Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe I AUFGABE I Materialien 5 10 15 20 25 30 35 40 M1 Grundgesetz M2 Aus: Stefan Hradil, Angst und Chancen. Zur Lage der gesellschaftlichen Mitte aus soziologischer Sicht In: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, 2. Vierteljahr 2007, S. 189 ff. Die sozialwissenschaftliche Forschung konzentriert sich in hohem Maße auf die Erforschung von Bevölkerungsteilen, die aus dem „Normalen“ herausfallen: auf Arme, Reiche, Migranten, spektakuläre Lebensstilgruppierungen etc. Wenig beachtet wird die Lage der vielen, die (in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht) die „Mitte“ unserer Gesellschaft ausmachen. Es mag auf den ersten Blick verständlich erscheinen, die Situation der vielen „langweiligen“ Lehrer, Ärzte, Sachbearbeiter usw. weniger zu beleuchten als die düstere Lage von Langzeitarbeitslosen, das Wohlleben von Reichen, das Protestgebaren von Punks oder die schlechten Schulleitungen türkischstämmiger Jungen. Aber klug ist diese Blickverengung bei näherem Hinsehen nicht. Denn es sind die vielen Menschen in der gesellschaftlichen Mitte, von denen wir erwarten, dass sie unser Gemeinwesen im Wesentlichen finanzieren und aktiv gestalten, dass sie Innovationen schaffen, die uns weiterbringen, dass sie an politischen Prozessen teilnehmen, dabei aber auch für Mäßigung und Stabilität sorgen sowie Vorbilder der Lebensgestaltung darstellen. Viele Anzeichen lassen in letzter Zeit Zweifel aufkommen, ob die gesellschaftliche Mitte noch in der Lage ist, diese Funktionen zu erfüllen und unsere Gesellschaft zusammenzuhalten. Manche Sozialwissenschaftler sehen eine weit reichende Erosion der mittleren Schichten und gehen so weit zu behaupten, die Sozialstruktur unserer Gesellschaft sei auf dem Wege von einer „Zwiebel“ zu einer „Sanduhr“. [...] Seit den 1990er Jahren wachsen in der gesellschaftlichen Mitte nachweislich Unzufriedenheit und Besorgnisse, insbesondere unter qualifizierten und hoch qualifizierten Angestellten (jedoch nicht Beamten). Das ist neu. Die Angst klettert sozusagen die Bürotürme hoch. [...] Die sozialen Milieus, also die „Gruppierungen gleich Gesinnter“, sind vor allem in der gesellschaftlichen Mitte unterschiedlicher geworden. Genuin bürgerliche Mentalitäten finden sich im Gegensatz zur Nachkriegszeit heute nur noch bei Minderheiten. Daneben hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Geisteshaltungen bis hin zu prononciert unbürgerlichen sozialen Milieus entwickelt. Von einer relativ einheitlichen Mittelschichtmentalität kann weniger denn je die Rede sein. Bestimmte Mentalitäten sind noch den „alten“ Pflicht- und Akzeptanzwerten verpflichtet, andere sind von den „neuen“ Werten der Selbstverwirklichung und der Individualisierung bereits voll erfasst. Einige soziale Milieus stellen die optimistische und liberale Mentalität von Modernisierungsgewinnern dar, andere die politikverdrossene und pessimistische Sicht von Modernisierungsverlierern. [...] Fasst man die Entwicklung der sozialen Lage der gesellschaftlichen Mitte seit den 1990er Jahren zusammen, so ergibt sich Folgendes: Die deutsche Gesellschaft ist nicht auf dem Weg von der „Zwiebel“ zur „Sanduhr“. Die gesellschaftliche Mitte erodiert und verelendet auch nicht. Ihre Größe und ihr Wohlstand stagnieren bei großen Unterschieden im Einzelnen. Die Aufstiege in die Mitte überwiegen die Abstiege aus der Mitte nicht mehr. Die Mitte, vor allem die untere Mitte, ist eine geschlossenere Gesellschaft als früher geworden. Das ist durchaus neu, weil die gesellschaftliche Mitte, die Dienstleistungsmittelschichten, seit Anbeginn und noch bis in die 1980er Jahre hinein ständig wuchsen, mehr Aufsteiger aufnahmen als Absteiger entließen und insgesamt wohlhabender geworden sind. 1 Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe I Weil ihre äußeren Lagen und ihre inneren Haltungen so unterschiedlich geworden sind, stellt die gesellschaftliche Mitte heute nur noch teilweise das gesellschaftliche Vorbild dar. Nur Teile der gesellschaftlichen Mitte personifizieren noch die Aufstiegshoffnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen anderer sozialer Schichten. M3 5 10 15 20 Aus: Heribert Prantl, Die neue alte soziale Frage In: Süddeutsche Zeitung vom 16.10.2006 „Man muss dafür sorgen, dass der Gegensatz der Reichen und Armen sich möglichst ausgleicht“: Der Satz stammt nicht von Merkel, Müntefering oder Kurt Beck, sondern vom alten Aristoteles. Er hat klarer gedacht als die große Koalition – die sich nun plötzlich darüber zu wundern beginnt, dass es eine neue, wachsende Unterschicht gibt in Deutschland. Am Boden dieser Unterschicht herrscht Verwahrlosung, die leider immer erst dann beklagt wird, wenn ein Kind daran gestorben ist. In einem der reichsten Länder der Welt wächst die Diskrepanz zwischen Arm und Reich; der vormalige Generalbundesanwalt Kay Nehm hat kurz vor Ende seiner Amtszeit vor dem „Auseinanderdriften der Gesellschaft“ gewarnt, das den inneren Frieden gefährden könne. So ist es: Es gibt eine Rutsche in die Armut, genannt Hartz IV, und es gibt eine gewaltige Angst davor, dass man sich auf einmal selbst darauf befinden könnte. Es gibt, auch in der Mittelschicht, eine Anhäufung von Unzufriedenheit, durchwirkt von Existenzangst. Die innere Gewissheit, dass es in einer Leistungsgesellschaft jeder nach oben schaffen und sich dann auch oben halten kann, wenn er nur begabt und fleißig ist, ist dahin – auch in einem Teil des Mittelstandes. [...] Die neue Unterschicht wächst: Die Bildungsoffensive der 70er Jahre, als die Kinder kleiner Leute zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das Bafög knüpfte, nach oben kletterten, ist Vergangenheit; die Strickleiter ist eingezogen, das Projekt sozialer Aufstieg zu Ende, die deutsche Gesellschaft verändert sich wieder hin zur Klassengesellschaft. Das System ist semipermeabel1 geworden, durchlässig nur noch in eine Richtung – nach unten. __________ 1 semipermeabel: halbdurchlässig 2 Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe I M4 Einkommensdynamik im Zeitraum 2001 – 2004 Stabiler / Mobiler Bevölkerungsanteil gegenüber Ausgangszeitpunkt in Prozent Aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2006, S. 622 (bearbeitet) Von der Bevölkerung im jeweiligen Ausgangsquintil im Jahr 2001 waren drei Jahre später x % im selben oder in einem anderen Quintil Ausgangsquintil Übergang in Quintil 2001 – 2004 in % 1. Quintil 1. Quintil 1. Quintil 1. Quintil 1. Quintil 2. Quintil 2. Quintil 2. Quintil 2. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 3. Quintil 3. Quintil 3. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 4. Quintil 4. Quintil 4. Quintil 4. Quintil 5. Quintil 5. Quintil 5. Quintil 5. Quintil 5. Quintil 60,32 23,87 9,52 4,59 1,70 21,82 44,13 22,11 7,90 4,03 8,59 22,88 43,37 19,66 5,50 3,32 9,09 22,30 43,28 22,01 2,38 3,73 5,62 16,81 71,46 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil Anmerkung: Quintil = 20 % der nach der Höhe des Einkommens geschichteten Bevölkerung 1. Quintil = unterste (ärmste) 20 % 5. Quintil = oberste (reichste) 20 % Der Großteil der Mittelschicht befindet sich in den Quintilen 2 – 4 3 Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe I Aufgaben: Verrechnungspunkte: 1. 2. 3. Nach Ansicht des Autors von M 2 „stellt die gesellschaftliche Mitte heute nur noch teilweise das gesellschaftliche Vorbild dar.“ (M 2, Z. 41f.) Arbeiten Sie heraus, mit welchen Argumenten er diese These begründet. 8 VP Vergleichen Sie, wie die Autoren von M 2 und M 3 das Mobilitätsverhalten der Mittelschicht sehen. 8 VP Analysieren Sie M 4 im Hinblick auf das Mobilitätsverhalten der Mittelschicht. 12 VP 4. „Bestimmte Mentalitäten sind noch den ‚alten’ Pflicht- und Akzeptanzwerten verpflichtet, andere sind von den ‚neuen’ Werten der Selbstverwirklichung und der Individualisierung bereits voll erfasst.“ (M 2, Z. 27ff.) Beschreiben Sie Ausprägungen dieser beiden Mentalitäten am Beispiel der Familie. 10 VP 5. M 4 verwendet das Merkmal Einkommen zur Strukturanalyse. Erörtern Sie, inwieweit dieses Merkmal geeignet ist, die Sozialstruktur der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu beschreiben. 6. „Man muss dafür sorgen, dass der Gegensatz der Reichen und Armen sich möglichst ausgleicht.“ (M 3, Z. 1) Bewerten Sie diese Aussage. 4 10 VP 12 VP _____ 60 VP Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe II AUFGABE II Materialien 5 10 15 20 25 M1 Grundgesetz M2 Aus: Peter Scholl-Latour, Deutschland muss atomar aufrüsten In: Cicero, April 2007 [www.cicero.de; 12.02.2008] Eine deutsche Außenpolitik, die diesen Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches Konzept. [...] Das große Thema der deutschen Außenpolitik ist höchst unerfreulich und könnte beliebig ausgeweitet werden. So unbedarft darf kein Minister sein, dass er glaubt, die fünf Vetomächte würden Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat einräumen. Die reale Autorität und das Durchsetzungsvermögen der Vereinten Nationen werden in Berlin ohnehin maßlos überschätzt. Die militärischen Einsätze der Blauhelme – soweit diese auf sich selbst gestellt waren – endeten stets mit einem erbärmlichen Fiasko. [...] Die Tragödie des Abendlandes besteht darin, dass der Schwund amerikanischer Glaubwürdigkeit in Verteidigungsfragen einhergeht mit einer selbst verschuldeten militärischen Kastration der Europäer. Seit neben Israel und Indien auch die extrem labile Islamische Republik Pakistan sich in den Atomclub drängte, wird das Fortschreiten der nuklearen Proliferation1 auf Dauer gar nicht zu verhindern sein. Auch dieser Realität muss man ins Auge blicken. Wie wird die deutsche Bevölkerung reagieren, wenn ihr Staat in den Sog jenes „Clash of civilizations“² gerät, dem Europa – die eigene Identität verleugnend und die eigene Wehrkraft vernachlässigend – gar nicht entrinnen kann? Was geschieht, wenn in Berlin oder Hamburg die Bomben von Terroristen explodieren oder falls die Europäische Union aus ihrem südlichen oder östlichen Umfeld massiver Erpressung und Einschüchterung ausgesetzt wäre? Bis dahin sollte die Bundeswehr sich von den überalterten Nato-Schablonen gelöst haben und über die Mittel verfügen, notfalls auch im nationalen Alleingang, am besten aber im engen Verbund mit den französischen Schicksalsgefährten, diesen Gefahren mit vernichtenden Gegenmaßnahmen, notfalls auch mit gezielten „preemptive strikes“³ zu begegnen. Dabei kommt es nicht auf die Massen an, sondern auf die kriegerische Eignung einer hochtrainierten Truppe und ihrer speziellen Eingreifkommandos. ___________ 1 Proliferation: Weitergabe (von Massenvernichtungswaffen) ²„Clash of civilizations“: Kampf der Kulturen; Titel eines Buches von Samuel P. Huntington ³„preemptive strikes“: Präventivschläge 5 Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe II M3 5 10 15 20 25 Aus: Heidemarie Wieczorek-Zeul, Für eine friedenspolitische Wende In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.09.2007 Hoffnungen auf die große Friedensdividende, die nach dem Epochenjahr 1989 ins Kraut schossen, sind inzwischen verblichen. Die Welt entwickelt sich derzeit in eine andere Richtung. Immer häufiger wird militärische Gewalt eingesetzt – als sollte sie wieder ein ganz normales politisches Instrument werden! Fatalerweise geht damit einher, dass manche resigniert haben, die sich für friedliche Konflikttransformation, Rüstungskontrolle und Abrüstung engagierten. Der wachsende „Irrglauben einer Allzuständigkeit des Militärs“, vor dem die fünf wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland in ihrem Friedensgutachten 2007 warnen, ist kein unabänderliches Naturgesetz. [...] Die Globalisierung ist auf der Basis von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit so zu gestalten, dass weder reihenweise prekäre Staaten zusammenbrechen und ihre Gesellschaften im Chaos versinken noch das weltweite Ökosystem kollabiert. Dass der Klimawandel auch für die internationale Sicherheit eine zentrale Herausforderung darstellt, hat sich herumgesprochen. Diesen Gefahren für Frieden und Sicherheit ist mit der hergebrachten, auf militärische Gewalt gestützten Sicherheitspolitik nicht beizukommen. Was auch immer die Abschreckung vor 1989 geleistet haben mag, militärische Abschreckung taugt wenig gegen Staatszerfall, die Klimakatastrophe oder gegen Terroristen, die den eigenen Tod nicht fürchten. Schlimmer noch: In dem Maß, in dem die offiziellen Nuklearmächte ihre im Nicht-WeiterverbreitungsAbkommen festgeschriebene Verpflichtung zur Abrüstung ignorieren und ihre Arsenale ungeniert modernisieren, unterminieren sie das Ziel der Nichtverbreitung. Sie stacheln Diktatoren geradezu an, sich das einzige Mittel zu beschaffen, das sie scheinbar vor der Aussicht auf erzwungenen Regimewechsel zu schützen vermag. Der Irak-Krieg hat solchen Ambitionen zusätzliche Nahrung geliefert. [...] Völkerrechtlich legitime Zwangsmaßnahmen können Bürgerkriege beenden und Waffenstillstände erzwingen. Dadurch lässt sich Zeit für politische Lösungen gewinnen. Unter Umständen können Militärinterventionen sogar, wie im Kosovo, für längere Zeit individuellen Schutz gewähren. Indes kann das Militär nicht die Ursachen von Gewaltkonflikten oder Bürgerkriegen beseitigen. Wer ihnen das abverlangen will, der überfordert Soldaten und missbraucht Militär für politische Konfliktbearbeitung. 6 Abitur 2009 Gemeinschaftskunde – Aufgabe II – Lösungsvorschlag Rotraut Cser Aufgaben: Verrechnungspunkte: 1. 2. Der Autor von M 2 fordert: „Deutschland muss atomar aufrüsten.“ (Titel) Arbeiten Sie heraus, mit welchen Argumenten er seine Forderung begründet. 8 VP Ordnen Sie M 2 begründet einer Theorie der internationalen Beziehungen zu. 10 VP 3.a) Die Autorin von M 3 befasst sich mit dem Problem der militärischen Lösung von internationalen Konflikten. Arbeiten Sie heraus, worin sich ihre Position von der des Autors von M 2 unterscheidet. 10 VP 3.b) Überprüfen Sie die Aussagen der Autorin von M 3 zu Militärinterventionen (vgl. Z. 24 – 29) an einem Beispiel Ihrer Wahl. 10 VP 4. Stellen Sie die Aufgaben der Bundeswehr nach dem Grundgesetz (M 1) dar. 10 VP 5. Beurteilen Sie die Vorstellungen des Autors von M 2 zu einer zukünftigen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Z. 20 – 25) unter verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Gesichtspunkten. 7 12 VP _____ 60 VP