, der sowohl den Einsatz gegen
den Irak unterstützte als auch im eigenen Parlament geäußerte Bedenken gegen NMD über Bord
warf.
1
Report of the Commission to Assess United States National Security Space Management and
Organization, Washington DC, Jan. 11, 2001; siehe auch die kritische Bewertung G. von Randow, C.
Stelzenmüller, Killersatelliten im All - Amerikas Strategen denken wieder über Weltraumwaffen nach, Die
Zeit 09/2001.
2 Siehe G. Neuneck, Missile Defense, Germany and Europe, Febr. 2001, in: Pugwash Special Issue on
NMD (im Druck).
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Daß von einer gemeinsamen europäischen Kritik an NMD nichts zu spüren war, liegt auch daran,
daß es schon seit Jahren in Europa Pläne und Programme gibt, die auf die Entwicklung von
Raketenabwehrsystemen und eine verstärkte Militarisierung des Weltraums hinauslaufen. Einige
dieser Aktivitäten werden im folgenden beleuchtet.3
Europäische Raketenabwehrpläne
Schon seit Beginn der achtziger Jahre gibt es in den USA und Europa Entwicklungen für die
Schaffung einer Abwehr gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen auf dem europäischen
„Gefechtsfeld“ (TMD: Theater Missile Defense).4 Kern der europäischen Raketenabwehrpläne ist
die „Erweiterte Luftabwehr“ (Extended Air Defense) der NATO, ergänzt um mobile Abwehrsysteme
zum Schutz von Krisenreaktionskräften in den jeweiligen Einsatzgebieten. In den vergangenen 20
Jahren untersuchte die NATO in verschiedenen Konzeptstudien die Möglichkeiten zur erweiterten
Luftabwehr gegen das gesamte Spektrum angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über
Marschflugkörper bis zu ballistischen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite.
Trotz der seit 1989 verringerten Bedrohungslage geht es weiterhin um ein mehrschichtiges
Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen
Lenkflugkörpern und einem System zur Datenübertragung in Echtzeit. Besonders bei den
Interventionstruppen wird eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig angesehen.
Der graduelle Prozeß wird deutlich bei der Weiterentwicklung der Patriot-Luftabwehrrakete zum
Zweck der Raketenabwehr (Patriot Advanced Capability, PAC-3).
Die geplante mehrschichtige TMD-Architektur umfaßt eine Abwehr innerhalb der Atmosphäre
gegen Raketen bis zu 1000 km Reichweite wie auch außerhalb der Atmosphäre gegen
Reichweiten bis 3500 km. Die untere Abwehrschicht soll bestehen aus PAC-3-Versionen der
Patriot, dem französisch-italienischen Abwehrsystem SAM-T, einem System der US-Navy (lowertier) und dem Medium Extended Air Defense System (MEADS). Die obere Abwehrschicht würde
das THAAD-System (Theater High-Altitude Area Defense) der USA, das schiffgestützte
Abwehrsystem der US-Navy für größere Höhen und eine luftgestützte Laserwaffe zur Abwehr in
der Startphase umfassen.5 Bezeichnenderweise soll auch eine „counterforce strike capability“
dazu gehören, also ein offensives Potential zur Zerstörung militärischer Ziele.
Zur Zeit stehen wichtige Weichenstellungen an, und die beteiligten Rüstungsfirmen hoffen auf
große Gewinne. Für sie wäre TMD „das größte Projekt, das jemals von der Allianz unternommen
wurde.“6 Am 15. Januar 2001 sollten die Vorschläge für Machbarkeitsstudien eines zukünftigen
TMD-System eingereicht werden. Vier Industriekonsortien „fiebern“ danach, die zwei begehrten
Kontrakte zu erhalten, auch weil es um die Rangordnung der Firmen im enger werdenden
globalisierten Konkurrenzkampf geht. Die vier Konzeptteams gruppieren sich um die großen USRüstungsfirmen Lockheed-Martin, Raytheon-Tales, Boeing-SAIC, Northrop Grumman. Beteiligt
sind auch einige europäische Firmen, wobei der europäische Konzern European Aeronautic
Defence and Space Company (EADS) in allen vier Teams dabei ist, also auf jeden Fall zu den
Gewinnern gehören will. Im Juni dieses Jahres will die NATO eine Auswahl treffen und 2004 eine
3
Europäische Entwicklungen zur militärischen Weltraumnutzung werden im nächsten Heft behandelt.
Siehe hierzu J. Scheffran, Die Europäische Verteidigungsinitiative - Testfall für SDI, in: D. Engels, J.
Scheffran, E. Sieker, SDI - Falle für Westeuropa, Köln 1987, S. 271-337. Zu den Programmen Anfang der
neunziger Jahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation - Der Norden tut sich zusammen, in:
Wissenschaft und Frieden 12, 1/94, S. 51-56. Eine umfassende technische Analyse findet sich bei J.
Altmann, SDI for Europe?, Frankfurt: HSFK Research Report 3/1988.
5 L. Hill, TMD - NATO Starts the Countdown, Jane’s Defence Weekly (JDW), 3 January 2001, S. 24-27.
Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile Defence and the Alliance after Kosovo,
Draft General Report to NATO Parliamentary Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale
Raketenabwehrsystem (NMD) und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an
die Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6. Oktober 2000,
http://www.nato-pa.int.
6 JDW, 3.1.2001.
4
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Entscheidung fällen, so daß etwa 2010 mit einer Stationierung begonnen werden könne. Die
Integration der Software und Kommunikationssysteme in das modernisierte Air Command and
Control System (ACCS) soll ab 2005 erfolgen.
Auch in anderen Regionen der Welt wird an TMD-Systemen gearbeitet, was die dortige
Rüstungsdynamik anheizt. Besonders weit fortgeschritten ist Israel, das nicht nur über die
offensive Jericho-Rakete verfügt, sondern auch über das Arrow-Abwehrsystem. Hier wird im
regionalen Kontext die globale Schwert-Schild-Logik der USA reproduziert: massiv zuschlagen
können, aber sich vor den Folgen schützen. Die USA tun ihr Bestes, um dieser Logik auch in
Japan, Südkorea, Taiwan oder anderswo zum Durchbruch zu verhelfen und damit zugleich
Absatzmärkte für die eigenen Abwehrsysteme zu schaffen.
Je mehr steigende Kosten und hohe Gewinnerwartungen eine Rolle spielen, umso mehr ist die
transatlantische Kooperation in der Raketenabwehr Widersprüchen und Konkurrenzen zwischen
den Partnern ausgesetzt. Hinter der europäischen Forderung nach Technologietransfer verbirgt
sich die Erwartung, daß die USA Europa Zugang zu Technologien und Programme ermöglichen
sollen, um die „technologische Lücke“ zwischen Europa und den USA zu schließen. US-Firmen
denken in der Regel jedoch nicht daran, ihren technologischen Vorsprung preiszugeben, und sie
haben die stärkere Hausmacht.
Querelen um MEADS
Unübersehbar wurden die Differenzen bei dem Abwehrprojekt MEADS, das nach Ansicht des
DASA-Vorsitzenden Manfred Bischoff der „Testfall der transatlantischen Kooperationsfähigkeit“
ist.7 Mit dem mobilen System soll die veraltete Hawk-Luftwabwehr ersetzt werden. Es geht um den
Nahbereichs-Schutz der eigenen Truppen bei „Out of Area“-Einsätzen, in Ergänzung zu den
bodengestützten Systemen Patriot PAC-3 und THAAD.8 Um die hohen Kosten zu senken - die
Schätzungen reichen bis zu mehr als 20 Milliarden DM -,9 unterzeichneten 1995 die USA,
Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichterklärung über die Entwicklung von MEADS. Da
sich Frankreich kurz darauf aus finanziellen Gründen aus dem Projekt zurückzog und
Eigenentwicklungen den Vorzug gab (etwa dem schiffsgestützten Aster-System) mußte der
ursprüngliche Kostenschlüssel von 50% für die USA, je 20% für Deutschland und Frankreich
sowie 10% für Italien geändert werden. Er liegt heute bei 55:28:17.
Das Projekt hatte von Anfang an mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. So verzögerte der
US-Kongreß die Bewilligung der vorgesehenen Projektmittel. Das Pentagon bestand auf einer
veränderten Projektkonzeption, derzufolge MEADS im wesentlichen auf den US-Systemen Patriot
und THAAD aufbauen soll. Dies bedeutete für die europäischen Partner einen Rückschlag und
schloß eigenständige Entwicklungen wie das deutsche Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS)
weitgehend aus. Dennoch stimmten sie zu, um einen Ausstieg der USA aus dem Projekt zu
verhindern. Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich aus der hinhaltenden
Technologietransferpolitik der USA. So hatte es bis zu 259 Tagen gedauert, bis das Pentagon die
Weitergabe von Informationen über kritische Technologien genehmigte.10 Weitere Anträge, etwa
zur Leistungsfähigkeit von PAC-3, wurden erst gar nicht behandelt.
7
M. Bischoff, Sicherheitspolitik und Wirtschaft - Verteidigungstechnologie und Verteidigungsindustrie,
Europäische Sicherheit 3/98, S. 20-22.
8 Eine aktuelle Übersicht zu MEADS findet sich in einem Arbeitspapier von Tom Bielefeld (IFSH),
vorgetragen auf dem Workshop „National and Theater Missile Defenses after the US Elections“, Berlin, 14.16.2.2001.
9 H.-J. Leersch, Scharping unter Beschuß wegen Raketenabwehr, Die Welt, 13.12.2000; A. Szandar,
Angriffe aus Schurken-Staaten, Der Spiegel 16, 17.4.2000, S. 42.
10 U.S. General Accounting Office, Defense Acquisitions: Decision Nears on Medium Extended Air Defense
System, GAO/NSIAD-98-145, Juni 1998.
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Auch wenn im Mai 2000 der Zugang Deutschlands und Italiens zu PAC-3 geöffnet wurde, ging das
„transatlantische Trauerspiel“ weiter.11 Ein vorläufiger Höhepunkt wurde erreicht, als der
Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walther Stützle, in einem Brief vom 26.
November 2000 die deutsche Mitarbeit am MEADS-Programm aufkündigte.12 Als Begründung
wurde angegeben, das MEADS-Konzept würde „nicht notwendig den Erfordernissen genügen, um
dem zukünftigen Spektrum sich abzeichnender Bedrohungen für die Landesverteidigung und
internationale militärische Operationen zu begegnen.“ Der Kosovo-Krieg habe zudem gezeigt, daß
Radarsensoren für die Luftverteidigung durch Anti-Radar-Flugkörper unwirksam gemacht werden
können. Auf Druck Washingtons erklärte Verteidigungsminister Scharping das Schreiben Stützles
kurz darauf für nichtig und bewilligte für die Finanzierung der „Risk Reduction“-Phase von MEADS
50 Millionen DM.
Russische Planspiele für eine Euro-Abwehr
Angesichts der drohenden US-Dominanz tritt der russische Präsident Wladimir Putin die Flucht
nach vorn an. Neben die Androhung von Gegenmaßnahmen gegen NMD und das Angebot
weiterer nuklearer Abrüstung tritt der Vorschlag für ein mobiles, „gesamteuropäisches
Raketenabwehrsystem“ gegen nukleare Bedrohungen, das der russische Verteidigungsminister
Sergejew NATO-Generalsekretär Robertson bei seinem Besuch in Moskau unterbreitete.13
Danach soll vor dem Aufbau einer Raketenabwehr genau analysiert werden, ob überhaupt eine
Bedrohung vorliege. Sei dies der Fall, soll mit Hilfe von Diplomatie und Kooperation versucht
werden, der Bedrohung zu begegnen. Erst wenn dies mißlinge, soll ein Abwehrsystem aufgebaut
werden, das allen europäischen Staaten offenstehe und nicht zu Spannungen gegenüber den
Ländern führen dürfe, die als potentielle Angreifer gelten. „Paria-Staaten“ soll es in Europa nicht
geben.
Verwiesen wird auf die Erfahrungen Russlands, das aus sowjetischer Zeit nicht nur verschiedene
Luftabwehrsysteme zur Hand hat, sondern bei Moskau in Übereinstimmung mit dem ABM-Vertrag
das einzige Abwehrsystem gegen Interkontinentalraketen besitzt und auch über Testgelände
verfügt. Die Schaffung einer Euro-Abwehr könne durch gemeinsame schnelle Eingreifkräfte zur
Raketenabwehr realisiert werden. Zu besprechen sei die Abwehrarchitektur (Zahl der
Abfanglinien, Zusammensetzung des Systems und Zusammenwirken der Komponenten), die
Rolle von weltraumgestützten Systemen zur Erkennung von Raketenstarts sowie die Schaffung
eines gemeinsamen Frühwarnzentrums für Raketenstarts.
Besondere Bedeutung scheint Russland einer Abwehr in der Raketenstartphase beizumessen,
durch Systeme, die in der Nähe vermuteter Raketenbedrohungen stationiert werden (etwa auf
Schiffen). Auch wenn Moskau mit dem Konzept einige seiner Probleme mit NMD verringern
möchte, lassen sich andere Probleme nicht ausschließen, etwa die Inkompatibilität mit dem ABMVertrag, technische Schwierigkeiten oder Gegenmaßnahmen potentieller Kontrahenten. Ein
mobiles Abwehrsystem könnte so stationiert werden, daß es auch russische oder chinesische
Raketen in der Startphase abwehren kann.14
Auch wenn der russische Vorstoß im Westen auf freundliches Wohlwollen stieß, bleibt seine
Implementierung fraglich. Wenn schon die engsten NATO-Verbündeten von den USA vorgeführt
werden, warum sollte der stärkste Rüstungskomplex der Welt auf eine Mitarbeit des ehemaligen
Gegenspielers angewiesen sein oder gar russische Rüstungsfirmen unterstützen? Bush machte
11
B.W. Kubbig, T. Kahler, Problematische Kooperation im Dreieck: Das trilaterate Raketenabwehrprojekt
MEADS, HSFK-Bulletin No.18, Herbst 2000, www.hsfk.de/abm/index.html.
12 JDW 6.12.2000, S.3, H.-J. Leersch, Amerika verärgert: Berlin steigt aus Rüstungsprojekt aus, Die Welt,
8.12.2000.
13 Siehe die Dokumentation von Auszügen in der FAZ vom 24.02.2001, S. 6.
14
Zur Kritik einer „boost-phase defense“ siehe R.W. Jones, Taking Missile Defense to Sea - A Critique of
Sea-Based and Boost-Phase Proposals, Washington, DC: Council for a Livable World Education Fund,
October 2000, www.clw.org.
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dann auch für sich das Beste daraus: Er wertete den russischen Vorschlag als grundsätzliche
Zustimmung zu den Raketenabwehrplänen der USA.
TMD und NMD - Zwei Seiten einer Medaille
Während über NMD heftig gestritten wird, bleibt TMD meist von der Kritik ausgespart, so als
handele es sich um das bessere Abwehrsystem. Dabei sind, allen Unterschieden zum Trotz, TMD
und NMD zwei Seiten derselben Medaille.15 Wie in den achtziger Jahren liegt die Funktion von
Euro-TMD vor allem darin, die Ankopplung Europas an die globalen Raketenabwehrpläne der
USA herzustellen und so einer europäischen Kritik zu begegnen. Während NMD sich gegen
Interkontinentalraketen richtet, soll TMD die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen in
verschiedenen Regionen der Erde bereitstellen. Einige der Sensor- und Kommunikationssysteme
ließen sich in einem integrierten Gesamtsystem für beide Aufgaben nutzen.
Schwer zu schätzen sind die Kosten eines europäischen TMD-Programms, die in der
Größenordnung von einigen Dutzend Milliarden Dollar liegen könnten. Sie geraten in Konflikt mit
knappen Budgets und anderen kostspieligen Rüstungsvorhaben Europas. Sollte Europa in die
Raketenabwehrfalle tappen, bedeutet dies ein Rüstungsprojekt ohne erkennbares Ende und ein
dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis von den USA, die hier immer voraus sein werden. Die bereits
in der SDI-Debatte vor 16 Jahren von Helmut Kohl propagierte Vorstellung, Europa könne durch
Mitarbeit in der Raketenabwehr wirtschaftlich oder technologisch etwas gewinnen, ist absurd
angesichts des geringen kommerziellen Marktsegments der betreffenden Rüstungstechnologien
und der protektionistischen „Buy-American“-Strategie, die jede Gleichberechtigung ausschließt.16
Allen Anstrengungen zum Trotz bleibt der technische Erfolg von TMD fraglich. Zur Abwehr von
Kurzstreckenraketen bleiben nur wenige Minuten Reaktionszeit. Eine torkelnde oder in mehrere
Teile zerfallende Rakete in der Endflugphase ist schwer zu treffen. Ob die Integration aller
Komponenten zu einem komplexen aber dennoch zuverlässigen Gesamtsystem gelingt, zeigt sich
erst im Ernstfall. Sensoren und Kommunikationseinrichtungen sind verwundbar gegenüber
verschiedenen Arten von Attacken. Bislang sind die Fortschritte von TMD eher ernüchternd. Dies
wurde deutlich, als sich das Patriot-System bei seinem Debüt im Golfkrieg zur Abwehr der
irakischen Scud-Rakete als ungeeignet erwies. Alle Abwehrversuche schlugen fehl, und der
Schaden in den angegriffenen israelischen Städten wurde sogar noch vergrößert, da die zur
Abwehr eingesetzten Patriot-Raketen ebenfalls auf bewohnte Gebiete herabfielen.17
Daß trotz dieser Fehlschläge die auf die sechziger Jahre zurückgehende Patriot-Rakete als
Zugpferd einer zukünftigen Euro-Abwehr dienen soll, erweckt wenig Vertrauen. Ungeachtet aller
politischen Debatten bleibt die Entwicklung der Raketenabwehr ein langwieriger und kostspieliger
Prozeß ohne Erfolgsgarantie. Anlaß zur Beruhigung bietet dies allerdings nicht, denn wachsende
Rüstungsausgaben, eine neue Rüstungsdynamik und die Neigung zur weltweiten Kriegführung
sind reale Probleme, die nicht weg zu definieren sind.
Um die Kosten und Risiken der Raketenabwehr zu rechtfertigen, wird nun auch in der deutschen
Debatte, gestützt auf Aussagen des Bundesnachrichtendienstes (BND), zunehmend die
Raketenbedrohung bemüht. In dem BND-Bericht vom Oktober 1999 zur Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersystemen heißt es: „Einige Staaten im Nahen
Osten arbeiten an Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1000 km. Damit liegt auch NATOGebiet in der Reichweite dieser Raketen und der mit ihnen gegebenenfalls bestückten
15
Zur Verbindung siehe M. Broek, F. Slijper, Theatre Missile Defence in Europe, HSFK-Bulletin No 22,
2001.
16 Vgl. J. Scheffran, SDI – Wird Europa totgeforscht?, W+F 2/85.
17
Siehe T.A. Postol, Lessons of the Gulf War Experience with Patriot, International Security, Winter
1991/92, Vol. 16, No. 3, S. 119-171.
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Massenvernichtungsmittel.“18 Eine realistische Bedrohungsanalyse, die nicht nur potentielle
technische Fähigkeiten betrachtet, sondern auch den politischen Kontext und die eigenen
Drohpotentiale, steht immer noch aus.
Andere Akzente setzt Brigadegeneral a.D. Hermann Hagena, der in Führungsstäben der
Streitkräfte diente. Seiner Ansicht nach „ist die Wahrscheinlichkeit als äußerst gering einzustufen,
dass ein ‚Schurkenstaat’ die erforderlichen Fähigkeiten zu einem Angriff mit weitreichenden
Raketen und MVW auf die USA oder NATO erlangt. Sie würde sich weiter verringern, wenn es
gelänge, Russland und China in die Anti-Proliferationsfront der Weltgemeinschaft wirksam
einzubinden und die Möglichkeiten der politischen Einflußnahme auf die ‚rogue states’ intensiviert
würden. Entsprechende Angebote des russischen Präsidenten Putin sollten ernst genommen
werden. Der Annäherungsprozess zwischen Süd- und Nordkorea wie auch die parlamentarischen
Erfolge der gemäßigten Kräfte im Iran sind Entwicklungen, deren Unterstützung mehr Erfolg
verspricht als schlecht abgestimmte oder gar einseitige militärische Reaktionen ...“19
Das Proliferationsproblem militärisch lösen zu wollen, entspricht dem Versuch, ein Feuer mit
Benzin zu löschen. Weitergehende politische und diplomatische Lösungsansätze, die den
Ursachen der Proliferation mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, mit vertrauensbildenden
Maßnahmen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Konzepten regionaler Sicherheit zu Leibe
rücken, werden in der politischen Debatte zumeist ausgeblendet. Hier liegt aber das Feld, auf dem
sich Europa gegenüber den USA am ehesten profilieren und weltweit Ansehen und Einfluß
gewinnen kann.
18
BND, Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und Trägerraketen, Oktober 1999. Siehe auch N.
Busse, Atombomben auf Berlin und München?, FAZ 15.2.2001; BND: Saddam Hussein baut Atomwaffen,
Die Welt, 24.2.2001.
19
H. Hagena, NMD für die USA - Verteidigung gegen ballistische Flugkörper für die NATO?, Europäische
Sicherheit 7/2000, S. 14-19.
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