Zur Analogie des Lebensbegriffs und ihrer bioethischen Relevanz

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Walter Schweidler
Zur Analogie des Lebensbegriffs und ihrer bioethischen Relevanz
Nach einem berühmten Wort von Konfuzius besteht der Kern ethischen Nachdenkens darin,
„die Bezeichnungen richtig zu stellen“.1 Ich interpretiere dieses Wort im Kontext unseres
Themas als den in der Tat entscheidenden Hinweis auf den fundamentalen Unterschied
zwischen dem ethischen Diskurs und jenen beiden anderen Diskursen, welche die Grundlage
unseres politischen Umgangs mit dem Leben und der Gesellschaft bilden, nämlich dem
naturwissenschaftlichen und dem juristischen Diskurs. Dem naturwissenschaftlichen Diskurs
liegt die Kompetenz spezialisierter Forscher zugrunde, Fakten zu erklären, sie in die
Strukturen der Wirklichkeit einzuordnen und gegebenenfalls neue Fakten zu entdecken bzw.
neues Wissen um die Strukturen der Wirklichkeit zu gewinnen. Bezeichnungen haben hier
den Sinn, Wirkliches so wie es ist, wiederzugeben. Die Bedeutung des Wortes „Wasser“ lässt
sich durch eine bestimmte molekulare Verbindung definieren, H²0, und die Bestätigung dieses
Sachverhalts ist eine Angelegenheit empirischer Beobachtung und experimenteller
Überprüfung. Die ärztliche Kompetenz ist wesentlich naturwissenschaftlich gegründet; aber
die tiefste Verantwortung, der sich das ärztliche Handeln an den Grenzen der menschlichen
Existenz stellen muß, lässt sich nicht mehr innerhalb des naturwissenschaftlichen Diskurses
definieren. Die Frage, was der Tod ist, gehört dem ethischen Diskurs an. Das bedeutet nicht,
daß ihre Entscheidung etwa in der Kompetenz von Philosophieprofessoren stünde. Sondern es
bedeutet, daß jede und jeder, die oder der von ihr berührt werden, ihre Antwort auf diese
Frage nicht mit dem Hinweis auf naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern auf andere
Weise zu rechtfertigen haben. Man kann medizinische Methoden entdecken, die das definitive
Absterben der Hirnfunktionen festzustellen erlauben, aber man kann nicht mit medizinischen
Methoden „entdecken“, daß im definitiven Absterben der Hirnfunktionen der Tod des
Menschen besteht.
Exakte Maßstäbe der Definition und Überprüfung gibt es auch im juristischen Diskurs, nur
tritt als deren Grundlage an die Stelle der empirischen Beobachtung die gesellschaftliche und
letztlich die politische Dezision: Der Gesetzgeber entscheidet, was ein Rechtsbegriff bedeutet,
1
Vgl. Lunyu (Ralf Moritz: Konfuzius. Gespräche, Stuttgart 1998) XIII.3.
und wenn er beispielsweise bestimmt, daß der Begriff des Todes mit Hilfe der
„Hirntoddefinition“ neu zu bestimmen sei, dann hat sich mit dem Tatbestand des
entsprechenden Paragraphen die Bedeutung des Begriffs geändert; die Frage, ob der
Gesetzgeber mit der Neudefinition das getroffen habe, was der Tod wirklich ist, hat in dieser
Form keinen oder jedenfalls keinen wissenschaftlich rekonstruierbaren Sinn. Andererseits
geht der politischen Entscheidung, bevor sie dergestalt juristisch fixiert wird, eine ethische
Diskussion voraus, bei der sehr wohl gefragt wird, welche gesetzgeberische Entscheidung die
richtige sei. Worin besteht der Maßstab dieser Diskussion und damit des ethischen Diskurses?
Wo verlaufen die Grenzen, an denen sich unser Umgang mit den ethischen Begriffen
ausrichten kann und ausrichten muß, mit jenen Begriffen also, deren Eigentümlichkeit nach
Kant darin besteht, daß sie den Gegenstand, auf den sie sich beziehen und nach dem sie sich
zu richten haben, zugleich mit ihrem richtigen Gebrauch erst mit hervorbringen? Welcher Art
ist dieser eigentümliche Gegenstand?
Es ist genau diese Frage, die uns zwingt, den Begriff der Menschenwürde heranzuziehen und
seine Bedeutung richtig zu stellen. Dieser Begriff ist keine Leerformel, kein versteckter
Appell und keine Glaubensgröße. Er bezeichnet die Verständigungsbasis, von der her der
ethische Diskurs seine Vernünftigkeit und Vermittelbarkeit gewinnt. Er bezeichnet ganz
präzise eine eigentümliche Form von Wirklichkeit, durch die alle menschlichen Wesen
miteinander verbunden sind. Er bezeichnet ein abstraktes Verhältnis, ähnlich wie etwa der
Begriff des Eigentums im Unterschied zu dem des Besitzes ein abstraktes Verhältnis
bezeichnet, in dem eine Rechtsperson durch ihre Macht über eine Sache indirekt zu allen
anderen Personen steht. Und ähnlich wie es für eine Rechtsperson keinen Sinn hat, gegenüber
einem Wesen, das dem Rechtsverband nicht angehört, ihr Eigentum einzuklagen, ist die
Menschenwürde etwas, das nur Menschen miteinander verbindet. Der Affe, der den
Fotoapparat des Touristen zerlegt, verletzt ebenso wenig dessen Eigentumsrecht wie der
Löwe, der den Wärter frisst, dessen Recht auf Leben negiert. Tiere stehen mit Menschen in
keinem Rechtsverhältnis, das heißt sie können sich Menschen und Menschen können sich
ihnen gegenüber nicht rechtfertigen. Die Menschenwürde hingegen ist das, was uns zwingt,
uns vor allen anderen Menschen für das, was wir tun, zu rechtfertigen. Warum aber können
Menschen sich gegenüber Menschen rechtfertigen?
Die Frage ist doppeldeutig. Man kann sie im Blick auf individuelle Einzelfälle beantworten
und etwa sagen, daß ein Mensch sich für seine Taten rechtfertigen könne, weil er seine
Pflichten erfüllt, weil er in Notwehr gehandelt oder weil er größeren Schaden verhindert habe.
Man kann die Frage aber auch als grundsätzliche Frage nach den Bedingungen verstehen, die
solch konkrete Rechtfertigung erst möglich machen, die also der Grund dafür sind, daß es
zwischen Menschen überhaupt normative Ansprüche und normative Kriterien ihrer Erfüllung
oder Verfehlung gibt. Als solche ist die Frage dann eindeutig Bestandteil des ethischen
Diskurses, denn wer sie stellt, hat die prinzipielle Notwendigkeit, sich als Mensch für sein
Tun rechtfertigen zu müssen, schon anerkannt. Der ethische Diskurs ist gegenüber seinem
Gegenstand nicht neutral; wir suchen in ihm mit vernünftigen Gründen nach einer
Rechtfertigung für das Verhältnis, aufgrund dessen wir uns gegenüber anderen Menschen
rechtfertigen. Es ist also eigentlich dieses Verhältnis selbst, um das es im ethischen Diskurs
geht. Indem wir ethische Grundbegriffe richtig stellen, leisten wir nicht etwa eine Vorarbeit,
aufgrund derer dann die Frage nach den Bedingungen, die es möglich machen, daß Menschen
sich voreinander rechtfertigen können, erst noch zu beantworten wäre; sondern die
Richtigstellung der Begriffe und die Begründung für das zwischen Menschen bestehende
Rechtfertigungsverhältnis fallen in eins. Nicht weniger ist beansprucht, wenn es darum geht,
die Begriffe der Menschenwürde und des Menschenlebens richtig zu stellen.
Damit Menschen sich im individuellen Einzelfall rechtfertigen können, müssen sie über
bestimmte Eigenschaften verfügen: sie müssen der Sprache mächtig sein, ein gewisses Maß
an Intelligenz besitzen und die Regeln kennen, aufgrund derer sie sich für ihr Tun zu
verantworten haben. Aber all dem ist immer schon vorausgesetzt, daß überhaupt zwischen
Menschen die Notwendigkeit besteht, sich zu rechtfertigen. Wäre diese Notwendigkeit
ihrerseits eine Implikation bestimmter Eigenschaften konkreter menschlicher Individuen,
dann könnte man sie ganz einfach aus der Welt schaffen, indem man jene Eigenschaften
beseitigt oder indem man verhindert, daß sie sich ausbilden. Das berüchtigte mittelalterliche
Experiment, bei dem man verhinderte, daß Kinder auf die ihnen natürliche Weise ihre
Muttersprache erlernten und dem diese Kinder zum Opfer fielen, verstieß gegen ihre
Menschenwürde, gerade weil es sie daran hinderte, in einen Zustand hineinzuwachsen, in dem
sie den ihnen zustehenden Respekt hätten reklamieren können. Und diese Feststellung gilt
unabhängig von der Frage, ob sie alle diesen Zustand tatsächlich erreicht hätten, wenn das
Experiment nicht durchgeführt worden wäre. Der Grund, der es verbietet, ein Kind daran zu
hindern, auf natürlichem Weg sprechen zu lernen, liegt nicht in dem Zustand, den es am Ende
dieses Weges erreicht, sondern eben darin, daß dieser Weg von Natur aus zu einem
menschlichen Leben gehört. Die Maßstäbe des menschenwürdigen Handelns können letztlich
nicht von den konkreten Eigenschaften der von diesem Handeln betroffenen Individuen
abhängig sein. Nur unter dieser Voraussetzung ist das für unsere Rechtsordnung so zentrale,
aber in seiner Bedeutung durchaus verwickelte, ja geradezu paradoxe Wort von der
„Unantastbarkeit“ bzw. der „Unverletztlichkeit“ der Menschenwürde überhaupt verstehbar.
Bestünde die Würde nicht in Verhältnissen zwischen, sondern – wie etwa die Gesundheit – in
Eigenschaften oder Vermögen von Menschen, dann würde man sie in eben dem Maße
verlieren, in dem sie verletzt wird. Aber der Mensch, an dem eine würdeverletzende
Handlung begangen wird, verliert durch sie gerade nicht seine Würde, eben weil diese Würde
nicht etwas „an“ ihm Vorhandenes, sondern ein Verhältnis ist, das jeder konkreten
Beeinträchtigung gegenüber unversehrt bleibt. Man kann wieder den Eigentumsbegriff zur
Parallele heranziehen: Während man den Besitz durch faktischen Entzug der Zugriffsgewalt
auf eine Sache verliert, bleibt das Eigentumsverhältnis an ihr bestehen, auch wenn die Rechte,
die sich aus ihm ergeben, verletzt werden. Die Würde des Menschen wird nicht durch
faktische Vermögen des Individuums, sondern durch abstrakte Normen konstituiert, die uns
ungeachtet aller individuellen Besonderheiten miteinander verbinden. Es ist genau die
Eigentümlichkeit dieser Normen, die dem ethischen Diskurs seine Eigenart verleiht; denn bei
ihnen handelt es sich weder um Naturgesetze noch um staatliche Setzungen.
Die abstrakte Qualität dieser Normen zeigt sich nicht zuletzt daran, daß ihre Geltung auch
unabhängig davon ist, ob sich die Subjekte, auf die sie sich beziehen, ihrer bewusst sind oder
nicht. Es gibt eklatante Fälle menschenunwürdiger Behandlung, bei denen gerade die
Ahnungslosigkeit des Opfers ein entscheidender Unwertsfaktor ist. So wurde vor nicht langer
Zeit von einem Pfleger in einem Altenheim berichtet, der seine Verachtung gegenüber einem
alten Patienten dadurch manifestierte, daß er ihm den selben Lappen, den dieser zur
Reinigung des Gesäßes benützte, auch für das Gesicht verabreichte, ohne daß er es merken
konnte. Wenn der Respekt vor der Menschenwürde an das Bewusstsein ihrer Träger gebunden
wäre, dann müsste man, um mit einem Menschen machen zu dürfen, was man will, ihm nur
das Bewusstsein von dem, was ihm geschieht, rauben. Und umgekehrt wäre derjenige, der
sich der menschenunwürdigen Qualität seines Tuns nicht bewusst ist, dadurch von seiner
Verantwortung für es freigesprochen. Wenn wir als Träger der Menschenwürde nur
diejenigen Wesen anerkennen wollten, die sich der Normen, welche diese Würde
konstituieren, aktuell bewusst sind oder sich ihrer zum Zeitpunkt eines Normverstoßes doch
bewusst werden könnten, dann müssten wir einen signifikanten Teil der Menschheit aus
diesem Trägerkreis ausschließen. Vor allem würde dann das ärztliche Handeln, insofern
dieses seine Bedeutung gerade daraus bezieht, daß es Menschen, denen die bewusste
Herrschaft über ihr Leben verlorengegangen ist, wieder in sie zurückversetzt, zu einem reinen
Willkür- oder Geschäftsakt, zu einer Dienstleistung anstelle jener humanitären Grundaufgabe,
von der her der Arztberuf in allen Kulturen seine unvergleichliche Reputation erfährt. Träger
der Menschenwürde können deshalb nicht nur diejenigen Wesen sein, die gerade
augenblicklich über die körperlichen und psychischen Fähigkeiten verfügen, die Normen
wahrzunehmen, welche diese Würde konstituieren; sondern Träger der Menschenwürde
müssen alle Wesen sein, für die diese Normen gelten. Wie aber wird dieser Kreis festgelegt,
wenn es sich bei den hier in Frage stehenden Normen weder um Naturgesetze, die unserem
Willen entzogen sind, noch um politische Dezisionen handelt, die auf unserer freien
Entscheidung zum Zusammenleben mit einer bestimmten Gemeinschaft beruhen? Wer
definiert, worin die Würde des Menschen besteht und wem sie zukommt und wem nicht?
Es dürfte genau die mit dieser Frage bezeichnete Schwelle sein, an der sich die Zukunft des
ethischen Diskurses, insofern er auf den Begriff der Menschenwürde aufgebaut ist,
entscheidet. Der Begriff „Menschenwürde“ enthält seiner innersten Natur nach nichts anderes
als das Verbot, die genannte Frage zu beantworten.2 Niemand hat das Recht, darüber zu
befinden, ob einem anderen Menschen Würde zukommt oder nicht. Das heißt, die Würde des
Menschen lässt sich nicht definieren, sondern nur respektieren. Daher kann es auch so etwas
wie eine „abgestufte“ Würde prinzipiell nicht geben. Würde hat nach der klassischen
Definition von Kant, was „über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“ 3.
Einem Wesen Würde zusprechen bedeutet, es jeglicher Abwägung gegen irgendwelche Güter
anderer Art – oder auch gegen Interessen anderer Wesen seiner eigenen Art – zu entziehen.
Weil der Würdebegriff seiner innersten Anlage nach ein Verbotsbegriff ist, obliegt seine
Konkretisierung nicht dem naturwissenschaftlichen, sondern dem juristischen Diskurs, für den
es ja typisch ist, daß er von Störungen des menschlichen Zusammenlebens ausgeht und
2
Dieser Verbotscharakter ist für Rechtsbegriffe insgesamt charakteristisch, womit natürlich nicht gesagt ist, daß
der Würdebegriff nicht positiv definiert und in der Rechtsprechung differenziert ausgelegt würde. Gemeint ist,
daß seine Definition und Auslegung immer auf konkrete Konfliktfälle bezogen ist, deren Bewältigung durch die
Rechtsordnung geleistet wird. Die Legitimität von Gesetzgebung und Rechtsprechung wird eröffnet durch den
konkreten Entscheidungsfall, die Gefahr und die Störung, gegen welche die Rechtsordnung eine Gesellschaft zu
schützen hat, und insofern tragen rechtliche Begriffe, wenn sie auf dem Gedanken des Menschenrechts aufbauen,
konstitutionell den Charakter einer Negation der Negation, einer „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit
nach allgemeinen Gesetzen“ (Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (Werke, hrsg. Von W.
Weischedel, Band IV, Darmstadt 1983, AB 35). Vgl. dazu Walter Schweidler: Geistesmacht und Menschenrecht.
Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, Freiburg i.Br. 1994, §§
36 f., insbes. 445 f., sowie Walter Schweidler: Menschenrechte und kulturelle Identität, in: Ders.: Das
Unantastbare. Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte, Münster 2001, 163-188, insbes. 167.
3
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Band IV,
Darmstadt 1983, BA 77.
Regeln zu deren Behebung implementiert. Die juristischen Maßstäbe der inhaltlichen
Konkretisierung
der
Menschenwürde
ergeben
sich
aus
Tatbeständen
möglicher
Würdeverletzung und den zu ihrer Verhinderung gezogenen gesetzlichen Konsequenzen. Das
staatliche Gesetz legitimiert sich als Schutz-, nicht als Definitionsinstanz der Menschenwürde.
Wenn das staatliche Gesetz die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, dann legitimiert
es auch noch sich selbst aus einem Verbot und einer Grenze, die es sich setzt. Es schließt die
Fragen, welchem menschlichen Wesen Würde zukomme und welchem nicht oder welchem
ein höherer Grad an Würde zukomme als einem anderen, aus dem Bereich legitimer Inhalte
des juristischen Diskurses aus. Es gründet sich damit auf ein kategorisches Verbot der
Abwägung des „Wertes“ von Menschenleben gegen andere Güter oder gegeneinander und
auch der Instrumentalisierung eines menschlichen Wesens für die Interessen anderer.
Hier, in dieser rechtlichen Konstitution des Würdebegriffs, liegt der in der ethischen und auch
in der politischen Diskussion immer wieder ausgeblendete Grund für die Unrelativierbarkeit
und absolute Schutzbedürftigkeit des menschlichen Lebens. Wenn wir es zum obersten
Legitimationskriterium unserer Rechtsordnung machen, daß kein Mensch darüber befinden
darf, ob einem anderen menschlichen Wesen Würde zukommt oder nicht und daß kein
Mensch den Wert eines anderen Menschen gegen andere Güter abwägen darf, dann folgt
daraus als Reflex, daß alle Menschen, allein weil sie Menschen sind, ein unveräußerliches
Recht auf Leben haben. Es ist eben nicht so, daß man zuerst aus irgendwelchen religiösen
oder weltanschaulichen Motiven heraus die „Heiligkeit“ des menschlichen Lebens postulieren
müsste, um dann auf die Forderung zu schließen, daß kein Exemplar der Gattung Mensch in
seinem Lebensrecht beeinträchtigt werden dürfe. Wer diese Reihenfolge unterstellt, hat es
leicht, die Kritik am „naturalistischen Fehlschluß“ anzubringen und die rhetorische Frage zu
stellen, warum denn ausgerechnet die menschliche Gattung höher gewichtet werden solle als
alles andere in der Welt. Um eine „Höhergewichtung“ kann es schon deshalb nicht gehen,
weil die Kriterien für „höheres“ oder „niedrigeres“ Dasein wieder aus Eigenschaften und
Wertabwägungen gezogen werden müssten, auf die der Würdebegriff gerade nicht gestützt
werden kann. Die biologischen Zusammenhänge, welche die menschliche Gattung
konstituieren, erlangen ethische Relevanz nicht aufgrund einer angeblich „speziesistischen“
Auszeichnung dieser Gattung durch uns als ihre Angehörigen, sondern sie treten
gewissermaßen subsidiär in das Vakuum ein, das wir bewusst schaffen, wenn wir uns die
Beantwortung der Frage, was ein menschliches Leben zum Träger von Würde mache,
verbieten. Wenn der juristische Diskurs sich aus ethischen Gründen hier die unüberschreitbare
Grenze setzt, dann bleibt als die Instanz, die darüber entscheidet, wer Mensch ist und wer
nicht, nur die Natur übrig. Wenn uns die positive Auszeichnung von Eigenschaften, aufgrund
derer ein menschliches Leben einem anderen überzuordnen wäre, verboten ist, dann bleibt nur
übrig, als menschliche Wesen alle diejenigen gelten zu lassen, die durch natürliche
Abstammung aus anderen menschlichen Wesen hervorgehen. Wir müssen die Natur
respektieren, nicht weil sie an sich heilig wäre, sondern weil wir sie nur nach Maßgabe von
Kriterien korrigieren könnten, die uns, ob wir wollen oder nicht, zu Herren über das Leben
anderer Menschen machen müssten.4
So jedenfalls ist es, solange wir die Schwelle, die mit der Frage nach solchen Kriterien berührt
wird, nicht überschreiten. Die Diskussion, die sich in den letzten Jahren auf dem Feld der
Bioethik abgespielt hat und die nunmehr in eine neue und in ihrer Brisanz noch einmal
gesteigerte Phase getreten ist, geht jedoch gerade um diese Grenzüberschreitung. Die
Position, die, wie ich jetzt skizziert habe, den ethischen Diskurs auf der Basis eines letztlich
Verbotscharakter tragenden Konzepts von Menschenwürde verankert sieht, ist auf einer
ganzen Reihe von Ebenen zurückgedrängt und relativiert worden. Abgetriebene Föten,
sogenannte überzählige Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung „anfallen“, genetisch
krankes Leben, das nach seiner pränatalen Untersuchung als unzumutbare Belastung seiner
Eltern klassifiziert wird, nunmehr Embryonen, die vernichtet werden, um Stammzellen zur
Züchtung von Gewebe zu gewinnen, das Krankheiten zu heilen erlaubt – und möglicherweise
einmal menschliches Leben, das anderem menschlichen Leben überhaupt nicht mehr auf
natürliche Weise entstammt, sondern aus ihm durch Klonieren künstlich erzeugt wird: Der
Mensch ist auf breiter Front zum Gegenstand der Abwägung seines Lebensrechts gegen
Zumutbarkeits- und Wünschbarkeits-, gegen Kosten- und Nutzengesichtspunkte geworden.
Heißt das, daß der ethische Diskurs, der auf dem Verbotskonzept von Menschenwürde basiert,
durch einen anderen widerlegt oder jedenfalls ersetzt worden ist, daß sich also eine neue Ethik
in unseren Gesellschaften durchgesetzt hat? Gibt es ein Prinzip, das an die Stelle der
Menschenwürde getreten wäre oder um dessen Durchsetzung zumindest gerungen würde?
Betrachtet man die Beispiele, die ich gerade kurz benannt habe und die ja allesamt Fälle der
Relativierung des Lebensschutzes am Beginn des menschlichen Lebens sind, dann wird man
diese Frage nicht bejahen können. Mit geradezu instinktiver Zähigkeit hat unsere
Rechtsordnung an der Behauptung des für ihre ganze Systematik und für die Legitimation des
4
Vgl. Robert Spaemann: Zur Aktualität des Naturrechts, in: Ders.: Philosophische Essays, Stuttgart 1994, 60-79,
insbes. 77 f.
modernen Staates überhaupt fundamentalen Würdekonzepts festgehalten. Sie hat dafür
allerdings einen hohen Preis bezahlt, der an ihre Wurzeln rühren könnte, nämlich den Preis
der zunehmenden Rechtsunsicherheit und tendenziellen Inkonsistenz. Das menschliche Leben
ist nach der deutschen Verfassungsrechtsprechung von der Befruchtung an geschützt, aber
Abtreibung wird in den bekannten Grenzen nicht bestraft und überdies sozialstaatlich
organisiert. Behindertes menschliches Leben darf nach unserem Grundrechtsverständnis in
keiner Weise diskriminiert werden, aber zwei Senate des höchsten deutschen Gerichts
kommen zu diametral entgegengesetzten Entscheidungen hinsichtlich der Frage, ob die
Geburt eines behinderten Menschen ein Schadensfall sei, der zu finanzieller Kompensation
führen müsse.5 Ein „menschliches Wesen“ ist nach der Bestimmung der Bioethik-Konvention
des Europarats gegen jede Instrumentalisierung für Zwecke, die nicht seiner Erhaltung oder
Heilung dienen, geschützt. Aber in der Erläuterung dieses Rechtssatzes wird ausdrücklich
gesagt, daß die Definition dessen, was ein „menschliches Wesen“ sei und insbesondere wann
es beginne, dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleibe.6 Dieselbe Konvention statuiert
zum Prinzip der Nichtinstrumentalisierung des menschlichen Lebens Ausnahmetatbestände,
die dazu geführt haben, daß eine Reihe von Ländern, unter anderem unseres, ihre
Unterzeichnung verweigert und ihr Inkrafttreten damit verhindert haben. Die Gewinnung von
embryonalen Stammzellen durch verbrauchende Forschung bleibt in Deutschland aufgrund
unseres Embryonenschutzgesetzes verboten, der Import der durch eben die bei uns verbotenen
Methoden gewonnenen Zellen jedoch ist aufgrund eines Gesetzes erlaubt, das wiederum zur
Bedingung für die Verwendung von Stammzellen macht, daß dieser die Vorschriften eben des
Embryonenschutzgesetzes nicht entgegenstünden.7
All die Dehnungen und Verrenkungen, die man in Kauf nimmt, um den faktischen
Zusammenbruch des ursprünglichen Konzepts einer unteilbaren Menschenwürde juristisch zu
kompensieren, deuten darauf hin, daß wir weit davon entfernt sind, eine ethische Alternative
zu ihm für akzeptabel zu halten. Insbesondere die weltweit einhellige juristische und
politische Verdammung des Klonens von Menschen lässt sich gar nicht erklären, wenn wir sie
nicht als instinktive Erinnerung daran verstehen, daß unser rechtliches Zusammenleben und
5
Vgl. dazu im einzelnen: Eduard Picker: Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier
fundamentaler Werte als Ausdruck der wachsenden Relativierung des Menschen, Stuttgart 2002, 43 ff., 195 f.
6
Vgl. dazu m.w.N. ebd. 10, 182 f. sowie: Walter Schweidler: Bioethische Konflikte und ihre politische
Regelung in Europa: Stand und Bewertung. Discussion Paper des Zentrums für Europäische
Integrationsforschung C 13 1998, Bonn 1998, 40.
7
Vgl. dazu die von Ernst Benda erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken, zitiert bei Georg Paul Hefty:
„Nicht verboten ist die Einfuhr...“. Der Gesetzesentwurf zum Stammzellimport, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 28.2.2002, Nr. 50, 4.
daß jene Fähigkeit zur Rechtfertigung, die den Menschen von allen andersgearteten Wesen in
der Natur unterscheidet, darauf beruhen, daß wir an der natürlichen Einheit der Menschheit
festhalten und diese gegen jede Relativierung verteidigen. Denn so kategorial, wie seine
einhellige weltweite Ablehnung impliziert, würde sich das Klonen von Menschen von vielen
bereits realisierten und erlaubten Praktiken nicht unterscheiden, jedenfalls was seine Folgen
für die von ihm betroffenen und eventuell durch es erzeugten Individuen anginge. Total
verändert würde durch es nur die Gesamtstruktur der Menschheit, die in einen natürlich
gezeugten und einen künstlich erzeugten Teil auseinandergerissen würde. Wenn wir davor
zurückschrecken, dann letztlich deshalb, weil mit der natürlichen Einheit der Menschheit
genau das endgültig verloren ginge, worauf unser Verbotskonzept von Würde ungeachtet aller
faktischen Relativierungen immer noch basiert. Wir müssten uns dann vor anderen Menschen
dafür rechtfertigen, daß sie sind, wie sie sind, und eben das Wissen, das wir dafür benötigten,
haben wir nicht und können wir nicht haben.
Die Lage ist also die, daß wir zum ethischen Diskurs auf der Basis des Verbotskonzepts der
Menschenwürde keine adäquate Alternative haben, seine juristische Konkretisierung jedoch
durch politische Kompromisse mit der Relativierung des unbedingten Respekts vor der
Menschenwürde zu vereinbaren gezwungen sind. In dieser Situation kommt nun eine
mögliche Strategie ins Blickfeld, über deren Charakter wir uns Klarheit verschaffen müssen,
wenn wir verstehen wollen, ob sie uns vor weiterer Inkonsistenz und Rechtsunsicherheit
tatsächlich bewahren kann oder ob sie die Tendenz dazu nicht noch entscheidend verschärfen
wird. Ich meine die Strategie, Entscheidungen über die Zugehörigkeit menschlicher Wesen
zum
unteilbaren
Verband
der
Träger
der
Menschenwürde
doch
in
den
naturwissenschaftlichen Diskurs zu verlagern. Im Zentrum dieser Strategie steht die Frage
nach den Grenzen dessen, was, wie mir scheint, am präzisesten mit dem Begriff des
„Menschenlebens“ benannt werden kann. Die Auseinandersetzung um diese Strategie bildet
die Fortführung, vielleicht sogar die Neuformulierung jener noch lange nicht abgeschlossenen
Debatte, in deren Zentrum der Streit um die mögliche Differenz zwischen Personsein und
Menschsein steht. Was dort als die Frage nach den Grenzen des Personseins im Unterschied
zu denen des Menschseins formuliert wurde, taucht nun als die Frage nach den Grenzen des
Lebens menschlicher Wesen im Unterschied zu denen von menschlichem Leben auf. Der
entscheidende Schritt, der in diese Debatte geführt hat, ist gar nicht auf dem Feld der
Auseinandersetzung um den Beginn des Menschenlebens geschehen, sondern dort, wo es um
dessen Ende geht. Jeder soliden philosophischen Auseinandersetzung mit der Strategie der
scheinbar
naturwissenschaftlich
begründeten
Zertrennung
des
Bandes
zwischen
menschlichem Leben und Menschenwürde muß die Einsicht zugrunde liegen, daß die ethische
Relevanz der Grenzen des Menschenlebens nur geklärt werden kann, wenn die Frage nach
seinem Ende, die nach seinem Anfang und die nach seinen Grenzzuständen neu aufgerollt und
eng miteinander verknüpft werden. Insofern steht die „Hirntoddebatte“, was ihre ethische
Relevanz angeht, eigentlich noch am Anfang. Denn sie war es, die zum ersten Mal die
Differenzierung zwischen Menschenleben und menschlichem Leben zum Leitfaden einer
Auseinandersetzung
um
die
Menschenwürde
gemacht
hat.
Der
Mensch,
dessen
Hirnfunktionen definitiv abgestorben sind, wird gesetzlich als Leichnam betrachtet; aber die
Organe, deren Funktion durch technische Mittel aufrecht erhalten wird, sind doch zweifellos
seine, also die Organe eines Menschen. Es ist menschliches Leben, das in ihnen konserviert
wird. Demnach gibt es menschliches Leben, das nicht einem Menschen zugehört. Wessen
Leben ist dies dann aber? Es kündigt sich auf diese Frage eine Antwort an, die den
bioethischen Diskurs in den naturwissenschaftlichen hinüberzu geleiten scheint, nämlich die
Antwort: Es ist eben das Leben der Organe. Wenn es Leben „von Organen“ gibt, dann gibt es
auch das Leben „von Zellen“. Es gäbe demnach das „Leben“ menschlicher Zellen
unabhängig, vor und nach, vielleicht sogar neben dem Leben des Menschen, dem sie
entstammen. Und damit scheinen sich ungeahnte Möglichkeiten der Befriedung
gesellschaftlicher Konflikte durch Anrufung naturwissenschaftlicher Kompetenz zu eröffnen:
Können wir nicht mit sicheren naturwissenschaftlichen Methoden den Faktor ermitteln, ja
haben wir ihn nicht schon mit dem Gehirn als dem „kritischen“ Organ entdeckt, der das
Leben menschlicher Zellen und Organe erst zum Menschenleben, zur Einheit eines Wesens
organisiert, dem wir dann gerne die Würde zugestehen können, die es von allen anderen
Lebewesen – einschließlich jenen Zellen, aus denen es hervorgeht und die nach seinem Ende
von ihm übrig bleiben und die vielleicht sogar neben ihm existieren können – unterscheidet?
Sind wir dann nicht auch in der Lage, mit naturwissenschaftlich begründeten Methoden auch
die andere Grenze zu bestimmen, diejenige, die den Beginn des Menschenlebens von den ihm
vorhergehenden Stationen bloßen menschlichen Zellen- und Organlebens trennt? Warum soll
beispielsweise nicht das naturwissenschaftlich feststellbare Einsetzen von Hirnfunktionen
innerhalb jenes ihm vorausgehenden zellulären Agglomerats, also gewissermaßen der Anfang
des „Hirnlebens“ entsprechend zum „Hirntod“, den Beginn der Existenz eines
Menschenlebens markieren? Mag die Würde des Menschen in der Tat aus Verhältnissen und
nicht aus Eigenschaften begründet sein, für das Ende und dementsprechend für den Anfang
eines Menschenlebens kommt es doch offenbar auf Merkmale an, die sich einzig und allein an
einem individuellen Lebewesen finden lassen; und zumindest dort, wo diese Individualität
noch nicht einmal ausgebildet, noch nicht einmal entschieden ist, scheint dann zwar die
Existenz menschlichen, nicht jedoch die des Lebens eines menschlichen Individuums
zugestanden werden zu müssen.
Es ist nicht zu bestreiten, daß sich für denjenigen Diskurs, auf den ich bisher explizit noch gar
nicht zu sprechen gekommen bin und der an einer operationalisierbaren Verständigungsbasis
über die Grenzen der Menschenwürde am meisten interessiert ist, nämlich den politischen,
durch diese Differenzierung zwischen menschlichem Leben und Menschenleben wichtige
Perspektiven eröffnen, um der direkten Infragestellung des Verbotskonzepts der
Menschenwürde auszuweichen. Wenn man das Menschenleben erst mit dem Stadium
beginnen lässt, in dem menschliche Zellen sich soweit entwickelt haben, daß die Ausbildung
eines konkreten Individuums festgelegt ist, dann stünde der Träger des diesem Stadium
vorhergehenden Lebens für die Gewinnung von embryonalen Stammzellen zur Verfügung,
bevor sich die Frage der Menschenwürde stellte. Damit wäre auch der Weg für die Zulassung
des sogenannten „therapeutischen Klonens“ geöffnet.8 Dann könnte man auch argumentieren,
daß die Herstellung eines Embryos durch Klonierung eines aus der Blastozyste gewonnenen
Zellkerns unter der – noch hypothetischen – Voraussetzung, daß diese Blastozyste durch neue
medizinische Methoden erhalten und zu einem Menschenleben fortentwickelt werden kann,
gar kein eigenes Individuum, sondern einen genetisch mit seinem Spender identischen
Ableger hervorbringt, der eher den Status eines diesem zugehörigen Gewebes als den eines
selbständigen menschlichen Wesens habe.9 Dann hätten wir tatsächlich den Fall
nebeneinander existierenden Menschenlebens und zu ihm als Ersatz- und Rohmaterial
gehörigen „menschlichen Lebens“. Zudem erscheint ein politischer Kompromiß hinsichtlich
der Frage nach dem Beginn des Menschenlebens zwischen verschiedenen religiösen
Menschenbildern durchaus denkbar. Würde man den Beginn des Menschenlebens dort
ansetzen, wo die Anthropologie des heiligen Thomas von Aquin10 oder die den islamischen
Grundvorstellungen von der Natur des Menschen die Beseelung des menschlichen Leibes
Vgl. in diesem Sinne etwa: „Unglaubliche Ignoranz der Politiker. Der Biologe Rudolf Jaenisch über Politik und
Kommerz in der Stammzellforschung, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2002, zugänglich unter
http:\www.nzz.ch/dossiers/biomedizin/2002.05.25-zf-article85E20.html.
9
Vgl. dazu Eve-Marie Engels: Ethische Aspekte der Transplantations- und Reproduktionsmedizin am Beispiel
der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen, in: Nova Acta Leopoldiana NF 82, Nr. 315 (2000), 159 –
183, 177.
8
10
ansetzen,11 so hätte man eine erhebliche Zeitspanne reserviert, in der menschliches Leben mit
anderem Status als dem des Menschenlebens zur Disposition der Gesetzgebung stünde. Noch
weitergehend wird in der deutschen Diskussion schon die Frage gestellt, „was denn eigentlich
gegen (die seit Jahrtausenden praktizierte Auffassung) spricht“, Menschenleben „mit der
Geburt beginnen zu lassen“12.
Es dürfte kein Zufall sein, daß die Befürworter einer solchen Art von religiösweltanschaulichem Kompromiß gerade auf Positionen verweisen, die geschichtlich hinter der
Entwicklung des modernen Verbotskonzepts der Menschenwürde zurückliegen. Es ist schon
eine Verzerrung der Diskussion, wenn man derartige Erörterungen aus dem ihnen eigenen
anthropologischen Kontext reißt und sie unmittelbar für die ethische Frage nutzbar machen
will, was Menschen mit dem nicht oder noch nicht beseelten menschlichen Leben tun dürfen.
Im Kontext der theologischen oder religiösen Anthropologie wird an dieser Stelle prinzipiell
eine Kategorie relevant, ohne die man in den ethischen Kontext nicht hinübergelangt, und das
ist die Kategorie der Schöpfung. Über menschliches Leben zu verfügen, auch wenn es nicht
die volle Gestalt des Menschenlebens erreicht haben sollte, heißt doch in einen Prozeß
einzugreifen, der vom Schöpfer als kontinuierlicher und in sich einheitlicher gewollt worden
ist. So beruft sich eine für die islamische Anthropologie typische Argumentation gegen die
ethische Vertretbarkeit des Klonens darauf, daß die Erzeugung eines menschlichen Wesens
unter Durchbrechung der natürlichen Abstammungslinie die kausale Verbindung des
Menschengeschlechts mit dem einen Schöpfer, der allein dieses Geschlecht ins Leben gerufen
hat, zerschneiden würde.13 Und im Kontext des philosophisch-theologischen Systems eines
Thomas von Aquin geschieht der Schritt von der Anthropologie in die Ethik in entscheidender
Weise dort, wo nicht nach so etwas wie dem „Status“ unbeseelten menschlichen Lebens,
sondern nach dem Charakter bestimmter es betreffender Handlungen zu fragen ist. Für die
Beantwortung der Frage, wie ein Handelnder mit unbeseeltem menschlichem Leben umgehen
darf, kommt es zuletzt nicht auf den humanen Status solchen Lebens, sondern auf den dieses
Handelnden an: Nicht ob dem unbeseelten Leben innewohnende spezifisch menschliche
Dem Propheten Mohammed wird die Aussage zugeschrieben, der Mensch sei nach der Befruchtung „vierzig
Tage Samen, vierzig Tage Knoten, vierzig Tage Fleischklumpen“, dann erst werde ihm die Seele eingehaucht.
Die maßgeblichen sunnitischen Rechtsschulen setzen die Beseelung mehrheitlich vierzig Tage nach der
Befruchtung an; vgl. Holger Tillmann: Menschen? Ach nein, das sind ja Fleischklöpse. Die Worte des Propheten
Mohammed können einen strengen Embryonenschutz nicht begründen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
20.12.2001, Nr. 296, 56.
12
Volker Gerhardt: Der Mensch wird geboren. Philosophische Würdigung der Gentechnik, in: Zur Debatte, 31.
Jahrgang (2001), Sondernummer B 215 75 F, 9 (mit „menschlichem Leben“ anstelle meines hier aber
entsprechenden Ausdrucks „Menschenleben“).
13
Majdah Zawawi: Human Cloning. A Comparative Study of the Legal and Ethical Aspects of Reproductive
Human Cloning, Institute of Islamic Understanding Malaysia 2001, 20.
11
Eigenschaften beeinträchtigt würden, sondern ob der Handelnde seine naturgegebene
Berufung, das menschliche Leben „als Mitwirken an der göttlichen Schöpferliebe“14
weiterzugeben, verletzen würde, ist die Frage, deren ethische Beantwortung dazu zwingt,
auch das unbeseelte Leben als ein zu Respekt und Schutz verpflichtendes Rechtsgut zu
betrachten.
Das moderne Konzept der Menschenwürde ist ohne den metaphysischen Kontext eines
solchen Schöpfungsbegriffs entstanden und kann insofern nicht unmittelbar auf frühere
Vorstellungen von beseeltem oder nicht beseeltem menschlichem Leben zurückbezogen
werden. Der neuzeitliche Staat, auf dessen Legitimationsmodell unsere heutige Rechts- und
Friedensordnung beruhen, überlässt große Bereiche der Lebensführung dem privaten Urteil
seiner Bürgerinnen und Bürger, das sie insofern gegebenenfalls durchaus aufgrund ihrer
religiösen Überzeugungen bilden und fällen mögen – aber das Urteil über Beginn und Ende
des Menschenlebens gehört zu diesen Bereichen mit Sicherheit nicht. Kein weltanschaulicher
Konsens oder Kompromiß zwischen privaten Auffassungen könnte die staatliche
Verpflichtung zum ungeteilten Respekt vor der Würde allen menschlichen Lebens
relativieren. Das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist der Regelungsgewalt des
modernen Staates entzogen, nicht weil er das diesem Prinzip innewohnende Verbot aus
irgendwelchen metaphysischen Vorstellungen abgeleitet hätte, sondern weil er seine Gewalt
selbst aus ihm begründet. Er hat überhaupt kein anderes, kein transzendentes
Legitimationskriterium, er hat ebenso wenig ein ethisch begründbares Korrektiv gegen die
Freiheits- und Entfaltungsansprüche der ihm unterworfenen Regierten als nur das Prinzip des
Respekts vor der gleichen Würde aller Menschen. Was er gegen den Willen irgend eines
seiner Bürger durchsetzen darf, das kann er nur aus seiner Verpflichtung gegenüber den
Rechten anderer und letztlich aller seiner Bürger begründen. Das bedeutet umgekehrt, daß
jede Inanspruchnahme der Definitionsgewalt darüber, wer zum Kreis der von ihm zu
respektierenden menschlichen Wesen gehört, gleichbedeutend ist mit der Ermächtigung eines
letztlich willkürlich zusammengesetzten Kreises seiner Bürger, das aus diesem Kreis
ausgeschlossene menschliche Leben daraufhin zu beurteilen, ob und inwieweit seine
Zulassung zu diesem ausgewählten Zirkel den Interessen der bereits zu ihm Gehörigen dient
oder nicht. Würde und Lebensrecht würden damit zu Funktionen der gesellschaftlichen
Vereinbarung über erwünschte Ausdehnung von Freiheits- und Eigentumsspielräumen.
Dagegen eben schützt allein das Verständnis des Begriffs der Menschenwürde als eines
14
Martin Rhonheimer: Natur als Grundlage der Moral. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und
teleologischer Ethik, Innsbruck/Wien 1987, 115.
Konzepts, das uns auch die Trennung zwischen menschlichem Leben und dem Leben von
Menschen noch verbietet.
Weil auch mit ihr seine letzte Legitimationsbasis berührt ist, kann der Rechtsstaat die Frage
nach der Differenz zwischen menschlichem Leben und dem Leben von Menschen weder auf
den naturwissenschaftlichen noch auf den (inter-)religiösen Diskurs abschieben; sie bleibt
unweigerlich eine ethische Frage, die seine rechtliche Verantwortung gegenüber allen
Bürgerinnen und Bürgern mit begründet. Um dies zu erkennen, muß man sich allerdings
gerade an dieser Stelle noch einmal klarmachen, daß die ethische Dimension einer Frage oft
mehr als in ihrer Beantwortung dort entschieden wird, wo es darum geht, sie richtig zu stellen.
Die ethische Brisanz des Streits um die Stammzellforschung beispielsweise ist nicht zu
verstehen, wenn man einfach nur nach dem „Status“ embryonaler Zellen und nach den
Möglichkeiten
fragt,
die
sie
der
medizinischen
Forschung
eröffnen.
Ethisch
ausschlaggebendend ist hier nicht die Qualität von Zellen, sondern von Handlungen. Die
entscheidende Frage lautet nicht, was Stammzellen sind, sondern was für Handlungen nötig
sind, um an Stammzellen zu kommen. Ganz entsprechend hierzu hat man den ethischen
Aspekt schon verfehlt, wenn man sich Fragen stellt wie die, ob transplantierbare Organe,
gezüchtetes Gewebe oder „endgültig“ nicht mehr für Fortpflanzungszwecke in Frage
kommende Embryonen denn als „menschliche Wesen“ betrachtet werden könnten; worauf es
ankommt ist vielmehr, wie die Handlungen ethisch zu beurteilen sind, aufgrund derer wir mit
solchen Entitäten konfrontiert werden. Ethisch kommt es eben nicht darauf an, ob wir eine
Differenz zwischen menschlichem Leben und dem Leben von Menschen erzeugen können,
sondern ob wir dies dürfen. Nicht ob menschliches Leben jenseits lebender Menschen,
sondern ob es auf deren Kosten existiert, ist entscheidend.
Wenn gezüchtetes Gewebe, transplantierbare Organe oder embryonale Stammzellen auf
Kosten menschlicher Wesen existieren, aus denen sie „gewonnen“ oder denen sie entnommen
wurden, dann ist die Feststellung, daß es sich bei ihnen um das „Leben“ dieser Organe oder
Zellen handle in hohem Maße irreführend, weil sie impliziert, daß das Leben eine Art
Eigenschaft oder Zustand eines materiellen Trägers wäre, der von diesem auf einen anderen
Träger oder einen Teil des ursprünglichen Trägers quasi übertragen werden könnte. Aber ein
solches Bild verwirrt gerade den Unterschied zwischen lebendigen Wesen und toter Materie.
Kein philosophisches Diktum drückt diese für die gesamte ontologische Gliederung der
Wirklichkeit so fundamentale Differenz urtümlicher aus als das aristotelische vivere
viventibus est esse.15 In diesem durch die Philosophiegeschichte fortwährend wiederholten
Satz ist eine ganz entscheidende Aussage enthalten, die wir mutatis mutandis noch in der
modernen Konzeption der unteilbaren Würde des menschlichen Lebens aufgehoben finden,
nämlich die Aussage, daß Leben nicht die Eigenschaft einer es tragenden Entität ist, sondern
daß die Lebewesen selbst die letzten substanziellen Einheiten dessen sind, was wir lebendig
nennen. Wenn ein Lebewesen stirbt, dann verliert es nicht eine oder einen Komplex von
Eigenschaften, sondern dann hört es auf zu existieren. Thomas von Aquin sagt darum einmal,
daß wir die Glieder eines toten menschlichen Leibes nicht mehr im selben, das heißt im
univoken Sinne Glieder nennen können wie die eines lebenden Menschen; 16 eine
abgeschlagene Hand ist nur noch in einem analogen Sinne eine Hand, weil sie dem Träger
nicht mehr angehört, der sie als das, was sie ist, konstituiert. In keinem Fall ist die Hand selbst
dieser Träger. Gerade die Befürworter des „Hirntodkriteriums“ liefern, indem sie Atmung und
Reflexe des immerhin der Bestattung noch nicht fähigen Leibes eigentlich als etwas zu
betrachten gewillt sind, was einem wirklichen Organismus bloß analog ist, für die Plausibilität
dieser Sichtweise noch einen indirekten Beleg. Es ist überhaupt nicht zu sehen, warum und
inwiefern die angebliche Eigenschaft „Leben“, die der das zu entnehmende Organ enthaltende
Leib mit dem „Hirntod“ verloren haben soll, ausgerechnet mit der Entfernung des Organs aus
ihm in dieses zurückkehren soll. Das Wort „Hirntod“ hat einen guten Teil seiner suggestiven
Kraft ohnehin aus der Ambiguität, mit der es zwischen der herkömmlichen Beziehung auf das
Ende der Existenz eines lebendigen Menschen („Herztod“) und der irreführenden Vorstellung
vom Ende des „Lebens“ eines Organs namens Gehirn schillert. Wenn wir Organe oder Zellen
getrennt von dem Leib, dem sie entstammen, in Funktion erhalten, kultivieren und sogar in
selbständige Weiterentwicklung versetzen können, dann ändert das nichts daran, daß das
„Leben“, dem sie ontologisch zugehören, das Leben der menschlichen Person ist oder
gewesen ist, welcher sie entnommen wurden. Was diese Organe zu Organen macht und was
diesen Zellen ihre ontologische Identität verleiht, ist das Leben des organischen Wesens, in
dem sie ihre Funktion entfaltet haben oder auch zu entfalten bestimmt sind. Und sofern es
sich um menschliche Organe oder Zellen handelt, dann sind es die Würde und der Schutz des
Lebens einer menschlichen Person, was auf dem Spiel stand, als sie gewonnen wurden, und
was weiterhin involviert ist, wenn wir mit ihnen umgehen.
Die ontologische Ureinsicht des vivere viventibus est esse ist ja nicht etwa eine metaphysische
Antithese zum naturwissenschaftlichen Weltbild, sondern sie steckt selbst noch und wiederum
15
16
Aristoteles: De anima III.4, 429 b (in : Philosophische Schriften, Band 6, Darmstadt 1995).
Thomas von Aquin: Kommentar zu de generatione et corruptione 1, 15 (n. 108)..
im Zentrum des Konzepts, mit dem die heutige biologische Wissenschaft die Gliederungsund damit die Erklärungsprinzipien der lebendigen Natur formuliert, nämlich des
biogenetischen Artkonzepts.17 Die „Arten“ des Lebendigen sind eben nicht, wie es das
überkommene morphogenetische Verständnis noch implizierte, als Unterfälle einer abstrakten
Kausalgesetzlichkeit zu rekonstruieren, aus der sie aufgrund quasiphysikalischer Kräfte
nebeneinander hervorgehen, sondern sie werden durch evolutionäre – und das heißt
letztendlich geschichtliche – Prozesse konstituiert, in denen sich aus Populationen aufgrund
biologischer Barrieren neue, in sich geschlossene Ketten der Weitergabe des Erbmaterials
abspalten. Jede Art, der ein heute auf der Erde existierendes Lebewesen angehört, verdankt
sich einem derartigen evolutionsgeschichtlich zurückliegenden Bildungsprozeß, und alles
biologische Leben ist in so konstituierte Arten gegliedert. Wenn dem aber so ist, dann ist gar
nicht zu sehen, inwiefern von Organen oder Zellen als natürlichen „Trägern“ von Leben
gesprochen werden könnte. Sie mögen aufgrund künstlicher Vorrichtungen für eine kürzere
oder längere Zeitspanne von den Lebewesen getrennt existieren können, denen sie
entstammen; aber es existieren deshalb nicht neue „Arten“ von Leben neben den bisherigen,
und auch um Mutationen handelt es sich hier natürlich nicht. Vivere viventibus est esse heißt,
daß „das Leben“ vollständig und lückenlos in Arten von Lebendigem, in „Lebewesen“
aufgeteilt ist, welche die Identität von allem definieren, was aus ihnen hervorgeht.
„Lebewesen“ sind daher die beiden Würmer, die aus der Teilung des einen hervorgehen, aber
doch nicht die Zellen, aus denen sie bestehen und die man ihnen künstlich wegnehmen
könnte.
Für die Frage nach dem Beginn des Lebens von Menschen folgt daraus, daß es keinen
anderen Träger des menschlichen Lebens geben kann als die Lebewesen der Gattung homo
sapiens sapiens, die aufgrund der Weitergabe des Lebens aus den anderen ihrer Art
hervorgehen. Über „Kontinuität“ oder „Diskontinuität“ dieses Hervorgehensprozesses braucht
insofern überhaupt nicht spekuliert zu werden. Wie der Prozeß auch genau aussehen mag, in
dem ein menschliches Lebewesen aus zwei anderen hervorgeht, es können an ihm doch
17
Vgl. zu den philosophischen Grundlagen dieser Betonung des geschichtlichen Aspekts der biologischen
Evolution die differenzierte Verbindung zwischen darwinistischer und aristotelischer Artkonzeption in den
Beiträgen von Ernst Mayr: Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin/Heidelberg/New York 1979, insbes.
223 f., sowie die Charakterisierung des biogeschichtlich orientierten im Gegensatz zum kausalistischmorphologischen Artbegriff: Eine Art ist nicht durch sie mit anderen Arten übergreifende Eigenschaften
definiert, die dann wiederum auf eine sie gemeinsam als ihren Unterfall hervorbringende materielle
Gesetzlichkeit hin zu erklären wären, insbesondere also auch „nicht aufgrund des Besitzes bestimmter sichtbarer
Attribute..., sondern durch ihre Relation zu anderen Arten. Das Wort Art entspricht hier sehr genau anderen
Bezeichnungen für Relationen, z.B. dem Wort Bruder...Eine Population ist eine Art nur in bezug auf eine andere
Population. Eine andere Art sein ist nicht eine Frage des Unterschiedes, sondern der Relation“ (235).
niemals mehr als die Wesen beteiligt sein, die und aus denen diese durch diesen Prozeß
hervorgehen. Und bei allen diesen Lebewesen handelt es sich, sofern wir an der Bedeutung
des Rechtsbegriffs der Menschenwürde festhalten, um Personen. Daß menschliches Leben bis
zu einem gewissen Stadium noch keine individuelle Identität ausgebildet hat, heißt nur, daß
sich über eine gewisse Zeitspanne hinweg aus den es weitergebenden Menschen nicht nur
eines, sondern noch mehrere Wesen entwickeln können, die dieses früheste Stadium
gemeinsam haben; aber es heißt nicht, daß dieses Stadium einen von ihnen getrennten Träger
hätte, dessen „moralischer Status“ aufgrund naturwissenschaftlich feststellbarer Grenzen in
Frage gestellt wäre. Eben aufgrund der biologischen Konstitution des Lebendigen ist nicht zu
sehen, wie dieser Träger ontologisch zu kategorisieren wäre.
Das Leben, um das es in den Fragen der ethischen Beurteilung von Techniken wie denen der
Organtransplantation, der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik geht, ist
deshalb nicht das „Leben der Zellen“ oder „der Organe“, die hierbei untersucht, gezüchtet
oder verpflanzt werden; es ist und bleibt das Leben von Menschen, und zwar auch dann, wenn
sich lange nicht entscheidet oder überhaupt offen bleibt, welche Menschen genau dies sind
oder gewesen sind. Wo jedenfalls von Menschen abstammende menschliche Wesen geopfert
oder instrumentalisiert werden, um solche angeblichen Träger von „Leben“ zu gewinnen, dort
ist es das Leben dieser geopferten oder instrumentalisierten Menschen, dessen Missachtung
den
Schlüssel
zur
ethischen
Qualifikation
der
relevanten
Handlungen
und
Anschlusstatbestände bildet. Man darf hier nicht außer Acht lassen, daß es gerade die
Verbannung jeder Unterscheidung zwischen menschlichem Leben und Menschenleben ist, die
seit jeher im Zentrum der Humanisierung der zivilisierten Welt im Zeichen der
Menschenrechte und der Menschenwürde gestanden hat. Wir haben es uns verboten, jemals
von Wesen, die von Menschen abstammen, zu sagen, dies seien „eigentlich“ keine Menschen.
Die Separierung zwischen vollem und zweitklassigem menschlichem Leben ist die Urform
der Inhumanität, und sie liegt auch noch dort vor, wo zwischen Menschenleben und
menschlichem Leben getrennt wird. Der umfassende Schutz menschlichen Lebens hat seine
ontologische Basis in der vollständigen Aufteilung allen menschlichen Lebens unter die
Menschen, das heißt die Personen als seine Träger. Das neuzeitliche Konzept der
Menschenwürde als desjenigen Verhältnisses, aufgrund dessen einem Angehörigen der
menschlichen Art prinzipiell die Möglichkeit abgesprochen wird, menschliches Leben auf
seinen humanen Status hin zu beurteilen und zu bewerten, entspringt dieser ontologischen
Einsicht; es ist gerade nicht Ausdruck irrationaler Dezisionen, sondern des Respekts vor der
dialektischen Verknüpfung von Vernunft und Natur als der Grundbedingung rationalen
Umgangs mit dem, woraus Rationalität erwächst. Konsistenz und Berechenbarkeit unserer
Rechtsordnungen hängen wesentlich davon ab, daß dieser Respekt als Grenze jeden erlaubten
politischen Zugriffs auf die Bedingungen des Menschseins gewahrt wird. Geht er verloren, so
wird der ethische Standpunkt am Boden des politischen Diskurses suspendiert und durch den
politischen Standpunkt ersetzt, das heißt durch die nicht mehr weiter überprüfbaren
Mechanismen der Selbsterhaltung politischer Akzeptanz- und Machtstrukturen. Die Frage,
welches menschliche Leben beanspruchen dürfe, das Leben von Menschen zu sein, gewinnt
nicht
an
Humanität,
wenn
ihre
Beantwortung
„demokratisiert“,
das
heißt
Mehrheitsentscheidungen unterworfen wird. Sie gehört zu den Gefährdungen der Humanität,
von deren Abwehr her sich vielmehr der demokratische Staat selbst noch legitimiert.
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