„Wir singen dir – mit Herz und Mund“ Die gemeinsamen Kern-Lieder der Landeskirchen in Baden und Württemberg Die Kirchenleitungen der badischen und württembergischen Landeskirche haben sich auf 33 Kern-Lieder verständigt, die bekannt gemacht werden mit der Bitte, sich in allen Bereichen des Singens in der Kirche an der langfristigen Bildung eines gemeinsamen Liederrepertoires zu beteiligen und sich dabei an diesen 33 Gesängen zu orientieren. Verrinnendes und Bleibendes Es scheint, als zeichne sich in der unüberschaubaren Vielfalt der kirchlichen Singkultur eine neue Spur ab: das wachsende Bedürfnis nach Bleibendem macht sich bemerkbar. Das Neue Geistliche Lied wird selbst langsam zur Epoche, auch wenn nach wie vor Jahr für Jahr Lieder in großer Anzahl produziert und publiziert werden. Die riesige Zahl von Liedern macht es möglich, dass verschiedene Gruppen und Generationen, viele Menschen und Milieus große Auswahl haben, gerade im Singen das zu ihnen Passende auszuwählen. Je größer jedoch die Auswahl ist, desto geringer ist auch die Chance, Gemeinsames darunter zu finden. Mir begegnet seit etwa zwei Jahren in Gesprächen um neue Lieder zunehmend die Frage: Was bleibt? Was bewährt sich? Was können wir gemeinsam singen? Es gibt in Württemberg Kirchen, in denen die Einschulungsgottesdienste inzwischen besser besucht sind als die Heiligabendgottesdienste, Kirchen also, die bis auf den allerletzten Platz besetzt sind, aber man kann nicht miteinander singen! Eine vollbesetzte, aber stumme Kirche, gespenstisch! Es ist nicht mehr damit getan, dass Gruppen von Kindern oder Jugendlichen oder Chorsängern anderen etwas vorsingen. Die Frage nach dem Kern eines gemeinsamen Lieder-Repertoires wird Menschen wieder wichtig. Auch andernorts lässt sich das Interesse an solchen kulturellen Grundausstattungen erkennen. Marcel Reich-Ranicki veröffentlichte seinen Kanon der Deutschen Literatur, die Süddeutsche Zeitung veranstaltete eine Herausgabe der „50 besten Filme“ auf DVD. „Das Beste der Pop-Musik der letzten 50 Jahre“ wird auf CDs zusammengestellt. Bei Liedern sind da und dort Ansätze zu beobachten. Die Kirchengemeinde Laichingen hat vor einiger Zeit einen Liedkalender mit 12 Liedern für das Jahr produziert, der in vielen Häusern hing. Diese Monats-Lieder wurden quer durch alle Gruppen und Kreise und im Gottesdienst gesungen. Auch der Altpietistische Gemeinschaftsverband propagiert auf dem Weg über solche Kalender seine Monatslieder. Eine Arbeitsgemeinschaft von württembergischen Kantorinnen und Kantoren hat aus der Kinderchorarbeit heraus eine Liste von 15 Liedern erstellt und inzwischen „eine Ideensammlung zu Liedern des Evangelischen Gesangbuchs für Kindergarten und Kinderkirche“ herausgegeben unter dem Titel „Zum Singen bringen“, hg. von Lothar Friedrich, München 2006. Nachhaltigkeit Das Stichwort „Nachhaltigkeit“ kommt aus der Forstwirtschaft. Bäume wachsen langsam. Wir leben heute von dem, was unsere Vorfahren gepflanzt haben, nicht nur davon, was wir selbst herstellen. Wir pflanzen heute Bäume, deren Früchte erst unsere Kinder und gar unsere Enkel ernten. Das braucht eine gewisse Selbstlosigkeit. Generationenübergreifendes Denken bewegt sich in größeren Zeiträumen, als es das eigene Leben ausmacht. Wir leben nicht nur von dem, was wir selbst herstellen, wir stellen uns auch nicht selbst her, sondern wir sind auch das, was wir erben, wir verdanken uns anderen, wir verdanken uns auch Liedern. Die Frage stellt sich, was wir denen weitergeben, die mit uns gehen und einmal nach uns kommen. Tradition ist nicht allein das, was aus vorigen Zeiten auf uns zukommt, das Patina angesetzt hat und vielleicht ein wenig Staub, sondern Tradition ist auch, nein insbesondere das, was wir heute in der Hand haben, um es denen weiterzugeben, die heute mit uns gehen und einmal nach uns kommen. Was geben wir denen? Entgrenzung Singen und Musik haben etwas Verbindendes. Singen hat Menschen zusammengeführt und tut es auch. Doch Lieder und Liedrepertoires sind immer auch Gruppenkennzeichen, mit denen eine Gruppe sich von einer anderen Gruppe abgrenzt. Das Lied stiftet nicht nur Gemeinschaft, es ist auch Instrument zur Darstellung der Gruppenidentität, also so etwas wie eine akustische Fahne, um die man sich schart, mit der man sich auch von anderen abgrenzt. Darauf liegt heute der Schwerpunkt: Kindergartenkinder singen Jahr für Jahr neue Lieder, Erstklässler andere wie Viertklässler, Konfirmanden wieder andere, Volksmusikfreunde, Jazzer, Klassikfreunde, Discofreaks, Senioren – alle haben ihr spezifisches Repertoire und ihre Vorlieben. Das entspricht der vorherrschenden Auffassung, Singen sei Selbstexpression, Darstellung und Präsentation der Person oder der Gruppe. Beim Sommerfest des Kindergartens singen die Kinder den Eltern und Großeltern ein Kinderlied vor, schön anzuhören, gut eingeübt, aber zusammen singen kann man es nicht. Die neue Idee ist, dabei auch wieder an „Geh aus mein Herz“ von Paul Gerhardt zu denken, ein Lied, aus dem problemlos im Kindergarten gesungen werden kann, und dann singen die Kindergartenkinder beim Sommerfest wieder zusammen mit ihren Eltern und Großeltern. Singen grenzt nämlich nicht nur ab, es entgrenzt auch. Wer singt, überschreitet sich selbst. Das zielt nicht sofort auf Transzendenz, sondern schlicht darauf, dass Singen auf Gemeinsamkeit hinwill und darin einen gewissen Abstand zum Einzelnen intendiert. Im Raum der Kirche hat diese Bewegung eine transzendente Dimension. „Singen führt … über bloße Gegenwart hinaus, insofern durch‘s Singen sich historisch Vergangenes eines alten Liedes, aber auch unerhört Künftiges eines wirklich neuen Liedes in einer Person vergegenwärtigt und in der Gegenbewegung eine gegenwärtige Person über ihre pure Gegenwart, die aus sich allein nicht lesbar ist, hinausgeführt wird.“1 Geistliches Singen ist gleichzeitig „situationsbezogen und situationsüberlegen“, wie es in der Einleitung im württembergischen Gottesdienstbuch prägnant heißt (S. 32). In diesem Zusammenhang bezeichnet der Schweizer Hymnologe Andreas Marti die Kirche als eine Erinnerungs- und Sprachgemeinschaft, und nennt die Meinung, wir könnten über den Glauben nur im Vokabular unseres Alltags reden, eine glatte Illusion. Oder Fulbert Steffensky: „Ich denke mich als Glaubender in den Glauben meiner Geschwister und in den Glauben meiner Kirche hinein, und so bin ich authentisch, indem ich meine Grenzen sprenge und der bin, der von fremden Broten ernährt wird.“2 Die Erfahrung zeigt, dass gerade Kinder an diesem Punkt viel unbefangener sind, als gemeinhin vermutet wird. Bernhard Leube, Singen. In: Handbuch „Kirchenmusik als theologische Praxis“, hg. von Harald SchroeterWittke und Gotthard Fermor, Leipzig 2005, S. 15 2 Fulbert Steffensky, Der Gottesdienst und seine Formen. In: -, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg, 2002, S. 98 1 Das Projekt Kernlieder-Liste Singen ist eine zentrale Lebensäußerung der Kirche, Singen ist auch Verkündigung. Als Sprachereignis ist das geistliche Lied von Luther her sogar nichts weniger als ein Medium der Präsenz Gottes. Die Idee eines generationen- und vielleicht sogar milieuüberschreitenden, überschaubaren Grundrepertoires an Liedern zielt auf langfristige Singarbeit in den verschiedenen kirchlichen Lebens- und Arbeitsbereichen der Kirchen, im Kindergarten, in Schule und Konfirmandenunterricht, in der Chorarbeit, im Sonntagsgottesdienst wie bei den Kasualien. Damit kommt eine singpädagogische Intention ins Spiel, die unser Singen in den letzten Jahrzehnten nicht eben geprägt hat, die der langfristigen Planung des Singens. Singen entsteht weithin kurzfristig, spontan und das soll auch nicht denunziert werden. Aber wenn wir Repertoire bilden wollen, muss zum spontanen Singen die langfristige Absicht hinzutreten. Die badische und die württembergische Kirchenleitung haben sich auf eine 30 Lieder und drei Kanongesänge umfassende Liederliste verständigt. Der Anstoß dazu kam aus dem PTZ Stuttgart aus der Erfahrung, dass bei der Erarbeitung der neuen Grundschul-Lehrpläne für das Fach Evangelische Religion Lieder und Singen nur eine ganz marginale Rolle gespielt haben. Am Tisch der Arbeitsgruppe, die die Kernlieder-Liste erarbeitet hat, saßen prominente Vertreter und Vertreterinnen verschiedener einschlägiger Arbeitsbereiche: Tageseinrichtungen für Kinder, Kindergottesdienst, Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht in der Schule, Jugendarbeit, Frauenarbeit, Kirchenmusik und Pfarrerschaft. Ein Bündel von Kriterien war für die Arbeitsgruppe leitend: der Tageslauf, das Kirchenjahr, die Kasualien, der Sonntagsgottesdienst, die Verbindung über die Generationengrenzen hinweg, Gemeinschaft, emotionale Ansprache, die Ökumene, protestantisches Profil, die Mischung aus Traditionellem und Neuem, sowie sprachliche und musikalische Qualität. Die Kirchenleitungen in Karlsruhe und Stuttgart haben den Vorschlag der Arbeitsgruppe beraten und verabschiedet. Ein Flyer, aus dem die Kernlieder ersichtlich sind, wurde gedruckt und verteilt. Für Württemberg können im Amt für Kirchenmusik in Stuttgart Exemplare nachbestellt werden (Tel. 0711 – 2149 525; oder: [email protected]). Wer heute, aus welchem Blickwinkel auch immer, den Flyer mit den 33 Kern-Liedern ansieht, wird keine zehn Sekunden benötigen, um mindestens zwei für ihn entscheidend wichtige Lieder nennen zu können, die auf dieser Liste fehlen. So fühlt sich eine Schnittmenge aber an! Eine so knappe, überschaubare und vor allem gemeinsame RepertoireListe so unterschiedlicher Bereiche konnte nur zustande kommen, indem die Vertreter/innen aller Arbeitsbereiche, die an der Erarbeitung der Liste beteiligt waren, auf Lieder verzichtet haben, die ihnen wesentlich sind. Je größer die Kernlieder-Liste geworden wäre, desto weniger Bindekraft hätte sie gehabt. Es gab sogar Stimmen, die ähnlich einer Anregung der EKD-Denkschrift „Kirche der Freiheit“ für eine noch radikalere Begrenzung plädiert haben. Dieser Weg wurde nicht beschritten. Trotzdem war der Prozess mit Schmerzen verbunden. So aber hat die Kernlieder-Liste in ihrer überschaubaren Form den Charakter einer Schnittmenge aus Bereichen, die gerade im Singen oft nur wenig oder überhaupt keine Berührung mehr miteinander haben, die aber über ein solches Kern-Repertoire wieder in Berührung miteinander kommen können. Hier könnte sich in der Tat etwas Neues auftun! Verbindlichkeit Neben „Repertoirebildung“ ist „Gemeinsamkeit“ der andere konzeptionelle Grundbegriff, der die Intention der Kern-Lieder prägt. Welchen Grad von Verbindlichkeit hat die Kernlieder- Liste? Die Kirchenleitungen publizieren das Kernlieder-Repertoire nicht auf dem Weg des Erlasses, der die Singarbeiter und –arbeiterinnen formal in die Pflicht nähme. Sinnstiftung und Orientierung lassen sich im Zeitalter der Globalisierung nicht dekretieren, die Rezeption, sei’s individuell, sei es in Gruppen und Gemeinden, ist nicht hierarchisch steuerbar. Verbindlichkeit kommt also nicht zustande durch das Oktroy einer Behörde, sondern verbindlich wird, was das verbindet, was auseinanderstrebt. Die Kirchenleitungen geben die Kernliederliste deshalb hinein in einen „Aushandlungsprozess“ darüber, was uns verbinden soll. Sie verbinden mit der Publikation der Liste die große Bitte, sie in allen Bereichen beider Landeskirchen, in denen gesungen wird, bei der langfristigen Bildung eines gemeinsamen Liederrepertoires zu verwenden. Im Blick sind die Kindergärten, der Religions- und Konfirmandenunterricht, der Kindergottesdienst, die Jugendarbeit, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchöre, natürlich die Sonntagsgottesdienste, aber auch die Kasualien verschiedenster Art. So kann längerfristig gesehen eine Schnittmenge der kirchlichen Singkulturen und auch der Generationen entstehen, vielleicht sogar ein neues Instrument der Gemeinsamkeit von Kulturen und Generationen. Die ersten Resonanzen sind gut. Bernhard Leube Pfarrer im Amt für Kirchenmusik, Stuttgart