Ramadans Erben

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Nina Nowar
Ramadans Erben
Die Islamische Gemeinschaft
in Deutschland e.V. (IGD)
Diplomica Verlag
Nina Nowar
Ramadans Erben
Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD)
ISBN: 978-3-8428-3381-4
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012
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Kurzzusammenfassung
Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) zählt zu den ältesten Organisationen des islamischen Feldes. In den Jahren ihrer Blütezeit hat sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung dieses Feldes geleistet und Fortschritte für die sunnitischen Muslime in der Bundesrepublik erzielt. Mit innovativen Projekten und viel Idealismus sollte
eine Infrastruktur für die Glaubenspraxis geschaffen und zu diesem Zweck ein deutschlandweites Netzwerk von angegliederten Islamischen Zentren aufgebaut werden. Ziel
der Studie soll es sein, nachzuvollziehen, welche internen und externen Einflussfaktoren
im islamischen Feld der 1990er Jahre den Bedeutungsverlust der IGD ausgelöst haben.
Gemäß Bourdieus Kulturtheorie und dessen Feldkonzept, vermochte die IGD im Machtkampf um Rang und Einfluss ihre ehemals dominante Position nicht zu behaupten.
Durch die immer zahlreicher werdenden islamischen Organisationen war der Konkurrenzdruck immens gewachsen. Die notwendige Anpassung an den Wandel des Umfeldes
hat jedoch nicht stattgefunden oder konnte nicht stattfinden, weshalb die Organisation
Legitimitätseinbußen verzeichnet hat. Die kritische Haltung von Politik und medialer
Öffentlichkeit und die jährliche Erwähnung in den Verfassungsschutzberichten verhindert zusätzlich die Erfüllung der eigenen Ziele und Projekte. Seit den 1990er Jahren hat
die IGD ihre Machtposition im islamischen Feld verloren und führt nun ein Schattendasein. Ihre ehemalige Position wird heute von anderen Organisationen besetzt.
Zur Auswertung wurde neben der Sekundärliteratur auch auf eigene Interviews zurückgegriffen. Zusätzlich wurden Publikationen der IGD hinzugezogen.
3
Inhaltsverzeichnis
Kurzzusammenfassung...................................................................................................3
Abkürzungsverzeichnis:..................................................................................................6
Interviews:........................................................................................................................8
1 Einleitung......................................................................................................................9
1.1 Relevanz des Themas .............................................................................................9
1.2 Forschungsstand....................................................................................................11
1.3 Herangehensweise.................................................................................................15
1.4 Methodik...............................................................................................................17
2. Theoretische Grundlagen..........................................................................................19
2.1 Begriffliche Grundlagen.......................................................................................19
2.1.1 Der Islam als politische Ideologie.................................................................19
2.1.1.1 Begriffsbestimmung..............................................................................20
2.1.1.2 Historische Hintergründe.......................................................................22
2.1.1.3 Ziele und Prinzipien der Islamisten.......................................................24
2.1.2 Transnationalismus........................................................................................27
2.1.2.1 Begriffsbestimmung und Nationalstaatsmodell.....................................27
2.1.2.2 Die islamische Umma als transnationale Gemeinde.............................30
2.2 Die Kulturtheorie Pierre Bourdieus......................................................................32
2.2.1 Habitus..........................................................................................................37
2.2.2 Kapital...........................................................................................................38
2.2.3 Feld................................................................................................................41
2.3 Anwendung auf die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.......................43
3. Das islamische Feld in Deutschland.........................................................................47
3.1 Die neuere Geschichte des Islams in Deutschland ..............................................47
3.2 Empirische Daten zum sunnitischen Islam ..........................................................50
3.3 Organisationsstruktur des Islams in Deutschland.................................................53
3.4 Herausforderungen für islamische Organisationen ..............................................57
4. Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD).......................................60
4.1 Die Institutionalisierung der IGD.........................................................................60
4
4.1.1 Vom Zweiten Weltkrieg zur Moscheebau-Kommission e.V.........................60
4.1.2 Von der Moscheebau-Kommission e.V. zur Islamischen
Gemeinschaft in Deutschland e.V.................................................................65
4.2 Organisationsstruktur und (transnationale) Netzwerke und
Kooperationen......................................................................................................71
4.2.1 Institutioneller Aufbau der IGD....................................................................71
4.2.2 Das organisationale Feld der IGD.................................................................75
4.3 Projekte und Aktivitäten.......................................................................................79
4.4 Ziele und Interessen..............................................................................................87
5 Ergebnisse....................................................................................................................92
5.1 Die Einschränkung von Öffentlichkeitsräumen ...................................................93
5.1.1 Der Wandel der staatlichen Islampolitik in Deutschland..............................93
5.1.2 Der Wandel des öffentlichen Islambildes und der
Medienberichterstattung.............................................................................100
5.1.3 Abschreckung der Mitglieder durch Polizeirazzien und
Verfassungsschutzberichte (VSB)..............................................................106
5.2 Transnationale Netzwerke...................................................................................111
5.2.1 Die Betonung des Arabischen in der deutschen
Aufnahmegesellschaft.................................................................................111
5.2.2 Diskurse der Muslimbruderschaft in der deutschen Diaspora.....................114
5.3 Diversifikation des islamischen Feldes in Deutschland seit den 1990er Jahren.118
5.3.1 Individualisierung des Glaubens und Wandel religiöser
Autoritäten .................................................................................................119
5.3.2 Pluralisierung und Ausdifferenzierung islamischer
Einrichtungen und Organisationen in Deutschland....................................125
5.3.3 Veränderungen im regionalen Umfeld der Islamischen Zentren.................128
5.3.4 Konkurrenz der Islamischen Zeitung (IZ) zur IGD-Publikation „al-Islam“
....................................................................................................................132
6. Fazit...........................................................................................................................135
Literaturverzeichnis:...................................................................................................138
5
Abkürzungsverzeichnis:
AABF:
Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.
BaMF:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
BfV:
Bundesamt für Verfassungsschutz
BGB:
Bürgerliches Gesetzbuch
BMVt:
Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte
BUGA:
Bundesgartenschau
CIA:
Central Intelligence Agency
DIBW:
Deutsch-Islamisches Bildungswerk e.V.
DIK:
Deutsche Islamkonferenz
DiTiB:
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.
DMG:
Deutsche Morgenländische Gesellschaft
ECFR:
European Council for Fatwa and Research
EKD:
Evangelische Kirche in Deutschland
EZP:
Einladung zum Paradies e.V.
FEMYSO:
Forum of European Muslim Youth and Student Organizations
FIOE:
Föderation islamischer Organisationen in Europa
IZF:
Islamisches Zentrum Frankfurt e.V.
IGD:
Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.
IGMG:
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e.V.
IGN:
Islamische Gemeinschaft in Nürnberg e.V.
IGSD:
Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e.V.
IK:
Islamisches Konzil in Deutschland e.V.
IMSU:
Internationale Muslimische Studentenunion Aachen e.V.
IMV:
Institut für Medienverantwortung
IR:
Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V.
IZA:
Islamisches Zentrum Aachen (Bilal-Moschee) e.V.
IZM:
Islamisches Zentrum in München e.V.
IZS:
Islamisches Zentrum Stuttgart e.V.
KRM:
Koordinationsrat der Muslime in Deutschland e.V.
6
MB:
Muslimbruderschaft
MLD:
Studie: Muslimisches Leben in Deutschland
MSV:
Muslim Studenten Vereinigung in Deutschland e.V.
RIGD:
Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland e.V.
RM:
Studie: Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung
VIKZ:
Verband islamischer Kulturzentren e.V.
VSB:
Verfassungsschutzbericht
WAMY:
World Assembly of Muslim Youth
ZMD:
Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.
7
Interviews:
Nr.:
Datum:
Ort des Interviews
Geschlecht:
Nationalität: Organisation:
1
01.08.11
Nürnberg
Maskulin
Deutsch
IZM
2
14.08.11
(Fragebogen)
Feminin
Deutsch
IMV
3
19.08.11
Nürnberg
Maskulin
Deutsch
EKD
4
24.08.11
München
Maskulin
Ägyptisch
IGD/ IZM
5
05.09.11
(Telefonisch)
Feminin
Deutsch
Rathaus
8
1 Einleitung
1.1
Relevanz des Themas
„From the alternative 'Islam or Europe', drawn by a long historical (and of course
theological) tradition, to the juxtaposition 'Islam and Europe', we are now at the
factual situation of 'Islam in Europe' “1
Der Islam ist in Europa angekommen und aus der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr
wegzudenken, welche den zweitgrößten Bevölkerungsanteil an Muslimen in Westeuropa verzeichnet. Statt jedoch tatsächlich über den Islam in Europa und die damit verbundenen Herausforderungen zu diskutieren, drehen sich die Diskurse weiterhin um den
Islam und Europa. Einen wichtigen Schritt nach vorne machte der deutsche Bundespräsident Christian Wulff. In seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in
Bremen verkündete er die Botschaft, der Islam sei mittlerweile ein Teil Deutschlands
geworden. Damit sprach er der muslimischen Gemeinschaft seinen Respekt und seine
Anerkennung aus.2 Die kontroversen Debatten zur Stellung des Islams in der Bundesrepublik zeigen jedoch, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung zu diesem Schritt
nicht bereit ist. Über viele Jahrhunderte gewachsene Stereotype, diffuse Ängste und
Vorurteile verhindern oft eine objektive Auseinandersetzung und erschweren den interreligiösen und interkulturellen Dialog. Die häufig einseitige und negative Berichterstattung der Medien und öffentlichkeitswirksame Aussagen konservativer Politiker tragen
auch nicht zur Verständigung bei. So äußerte der Bundesminister des Inneren HansPeter Friedrich in seiner Rede zum Amtsantritt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.3
Dabei erweist sich die große Vielfalt der Muslime in ihrer Religiosität als besonders schwierig, da die wenigsten von ihnen in Verbänden organisiert sind und keine offi1
2
3
Allievi, Stefano: Islam in the Public Space. Social Networks, Media and Neo-Communities, in:
Allievi, Stefano/ Nielsen, Jørgen (Hg.): Muslim Networks and Transnational Communities in and
Across Europe, Boston 2003, S. 7.
Wulff, Christian: Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 03.10.2010 in Bremen: „Vielfalt
schätzen - Zusammenhalt fördern“.
Friedrich, Hans-Peter: Pressekonferenz zum Amtsantritt am 03.03.2011 in Berlin.
9
zielle Vertretung aller Muslime als Ansprechpartner existiert. Umso bedeutender für die
Öffentlichkeit werden deshalb die islamischen Organisationen, die zumindest einen Teil
der Stimmen bündeln und bei Konferenzen als Einheit auftreten können. Aus diesem
Grund beschäftigt sich die Wissenschaft verstärkt mit ihnen. Es werden immer mehr
Veröffentlichungen zu islamischen Organisationen publiziert, die sich mit deren unterschiedlichsten Aspekten beschäftigen. Dabei liegt jedoch der Fokus bei den türkischen
Verbänden. Die supranationalen Moscheen, welche u.a. in der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) organisiert sind, finden hingegen weniger Beachtung.
Dabei tragen gerade sie zur Entstehung einer islamischen Identität als Deutsche unter
den zugewanderten Muslimen bei. In dem sich seit ca. zwanzig Jahren wandelnden islamischen Feld in Deutschland entsteht durch sie langsam ein deutscher Islam. Diese Entwicklung liegt darin begründet, dass der Zusammenhalt in Organisationen, deren Mitglieder aus vielen unterschiedlichen Ländern stammen, nur durch die graduelle Abkehr
von nationalen, kulturellen, sprachlichen und historischen Identitäten möglich ist. Religiöse Identitäten und Deutschland rücken als gemeinsamer Bezugspunkt in den Vordergrund. Damit wird ein Miteinander möglich, wobei sich viele Muslime an charismatischen Persönlichkeiten orientieren. Eine dieser supranationalen Organisationen ist die
IGD. Auch sie verfügt über das Potenzial zu dieser Entwicklung beizutragen und ist besonders für deutsche Konvertiten attraktiv. Jedoch wird sie durch das Stigma islamistisch zu sein gehemmt, das durch ihre transnationalen Verknüpfungen zur Muslimbruderschaft (MB) entstand. Die im islamischen Feld in Deutschland vorgehenden
Veränderungen wirken sich auf alle islamischen Organisationen unterschiedlich aus. Auf
die IGD hat der Wandel vor allem einen negativen Einfluss.
Gegenstand dieser Studie soll folglich die sich im Wandel befindliche Position
der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) im islamischen Feld der Bundesrepublik sein. Diese verfügte als eine im sunnitischen Islam in Deutschland einflussreiche und führende Organisation seit ihrer Gründung über große publizistische und intellektuelle Ausstrahlungskraft. Dazu kommen zahlreiche innovative Projekte und
Aktivitäten, welche praktische Hilfestellungen und Angebote für die Religionsausübung
der Muslime in Deutschland bereitstellten. Einige fanden sogar bundesweiten Anklang
und wurden von anderen Organisationen adaptiert. So fungierte die IGD in vielen Berei10
chen als Vorreiter und Vorbild im islamischen Umfeld. Der in den 1990er Jahren vorgehende Wandel im islamischen Feld in Deutschland veränderte die Umstände und Verhältnisse für die Organisationen. Damit verlor die zuvor so bekannte und richtungsweisende Organisation rapide an Einfluss, Anerkennung, Geltung und Ausstrahlungskraft.
Infolge dieser Umwälzungen findet die IGD wenig Beachtung in der Öffentlichkeit und
kann mit den anderen Organisationen nicht länger mithalten und konkurrieren. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die IGD sich in den 1990er Jahren von einer im
islamischen Feld in Deutschland innovativen und einflussreichen Organisation zu einer
Organisation im Schattendasein gewandelt hat. Die internen und externen Faktoren,
welche diesem Bedeutungsverlust der IGD ursächlich zu Grunde liegen, während die
Muslimbruderschaft (MB) weltweit an Einfluss gewinnt, sollen nun in dieser Studie
herausgearbeitet und analysiert werden.
1.2
Forschungsstand
In den letzten Jahren steigt das Interesse der Wissenschaft an der muslimischen Bevölkerung in Deutschland. Es entstanden verschiedenste Forschungsansätze und Studien,
die sich z.B. mit der unterschiedlichen Religiosität der Generationen, Moscheebau,
Eliten, islamischen Lehrplänen oder religiöser Selbstorganisation auseinandersetzen.
Oft steht dabei die türkisch-stämmige Bevölkerung im Fokus des Interesses, da diese
mit einem Anteil von 63% die deutliche Mehrheit der in der Bundesrepublik lebenden
Muslime ausmacht.4 So liegen zu den meisten türkischen Verbänden Untersuchungen
vor. Werner Schiffauer beschreibt etwa in seiner Publikation „Nach dem Islamismus“
die Entwicklung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG)5 und Gerdien
Jonker den Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ)6. Arabische oder supranationale
Moscheen und Organisationen nehmen hingegen einen viel geringeren Raum in den
4
5
6
Vgl. Haug, Sonja/ Müssig, Stephanie/ Stichs, Anja (Hg.): Muslimisches Leben in Deutschland. Im
Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Forschungsbericht 6, Nürnberg 2009, S. 96.
Schiffauer, Werner: Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli
Görüş, Berlin 2010.
Jonker, Gerdien: Eine Wellenlänge zu Gott. Der 'Verband islamischer Kulturzentren' in Europa, Bielefeld 2002.
11
wissenschaftlichen Abhandlungen ein. Dies macht sich insbesondere im Hinblick auf
die IGD bemerkbar. Obwohl die Sunniten mit ca. 74,1 %7 die in der Bundesrepublik am
stärksten vertretene Glaubensrichtung unter den Muslimen darstellen und die IGD eine
sunnitisch geprägte Organisation ist, findet sich derzeit keine wissenschaftliche Publikation, die sich ausschließlich mit ihr beschäftigt.
Hintergründe und Informationen zur IGD sind eher spärlich, wenn man von den jährlichen Verfassungsschutzberichten und zahlreichen Zeitungsberichten absieht. Diese konzentrieren sich stark auf die islamistischen Tendenzen und Wurzeln der Organisation. In
die gleiche Richtung gehen die beiden sehr ähnlichen Werke der Schriftsteller Ian
Johnson und Stefan Meining.8 Diese versuchen einen Zusammenhang des politischen
Islam mit dem Nationalsozialismus zu konstruieren und betonen gleichzeitig Beziehungen zum US-Geheimdienst. Das Ergebnis sind zwei reißerische und auf öffentliche
Aufmerksamkeit und hohe Verkaufszahlen ausgerichtete, populistische Bücher. Johnson
beginnt sogar mit einem Koranzitat: „And there are those who built a mosque from mischievous motives, to spread unbelieve and disunite the faithful“.9 Damit leitet er sein
Buch mit der Unterstellung zweifelhafter Motive der Gründer der IGD ein und stellt
eine negative Grundstimmung her. Vor dem Erscheinen Meinings Buches wurde 2006
von der ARD eine Dokumentation darüber ausgestrahlt. Beide besitzen für diese Studie
kaum Wert. Meining muss jedoch zugute gehalten werden, dass er als Erster systematisch die Vereinsregister zur IGD analysiert hat. Um sich aber nicht nur auf Informationen aus zweiter Hand verlassen zu müssen, wurden zusätzlich eigene Recherchen im
Vereinsregister im Amtsgericht München angestellt.
Aussagekräftiger hingegen und dem wissenschaftlichen Anspruch angemessen,
gestalten sich Brigitte Maréchals „The Muslim Brothers in Europe. Roots and
Discourse“ (2008) und Johannes Grundmanns „Islamische Internationalisten. Strukturen
und Aktivitäten der Muslimbruderschaft und der Islamischen Weltliga“ (2005). Beide
bieten eine umfangreiche Bestandsaufnahme der transnationalen Beziehungen und der
7
8
9
Vgl. Haug/ Müssig /Stichs (2009), S. 97.
Johnson, Ian: A Mosque in Munich. Nazis, the CIA and the Muslim Brotherhood in the West, New
York 2010; Meining, Stefan: Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg
des politischen Islam im Westen, München 2011.
Koran: Sure 9: 107. Deutsche Übersetzung: „Die sich eine Anbetungsstätte errichtet haben, um
Schaden anzurichten, aus Unglauben und um Spaltung unter den Gläubigen anzurichten.“ Übersetzung: Bobzin, Hartmut: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, München 2010.
12
aktuellen Diskurse der MB, besonders in Europa. Auch Alison Pargeter setzt sich mit
den Veränderungen der MB-Ideologie in Europa auseinander.10 Voraussetzung für die
Nutzung dieser Werke in der Studie ist die Annahme, dass die IGD tatsächlich in ihren
Diskursen von dem Gedankengut der MB beeinflusst ist und deren Prinzipien aufgreift
und befürwortet. Eine Kooperation mit der MB auf institutioneller Basis ist nicht nachweisbar.
Konkrete Informationen zur IGD selbst finden sich in recht knapper Form in verschiedenen Studien, die sich mit islamischen Organisationen im Allgemeinen beschäftigen.
Hervorzuheben sind hierbei Thomas Lemmen und Muḥammad cAbdallāh 11. Beide beschreiben unter anderem die Entstehung der IGD und ihre Stellung im islamischen Feld
in der Bundesrepublik. Die IGD nimmt jedoch auch bei ihnen nicht mehr als ein kurzes
Unterkapitel ein. Weitere Einzelaspekte, die zur Analyse der IGD beigetragen haben,
finden sich bei unterschiedlichen Wissenschaftlern. Darunter Melanie Kamp und ihre
Forschung zum Wandel islamischer Autoritäten oder Frank Peters Überlegungen zur Individualisierung des Glaubens. Sie gaben wichtige Einblicke zu den im islamischen
Feld in Deutschland vorgehenden Veränderungen, welche als interne und externe Faktoren zum Bedeutungsverlust der IGD beigetragen haben.
Dazu zählt der 2006 in der Zeitschrift „The Muslim World“ (Vol. 96) erschienene Essay
Frank Peters „Leading the Community of the Middle Way: A Study of the Muslim Field
in France“ oder sein ebenfalls 2006 in der Zeitschrift „Islam and Christian- Muslim Relations“ (Vol. 17) veröffentlichter Essay „Individualization and Religious Authority in
Western European Islam“ sowie „Islamic Sermons, Religious Authority and the Individualization of Islam in France“.
Die wichtigsten Werke, um die theoretischen Grundlagen dieser Studie zu vertiefen, finden sich im Bereich der Soziologie wieder, die sich seit einigen Jahrzehnten
näher mit den islamischen Organisationen in Deutschland beschäftigt. Der Schwerpunkt
der Publikationen liegt hierbei jedoch meist bei Untersuchungen zum Spannungsverhältnis zwischen Integration und Segregation12 sowie der Rolle der islamischen Organi10 Pargeter, Alison: The Muslim Brotherhood. The Burden of Tradition, Saint Paul 2010.
11 Abdallah, Muhammad S.: Geschichte des Islams in Deutschland, Köln 1981;
Lemmen, Thomas: Islamische Vereine und Verbände in Deutschland, Bonn 2002a.
12 Segregation meint in diesem Kontext nach Häußermann/ Siebel „die kulturelle Spaltung nach ethnischer Zugehörigkeit, Religion und normativer Orientierungen.“; Häußermann, Hartmut/ Siebel,
13
sationen darin. Diese Herangehensweise ist jedoch für diese Studie kontraproduktiv und
führt zu keinen Ergebnissen. Vielmehr musste eine theoretische Basis gefunden werden,
um den Einfluss von internen und externen Faktoren auf die Entwicklung der IGD erklären zu können. Diese liegt in der Kulturtheorie Pierre Bourdieus. Sie wird auf die
Migrantenorganisationen in ihrem komplexen Umfeld übertragen und zur Analyse herangezogen, um den Konkurrenzdruck und den Kampf um Macht und Einfluss, dem die
IGD im islamischen Feld in Deutschland ausgesetzt ist, zu erklären. Besonders hilfreich
waren hierbei die Publikationen von Ludger Pries, der versucht die Verengung der Diskussion auf Integrationsfragen zu erweitern. In einem dieser Werke fand sich auch ein
Aufsatz Kerstin Rosenows, in dem sie soziologische Ansätze auf die Verbändeforschung, genauer genommen auf die DİTİB, anwendet.13 Ihr Konzept sollte sich auch zur
Analyse der IGD als hilfreich erweisen. Hinzu kommt, dass die IGD als transnationale
Organisation verstanden wird, die über ein großes Netzwerk an Beziehungen und Kooperationen verfügt. Dazu wiederum lassen sich Veröffentlichungen von Pries und Mandaville heranziehen, wie etwa Peter Mandavilles „Global Political Islam“ (2008) und
Ludger Pries „Transnationalisierung. Theorie und Empirie transnationaler Vergesellschaftung“ (2010).
In Ermangelung weiterer wissenschaftlicher Quellen ist es unverzichtbar, auch
Zeitungsartikel zu aktuellen Entwicklungen zu analysieren und sich Protokolle von
Stadtratsbeschlüssen und -anfragen in den jeweiligen Regionen anzusehen. Meist
stammen diese Zeitungen aus dem süddeutschen Raum, dem Rheinland oder sind lokale
Blätter. Eine ebenso ergiebige Datenquelle stellten die Veröffentlichungen des Islamischen Zentrums in München e.V (IZM) dar, das lange Zeit die Zentrale der IGD gewesen ist. Unter Leitung Aḥmad von Denffers gab das IZM eine eigene Schriftenreihe
und eine eigene Zeitschrift „al-Islām“ heraus. Für diese Studie bedeuten sie eine hervorragende Informationsquelle, die erschöpfend Auskunft über die Selbstwahrnehmung
und die Diskurse der Organisation gibt. Nicht zu vergessen sind die selbst durchgeWalter: Bausteine zu einem Szenario der Entwicklung von Berlin. Sozialräumliche Struktur und
Steuerung des Wachstums, in: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie (Hg.): Metropole Berlin: Mehr als Markt, Berlin 1991, S. 28.
13 Rosenow, Kerstin: Von der Konsolidierung zur Erneuerung. Eine organisationssoziologische Analyse
der Türkisch–Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DİTİB), in: Pries, Ludger/ Sezgen,
Zeynep (Hg.): Jenseits von Identität und Integration. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden 2010b.
14
führten Experteninterviews sowohl mit Wissenschaftlern und Akteuren, die mit der IGD
interagieren als auch mit Stimmen aus der Organisation selbst.
1.3
Herangehensweise
In der vorliegenden Studie wird die IGD anhand von Bourdieus Feldkonzept analysiert.
Damit werden die jeweiligen internen und externen Faktoren, die für die Abnahme des
Einflusses der IGD im islamischen Feld in Deutschland verantwortlich gemacht werden,
erläutert und begründet. Es basiert, wie viele soziologische Theorien, auf der Grundannahme, dass sich jede Organisation in einem Spannungsfeld von internen und externen
Erwartungen befindet. Diesen beiden muss die Organisation gerecht werden. Wenn dies
gelingt, erlangt sie Legitimation nach innen und außen, wird damit handlungsfähig und
kann ihre Ansprüche und Interessen durchsetzen. Werden im Gegensatz dazu aber interne oder externe Erwartungen und Forderungen nicht erfüllt, so hat dies unweigerlich
den Verlust der Legitimität zur Folge. Auch führt es zu einem Bedeutungsdefizit gegenüber anderen, erfolgreicheren Organisationen. In dieser Studie sollen Forderungen,
welche die IGD nicht erfüllen konnte, erörtert werden. Ob auch interne Konflikte eine
Rolle spielten, wird ebenfalls untersucht. Bourdieus Konzept baut darauf auf. Mithilfe
der Feldtheorie kann die IGD im Gesamtzusammenhang des islamischen Feldes in
Deutschland ergründet werden. Auch die Beziehungen zu weiteren konkurrierenden Akteuren in diesem Bereich können ausdiskutiert werden. Zu erwarten sind negative Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Organisation. Diese Faktoren scheinen den
Bedeutungsverlust gegenüber den anderen islamischen Organisationen in Deutschland
auszulösen. Deshalb finden die durch Bourdieu geprägten Begriffe des Felds, des Habitus und des Kapitals Eingang in die theoretischen Grundlagen der Studie.
Neben diesem innerdeutschen Beziehungsgeflecht dürfen die transnationalen
Elemente der IGD nicht vernachlässigt werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten.
Wie der Großteil der islamischen Organisationen, ist auch die IGD von Migranten gegründet worden. Deren Ausrichtung gilt nicht nur der deutschen Aufnahmegesellschaft,
15
sondern sie pflegen ebenso starke Verbindungen in die Herkunftsländer und spannen
damit einen neuen transnationalen Raum auf. Doch nicht nur die Mikroebene der Mitglieder, sondern auch die Gesamtheit der Organisation ist transnational orientiert. Die
IGD ist mit ihren vielfältigen Kooperationen Teil eines großen Netzwerkes, welches
heute vor allem Europa umspannt. In die Kritik gebracht hat die IGD allerdings ein ganz
spezielles Netzwerk, das der islamistischen MB, deren angebliche Zentrale in Deutschland sie sein soll. Die negativen Folgen, welche aus diesem transnationalen Netzwerk
für die IGD im islamischen Feld in Deutschland entstehen und welche Auswirkungen
dies auf die Einschränkung von Öffentlichkeitsräumen der Gemeinschaft hat, soll ebenfalls im Folgenden ergründet werden. Da der Vorwurf des Islamismus zentraler Bestandteil der Anschuldigungen gegen die IGD ist und der Salafismus in Zusammenhang
mit Bourdieus Feldkonzept als Konkurrenz der IGD gesehen werden muss, werden
diese beiden miteinander verwandten Begriffe und der Begriff des Transnationalismus
ebenfalls im Kapitel der theoretischen Grundlage Bourdieus erläutert.
Um das islamische Feld in Deutschland, in welchem sich die IGD bewegt, in all
seinen Einzelheiten zu veranschaulichen, beschäftigt sich das dritte Kapitel mit einer
Einführung in den Islam in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Abschnitt
legt die Basis für die ausführliche Darstellung der IGD im vierten Kapitel. Hauptteil der
Studie wird eine umfassende Analyse der Faktoren sein, die den Bedeutungsverlust der
IGD ausgelöst haben. Gegliedert wird in die Einschränkung von Öffentlichkeitsräumen,
die transnationalen Netzwerke und die Diversifizierung des islamischen Feldes in
Deutschland seit den 1990er Jahren.
Alle Übersetzungen aus dem Arabischen und Englischen wurden, wenn nicht anders gekennzeichnet, von der Autorin selbst verfasst. Die Umschrift arabischer Begriffe
und Namen entspricht dem wissenschaftlichen Standard der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG).
16
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