8.5 Selbstverletzendes Verhalten in der

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Universität des Saarlandes
Fachrichtung 5.3 Psychologie
Seminar: Borderline-Persönlichkeitsstörungen
Wutke WS 05/06
Hausarbeit: Gabi Christmann
Selbst verletzendes Verhalten bei BorderlinePersönlichkeitsstörung
Selbstverletzendes Verhalten bei BorderlinePersönlichkeitsstörung
Abstract:
Im Verlaufe des Berichtes wird auf die Definition von selbst verletzendem Verhalten eingegangen, ebenso werden epidemiologische Studien vorgestellt, unter anderem wird auf die Frage eingegangen, auf welche Art sich
selbst verletzt wird, den Schweregrad der Verletzungen und die Lokalisation des Verletzens. Es wird die Abgrenzung gegenüber Simulanten und gegenüber selbst induzierten Krankheiten vorgestellt, ebenso wie selbst
verletzenden Verhalten in Kulturen und dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen in westlichen Kulturen.
Die Syndromgeschichte wird kurz vorgestellt, danach folgt die psychodynamische Funktion von selbst verletzendem Verhalten unterteilt in intrapersonaler und interpersoneller Funktion. Zum Schluss werden noch verschiedene Therapieformen genannt.
Inhalt
1.
Einleitung
2.
Definition
3.
Lokalisation, Art und Schwere des selbst verletzenden Verhaltens
3.1 Art des selbst verletzenden Verhaltens
3.2 Schwere des selbst verletzenden Verhaltens
3.3 Lokalisationen des selbst verletzenden Verhaltens
4. Epidemiologie
5. Abgrenzung
5.1 Transkulturelle Aspekte
5.2 Selbstverletzendes Verhalten in der Kindheits- und Jugendentwicklung im westlichen Kulturraum
6. Syndromgeschichte von selbst verletzendem Verhalten
7. Psychodynamische Funktion von selbst verletzendem Verhalten
7.1 Intrapersonale Funktion von selbst verletzendem Verhalten
7.1.1 Selbstverletzendes Verhalten als globales Druckventil und Tranquilizer
7.1.2 Selbstverletzendes Verhalten als Antidysphorikum und Antidepressivum
7.1.3 Selbstverletzendes Verhalten als fokaler Suizid und Suizidprophylaxe
7.1.4 Selbst verletzendes Verhalten als Autoaggression und Selbstbestrafung
7.1.5 Selbstverletzendes Verhalten als narzisstische Regulans und Anteil der eigenen Identität
7.1.6 Selbstverletzendes Verhalten als neurotische Kompromissbildung
7.1.7 Selbstverletzendes Verhalten als Antidissoziativum
7.1.8 Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Derealisation und pseudopsychotische Zustände
7.1.9 Selbstverletzendes Verhalten als Gegenmittel gegen Impulskontrollverlust und Hyperarousal
7.2 Interpersonelle Funktion von selbst verletzendem Verhalten
7.2.1 Selbstverletzendes Verhalten als averbaler Appell
7.2.2 Selbstverletzendes Verhalten als Möglichkeit, das intrapsychische Dilemma mittels projektiver Identifizierung interpersonell zu inszenieren
7.2.3 Selbstverletzendes Verhalten als Flucht vor sozialer Überforderung
8.
Therapie
8.1 Psychoanalytische Psychotherapie von selbst verletzendem Verhalten
8.2 Transference Focused Psychotherapie (TFP)
8.3 Verhaltenstherapie von selbst verletzendem Verhalten
8.4 Behandlung von selbst verletzendem Verhalten im Rahmen der dialektisch-behavioralen Therapie
8.5 Behandlung von selbst verletzendem Verhalten im Rahmen der traumazentrierten Therapie
8.6 Selbstverletzendes Verhalten in der Familientherapie
8.7 Selbstverletzendes Verhalten: Gruppentherapie, stationäre Therapie und Interventionen im sozialen Umfeld
8.8 Selbsthilfegruppen für selbst verletzendes Verhalten
8.9 Selbstverletzendes Verhalten als spezifisches Problem von Frauen in patriarchalen Gesellschaft
9.
Somatische Aspekte und Pharmakotherapie
9.1 Selbstverletzendes Verhalten als Resultat der Reizverarbeitungsstörung
9.2 Neurobiologie von selbst verletzendem Verhalten
9.3 Dompamin-Hypothese
9.4 Serotonin-Hypothese
9.5 Endorphin-Hypothese
9.6 Psychochirurgie
1. Einleitung
Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse beschäftigt sich in mehreren Büchern und Artikeln mit selbst
verletzendem Verhalten. Er postuliert, dass „ Ritzen und Schneiden die Funktion hat, die
Anorexie in den 70er und Bulimie in den 80er Jahren hatte.“ (Interview von Wilfried Schneider mit Prof. Dr. med. Sachsse). Den Anstieg führt er darauf zurück, dass heute mehr über
Missbrauch, Misshandlung und Traumatisierung geredet und nachgedacht wird und dass
Menschen, die von diesen Problemen betroffen sind, nun damit stärker und überall konfrontiert werden. „ die Trigger sind stärker geworden, sind häufiger geworden (…) Menschen, die
dieses Problem haben, werden heute öfter daran erinnert, kommen in unerträgliche Zustände,
diese Zustände sind besonders gut durch selbst verletzendes Verhalten zu beenden, “ (Interview von Wilfried Schneider mit Prof. Dr. med. Sachsse). In seinem Artikel bezeichnet er das
selbstverletzende Verhalten als somatopsychosomatische Schnittstelle der BorderlinePersönlichkeitsstörung.
2. Definition
Im DSM-IV wird selbst verletzendes Verhalten im Kritierium fünf der Borderline-Persönlichkeitsstörung eingeordnet: „Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder –
drohungen oder Selbstverletzungsverhalten“ (vgl. Kernberg. Handbuch der Borderline Störungen. S.347).
Scharfetter (1992) beschreibt selbst verletzendes Verhalten - er spricht von Automutilation –
„als eine selbst zugefügte und eigenaktive, direkte, unmittelbare und konkrete, funktionellfinal motivierte – ob bewusst oder unbewusst – oder eher als Automatismus ablaufende Schädigung und Deformation des eigenen Körpers, welche kulturell sind sanktioniert sind und
nicht direkt lebensbedrohlich sind.“ (vgl. Kernberg. Handbuch der Borderline Störungen.
S.348).
Als Synomyme werden im deutschsprachigen Raum Autoaggression, Autodestruktion,
Selbstschädigung und Selbstverletzung genannt. Im angloamerikanischen Sprachraum beschreiben Begriffe wie self-injurious behavior (SIB meist bezogen auf geistig retardierte, autistische oder Menschen mit Intelligenzminderung), self-destruktive behavior, self-damaging
behavior, self-harming behavior, self-aggression, self-mutilation behavior (SMB meist bezogen auf Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung), deliberate self-harm das Verhalten.
Sachsse bevorzugt den Begriff selbst verletzenden Verhaltens, da er seiner Meinung nach am
deskriptivsten und am wenigsten wertend ist.
3. Lokalisation, Art und Schwere des selbst verletzenden Verhaltens
3.1 Art des selbstverletzenden Verhalten
Favazza und Conterio (1989) befragten 240 Frauen: die häufigste Methode war mit 72% das
Selbst-Schneiden, dann mit 35% Selbst-Brennen, 30% schlagen sich selbst, 22% verhindern
die Wundheilung, ebenfalls 22% begehen schweres Selbst-Kratzen, 10% reißen sich die Haare aus.
Im Februar 2005 führte „Rote Linien“ (Internetseite, die sich mit selbst verletzendem Verhalten beschäftigt) eine Befragung durch. Auf die Frage „Wodurch verletzt ihr euch?“ antworteten 317 Personen.
mehrere Methoden 29%
schneiden 63%
Haare ausreißen 1%
beißen 1%
kratzen 3%
Knochen brechen 1%
verbrennen 2%
Abbildung 1
Auch hier kann man sehen, dass Schneiden (Abb. 1) als häufigste Methode angewandt wird,
wobei Verbrennen und sich selbst schlagen in dieser Umfrage weniger angegeben wurden.
Selbstverletzenden Verhalten kann sich unter anderem zusätzlich zu den genannten Formen
äußern in sich verätzen, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, sich (versuchen) die Knochen zu brechen, die Wundheilung verhindern, Injektionen von z.B. Urin, trinken von ätzenden Stoffen oder auch nicht so offensichtliche Verhaltensweisen wie exzessiven Sport, ungesunde Ernährung oder zuwenig Schlaf.
3. 2 Schwere des selbst verletzenden Verhaltens
Die Schwere erfasst ein großes Kontinuum, es reicht von oberflächlichen Ritzen bis hin zu
tiefen Verletzungen bis auf die Knochen oder Eröffnungen der Bauchdecke, ebenso wie zu
Injektionen von Schmutzwasser in die Blutbahn oder in Gelenke, des weiteren wird auch Blut
in großen Mengen abgelassen, so dass Hb Werte unter 4 (Normalwert bei Frauen: 12-15) festgestellt werden können. Diese extrem niedrigen Werte führen unter anderem zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff der Organe, was zu Zellschädigungen in den Organen führen kann.
(Renz u. Polster. 2004)
3.3 Lokalisation des selbst verletzenden Verhaltens
Nach Favazza und Conterio (1989) bevorzugen 74% die Arme, 44% die Beine, am Bauch
verletzen sich 25%, am Kopf 23%, an der Brust 18% und an den Genitalien 8%.
Auch diese Frage stellte „Rote Linien“ ihren Benutzern 2005. Hier antworteten 302 Personen
(Abb. 2), wobei die Lokalisationen genauer erfragt wurden.
verschiedene Stellen 21%
Unterarm 37%
ganzer Arm 17%
Oberschenkel 2%
ganzes Bein 4%
v Arme und Beine 17%
Rumpf 1%
Genitalien 1%
Abbildung 2
Wie bei Favazza und Conterio wird bestätigt, dass die meisten Personen sich an den Armen
selbst verletzen. Bei „Rote Linien“ wurden noch einzelne Regionen an Armen und Beinen
unterschieden, bzw. zusammengefasst. Verletzungen an Rumpf und Genitalen werden fast
nicht angegeben.
4. Epidemiologie
Die Zahlen aus den verschiedenen Studien variieren stark, ebenso muss von einer großen
Dunkelziffer ausgegangen werden. Es kann eine Prävalenzrate für selbst verletzendes Verhalten in den westlichen Kulturen von knapp 1% angenommen werden, dies würde laut Sachsse
im unteren Prävalenzbereich der Borderline-Persönlichkeitsstörung von 1-2% liegen.
Die Geschlechterverteilung Frauen zu Männern wird mit bei Kernberg mit 5:1 angegeben.
Laut Sachsse ist nach statistischer Untersuchung „das Verhältnis zwischen betroffenen Frauen
und Männern circa 6:1“. In dem Interview mit Winfried Schneider erklärt Sachsse, dass Männer weniger von sexuellem Missbrauch betroffen seien, auch hätten Männer die Tendenz mit
aggressiven Spannungen so umzugehen, dass sie sich an anderen Körpern abreagieren, also
andere angreifen, während Frauen Aggressionen eher gegen sich selbst richten. Dies könnte
auch erklären, dass selbst verletzendes Verhalten bei Männern oft im Strafvollzug auftritt,
also in einer Situation, in denen sie ihre Aggressionen nicht nach außen richten können.
5. Abgrenzung
Es gilt das selbst verletzende Verhalten bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen von zwei
Gruppen abzugrenzen, die Schafetter in der ersten Gruppe als die Simulanten bezeichnet, zu
der zweiten Gruppe gehören Personen, die sich Krankheiten selbst induzieren. In die dritte
Gruppe ordnet Schafetter Personen ein, die an schweren Persönlichkeitsstörungen leiden und
ein „automutilatives Verhalten im psychopatholigischen Kontext“ zeigen. (vgl. Kernberg,
Handbuch der Borderline-Störung. S. 349)
Weiterhin ist schwerwiegendes und verstümmelndes selbst verletzendes Verhalten, wie z.B.
Selbstkastration und Enukleation eines Auges fast nur bei psychotisch erkrankten Patienten zu
finden.
Auch bei Menschen mit geistiger Retardierung, Minderbegabung und Autismus zählt selbst
verletzendes Verhalten zu einem zentralen Symptom (vgl. Kernberg. Hänsli, 1996).
Selbstverletzendes Verhalten kann auch im Strafvollzug und bei Vortäuschungen einer Straftat eine Rolle spielen.
Eine weitere Abgrenzung des selbst verletzenden Verhaltens muss bei Kindern und Jugendlichen vorgenommen werden. Hier sind die Grenzen zwischen Normalität und Pathologie besonders fließend.
5.1 Transkulturelle Aspekte
Selbstschädigungen sind uns auch bekannt als Ausdruck von Trauer, als Mutprobe, als Initiationsritus, als Ausdruck von Ekstase bei religiösen Zeremonien, als Selbstopfer oder als
Selbstweihe. Diese Arten des selbst verletzenden Verhaltens dürfen nicht pathologisiert werden. Sachsse führt in seinem Bereicht die Skarifikation (das Zufügen von Narben) bei afrikanischen Stämmen an, dass z. T. noch heute praktiziert wird. Auch Initiationsriten bei Naturvölkern gehen meist mit rituellen Verstümmelungen einher, um „sowohl die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern als auch die bevorstehende Trennung von der Welt der Kindheit
anzuzeigen“ (vgl. Kernberg. Kaplan. 1991) Er beschreibt brutale und schmerzhafte Riten
(Aufschneiden der Harnröhre (Subinzision), Ziehen von Zähnen, Abtrennen eines Fingergliedes oder des Ohrläppchens, Durchbohren der Nasescheidewand, Tätowierungen usw.) – diese
sollen lauf Kaplan die Bedeutung des Rituals steigern und die Jugendlichen in den Fokus der
Aufmerksamkeit rücken. Hänsli schreibt dazu „indem sie den Schmerz aus freiem Willen annehmen (…) unterwerfen sie sich bedingungslos der übergeordneten Macht der Gruppe und
unterstellen ihre persönliche Autonomie der Autorität der Gruppe, um später selbst Teil der
Macht und Autorität der Gruppe zu sein“ (vgl. Kernberg. Hänsli. 1996).
Männliche Beschneidungen sind bekannt von den alten Ägyptern, den Aboriginies, arabischen und semitischen Stämmen, von Inselvölkern im Pazifik. Auch in der jüdischen Tradition wird eine Beschneidung vorgenommen, die als Bundeszeichen zwischen Gott und seinem
Volk angesehen wird.
Zur Kontrolle der weiblichen Sexualität wird in vielen Ländern Zentral- und Nordafrikas eine
Deformation der weiblichen Geschlechtsorgane vorgenommen. Hier reicht das Spektrum von
der Zirkumzision (Abtrennen der Klitorisspitze) bis zur Infibulation (Abtrennen der Klitoris
und der Schamlippen), wobei hier erwähnt werden muss, dass die Mädchen und jungen Frauen keine Möglichkeit haben sich diesen Verstümmelungen zu entziehen und auch gegen ihren
Willen dazu gezwungen werden.
5.2 Selbstverletzendes Verhalten in der Kindheits- und Jugendentwicklung im westlichen Kulturraum
In den ersten drei Lebensjahren tritt selbstverletzendes Verhalten im Rahmen der normalen
Entwicklung auf, am ausgeprägtesten findet es um den 7. und 8. Monat statt (heftiges Daumenlutschen, rhythmisches Kopfschlagen, Schlagen des Kopfes mit der Faust, Körperschaukeln) und verschwindet bis zum 5. Lebensjahr fast komplett. Diese Verhaltensweisen sind
meist so gering in ihrer Intensität, dass sie oft von den Eltern nicht bemerkt werden.
Wenn sie verstärkt auftreten und über eine längere Zeitspanne andauern können sie jedoch
auch schädigende Folgen haben. Meist betrifft dies deprivierte Kinder. (vgl. Kernberg. Spitz.
1980).
Da selbstverletzendes Verhalten oft in der frühen Pubertät auftritt sehen Eckhardt (1994) und
Favazzo (1989) einen Zusammenhang mit Entwicklungsaufgaben in der Pubertät und betrachten dieses Verhalten vor dem traditionellen Hintergrund der Initiation. Auch Piercing und
Tätowierungen werden auch unter dem Gesichtspunkt der Gruppenzugehörigkeit betrachtet
(z.B. auch Ritzen und tragen von Rasierklingen bei Punkern), ebenso gibt es nach Sachsse
einen Ansteckungscharakter und die Lust am Experimentieren wobei sich dann quasi eine
Sucht entwickeln kann. Bürgin (1991) stellt sich die Frage, ob Jugendliche so ihre eigenen
Formen von Auto-Initiationen entwickeln? (vgl. Kernberg, S. 352)
6. Syndromgeschichte von selbst verletzendem Verhalten
Bereits 1889 berichtete Oppenheimer von einer Exstirpation von Muskelstückchen mit dem
Erfolg, dass eine Patientin, die an einer Lähmung litt, angab, dass sie Besserung verspürte.
In dem Buch „Artefakte der Haut“ sieht Julius Mayr (1937) selbst verletzendes Verhalten als
Phänomene der Täuschung, Simulation und Dissimulation.
1933 beschreibt Emerson in einer psychoanalytischen Studie eine 23 jährige Patientin, diese
schnitt sich um ihre schweren Kopfschmerzen zu lindern. In der Anamnese berichtete sie,
dass sie vom 8. bis zum 13. Lebensjahr von ihrem Onkel masturbiert wurde, als mit 13 Jahren
ihre Periode einsetzte, begann sie unter Kopfschmerzen zu leiden. Mit 20 Jahren wurde sie
während einer Kopfschmerzattacke von ihrem Cousin vergewaltigt. Zufällig habe sie sich
geschnitten und darauf hin festgestellt, dass die Kopfschmerzen verschwanden, daher habe sie
das Schneiden beibehalten. Emerson sieht das „Schneiden und die Schmerzen als ein symbolischen Substitut für Masturbation. Der Schmerz war auch eine Form von Selbstbestrafung
ihrer Missetaten“ (vgl. Kernberg, S. 353)
Menninger (1938) sieht das selbstverletzende Verhalten aus psychoanalytischer Sicht: „die
Selbstverstümmelung der Reingewinn eines Konflikts zwischen den vom Über-ich unterstützten aggressiv-destruktiven Impulsen und dem Willen, zu leben (und zu lieben) ist, wobei eine
partielle oder lokale Selbstzerstörung dem Zwecke dient, unwiderstehliche Triebe zu befriedigen und gleichzeitig deren prälogischen, aber erwarteten Folgen zu entgehen.“ (vgl. Kernberg,
S. 353). Menninger sieht selbstverletzendes Verhalten als partieller oder fokaler Suizid.
Crabtee (1967) bemerkte im Verlauf der Therapie einer 16jährigen, dass ihr selbstverletzendes Verhalten zunahm, wenn in der Therapie der Fokus auf Gefühle und Phantasien gelegt
wurde. Er postulierte, dass dies zur Regression führte und damit zu verstärktem selbst verletzendem Verhalten, ebenso warnte er davor, sich gegenüber den Patienten zu mütterlich zu
zeigen, weil es auch hier zu einer Zunahme des selbst verletzenden Verhaltens komme.
1969 vertrat Taylor die Meinung, dass man den Patienten gegenüber eine pessimistische Haltung einnehmen sollte, damit der Patient aus Furcht, dass sie Therapie beendet wird sich mobilisiert und dem selbst verletzenden Verhalten heftigen Widerstand entgegensetzt.
Asch (1971) und Novotny (1972) sahen den Grund des selbst verletzenden Verhaltens in einer
gestörten Mutter-Kind-Beziehung. Selbstverletzendes Verhalten ist für Novotny auch ein Zeichen von Ich-Schwäche, der Betreffende will die Körper-Ich-Grenze verstärken und andere zu
Mitleid und Aufmerksamkeit zu veranlassen.
Eine Gefühl der Entlastung und Erleichterung nach der Handlung bemerken Friedman, Glaser
et al. 1972.
Aus Symptom für untergründige Probleme schnitt sich nach Kwawer (1980) seine 23jährige
Patientin. Im Verlauf der Therapie wurden diese Probleme gelöst wurden und ihr Verhalten
änderte sich. Das Bluten hatte für sie einen Beruhigungseffekt.
Auch Favazza (1987) konnte während der Therapie einer 20 jährigen feststellen, dass ihr
selbst verletzendes Verhalten zunahm, je intensiver ihr unbewusstes Seelenleben erforscht
wurde. Favazza leitete die Patientin dazu an, ihr Selbstverletzungsritual in Gegenwart des
Therapeuten durchzuführen, ihr jedoch die Durchführung zu verbieten. Während einer Exposition konnte Favazza feststellen, dass trotz einer heftigen Abwehrreaktion keine Veränderung
im EEG zu beobachten war. Daraufhin änderte er seine verhaltenstherapeutisch-konfrontative
Vorgehensweise in eine einsichtsorientierte Psychotherapie. Favazza stimmte andere psychoanalytischen Autoren überein, dass „Selbstverletzer ein erhebliches Problem haben mit den
Kategorien Wut, Aggression, Sexualität und Körperbild“ (Kernberg, S. 356). Mit Walsh und
Rosen (1988) konnte als gemeinsamer Faktor für das Auslösen des selbst verletzenden Verhaltens Verlust und Separation festgestellt werden.
Sachsse hat 1987 die Traumaätiologie in seine psychoanalytische-psychodynamische Therapieform integriert. Er stellte fest, dass nicht nur Deprivation sondern auch vielfach Kindesmisshandlungen vorgelegen haben.
Mehrere Autoren sehen die Haut und das Blut als Übergangsobjekt, dass jederzeit zur Verfügung steht und an dem sich die eigene Aggressivität und Destruktivität ausleben kann. Sie
wirkt die Flasche oder das Medikament bei anderen Suchtkranken.
Als zentrales Thema sehen viele Traumatisierungen, z.B. Inzesterfahrungen und Vergewaltigungen, die depressiv verarbeitet werden und viele Betroffenen schreiben sich einen hohen
Anteil von Schuld zu, dies führt dann zu Selbsthass und zur Selbstablehnung. Je stärker diese
Mitschuld bzw. gefühlte Mitschuld ist, umso schwerer sind die Folgen. Selbstabwertung,
Selbstverachtung, Selbsthass und Selbstbestrafung sind Impulse die ständig auf die Patienten
einwirken. Jedoch muss auch hier beachtet werden, dass ein sexueller Missbrauch nicht
zwangsläufig zu einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und zu selbst verletzendem Verhalten führen muss, genauso wenig heißt dies, dass wenn diese Symptomatik nicht vorliegt auch
kein Missbrauch stattgefunden hat.
Rauchfleisch, Schuppli und Haenel fassen zusammen, dass es zu einem auffallenden einheitlichen Befund kommt, „Artefakt-Patienten zeichnen sich durch große intrapsychische Spannungen, erheblicher Depressivität, Hemmungen im Bereich des Aggressiven, starke Affektblockierungen, eine geringe Frustrationstoleranz, eine wenig stabile Ich-Integration (verbunden mit einer Tendenz zu Impulsausbrüchen) und durch ausgeprägte autoaggressive Züge“
(Kernberg, S. 357) aus.
Pao und Janus bemerken eine Diskrepanz bei erwachsenen Patientinnen. Um einer vermittelten sie das Bild einer kompetenen, lebenstüchtigen Persönlichkeit auf der anderen Seite findet
sich bei ihnen ein archaisches, primitives Symptom, das sonst nur bei stark psychotischen
Patienten auftritt. Es ist anzunehmen, dass Parentifizierung, frühe Übertragung von Verantwortung, die Flucht in die Autarkie zur Bildung vieler Fähigkeiten im intellektuellen und
praktischen Bereich, die sie jedoch nie selbstfürsorglich einsetzen können.
Selbstverletzendes Verhalten sollte vor einigen Jahren als eigenständiges Syndrom behandelt
werden, es wurde als „Wrist-cutter-Syndrom“ bezeichnet, betroffene Persönlichkeiten galten
als attraktive, intelligente Frauen, die entweder promiskuös seien oder große Angst vor Se-
xualität hätten, sie würden leicht abhängig werden und seien nicht in der Lage erfolgreiche
Beziehungen zu anderen einzugehen.
Jedoch wurde 1980 die Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM-III aufgenommen und
beinhaltete das selbst verletzende Verhalten als Einschlusskriterium. Selbstverletzendes Verhalten gilt als valider Faktor um Borderline-Persönlichkeitsstörungen von anderen Persönlichkeitsstörungen wie z.B. der narzisstischen abzugrenzen.
Dass selbstverletzendes Verhalten oft im Zentrum der Traumaätiologie steht stellten 1987
Shapiro, das DKPM (Deutsches Kollegium für psychosomatische Medizin) Ende der 80er
Jahre, sowie Favazza und Sachsse in verschiedenen Studien fest. Sie fassten zusammen, dass
ein Zusammenhang zwischen Inzest und selbst verletzendem Verhalten besteht, dass es meist
mit der Kindheitsgeschichte verbunden ist, in der es eine Kette von Realtraumatisierungen
gab. Favazzo befragten 240 Patienten und erhielten folgende Antworten: bei 29% kam es zu
einer Trennung der Eltern, 33% haben den Tod eines Familienmitgliedes an, 62% erlebten
sexualisierte Gewalterfahrungen, 29% litten unter physischer als auch sexualisierte Misshandlungen, 17% berichteten nur von sexuellem und 16% nur von physischer Gewalt. Durchschnittalter bei sexuellem Missbrauch war 7 Jahre, durchschnittliche Dauer war mit 24 Monaten angegeben, bei physischer Gewalt betrug das Durchschnittsalter 6 Jahre und dauerte im
Schnitt 5 Jahre. Auch Kolk, Perry und Herman stellten 1991 fest, dass „Anamnesen von sexualiserter und physicher Misshandlung in der Kindheit hoch signifikante Prädiktoren für selbst
verletzendes Verhalten, Selbstmordversuche und Dissoziativität“ (Kernberg, S. 359) sind.
1997 erhob Sachsse in Göttingen bei 46 Patienten folgende Anamnese (s. Abb. 3)
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
mindestens eine schwerwiegende
Traumatisierung
Abbildung 3
sexualisierte Gewalt
physische Gewalt
Deprivation
Kriterien für zwei oder drei
Traumatisierungen
Sachsse führte weitere Untersuchungen durch und konnte immer wieder statistisch signifikate
Hinweise auf Zusammenhänge von Traumatisierungen, Dissoziativität – insbesondere Depersonalisierung – und selbst verletzendes Verhalten.
7. Psychodynamische Funktion von selbst verletzendem Verhalten
Psychodynamik meint „Prozesse, die dem Bewusstsein gut verschlossen sind, die aber unser
konkretes Leben mitgestalten, Vorstellungen und Gefühle, die belastend oder verboten erscheinen, können aus dem Bewusstsein verbannt werden. Sie werden in das Unbewusste verdrängt. Jene verdrängten Inhalten sind nicht gelöscht, sie behalten ihre Wirksamkeit bei und
müssen ständig in Schach gehalten werden“. (Uexküll, Psychosomatische Medizin S. 458)
Den Patienten erscheint ihr Verhalten als Suchtverhalten, dass sie auch so schildern und erleben. Die Patienten haben eine mangelnde Affektregulierung mit einer undifferenzierten Binnenwahrnehmung, Schwierigkeiten im Umgang mit Trieben und Affekten, begleitet von niedriger Frustrationstoleranz. Oft geht mit dem selbst verletzenden Verhalten auch Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholabusus einher, hier wird die Möglichkeit gesucht sich auf eine andere Art und Weise zu betäuben. Auch Wanke (1978) sieht selbst verletzendes Verhalten nahe
bei Suchterkrankungen.
Paar (1995) sieht das Verhalten unter dem Aspekt der Perversion, er beschreibt, dass „Selbstschädigung (erfüllt) wie ein perverses Symptom im Ich verschiedenen Funktionen und muss
einen Defektzustand wie eine Plombe ausfüllen“ (vgl. Kernberg. S.360).
Mehrere Autoren sehen eine Verbindung zu psychosomatischen Erkrankungen, Schuppli
(1982) meint, dass sie Haut verletzt wird, um psychische Vorgänge direkt in sichtbare somatische umzuwandeln. Auch Sachsse stimmt zu, indem er schreibt: „ (es) finden sich nicht nur
defizitäre Ich-Entwicklungen, die zur Alexythymie und zu psychosomatischen Erkrankungen
führen, sondern ein Über-Ich-Verbot, sich des eigenen Körpers liebevoll-fürgsorglich anzunehmen (…). Genau diese Psychodynamik trifft auch auf unsere Patienten zu.“
Die Funktion einer Plombe um psychische Dekompensationen oder körperliche Erkrankungen
zu verhindern wird bei jeder der Gruppen angenommen. Die Patienten, die eine niedrige
Frustrations-, Angst- und Ambivalenztoleranz besitzen, verletzen sich selbst, da sie die innerseelischen Konflikte nicht mehr ertragen können.
Als Beispiel möchte ich ein Zitat aus „Rote Linien“ einfügen: “nachdem ich 10 Jahre keine
Probleme mehr damit hatte, habe ich wieder angefangen meine Probleme durch ritzen zu lösen, nur weiß ich, dass dies nicht funktioniert. Als Auslöser, weiß ich aber auch, dass ich an
das was vor 17 Jahren war erinnert wurde und dies nicht verarbeitet habe und gleichzeitig
dieselbe Abfuhr und Resonanz bekommen habe wie damals“ (Rote Linien, Vitaminchen25,
2005)
Das selbst verletzende Verhalten erfüllt eine intrapersonale Funktion und eine interpersonelle
Funktion.
7.1 Intrapersonale Funktion von selbst verletzendem Verhalten
7.1.1 Selbstverletzendes Verhalten als globales Druckventil und Tranquilizer
Favazza (1987) wird das Gefühl seiner Patienten beschrieben, dass der „Druck“ entlastete
wird, wie durch das Platzen eines Dampfkochtopfes oder eines Ballons. Die Patienten kommen durch die zu starke Belastung in eine Art von Trance (Depersonalisierung) und erst der
Schmerz beendet diesen Zustand. Durch das Blut erleben die Patienten eine Gefühl von Wärme und Lebendigkeit und versetzt sie in einen Zustand der Befreiung und Erleichterung, die
vergleichbar ist mit körperlicher Verausgabung, Muskelentspannungstraining, Alkoholabusus
und hochdosierten Tranquilizern (Sachsse 1995)
Sachsse berichtet von Patienten, die „manchmal halbe Tage oder mehrere Tage gekämpft haben gegen den Impuls, sich zu verletzen, dann irgendwann mal aufgegeben haben und dann
ihre Handlung mechanisch, fast automatisch in einer Art Alltagstrance, etwas weggetreten, so
wie beim Autofahren, wo wir auch nicht ans Autofahren denken, manchmal auch neben sich
stehend vollzogen haben, eben gerade nicht mit den Fingerspitzen, dem Daumen die Rasierklinge gespürt haben. Wenn sie das könnten, diese Rasierklinge spüren, dann wären sie wahrscheinlich gar nicht so depersonalisiert. Wenn sie spüren würden, wie die Rasierklinge die
Hautgrenzen verletzt, dann bliebe es bei 1-2 mm, ganz oberflächlich, und dann würden sie das
lassen. Wir machen diese Erfahrungen bei Patientinnen, die wir behandelt haben und die dann
wieder ihr normales Körpergefühl entwickeln. Denen fällt es dann zunehmend schwerer, sich
zu verletzen, weil der Körper sich anders anfühlt, weil er nicht mehr depersonalisiert ist“
(Sachsse, 1998)
7.1.2 Selbstverletzendes Verhalten als Antidysphorikum und Antidepressivum
Nach dem selbstverletzenden Verhalten erleben die Patienten oft ein Gefühl des Scheiterns
und den Zwang sich wieder zu verletzen. Wenn sie diesen Impulsen immer wieder nachgeben
und auch Alkohol und Medikamente die Ich-Fragmentierung nicht aufhalten können, kann es
zu einem Zustand einer schweren Depression kommen. Um diesen Zustand zu beenden greifen die Patienten wieder zur Selbstschädigung, die sie wie ein Antidepressivum oder Antidyphrorikum einsetzen.
„Vorwürfe, mal wieder nicht stark genug gewesen zu sein, und es kommt zu einem Katergefühl, ein bedrücktes, ödes, leeres, auch manchmal ein bisschen seelisch schmerzhaftes Gefühl,
was vielleicht sogar auch damit zusammenhängt, dass dieser Kick, der dabei ausgelöst worden ist, sich herunterreguliert, und vielleicht werden wir irgendwann einmal feststellen, dass
das Herunterregulieren der Stresshormone dabei mit eine Rollen spielt und es auch ein körperlich depressiver Zustand ist, in den Patientinnen anschließend kommen. Dann beginnen die
Selbstvorwürfe, und manche verletzen sich dann, weil sie sich verletzt haben“ (Sachsse, 1998)
7.1.3 Selbstverletzendes Verhalten als fokaler Suizid und Suizidprophylaxe
Selbstverletzendes Verhalten wird auch immer wieder als Suizidkorrelat oder als partieller
Selbstmord diskutiert. Rechenberger bezeichnet die Selbstschädigung als „unbewussten
Selbstmordversuch in kleinen Schritten“ (vgl. Kernberg, S.361) oder laut Wanke verhindert
selbst verletzendes Verhalten weitere suizidale Impulse, es dient quasi als Selbstmordprophylaxe (vgl. Kernberg, S. 361).
Die Patienten können auf Grund ihrer Psychopathologie nicht versagen oder schuldig werden,
da dies jedoch niemals möglich ist kommt es bei ihnen zu Insuffizienz- und Schuldgefühlen,
die dann in Selbstverachtung und Selbsthass münden. Das selbst verletzende Verhalten wird
zur partiellen Impulsabfuhr und somit erübrigt sich ein weitergehender Suizidversuch.
Viele Patienten lernen im Verlaufe der Therapie zwischen Zuständen für selbst verletzendes
Verhalten und suizidalen Zuständen zu differenzierten. Sie befinden sich dann eher im Zustand einer anaklitischen Depression und erleben Gefühle der Leere, Verlassenheit und Hoffungslosigkeit. Der Zustand, der zu selbst verletzendem Verhalten führt, beinhaltet eher ein
Übermaß an destruktiven Affekten, die nur durch selbst verletzendes Verhalten entladen werden konnten oder als die Möglichkeit den Zustand der Depersonalisierung zu beenden.
Es ist aber zu beachten, dass selbst verletzendes Verhalten Suizid nicht ausschließt. Zwar betrifft dies nur eine kleine Gruppe, aber hier kann sich selbst verletzendes Verhalten steigern
bis hin zu ernsthaften Suizidversuchen.
7.1.4 Selbstverletzendes Verhalten als Autoaggression und Selbstbestrafung
Diese Art des selbst verletzenden Verhaltens scheint eng mit dem oben beschriebenen fokalen
Suizid verwandt zu sein. Hier wird jedoch ein Verhalten beschrieben, dass nicht parasuizidal
verursacht ist.
Die Patienten verspüren eine immense Wut über sich selbst, z.B. weil sie ihren Ansprüchen
nicht gerecht werden, weil sie sich anderen gegenüber schuldig fühlen oder weil sie sich als
„schlechte“ Menschen sehen. Indem sie sich selbst verletzen könne sich die angestaute Wut
abbauen. Sachsse erklärt dies so: „ Selbstverletzendes Verhalten ist der ungefährlichere Weg,
angestauter Wut Luft zu machen, als eine direkte Äußerung von Wut anderen gegenüber, die
dann vielleicht Vergeltung üben. Die Wut auf andere kann sich auch in Form von Selbsthass
und Selbstbeschuldigung gegen die eigene Person wenden“ (vgl. Kernberg, S. 361) Viele Patienten geben sich selbst die Schuld an dem Ereignis, dass diese chronifizierte Posttraumatische Belastungsstörung auslöste oder nehmen während der Traumatisierung den Täter als
Introjektion in sich auf. Dadurch wird der Täter zu einem inneren Feind, der Selbstabwertung,
Selbstverachtung und Selbstbestrafung fordert. Dies führt dann häufig zu selbst verletzendem
Verhalten.
7.1.5 Selbstverletzendes Verhalten als narzisstisches Regulans und Anteil der eigenen
Identität
Manche Patienten erleben die Selbstschädigung mit „wahrer Lust und einem enormen Stolz
über diese Macht der Selbstdestruktion. Eine Art von Allmachtsgefühl und Stolz darüber, dass
man nicht auf die Befriedigung durch andere angewiesen ist, was den lustvollen, selbstdestruktiven Akt körperlich bekräftigt“ (vgl. Kernberg, S. 362). Diese Form mit einer narzissstischen Besetzung der Symptomatik, die die Möglichkeit gibt masochischtische Triumphe zu
feiern, macht bei der Behandlung große Schwierigkeiten.
Eine weitere Gruppe hat das selbst verletzende Verhalten als ein Teil ihrer Identität integriert.
Durch die Selbstschädigung fühlen sie sich als etwas besonders. Hier sei noch einmal an das
Verhalten von Jugendlichen oder von Punk-Gruppen erinnert.
7.1.6 Selbstverletzendes Verhalten als neurotische Kompromissbildung zwischen Zeigen
und Verbergen
Auf der einen Seite zeigen die Betroffenen ihre Verletzungen, wollen aber auf der anderen
Seite nicht zeigen, was sie traumatisiert hat. Dieses Verhalten wird bei den interpersonellen
Funktionen noch weiter aufgegriffen.
7.1.7 Selbstverletzendes Verhalten als Antidissoziativum
Die Symptome, wie Leere, Dysphorie, inneres Wie-tot-sein weisen nicht nur auf eine anaklitische Depression hin, sondern können auch dissoziative Zustände widerspiegeln. Der Anblick
von Blut oder das Spüren des Schmerzes gibt ihnen dann das Gefühl noch am Leben zu sein
und sie können damit die Dissoziation zu beenden und es kommt zu einer Repersonalisierung.
18 Patienten berichteten bei einer Studie von Rosenthal, Rinzler et al. (1972) zuerst von Gefühlen des Ärgers, des Selbsthasses oder Angst, beschrieben dann allerdings ihren Zustand
vor der Selbstverletzung als empfindungslos. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass von
25 Schnittverletzungen 23 im depersonalisierten Zustand durchgeführt werden.
7.1.8 Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Derealisation und pseudopsychotische Zustände
Viele Patienten erleben gerade nachts häufig „Horrortrips“ mit optischen Halluzinationen,
meist handelt es sich hier um Flashbacks des traumatisierenden Ereignisses oder der dissoziativen Verarbeitung des Ereignisses. Durch das Schneiden wird der alptraumartige Zustand
Trancezustand beendet und der Patient kehrt wieder in die Realität zurück.
7.1.9 Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Impulskontrollverlust und Hyperarousol
Manche Patienten erleben ein Gefühl von Übererregtheit, bei dem sie z.B. nachts nicht schlafen können oder Angst haben andere zu verletzen und greifen, um dieses Gefühl zu beenden,
zur Selbstschädigung. Laut Favazza (1987) dient sie dazu, „im Sturm der Gedanken und Gefühle wieder Selbstkontrolle zu erlangen“ (vgl. Kernberg, S.363) Favazza sieht selbst verletzendes Verhalten in Verbindung mit einer Impulssteuerungsstörung.
7.2 Interpersonelle Funktionen von selbstverletzendem Verhalten
Man muss zum einen unterscheiden welche Wirkung das Symptom an sich hat und wie es von
den Patienten dargeboten wird. Hier zeigt sich ein Kontinuum, auf dem auf der einen Seite
Patienten mit ihren Verletzungen prahlen und auf der anderen Seite diejenigen, die ihr Verhalten nicht unterdrücken können und es autistisch für sich vollziehen und es auch nicht weiter
geben.
7.2.1 Selbstverletzendes Verhalten als averbaler Appell
Das Symptom selbst besitzt einen intensiven Appellcharakter. Es deutet darauf hin, dass der
Patient seine Befindlichkeit noch nicht erzählen kann, weil das Ereignis in einer präverbalen
Phase geschah oder weil eine Traumatisierung stattgefunden hat, die nicht in Worte gefasst
werden kann.
Auch die Haltung des Patienten wirkt interaktionell. Sie löst, wie fast alle Interaktionen dieser
Patienten, widersprüchliche Signale aus. Zum einen ist das Verhalten nicht offen anklagend,
lärmend, sondern es ist still, stumm und unterwürfig, jedoch ist es auch hartnäckig, vorwurfsvoll und gedämpft aggressiv.
7.2.2 Selbstverletzendes Verhalten als Möglichkeit, das intrapsychische Dilemma mittels
projektiver Identifizierung interpersonell zu inszenieren
Die Signale haben einen Double-Bind-Charakter: Die Patienten wehren die Hilfe verbal ab,
geben averbal das Signal, dass sie Hilfe benötigen. Dadurch werden bei den Interaktionspartnern widersprüchliche Empfindungen ausgelöst, die ein Kontinuum von intensiver Zuwendung aber auch von sadistischer Gegenwehr beinhalten können. Der Interaktionspartner wird
Gegenstand einer projektiven Identifikation und bringt dem Patienten, der ihm mitgeteilt hat,
dass die Angebote nicht richtig oder ausreichend waren oder der sich bereits wieder verletzt
hat, dann anstatt Hilfsbereitschaft kalte Ablehnung oder sogar blanker Hass entgegen. Dieses
Verhalten spiegelt sich auch in den Arzt-Patienten-Beziehungen nieder.
Borderline-Patienten können ihr Verhalten auch manipulativ einsetzen, indem sie sich z.B.
selbst verletzen und dem Interaktionspartner zu verstehen geben, dass er sie verletzt hat und
sie sich deshalb verletzen mussten. Favazza berichtete 1989 von einer 22jährigen, die sich
schnitt "und meinem Freund gesagt, als er zu spät zur Verabredung kam, ,hier siehst du, wie
tief du mich verletzt hast’“.
7.2.3 Selbstverletzendes Verhalten als Flucht vor sozialer Überforderung
Manche Patienten verletzen sich selbst um der sozialen Überbelastung zu entgehen. Sie brauchen in der Patientenrolle keine soziale Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Die Patienten haben dies durch ihre Umwelt erlernt und setzen ihr Verhalten nun instrumentell ein – sie erleben einen sekundären Krankheitsgewinn.
8. Therapie
Für alle Therapieverfahren ist ein Vertrag, der die therapeutische Beziehung reglementiert
unverzichtbar. Je nach Lage empfiehlt Sachsse bei der Impulssteuerungsproblematik verhaltentherapeutisch, bei der Objektbeziehungsproblematik psychoanalytsich orientiert zu arbeiten oder traumazentriert auf die posttraumatische Symptomatik einzugehen.
8.1. Psychoanalytische Psychotherapie von selbst verletzendem Verhalten
Nach Walsh und Rosen (1988) wird in vier Behandlungsphasen unterteilt:
Phase 1: Diese beinhaltet den Aufbau der therapeutischen Beziehung. Der Therapeut sollte
sich empathisch, warmherzig und aktiv zeigen
Phase 2: Der Therapeut sollte sich nun mehr als aktiver und aufmerksamer Zuhörer zeigen,
wobei dies dem Patienten erläutert werden sollte, um das Missverständnis einer Zurückweisung zu verhindern. Es sollte auf die Behandlung von Alltagsproblemen und der gegenwärtigen Situation eingegangen werden. Die Probleme beziehen sich auf die Herkunftsfamilien
und ungelöste, primitive Beziehungsstrukturen; Problematik in den Beziehungen zu Gleichaltrigen (stürmisch, spontan, unzuverlässig); Perioden der Depression und des Rückzugs von
anderen; Probleme sich über Leistungen zu freuen und anzuerkennen; Probleme mit der körperlichen Erscheinung (Gewicht, Essen, Attraktivität); Probleme mit der Sexualität, die aber
zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht besprochen werden kann; ebenso Probleme mit Selbstsicherheit und Identität.
Phase 3: In dieser Phase findet die eigentliche Arbeit statt, es müssen die Schlüsselerlebnisse
der Kindheit aufgedeckt werden.
Phase 4: Es kommt zur Therapiebeendigung, wobei es hier zu Regressionen und Symptomrückfällen kommen kann.
Sachsse (1998) unternimmt in seiner Therapie den Versuch psychoanalytische IchPsychologie mit der Objektbeziehungstherapie zu verbinden. Die Vorgehensweise ist konfrontativ-deutend und es soll im Sinne Kernbergs versucht werden Manifestationen negativer
Übertragung, projektive Identifizierung und Täter-Opfer-Umkehr aufgelöst werden. Bei der
interaktionell-psychoanalytischen Methode werden die Selbstentwicklung und die Ausbildung
der Ich-Funktion gefördert.
8.2 Transference Focused Psychotherapy (TFP)
„Die TFP stammt aus der psychodynamischen Schule. Zu den Autoren gehört unter anderem
der Psychoanalytiker Otto Kernberg. Die TFP basiert auf den Elementen Klärung, Konfrontation und Interpretation in der sich langsam aufbauenden Beziehung zwischen Patient und
Therapeut. Der primäre Fokus, der der TFP sind die Dominanz- und Gefühlsthemen in der
Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Die TFP versucht suizidales und selbst verletzendes Verhalten, die verschiedenen Möglichkeiten eine Behandlung zu vermeiden und das Entstehen und Identifizieren von dominanten Objekt-Beziehungs-Mustern zu leisten, wie sie in
der täglichen Beziehung zwischen Patient und Therapeut wahrgenommen werden“ (Jonas
Lang).
Bei der TFP hat die therapeutische Reaktion auf die selbstdestruktiven Verhaltensweisen hohe
Priorität.
8.3 Verhaltenstherapie von selbst verletzendem Verhalten
Von Walsh und Rosen (1988) werden folgende Empfehlungen gegeben: Vertrag mit dem Patienten; die positiven und negativen Verstärker müssen identifiziert und eliminiert werden;
über eine kognitive Therapie sollen die kognitiven Strukturen verändert werden, die das selbst
verletzende Verhalten aufrechterhalten, Verstärkung der kognitiven Strukturen, die selbst verletzendes Verhalten unakzeptabel machen, Selbstsicherheit und Affekttoleranz soll gesteigert
werden; über Desensibilisierungsstrategien um die Toleranz für stressbezogene Erfahrungen
zu erhöhen (Hierarchie); soziale Unterstützung im Rahmen der therapeutischen Beziehung
geben, um erwünschtes Verhalten herauszuarbeiten; externe Verstärker nutzen, Skills entwickeln (soziale und Bewältigungsfertigkeiten); äußere Verstärker zurücknehmen, wenn natürliche Verstärker in der Umwelt auftauchen, die mithelfen, dass angemessene Verhalten aufrechtzuerhalten.
8.4 Behandlung von selbstverletzendem Verhalten im Rahmen der dialektischbehavioralen Therapie (DBT)
Die DBT basiert auf einer biologisch-sozialen Theorie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
und sieht die Störung als eine Dysfunktion des Emotionsregulationssystems. In der Therapie
geht es primär um die Verwirklichung einer Hierarchie von Verhaltenszielen. Daneben wird
durch eine Reihe verhaltenstherapietypischer Elemente versucht die Situation der Patienten zu
verbessern. Beispielsweise trainieren die Therapeuten mit ihnen Probleme zu lösen und versuchen ihre oft einfachen und übergeneralisierten Denkschemata zu überholen.
Linehan hat diese Therapieform von 10 Jahren entwickelt, die auf verhaltenstheoretischen
Grundlagen beruht. Sie beinhaltet vier Bausteine.
1. Einzeltherapie: Es wird versucht zuerst suizidales und parasuizidales Verhalten zu vermindern, ebenso soll therapiegefährdendes Verhalten reduziert werden. Die Lebensqualität soll
erhöht werden und die Verhaltensstrategien, die dazu führen selbst verletzendes Verhalten zu
verhindern, sollen vermittelt werden. Bevor die Patienten eventuell traumatische Ereignisse
bearbeiten können, müssen die Patienten diese Strategien erlernen und in der Lage sein sie
anzuwenden.
2. Fertigkeitstraining in der Gruppe: In den Gruppen werden die Module innere Achtsamkeit,
zwischenmenschliche Fertigkeiten, Umgang mit Gefühlen und Stresstoleranz (hier wird ein
individueller Notfallkoffer zusammengestellt) behandelt.
3. Telefonkontakt um Notfall: Hier wird mit den Therapeuten das Vorgehen geklärt und inwieweit ein Therapeut erreichbar ist um in einem Notfall Hilfestellung zu leisten.
4. Intervision: Die Therapeuten tauschen sich über die gemeinsamen Patienten aus und beraten sich gegenseitig.
8.5 Behandlung von selbst verletzendem Verhalten im Rahmen der traumazentrierten
Therapie
Wie in Abb. 3 lassen sich bei einem hohen Prozentsatz Kindheitstraumata finden. Zusammen
mit Luise Reddemann hat Ulrich Sachsse ein Konzept zur Traumatherapie entwickelt.
In der ersten Phase, der Vorbereitungs- und Stabilisierungsphase, werden die inneren Fertigkeiten und Ressourcen gefördert, ebenso ist es wichtig eine sichere therapeutische Beziehung
aufzubauen. Es werden ein sicherer innerer Ort und ein innerer Helfer etabliert. In dieser
Phase sollte der Therapeut darauf achten, dass das Trauma nicht zu früh zur Sprache kommt
um eine Retraumatisierung zu verhindert. Der Patient sollte als erster Schritt in der Lage sein,
seinen sicheren inneren Ort in der Imagination aufzusuchen, dabei kann es sich um fiktive
Welten, Höhlen im eigenen Körper oder ferne Länder usw. sein. Die Patienten sollen das Aufsuchen üben, wenn es ihnen relativ gut geht. Erst wenn sie den inneren Ort und den inneren
Helfer zuverlässig erreichen bzw. rufen kann, kann mit der Traumaexposition begonnen werden.
Die Traumaexposition umfasst die zweite Phase, in der die traumatischen Szenen zuerst distanziert und affektisoliert betrachtet werden, es ist ein anderes Kind, dem dieser Traumatisierung widerfährt. Sie sollen ablaufen wie z.B. einen alten Film oder aus einem Zug heraus. Der
Therapeut nutzt hier die Dissoziationsfähigkeit der Patienten. Danach sollen die Patienten in
die Szene einsteigen und nun ein ganzheitliches Erleben der Sequenz zu zulassen mit den
Empfindungen und Körpergefühlen der Vergangenheit. Die Szene wird ausgeleitet und fest
z.B. in einem Koffer verschlossen, nur wenn die Patientin den Wunsch verspürt werden diese
Erinnerungen zusammen mit dem Therapeuten hervorgerufen. Die Patientin soll nun das
traumatisierte Kind trösten und ihm etwas helfen. Bevor die Patientin nicht alles wieder verschlossen hat und eine Idee entwickelt hat, wie sie das Kind trösten kann wird die Sitzung
nicht beendet. Hier wurde die Bildschirmtechnik angewandt.
In der dritten Phase, der Integrations- und Neuorientierungsphase, soll das selbst verletzende
Verhalten reduziert werden. Dem Trauma wird ein Platz in der eigenen Geschichte zugewiesen, es soll weder dämonisiert noch bagatellisiert werden.
Durch die Traumatherapie wird jedoch eine mittel- oder langfristige weitere Therapie nicht
überflüssig geworden. (Sachsse, 2002, S.59-79)
8.5 Selbstverletzendes Verhalten in der Familientherapie
Zuerst muss im zwischen der Gruppen unterschieden werden, die unterschiedlich aus der Familiendynamik resultieren und auf diese zurückwirken: Gruppe eins sind die manipulativen
Selbstverletzer, meist Borderliner; Gruppe zwei umfasst die sich selbst bestrafenden Selbstverletzer, wobei hier die Familien meist emotional am heftigsten reagieren und die dritte
Gruppe, die der psychotischen Selbstverletzter.
Im Verlauf einer Familientherapie sollte die Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen geändert werden. Sie sollte offener, expliziter und wenig doppelbödig gestaltet sein.
Dies sind Voraussetzungen um den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen.
8.6 Selbstverletzendes Verhalten: Gruppentherapie, stationäre Therapie und Interventionen im sozialen Umfeld
Selbstverletzendes Verhalten kann sich als Identitätsmerkmal, gemeinsames Symbol oder
Ausdruck der Auflehnung gegen eine Institution aus der Gruppendynamik herausentwickeln.
Um in Kliniken dieses Problem zu minimieren hat Favazza (1987) folgende fünf Regeln verfasst: es sollte Regeln geben, wie mit SSV umgegangen werden soll; Erwachsene mit hohem
Risiko für selbst verletzendes Verhalten sollten nicht aufgenommen werden; es sollte Angebote für Beschäftigungen in Gruppen auch an Wochenenden und abends bestehen; Patienten
sollten in die Planung der Aktivitäten mit eingeschlossen werden; Patienten, die sich selbst
verletzen ohne ihr Verhalten kontrollieren zu wollen, sollten verlegt werden.
Crabtree und Grossmann (1974) konnten beobachten, dass geschlossene Türen in der Klinik
mit Misstrauen gleichgesetzt wurden. Als die Station geöffnet wurden sank die Rate des selbst
verletzenden Verhaltens um 94%. Das Öffnen wurde von den Patienten mit mehr Geborgenheit und Sicherheit assoziiert.
8.7 Selbsthilfegruppen für selbst verletzendes Verhalten
Es gibt im Internet mehrere Foren, die sich mit selbst verletzendem Verhalten beschäftigen
und auch in der Literatur findet man immer mehr Autoren, die sich mit ihrem Verhalten auseinandersetzen.
8.8 Selbstverletzendes Verhalten als spezifisches Problem von Frauen in der patriarchalen Gesellschaft
Haeberle bringt (1996) im Verlauf seiner Forschung selbst verletzendes Verhalten immer
mehr im Zusammenhang mit der weiblichen Sozialisation, anderen psychischen Erkrankungen wie Bulimie, Magersucht, aber auch Schönheitsoperationen, exzessivem Sport, Abmagerungskuren und Pillen zur Leistungssteigerung usw., die jedoch von der Gesellschaft toleriert
werden. Teuber (1998) postuliert, dass die Symptomatik das Ergebnis struktureller Gewalt in
der patriarchalen Gesellschaft ist, dass sie in „ihrem weiblichen Zusammenhang Unterdrückung und Ausgrenzung im Sinne einer Traumatisierung erfahren“ (Kernberg, S. 368).
Dadurch, dass die Frauen immer wieder mit den gleichen Unterdrückungsstrukturen in Kontakt kommen, erleiden sie immer wieder neue Retraumatisierungen. Daher werden Änderungen im gesellschaftlichen System und in den Machtverhältnissen gefordert.
Die Frauen, die selbst verletzendes Verhalten praktizieren müssen laut Teuber lernen, „mit
Worten zu sprechen, laut zu werden und zu schreien, wenn es sein muss“ (vgl. Kernberg,
S.369)
9. Somatische Aspekte und Pharmakotherapie
In der Diskussion um die Entstehung von selbst verletzendem Verhalten kann auch eine somatische Ursache angenommen werden. Deprivierte Kinder können selbst verletzendes Verhalten als Kompensation des Reizdefizits durchführen.
In Tierexperimenten konnte Favazza (1987) automutilatives Verhalten nachweisen, wenn die
Affen in sozialer Isolation aufwuchsen, besonders stark ausgeprägt war das Verhalten, wenn
die Affen direkt nach der Geburt für mindestens sechs Monate isoliert waren. Zusätzlich litten
die Affen unter Bedingungen der Frustration.
9.1 Selbstverletzendes Verhalten als Resultat der Reizverarbeitungsstörung
Vermutet werden Defizite im sensorischen Übertragungssystem, eventuell ausgelöst durch
einen erniedrigten Aktivitätslevel in der Formation redicularis. Auch kortikale Defizite in der
Verarbeitung werden angenommen.
9.2 Neurobiologie von selbst verletzendem Verhalten
Zurzeit werden die Dopamin-, die Serotonin- und die Endorphinhypothe diskutiert.
9.2.1 Dopamin-Hypothese
Hänsli (1996) konnten automutilatives Verhalten durch Zugabe von Dopamin-Antagonisten
wie Koffein und Amphetamin induzieren – daher wird eine Irregularität des dopaminergen
Systems und eine Übersensibilität der Dopamin-Rezeptoren angenommen. Nachweise für die
Gültigkeit der Hypothese wurden noch nicht erbracht.
9.2.2 Serotonin-Hypothese
Die Serotonin-Hypothese ist zurzeit eher im Fokus der Aufmerksamkeit. Hier wird angenommen, dass das serotonale Transmittersystem für Reizbarkeit verantwortlich ist. Das würde
bedeuten, dass reizbare Patienten eher dazu neigen würden zu schreien oder etwas an die
Wand zu werfen, wenn ihr Serotoninspiegel normal wäre, während selbstverletzendes Verhalten oder versuchen andere zu attackieren auf einen niedrigen Serotoninspiegel hinweisen
würde. Zurzeit gibt es lediglich Anhaltspunkte, dass geringe serotonerge Aktivität mit Automutilation korreliert und dass durch die Gabe von Serotonin-Antagonisten dieses Verhalten
vermindert wird. Das serotonerge System wird allgemein für impulsives und zwanghaftes
Verhalten verantwortlich gemacht – beide Punkte, die für Automutilation charakteristisch
sind.
Diese Hypothese gilt zurzeit als der „hoffungsvollste neurobiologische Ansatz“ (Tantam und
Whittacker, 1992,vgl. Kernberg, S. 370)
Dreyfuss (1994) gibt an, dass Fluoextin, ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, bei posttraumatischen Störungen wirkt.
9.2.3 Die Endorphin-Hypothese
Auch hier sind die Ergebnisse gegenläufig – zum einen fanden Coid, Allolio und Rees (1983)
einen erhöhten Metenkephalinspiegel (Endorphin), deren Ausschüttung durch Schmerz verstärkt wird. Dies könnte zu Aufheiterung einer dysphorischen Stimmung führen und damit
eine positive Verstärkung darstellen und damit ein aufrechterhaltender Faktor. Wenn der
Spiegel wieder gesunken ist wird wieder selbst verletzendes Verhalten praktiziert.
Van der Kolk (1998) hingegen gibt an, dass die Patienten auf Grund ihrer chronischen Posttraumatischen Belastungsstörung immer Dauerstress haben und dadurch unter einer BetaEndorphin-Vergiftung leiden – ein Hinweis für die Depersonalisierung. Eventuell erklärt dies
die Behandlungserfolge durch Opitat-Antagonisten wie Naltroxen
9.3 Psychochirurgie
Bei 12 Patienten wurde eine Amygdalotomie durchgeführt. Sie zeigten deutliche Verbesserungen. Jedoch sollten auch laut Sachsse alternativen Methoden genutzt werden, die ja auch
zur Verfügung stehen.
Literaturhinweise
Kernberg, Otto F., Handbuch der Borderline-Störungen, S. 347-370, 2000, Verlag: Schattauer, Stuttgart
Sachsse, Ulrich, Selbstverletzendes Verhalten, 2002, Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Renz u. Polster, Basislehrbuch für innere Medizin, 2004, Verlag: Urban u. Fischer, München
C:\Uni\Borderline\Archiv Prof_ Dr_ med_ Ulrich Sachsse.htm, Interview Wilfried Schneider
mit Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse, 1998, Göttingen
DBT Konzept, Linehan. Pdf
C:\Uni\Borderline\Psycube.htm
C:\Uni\Borderline\Rote Tränen - Selbstverletzendes Verhalten, SVV, Autoaggression1.htm
www.rotelinien.de Umfrage Februar 2005
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