Rolf-Michael Turek Was brauchst du (jetzt)? Auf welche Weise lässt sich ermitteln, ob Patienten spirituelle Begleitung gut tun könnte? - (spirituelle Anamnese)- I. (persönliche) Voraussetzungen 1. Die Überzeugung, dass es sinnvoll und hilfreich ist, spirituelle Reccourcen in Bewältigungsprozesse (wie Krankheit, Leiden, Sterben) einzubeziehen.1 Das ist nicht allgemeiner Konsens. Bisher ist der Hinweis auf „spirituelle Bedürftigkeiten“ von Patienten nur in der Definition der WHO in Bezug auf palliativ-care erwähnt.2 2. Das Wissen darüber, was Spiritualität ist, bzw. worum es sich bei „spirituellen Bedürfnissen“ handelt. 3. Die Zeit, (neben den vielen anderen zu erhebenden Daten) spirituelle Bedürfnisse zu erfragen. 4. Patienten artikulieren ihre spirituellen Bedürfnisse, Erwartungen oder Erfahrungen selten spontan und so gut wie gar nicht im Beisein anderer. Die Wahrnehmung von Spiritualität setzt eine spezifische Sensibilität voraus. Diese bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen Welt des Patienten. II. Wege, spirituelle Bedürfnisse bei Patienten wahrzunehmen Schwierigkeiten: 1. Bedürfnisse sind zum einen dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich, sondern nur vermittelt (über Gefühle3, Träume, Visionen4 …) wahrnehmbar. Der Kontakt (zu den eigenen Bedürfnissen) kann aus den unterschiedlichsten Gründen verschüttet sein. 2. Weiterhin bauen Bedürfnisse aufeinander auf und verändern sich dadurch dauernd.5 Wege: 1. Abfrage der Religionszugehörigkeit bei der Aufnahme (hier besteht allerdings die Gefahr Spiritualität auf Kirchenmitgliedschaft zu begrenzen) 2. Wahrnehmung von religiösen oder/und philosophischen Interessen (Bücher, Bilder, Rituale …) 3. Geäußerter Wunsch der Patienten und/oder der Angehörigen 4. Das Aufnahmengespräch des Arztes/ der Pflegemitarbeiter6 4.1. „Einbau“ von SPIR (im Anhang Seite 3) 4.2. Ermittlung transkultureller Faktoren7 (Rückgriff auf praxiserprobte Fragebögen) 4.3. Nachfrage nach subjektiven Krankheitsüberzeugungen („Alltagstheorie“ über Ursachen, Verlauf und Sinn der Krankheit) und „Welterklärungen“. III. Die Art und Weise auf spirituelle Bedürfnisse einzugehen Wer (Arzt, Physiotherapeutin, Pfleger, Seelsorger) geht wie vor? 1. „aktives“ Zuhören 2. symbolische Kommunikation 3. … Rolf-Michael Turek -2Anmerkungen In der angelsächsischen Literatur existieren mehr als 200 Studien, die eine positive Bedeutung von Spiritualität und Religiosität für Krankheitsbewältigung, den Verlauf körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität von Kranken belegen. Dabei wird in der Regel zwischen Spiritualität und Religiösität unterschieden. Der Begriff „spirituelles Coping“ („spirituelle Krankheitsverarbeitung“) wurde von Lazarus in die Forschung eingeführt (Lazarus 1993). Grundlegend für spirituelles Coping ist die Orientierung an Sinn und Werten. Es spielt vor allem für Patienten mit lebensbedrohlicher Erkrankung eine größere Rolle als bisher angenommen. Religionen wiederum leben aus dem Ritual, ihren Regeln und ihrer Tradition. Sie sind sozial in hohem Maße prägend und verbindend. Eine Reihe von Untersuchungen bestätigt, dass das Leben in Glaubensgemeinschaften gesundheitsförderliches Verhalten begünstigt und positive Wirkungen durch den Puffereffekt sozialer Beziehungen entfaltet. Der Glaube selbst, bietet kognitive Prozesse an, die eine kognitiv-emotionale Stimmigkeit der Lebenswelt ermöglichen (Kohärenzhypothese). In kritischen Lebensereignissen haben religiöse Menschen einen Bewältigungsvorteil, indem ihnen bewährte Copingstrategien zur Verfügung stehen (CopingHypothese). Eine intensive Gottesbeziehung verstärkt psychische Prozesse, welche den Selbstwert aufbauen und regulieren (SelbstwertHypothese). Sorgfältige Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Wirkung von Spiritualität über diese eher unspezifischen Effekte von Religiosität hinausreicht. Der problematische Umgang der modernen Medizin mit Spiritualität liegt vor allen Dingen in der Grundhaltung, mit der gegenwärtig auf Spiritualität zurückgegriffen wird. Im Zuge eines breit etablierten Zweckmässigkeitsdenkens wird jeglicher Wert letztlich nur noch an Effizienzgesichtspunkten gemessen. Innerhalb eines solchen Denkens, das sich allein an den Prinzipien der Machbarkeit, Operationalisierbarkeit und ökonomischer Verwertbarkeit orientiert, wird nun auch Spiritualität lediglich unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sie etwas bewirkt und ob sie verwertet werden kann. Damit wird eine problematische Einengung der Spiritualität auf ihren instrumentellen Mehrwert vorgenommen. Spiritualität wird zum bloßen Instrument eines reinen Nutzenkalküls in dem auf Effizienz ausgerichteten Dienstleistungsunternehmen «Krankenhaus». Wenn man Spiritualität nur danach bemisst, welche Auswirkungen sie auf das Befinden des Menschen hat, hat dies zur Folge, dass Spiritualität nur dann für relevant gehalten wird, wenn sie bestimmte nachweisbare Wirkungen im Individuum hervorruft. Diese funktionalistische Perspektive aber kehrt das Eigentliche der Spiritualität in ihr Gegenteil. Spiritualität zielt auf die Vergegenwärtigung der letzten (transzendenten) Fragen, sie kann auf die Gemeinschaft mit einer höheren Macht zielen, sie kann auch– wie Adler es nannte – auf ein Gemeinschaftsgefühl mit der Welt zielen, aber sie zielt gerade nicht auf die Heilung. Die Heilung mag sich sekundär und akzidentell einstellen, aber Spiritualität hat nicht die Heilung als Ziel im Visier, allenfalls das Heil, das auch ohne Heilung erreicht werden kann. Der Heilungsprozess wird eben nicht erzeugt und allein durch das Wollen herbeigeführt, sondern er stellt sich, zwar durch das menschliche Handeln unterstützt, aber eben doch aus tieferen Quellen ein. Genau an diesem Punkt kann Spiritualität wertvoll für die Medizin sein. Spiritualität in der Medizin kann von diesem Ausgangspunkt aus nichts anderes sein als ein Sich-öffnen für die Begrenztheit des Machbaren und Wissbaren. Eine spirituelle Ausrichtung, sofern sie tatsächlich spirituell ist und nicht nur heilungsmaterialistisch aufgesetzt, birgt die Chance, im Krankwerden den Verweis auf die Grenze zu erkennen; die Grenze des Machbaren, die Grenze des Wissbaren, die Grenze des Verfügbaren. „Palliative Care dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.“ WHO 2002 2 3 siehe M. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation 4 siehe Psychoanalyse, Gestalttherapie et al. 5 siehe Maslowsche Bedürfnispyramide 6«Zunächst ist nicht mehr erforderlich, als sich bewusst zu machen, dass die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der spirituellen Bedürfnisse und Nöte von Patienten genauso wichtig ist, wie die Beachtung körperlicher, seelischer oder sozialer Nöte. Die Wahrnehmung spiritueller Nöte im Konzept einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des kranken Menschen ist unverzichtbar.» (Geisler LS. Medizin und Spiritualität. Die Tagespost 2005;58[18, 12. Februar]:17–8) 7 Betrachtet man die unterschiedliche Zustimmung zum persönlichen Glauben in unterschiedlichen Ländern, wie z.B. den USA und Deutschland, so erscheint es zulässig, folgende Einschränkung zu formulieren: USamerikanische Befunde aus dem Bereich „Spiritualität/Religiostät“ dürfen nicht einfach auf den europäischen Kontext übertragen werden. Denn laut einer Erhebung aus dem Jahr 1998 glauben über 96% der US-Bürger an Gott und das seit 1944 mit wachsender Tendenz (Bishop 1999) - gegenüber 65% der Bürger in West- und 22% in Ostdeutschland (Forsa 1999). In den USA gibt es eine große Zahl verschiedener Denominationen, darunter vor allem die sehr aktiven protestantischen Glaubensgemeinschaften. Ein Wechsel zu einer anderen Glaubensgemeinschaft ist dort nicht unüblich und die Gemeinden sind kleiner und überschaubarer. Diese Eigenschaften erleichtern eine individuelle Auswahl der religiösen Bezugsgemeinschaft und ermöglichen ein enges Netz religionsbezogener, sozialer Unterstützung. Im Gegensatz dazu sind in Deutschland zwei große Volkskirchen tonangebend, in denen über 90% aller konfessionell Gebundenen Mitglied sind. Ein Konfessionswechsel ist in Deutschland eher unüblich, die Mitgliedschaft ist steuerpflichtig und die zuständige Gemeinde wird durch den Wohnsitz festgelegt. Aufgrund des unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergrundes sind für deutsche Patienten andere, vermutlich eher geringere Einflüsse des religiösen/spirituellen Bereichs auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität maßgebend. Diesbezüglich sind fundierte Aussagen durch die gegenwärtig noch unzureichende Forschungslage nicht möglich. 3 Rolf-Michael Turek Klinische Erfassung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen (Anamnese) Viele Patienten wünschen, dass sie spirituelle Bedürfnisse, Ressourcen und Schwierigkeiten besprechen können, unabhängig davon, ob sie mit einem Seelsorger in Kontakt stehen oder nicht. Die folgenden Standardfragen bieten eine Hilfe für das Gespräch; sie können im Verlauf des Gesprächs dem Sprachgebrauch des Patienten angepasst werden. Wichtig ist, dass Fragetechnik und Haltung des Interviewers die spirituellen Traditionen und Bindungen des Patienten respektieren. Die Fragen sind Anhaltspunkte und können nur in Ausnahmefällen wörtlich verwendet werden! S: 1. 2. 3. 4. 5. In wen oder in was setzen Sie Ihre Hoffnung? Woraus schöpfen Sie Kraft? Gibt es etwas, das Ihrem Leben einen Sinn verleiht? Welche Glaubensüberzeugungen sind für Sie wichtig? Betrachten Sie sich als spirituellen oder religiösen Menschen? P: 6. Sind die Überzeugungen, von denen Sie gesprochen haben, wichtig für Ihr Leben? 7. Welchen Einfluss haben sie darauf, wie Sie mit sich selber umgehen und in welchem Maß Sie auf Ihre Gesundheit achten? 8. Wie haben Ihre spirituellen und Glaubens-Überzeugungen Ihr Verhalten während dieser Erkrankung bestimmt? 9. Welche Rolle spielen Ihre Überzeugungen dabei, dass Sie wieder gesund werden? I: 10. Gehören Sie zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle Gruppe)? 11. Bedeutet dies eine Unterstützung für Sie? Wie? 12. Gibt es eine Person oder eine Gruppe von Leuten, die Ihnen wirklich viel bedeuten und die wichtig für Sie sind? R: 13. Wie soll ich als Ihr Arzt/Ihre Ärztin/Krankenschwester/Therapeut ... mit diesen Fragen umgehen? Wer ist Ihr wichtigster Gesprächspartner in Bezug auf spirituelle Fragen und Glaubens Überzeugungen? 14. Welche Rolle sollen diese Überzeugungen in der ärztlichen Behandlung spielen? 15. Spirituelle und Glaubensfragen sind für Krank- und Gesundsein ein wichtiger Bereich. Haben Sie den Eindruck, dass wir über Ihre Überzeugungen so gesprochen haben, wie Sie es sich wünschen? 16. Möchten Sie etwas hinzufügen? Die Abkürzung SPIR dient dazu, sich die vier Schritte bei der Erfassung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen zu vergegenwärtigen: S pirituelle und Glaubens-Überzeugungen P latz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen I ntegration in eine spirituelle, religiöse, kirchliche Gemeinschaft/Gruppe R olle des Arztes: Wie soll der Arzt mit spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten umgehen? 4 Rolf-Michael Turek Die spirituelle Dimension im Gespräch Kommunikation kann auf vier Ebenen, auf der Sach-, der Gefühls-, der Identitäts- oder auf der Spiritualitätsebene stattfinden. Das bedeutet für die Praxis, dass der Begleiter auf vier Ebenen „hören“ und reagieren kann. „In der Spiritualitätsebene deutet sich ein Mensch über sein Selbst hinaus: z.B. was ihn erfüllt, seine Lebensleistung, seine Erfahrung von Aufblühen und Vergehen, von der (Nicht-) Machbarkeit des Lebens, seine Verbundenheit mit der Ordnung des Lebens, der Güte der Dinge, einem Schöpfer oder einem guten Kosmos.“ 1 Ein Beispiel:2 Ein Patient mit Bauchspeicheldrüsenkrebs sagt: "Wir haben drei Söhne. Mein jüngster studiert noch – wenn ich doch nur noch erleben könnte, wie er das Examen macht." – Diese Aussage des Patienten kann auf wenigstens vier Ebenen verstanden werden: Sach – Ebene: z.B.: "Zwei meiner Söhne sind schon was geworden, der Dritte ist noch nicht so weit, er braucht noch unser Geld, ... ." Gefühls – Ebene: z.B. "Ich bin froh, dass die beiden Großen schon fertig sind. Um den Dritten mache ich mir noch Sorgen ... ob der ohne mich ... ich würde mich sehr mit ihm freuen ..." Diese Aussage sagt auch etwas über die Identität des Patienten: z.B. "So jemand bin ich. Das ist meine Familie. Ich bin stolz auf sie ...das haben sie auch von mir ..." Und die spirituelle Ebene: z.B. "Das erfüllt mich, da geht (mein) Leben weiter ... der Jüngste ist zwar noch ein bisschen Sorgenkind, ab ich hoffe, ihm genügend mit auf den Weg gegeben zu haben ... sein Examen wäre für mich ein Zeichen, dass der Segen weiter geht, den der Vater seinen Kindern gibt ... dann ginge die Welt gut weiter ... hoffentlich steht mein Sterben in einer guten Ordnung ... ." Viele Aussagen von Patienten haben also auch eine spirituelle Dimension (Spiritualität in einem erweiterten Sinn): Hier deutet der Mensch sein Leben. Wie in einem Brennpunkt wird es hier – an einem Thema oft – zusammengefasst. Hier werden nicht nur Tatsachen berichtet (3 Söhne und ihr Studium), sondern hier geht es um den Lebensentwurf, die Sehnsucht und den Horizont, in dem ein Mensch sein Leben sieht. Das Sterben des Menschen lässt sich als dessen letzte und größte Herausforderung verstehen. “Soweit es den Menschen in dieser Zeit möglich ist, werden die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der individuellen Bedeutung des eigenen Daseins, nach dessen Unverwechselbarkeit oder im Leben anderer und der Welt hinterlassenen Spuren laut.“3 1 Weiher zit. in Aulbert, Nauck, Radbruch. (2008). Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart. Schattauer Verlag. (2.Aufl.), S. 1184 2 aus: E. Weiher, Wie mit Schwerkranken über Spiritualität reden? Die Hospiz-Zeitschrift 11 – 2002 / 1 3 Schubert, D. (2003). Studien der Moraltheologie. Band 10, Berlin-Hamburg-Münster, LIT., S.40 5 Rolf-Michael Turek