1 Martin Leutzsch Altes Testament oder Hebräische Bibel?1 1. Die Probleme einer alten Bezeichnung Die christliche Bibel hat zwei Teile. Der zweite Teil wird üblicherweise „Neues Testament“ genannt, der erste „Altes Testament“. Einen Teil ihrer Bibel teilt sich die Kirche mit dem Judentum. Die jüdische Bibel, die jüdische Heilige Schrift ist von christlicher Seite lange Zeit als „Altes Testament“ bezeichnet worden. Im christlich-jüdischen Gespräch der letzten Jahrzehnte ist immer klarer geworden, dass diese Bezeichnung das jüdische Verständnis der jüdischen Bibel nicht trifft. Für das Judentum, so hat es ein jüdischer Gelehrter einmal ausgedrückt, ist der erste Teil der christlichen Bibel weder „alt“ noch ein „Testament“. Was ist damit gemeint? Die jüdische Bibel hat keinen zweiten Teil. Im Christentum ist es wichtig, die beiden Teile der christlichen Bibel miteinander in Verbindung zu bringen. „Altes Testament“ legt nahe, dass danach noch etwas, noch ein zweiter Teil kommen müsste. Im Christentum ist das auch so, im Judentum nicht. Das Eigenschaftswort „alt“ könnte auch nahe legen, dass das Alte nur vorläufige Bedeutung hat oder eine Ergänzung braucht. Ja, „alt“ kann auch im Sinn von „überholt“ und „veraltet“ verstanden – oder besser: missverstanden – werden. Und „Testament“? Das DudenFremdwörterbuch erläutert: „letztwillige Verfügung, in der jemand die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tode festlegt“. Das verbinden wir zuallererst mit dem Begriff „Testament“. Dass dieses Wort noch eine Spezialbedeutung hat – „Verfügung, Ordnung [Gottes], Bund Gottes mit den Menschen“ (so wieder das Duden-Fremdwörterbuch), – kann als allgemein bekanntes Wissen heute nicht mehr vorausgesetzt werden. Gibt es eine Bezeichnung für die jüdische Bibel, für den ersten Teil der christlichen Bibel, die von beiden Religionen gemeinsam benutzt werden kann? Aus dem christlich-jüdischen Gespräch der letzten vierzig Jahre sind mehrere Vorschläge erwachsen, für „Altes Testament“ etwas Angemesseneres zu finden. Vortrag am 22. Januar 2004 in Goch im Rahmen der Vortragsreihe „Die Bibel im christlich-jüdischen Gespräch“. – Zusätzlich zu der im folgenden genannten Literatur vgl. noch Alter 1998; Lindbeck 2000; Signer 2000; Sweeney 1997; Brooke, George J.: Jewish Ways of Reading the Bible. OUP 2000 40,-; Brooks, Roger/Collins, John J. eds.: Hebrew Bible or Old Testament? Studying the Bible in Judaism and Christianity. Notre Dame 1990; Schmid, Herbert: Die christlich-jüdische Auseinandersetzung um das Alte Testament in hermeneutischer Sicht. (SJK 1). Zürich 1971; Trebolle Barrera, Julio C.: La Biblia judía y la Biblia cristiana. Madrid 1993 (engl.: Barrera, J. T.: The Jewish Bible and the Christian Bible. Grand Rapids 1998); Zenger, Erich ed.: Die Tora als Kanon für Juden und Christen. Freiburg/Basel/Wien 1996; Dimitrov, Ivan Z. u. a. eds.: Das Alte Testament als christliche Bibel in orthodoxer und westlicher Sicht. Tübingen: Mohr 2004. Vgl. außerdem Crüsemann/Theissmann eds. 2001. 1 2 Ein Vorschlag ist die Bezeichnung „Hebräische Bibel“2. Die jüdische Bibel, das christliche Alte Testament ist fast ganz in hebräischer Sprache geschrieben. In den evangelischen Kirchen Mitteleuropas lernen deshalb künftige Pfarrerinnen und Pfarrer während ihres Studiums Hebräisch, um diesen Teil der Bibel im Urtext lesen zu können. Die übliche Textausgabe bringt den Sachverhalt im Titel zum Ausdruck; sie heißt: „Biblia Hebraica“. Allerdings trifft die Bezeichnung „Hebräische Bibel“ nicht hundertprozentig zu. Die Hälfte des biblischen Buches Daniel (Da 2,4b-7,28) und ein Viertel des Buches Esra (Esra 4,8-6,18; 7,12-26)3 sind nicht hebräisch geschrieben, sondern in einer verwandten Sprache, dem Aramäischen, das im antiken Judentum oft an die Stelle des Hebräischen als Muttersprache trat. Etliche jüdische und christliche Kreise haben die Bezeichnung „Hebräische Bibel“ mittlerweile akzeptiert und dabei stillschweigend das eine Prozent aramäischen Bibeltexts einbezogen. Einige christliche Kritiker der gegenwärtigen Tendenzen der christlich-jüdischen Beziehung haben das eine Prozent Aramäisch stark gemacht, um die Bezeichnung „Hebräische Bibel“ als unangemessen hinzustellen. Dem Problem, dass die „Hebräische Bibel“ auch ein wenig nichthebräische Sprache enthält, entgeht man mit einer anderen Bezeichnung. Spricht man nicht von der „hebräischen“, sondern von der „jüdischen Bibel“, so ist von vornherein klar, worum es sich handelt. Klar ist dann auch: Die Kirche nimmt dem Judentum dessen Bibel nicht weg, sondern bekommt daran Anteil. Der Ausdruck „jüdische Bibel“ kann auch zum Ausdruck bringen, dass die Bibel nicht uns Christinnen und Christen gehört, sondern wennschon, dann umgekehrt4. Ein Problem kann in der Bezeichnung „jüdische Bibel“ trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – stecken: Christen und Christinnen können sich dadurch von dieser Bibel so ausgeschlossen fühlen, dass sie verprellt werden und die jüdische Bibel nicht als eine Botschaft annehmen, die auch an sie gerichtet ist. Ein weiterer Vorschlag ist, das Alte Testament als „Erstes Testament“ zu bezeichnen und das Neue als „Zweites Testament“. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das Neue Testament sachlich das Alte Testament voraussetzt. Das Alte Testament ist nicht veraltet, sondern als „Erstes Testament“ die Grundlage. Das Neue Testament knüpft als „Zweites Testament“ daran an. Auch dieser Vorschlag hat seine Probleme. Das Verhältnis des Zweiten zum Ersten kann auch ganz anders verstanden oder missverstanden werden: Als ob das erste Vgl. etwa Petuchowski 1989, 48: „Juden ziehen es gewöhnlich vor, von der ‚Hebräischen Bibel‘ statt von dem ‚Alten Testament‘ zu sprechen, da der Ausdruck ‚Altes Testament‘ zu antijüdischen Missverständnissen führen kann und in der Tat geführt hat (das ‚Alte Testament‘ als die ‚veraltete‘, bereits ‚überholte‘ Offenbarung Gottes, die durch die Offenbarung im ‚Neuen Testament‘ ‚ersetzt‘ worden sei).“ 3 Hinzu kommen zwei Wörter in Gen 31,47 und der Satz Jer 10,11. 4 Vgl. den Titel von Marquardt/Schellong/Weinrich eds. 1990: „Die Bibel gehört nicht uns“. 2 3 Testament ohne ein zweites unvollständig wäre oder als ob es durch das zweite aufgehoben wäre, wie das bei einem Testament im Sinn der Regelung von Erbschaftsangelegenheiten der Fall wäre. Wenn all diese Neubenennungsversuche ihre Grenzen haben und Probleme aufwerfen können5, sollte die Kirche dann nicht versuchen, einfach eine der Bezeichnungen zu übernehmen, die im Judentum üblich sind? Auch das wird hier und da praktiziert. Wie die Kirche von „Bibel“, von „Heiliger Schrift“, von „Gottes Wort“, von „Guter Nachricht“ sprechen kann, so gibt es auch im Judentum verschiedene Bezeichnungen für das Buch der Bücher6. Ich nenne zwei besonders gebräuchliche: Mikra und Tenakh. „Mikra“ ist das hebräische Wort für „Schrift“. Martin Buber und Franz Rosenzweig haben ihre berühmte Übersetzung der jüdischen Bibel eine „Verdeutschung der Schrift“ gemeint. „Schrift“ meint dann, wie gesagt, die jüdische Bibel. Das deckt sich übrigens mit dem Sprachgebrauch des Neuen Testaments: Wenn dort, etwa in den Paulusbriefen, von der „Schrift“ die Rede ist, ist die jüdische Bibel gemeint. Denn diese, unser heutiges Altes Testament, war ja auch die heilige Schrift der ersten Jesusanhängerinnen und -anhänger. Das blieb allerdings nicht lange so. Als in der Kirche das Neue Testament zur jüdischen Bibel hinzukam, meinte „Schrift“ nun die beiden Teile der christlichen Bibel zusammen. Der Begriff „Schrift“ kann also zu Missverständnissen führen: Die heilige „Schrift“ des Judentums ist nicht identisch mit der des Christentums. Eindeutig ist der Begriff Tenakh. Das ist ein hebräisches Kunstwort. Die jüdische Bibel wird seit alters in drei Teile unterteilt: die Torah (das entspricht den fünf Büchern Mose), die Neviim (wörtlich „die Propheten“) und die Ketuvim (die „Schriften“). Nimmt man die Anfangsbuchstaben von Torah, Neviim und Ketuvim und setzt zwei Vokale dazwischen, so ergibt sich das Kunstwort Tenakh (oder Tanakh), das die jüdische Bibel in ihren drei Teilen bezeichnet. Kein Wort der Alltagssprache, ein Wort, das gewöhnungsbedürftig ist, an das man sich aber durchaus gewöhnen kann. Einige christliche Kreise benutzen das Wort Tenakh, wenn sie die jüdische Bibel meinen. Ob Hebräische Bibel, Jüdische Bibel, Erstes Testament, Mikra oder Tenakh – es gibt eine ganze Reihe von Bezeichnungen, die zur Verfügung stehen, wenn wir den Begriff „Altes Testament“ nicht verwenden wollen, weil wir die Probleme kennen, die damit für die 5 Kurze Diskussion der Probleme in Schottroff/Wacker 1999, XV. Vgl. neben den im Folgenden erwähnten Bezeichnungen noch „esrim we-arba“ (= 24, d. h. die Anzahl der biblischen Bücher), gebräuchlich etwa im Jiddischen, sowie der Plural „(Die) Heilige(n) Schriften“ (vgl. Bechtoldt 2005, 322 Anm. 12). 6 4 christlich-jüdische Beziehung verbunden sind. Keine dieser „neuen“7 Bezeichnungen ist eine Patentlösung. Jede hat ihre Grenzen. Vielleicht ist es besser, die verschiedenen Bezeichnungen auszuprobieren und zu kombinieren. Wichtig ist vor allem, sich bewusst zu machen, dass es ein Problem ist, wenn die Kirche vom „Alten Testament“ spricht. Allerdings ist es mit den Bezeichnungen nicht getan. Die Frage ist, ob hinter dem Namen ein und dieselbe Sache steht oder ob das Altes Testament und Hebräische Bibel zwei voneinander verschiedene Bücher sind. 2. Altes Testament und Hebräische Bibel – einunddasselbe Buch oder zwei verschiedene Bücher? 2.1. Der Umfang des Kanons oder: Haben Christen verschiedener Konfession dieselbe Bibel? Ich werde gleich der Frage nachgehen, ob das christliche Alte Testament und die jüdische Hebräische Bibel ein und dasselbe Buch sind. Doch zuvor erhebt sich die Frage: Haben Christen verschiedener Konfessionen ein und dieselbe Bibel8? Ich beschränke mich in meiner Antwort auf das Alte Testament. Die Antwort lautet: Nein. Das Alte Testament der römischkatholischen und der orthodoxen Kirchen ist umfangreicher als das der evangelischen Kirchen. Die Kirchen der Reformation haben ihr Altes Testament auf diejenigen biblischen Bücher beschränkt, die auch in der jüdischen Bibel stehen. Die Christenheit der Antike und des Mittelalters und die katholischen und orthodoxen Kirchen bis heute nehmen noch eine Reihe weiterer jüdischer Texte in den ersten Teil ihrer Heiligen Schrift auf: die so genannten deuterokanonischen oder apokryphen Bücher. Es geht dabei vor allem um die Bücher der Makkabäer, Judith, Tobit, Jesus Sirach, Weisheit Salomos, Baruch und um einige Wie „neu“ die Bezeichnungen „Hebräische Bibel“, „Jüdische Bibel“, „Erstes Testament“ sind, bedürfte historischer Erforschung. Von „Hebräischer Bibel“ sprach schon Heinrich Heine (vgl. Heine 1976, V 545). „Erstes“ und „Zweites Testament“ sind Bezeichnungen, die von J. A. Sanders (J. A. Sanders, First Testament and Second. In : Biblical Theology Bulletin 17 (1987) 47-49) vorgeschlagen und im deutschsprachigen Bereich insbesondere von Erich Zenger publik gemacht worden sind, vgl. Zenger 1998 (ebd. 152 Anm. 176 weitere Varianten dieser Bezeichnung); Erich Zenger, in: Kirche und Israel 10 (1995) 143-145; ders., in: G. B. Ginzel ed., Die Kirchen und die Juden. Gerlingen 1997, 49-81; ders., in: Loccumer Protokolle 60/93 (1997) 112-121; auch Schreckenberg 1999, 22. Ein Durchnumerieren der Testamente, z. T. verbunden mit der Erwartung eines „Dritten Testaments“, begegnet ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert; so spricht Heine von einem Zweiten und Dritten Testament (Heine 1976, V 589). Von einem „Premier Testament“ spricht schon das altfranzösische „Ovide moralisé“ (frühes 14. Jahrhundert), vgl. Ohly 1995, 505. Kritik an der Bezeichnung „Altes Testament“ ist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von dem reformierten Theologen Kohlbrügge geübt worden, vgl. Hermann Friedrich Kohlbrugge, Waartoe het Oude Testament? 1846; wohl zuerst deutsch: Wozu das Alte Testament? Vgl. dazu Vreekamp 1986, 180-183. H. Klugkist Hesse, Hermann Friedrich Kohlbrügge. Wuppertal-Barmen 1935. BBKL? 8 Diese Frage stellt im Zusammenhang des Verhältnisses von jüdischem und christlichem Bibelverständnis Frankemölle 2003, 240f. 7 5 Ergänzungen zu den Büchern Esther und Daniel9. In der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel, der so genannten Septuaginta, gehören diese Bücher zur Heiligen Schrift. Im Judentum ist dies nicht der Fall. Die Kirchen der Reformation stehen, wenn sie diese Apokryphen nicht zur Heiligen Schrift rechnen, dem Judentum näher als die übrigen Kirchen. Und doch gibt es Unterschiede. Auf diese Unterschiede komme ich nun zu sprechen. 2.2. Die Struktur des Kanons Das Alte Testament der evangelischen Kirchen und die jüdische Hebräische Bibel umfassen dieselben neununddreißig biblischen Bücher. Diese Bücher sind jedoch unterschiedlich angeordnet. Wer in einer Lutherbibel das Inhaltsverzeichnis des Alten Testaments aufschlägt, erblickt eine Dreiteilung in Geschichtsbücher, Lehrbücher und Psalmen sowie Prophetenbücher. Geschichtsbücher sind die fünf Bücher Mose, es folgen Josua und Richter, dann das zur Richterzeit spielende Buch Ruth, die Samuel- und die Königsbücher, dann die Bücher der Chronik, die in Kurzform im wesentlichen das noch einmal erzählen, was in den bisher genannten Büchern ausführlicher geschildert ist; es folgen die Bücher Esra, Nehemia und Esther. Diese Bücher werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß in ihnen die Geschichte der Welt und des Volkes Israel von der Schöpfung bis in die Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft beschrieben wird. Geht es in den Geschichtsbüchern um die Vergangenheit, so in den Lehrbüchern und Psalmen um die Gegenwart: Hiob, die Psalmen, Sprüche, Prediger und Hoheslied sind Hilfen für die Gestaltung der Spiritualität: Wegweisung und Weisheit für die Lebensgestaltung, Orientierung, Grundlagen für Gebet und Gesang. Den dritten Teil bilden die Bücher, in denen es um die Zukunft geht: die Prophetenbücher mit den vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel – „große Propheten“ wegen des Umfangs dieser Bücher. Daran schließen sich die weniger umfangreichen Bücher der zwölf kleinen Propheten an. Hinter dem Jeremiabuch ist das kurze Buch der Klagelieder eingefügt, weil Jeremia traditionell als sein Verfasser gilt. Diese Dreiteilung in Geschichts-, Lehr- und prophetische Bücher findet sich auch in den Bibeln der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirchen, deren Altes Testament ja umfangreicher ist. Die apokryphen Bücher sind ihrem Inhalt entsprechend eingeordnet. 9 Auf Einzelheiten wie die Frage nach der Zugehörigkeit von 3Makk und/oder 4Makk, 4Esra, OrMan zu dieser Textgruppe gehe ich hier nicht ein. Ich verweise auf den entsprechenden Abschnitt in meiner Untersuchung: Bibelübersetzung. 6 Wer die Textausgabe oder Übersetzung einer jüdischen Bibel aufschlägt und die Anordnung der biblischen Bücher mit der der christlichen Bibeln vergleicht, wird auf wichtige Unterschiede stoßen10. Auch die jüdische Bibel wird in drei Teile unterteilt: die Torah, die Propheten und die so genannten Schriften: Torah, Neviim und Ketuvim, woher das Kunstwort Tenakh für die jüdische Bibel kommt. Die Torah, die Weisung, umfasst die fünf Bücher Mose, die wie in der christlichen Bibel zu Beginn stehen. Sie werden aber nicht in erster Linie als Geschichtsbücher aufgefasst. Vielmehr enthalten sie in den von Gott offenbarten Geboten und Verboten die Regeln, nach denen das Zusammenleben der Israeliten untereinander und mit anderen Völkern und die Beziehung zu Gott verbindlich gestaltet werden soll. Die zweite Abteilung der jüdischen Bibel, die Propheten, umfasst mehr und weniger als das, was in christlichen Bibeln darunter verstanden wird. Prophetische Bücher sind in der jüdischen Bibel Josua, Richter, die Samuel- und die Königsbücher – also Texte, die im Christentum zu den Geschichtsbüchern zählen – und dann Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die zwölf kleinen Propheten. Der dritte Teil der jüdischen Bibel, die „Schriften“, enthält den Rest, also jene Bücher, die weder zur Torah noch zu den prophetischen Büchern gehören: Psalmen, Hiob, Sprüche, Ruth, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Esther, Daniel, Esra, Nehemia und die Chronikbücher. „Schriften“ sind also zum einen all jene Bücher, die in christlichen Bibeln als Lehrbücher bezeichnet werden, dann eine Reihe von Texten, die christlicherseits den Geschichts- beziehungsweise den prophetischen Büchern zugerechnet werden. Ich versage es mir, im einzelnen auf die Gründe einzugehen, die zur Zuordnung der einzelnen Bücher zu den „Schriften“ geführt haben. Zum größeren Teil sind diese Bücher erst entstanden oder vollendet worden, als schon wichtige Teile der jüdischen Bibel – Torah und Propheten – vorhanden waren. Nur auf eines will ich hinweisen: Unter den „Schriften“ der jüdischen Bibel nehmen fünf eine Sonderstellung ein: Ruth, Hoheslied, Prediger, Klagelieder und Esther. Jedes dieser Bücher wird an einem von fünf wichtigen jüdischen Festen verlesen. Was bedeutet diese unterschiedliche Anordnung, was folgt aus ihr? Wie wichtig ist dieser Unterschied? Zwar beginnen das christliche Alte Testament und die jüdische Bibel mit sieben Büchern in gleicher Reihenfolge, dann kommen aber immer stärkere Unterschiede zum Tragen, und das Ende ist vollends verschieden. Das christliche Alte Testament endet mit dem Buch Maleachi, und das ist kein Zufall. Im Buch Maleachi wird angekündigt, dass in der 10 Ich beziehe mich im Folgenden auf jene Anordnung, wie sie etwa in der Biblia Hebraica Stuttgartensia oder in der von Leopold Zunz herausgegebenen Übersetzung vorliegt, mache aber darauf aufmerksam: Die handschriftliche Überlieferung und die Drucke der Hebräischen Bibel einschließlich der modernen kritischen Ausgaben variieren im Blick auf die Reihenfolge der Bücher Jesaja, Jeremia und Ezechiel und in großer Vielfalt im Blick auf das Arrangement der Hagiographen. Vgl. Sarna 1971, 827-831; für die kritischen Editionen Tov 1992, 3f. 7 Zukunft der Prophet Elia noch einmal auftreten wird. In der christlichen Bibel folgen auf das Buch Maleachi die Evangelien des Neuen Testaments. Dort wird der wiederkommende Elia in eine mehr oder weniger enge Verbindung mit Johannes dem Täufer gebracht. Das Alte Testament endet also mit einer Hoffnungsbotschaft, die für die Zukunft Rettung, Versöhnung und Erlösung ankündigt. Unmittelbar daran anschließend wird im Neuen Testament die Gegenwart, das Eintreffen dieser Hoffnungsbotschaft zum Thema. Wie es kein Zufall ist, dass das christliche Alte Testament mit Maleachi schließt, hat es auch seine tiefere Bedeutung, dass am Ende der jüdischen Bibel das letzte Kapitel des 2. Chronikbuches steht. In 2Chr 36 wird zunächst beschrieben, wie der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem erobert, den Tempel ausraubt und zerstört und weite Teile des Volkes Israel in die Gefangenschaft verschleppt. Dann wird betont, dass die babylonische Gefangenschaft unter dem Perserkönig Kyros ein Ende fand. Der letzte Satz ist eine öffentliche Anordnung des Kyros an die gesamte Weltbevölkerung: „So spricht Kyros, der König von Persien: Der Ewige, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben und hat mir befohlen, ihm ein Haus zu bauen zu Jerusalem in Juda. Wer nun unter euch von seinem Volk ist, mit dem sei der Ewige, sein Gott, und er ziehe hinauf!“ Diese Hoffnung auf den Wiederaufbau des Tempels wurde gegen Ende des sechsten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung erfüllt. Sie wurde als Hoffnung wieder aktuell, als die Römer im Jahr 70 diesen Zweiten Tempel zerstörten. Auch die Aufforderung, aus der Diaspora wieder ins Land Israel zurückzukehren, „hinaufzuziehen“, ist vom Altertum bis heute aktuell geblieben. Auch die jüdische Bibel schließt mit einer Hoffnungsbotschaft. 2.3. Die Funktion des Kanons Nicht nur am Ende, sondern auch am Anfang gibt es einen Unterschied. Das christliche Alte Testament ordnet die fünf Bücher Mose den Geschichtsbüchern zu und macht damit deren erzählende Bestandteile stark. Die jüdische Bibel versteht diese Bücher als Torah. Was ist Torah? „Gesetz“, so ist dieses biblische Wort im Christentum oft wiedergegeben worden, und man hat es oft negativ verstanden, als Gegensatz zu „Evangelium“. Nach jüdischem Verständnis ist die Torah gerade ein „Evangelium“, das gute Wort Gottes, das die Erwählung Israels und lebenswichtige Orientierung für Alltag und Festtag enthält. Mit dem Wort „Weisung“ haben Martin Buber und Franz Rosenzweig „Torah“ wiedergegeben: Wegweisung, Anweisung zum Leben, Zuweisung einer Bestimmung. 8 Im Judentum haben aus der Torah insbesondere jene 613 Sätze Gewicht, die in Form von Geboten und Verboten das ausdrücken, was Gott von seinem Volk will11. Auch Jesus von Nazareth und seine ersten Jünger und Jüngerinnen haben diese Weisungen auf sich genommen. Als nichtjüdische Menschen zur Gemeinschaft der Anhängerinnen und Anhänger Jesu stießen, erhob sich die Frage, ob und inwiefern die Torah auch für sie Geltung haben sollte. Bis heute hat die Kirche in allen Konfessionen hier keine klare Stellung entfaltet. Dass für die Kirche, auch für die Kirche, der kaum oder keine Juden angehören, die zehn Gebote Gültigkeit haben, ist eine Auskunft, die man oft hören kann. Allerdings reicht sie aus mindestens zwei Gründen nicht aus. Erstens: Wenn Sie den Wortlaut der zehn Gebote in der Bibel mit dem vergleichen, was Sie im Gedächtnis haben und im Katechismus finden, merken Sie Unterschiede: Bei der Anrede: „Ich bin der Herr dein Gott“ wird die Fortsetzung unterschlagen: „der dich aus Ägypten, aus der Sklaverei geführt hat“. Das Verbot, sich von Gott oder Göttern Bilder zu machen, finden Sie nur im reformierten Katechismus, nicht im lutherischen und im katholischen. Und statt der Heiligung des Sabbats reden wir von der Heiligung des Feiertags. Mit solchen Änderungen wird unterschlagen, dass auch die zehn Gebote sich an das Volk Israel richten. Geklärt werden müsste, in welchem Verhältnis sich die Kirche zum Volk Israel sieht. Zum anderen hat der Hinweis auf die zehn Gebote in der Geschichte der Kirchen nie ausgereicht. Mehr oder weniger große Teile der übrigen 603 Gebote der Torah wurden von der Kirche in bestimmten Phasen ihrer Geschichte als verbindlich betrachtet. Eine alte Faustregel der antiken Kirche, bis heute immer wieder zu hören, besagt: Aus der Torah gelten für die Christen und Christinnen die ethischen Gebote, nicht aber die rituellen. Überprüft man diese Faustregel an der Wirklichkeit, stellt sich bald heraus, dass sie nicht funktioniert. Abgesehen davon, dass die Unterscheidung zwischen ethischen und kultischen Geboten der Bibel selbst fremd ist, zeigt sich oft eine Willkür. Ein Beispiel: Die Kirche hat in den ersten eineinhalb Tausend Jahren ihrer Geschichte das Zinsverbot der Hebräischen Bibel übernommen und dann, als ab dem 16. Jahrhundert die kapitalistische Wirtschaftform ihren Aufschwung begann, fallen lassen. Die kirchliche Ethik hat damit eine wichtige Regel biblischer Ethik ausgeklammert. Umgekehrt hat die Kirche durchaus auch solche biblischen Gebote aufgenommen, die ihrem Verständnis nach zu den kultischen gehören: etwa die 11 Das Vorurteil, dass das Halten und schon das Merken dieser Gebote eine Überforderung des Menschen darstelle, lässt sich leicht entkräften: Viele Normen werden zur Selbstverständlichkeit, wenn sie von früh auf regelmäßig eingeübt sind (man mache sich klar, wie viele Regeln der Straßenverkehrsordnung man beachtet, wenn man nur eine Stunde mit einem Fahrzeug in einer Stadt unterwegs ist), und ein ganzer Teil der 613 Gebote beziehen sich auf Spezialisten: die Priester und Leviten. – Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 können von Juden und Jüdinnen alle jene Gebote weder gehalten noch übertreten werden, die einen Bezug zum Tempel haben. 9 Abgaben für die jüdischen Priester, die letztlich dem Kirchensteuersystem zugrunde liegen, oder – in manchen Kirchen bis heute – die Bestimmung, dass nur solche Priester zum Dienst im Heiligtum verpflichtet sind, die frei von körperlichen Behinderungen sind. Doch die Unterscheidung kultisch und ethisch ist, wie gesagt, ihrerseits unbrauchbar. Die Zehn Gebote enthalten ethische Gebote, die Mord, Ehebruch, Diebstahl usw. untersagen, und kultische Gebote wie das, den Namen Gottes nicht unnütz zu führen. Kurz: Die Kirchen lassen bis heute bei der Auswahl der Gebote der Torah, die sie für verbindlich oder nicht verbindlich halten, große Willkür walten. Das ist ein großes Problem für das Gespräch der Kirchen mit dem Judentum – ein Problem, das von christlicher Seite erst in den letzten Jahren intensiver bedacht wird. Ich verweise insbesondere auf die Impulse des Betheler Alttestamentlers Frank Crüsemann12. 2.4. Die Reichweite des Kanons Die Unterschiede zwischen Altem Testament und jüdischer Bibel reichen indes noch weiter. Der jüdische Gelehrte Tuviah Kwasman hat einmal betont: „Es muß bedacht werden, daß bei der Aneignung der Hebräischen Bibel durch das Christentum ein gewichtiger Aspekt ausgeklammert wurde: Mit dem hebräischen Bibeltext hat die christliche Tradition nur die Hälfte des Bestands aufgegriffen; ohne die lebendige jüdische Tradition ist der Text unvollständig. Er bedarf der mündlichen Tradition als Auslegungshilfe, um nicht sprachlos zu werden wie Dokumente untergegangener Kulturen. Die so enteignete Bibel ist daher, übertragen in einen anderen Zusammenhang, sinnentfremdet.“13 Für das Judentum ist die jüdische Bibel ein gewichtiger Teil, aber nicht das Ganze, was als verbindliche Tradition, ja als Offenbarung gilt. Zur Bibel kommt die Auslegung in der Mischna, dem ältesten Teil des Talmud. Die „schriftliche Torah“ der Bibel wird durch die „mündliche Torah“ ergänzt. Eine solche Ergänzung kennt auch das Christentum. Hier wird zunächst das Neue Testament als eine notwendig zum Alten Testament hinzukommende Größe verstanden. Darüber hinaus haben die christlichen Kirchen noch zusätzliche, schriftlich formulierte Traditionen, die ihnen als verbindlich gelten. Für die römisch-katholische Kirche sind das die Beschlüsse der Konzilien und die lehramtlichen Verlautbarungen der Päpste: Schrift, d. h. Bibel, und kirchliche Tradition sind hier gleichrangige Größen, die das kirchliche Leben 12 13 Vgl. Crüsemann 1992; Crüsemann 2003. Kwasman 1987, 103. 10 bestimmen. Auch die Kirchen der Reformation kennen solche Zusatztexte zur Bibel: die Bekenntnisschriften. Diese haben zwar ihrem Selbstverständnis nach nicht dieselbe Geltung wie die Bibel, sind aber doch eine mehr oder minder notwendige Brille, die beim Verstehen der Bibel aufgesetzt werden soll. 2.5. Das Gewicht des Kanons Nicht nur in der Anordnung der biblischen Bücher, nicht nur in der Geltung oder Nichtgeltung der Torah, nicht nur in der Eigenart der nachbiblischen Tradition, die verbindlich zur Bibel hinzukommt, gibt es Unterschiede zwischen Judentum und Christentum. Welchen Stellenwert hat die Bibel im jüdischen und im christlichen Gottesdienst? Im heutigen Judentum wird die Torah im Lauf eines Jahres im Synagogengottesdienst ganz durchgelesen. Auch Teile der prophetischen Bücher werden gelesen und an fünf wichtigen Festen noch jeweils ein Buch, das den Schriften zugeordnet ist. Im christlichen Gottesdienst gibt es neben den Evangelien- und Epistellesungen aus dem Neuen Testament auch alttestamentliche Lesungen. Diese sind aber je nach Konfession und in den evangelischen Kirchen zum Teil je nach Gemeinde sehr stark reduziert oder können sogar fast ganz wegfallen14. Sieht man die Texte der alttestamentlichen Lesungen an, fällt auf: Die Teile, die für das Judentum die wichtigsten sind, die Torah und darin wiederum besonders die darin enthaltenen Gebote, fehlen im christlichen Gottesdienst fast ganz. Überhaupt hat das Alte Testament im christlichen Gottesdienst und darüber hinaus gegenüber dem Neuen Testament sehr viel weniger Gewicht. Der deutlichste Beleg dafür ist die Tatsache, daß es in den Kirchen Deutschlands und der ganzen Welt verbreitete Bibelausgaben gibt, die nur das Neue Testament oder allenfalls das Neue Testament mit Psalmen enthalten. Die Bibelübersetzungen, die es in mehr als 2000 Sprachen gibt, umfassen in ihrer Mehrzahl das Alte Testament nur in Ausschnitten oder gar nicht. Diese weitgehende Abwesenheit des Alten Testaments im christlichen Gottesdienst und in christlichen Bibelausgaben ist umso bedenklicher, als es in der Geschichte des Christentums immer wieder Bestrebungen gegeben hat, das Alte Testament ganz abzuschaffen. Bereits ein Theologe des zweiten Jahrhunderts namens Markion, dessen christliche Gemeinschaft noch im achten Jahrhundert existierte, lehnte das Alte Testament als Heilige Schrift massiv ab. Die Großkirche verurteilte Markion als Irrlehrer und behielt das Alte Testament bei, auch gegen 14 Eine Ausnahme bildet hier die Leseordnung der Church of England, die im Lauf eines Jahres weite Teile der ganzen Bibel zum Vortrag bringt. 11 nichtjüdische Angriffe15. Als die christlich und politisch motivierte Judenfeindschaft im Lauf des 19. Jahrhunderts in den rassistisch begründeten Antisemitismus mündete, wurden im lutherischen Milieu Deutschlands bald Rufe laut, das Alte Testament ganz oder weitgehend abzuschaffen. Große öffentliche Debatten wurden zu diesem Zweck geführt. Auch Kaiser Wilhelm II. war bereit, das Alte Testament fallen zu lassen. Wilhelms Berater Adolf Harnack, der wohl einflussreichste protestantische Theologe der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, schrieb 1924 in seinem Buch über Markion: „das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“16 Was der liberale Theologe Harnack zwar aussprach, setzten in den 1920er und 1930er Jahren völkische Kreise und ein großer Teil der Deutschen Christen in die Tat um: Sie schufen Bearbeitungen und Übersetzungen der Bibel, die von allem Jüdischen befreit sein sollten, und entwarfen Gottesdienstordnungen, in denen die hebräischen Worte „Halleluja“ und „Amen“ keinen Platz haben sollten. Das Alte Testament fiel dabei weitestgehend rassistischen Bestrebungen zum Opfer. 2.6. Das (Miss-)Verständnis des Kanons Sei es, dass das Alte Testament in den Kirchen in vielerlei Hinsicht ein unbekanntes Buch ist, sei es, dass Vorurteile Wissen oder besseres Wissen verdrängen – jedenfalls gibt es auf christlicher Seite auch Sichtweisen, die die jüdische Bibel als abzulehnende oder überwundene Größe betrachten – oder aber sie entgegen dem Original christlich zurichten. Ein häufig zu hörendes Vorurteil sagt: Der Gott des Alten Testaments sei ein Gott der Rache, der des Neuen ein Gott der Liebe17. Dass nach dem Neuen Testament die Ungerechten von Gott in alle Ewigkeit in die Hölle verbannt werden, wird dabei ebenso übersehen wie Aussagen des Alten Testaments, dass Gott gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Treue ist (Ex 34,6; wiederholt in Jona 4,2). Dass Gott Liebe ist und zugleich zornig sein und Unrecht rächen kann, ist eine Spannung, die im Alten wie im Neuen Testament zu finden ist, kein Gegensatz der beiden Testamente. 15 Vgl. Ackermann 1997. Harnack 1924, 217 (im Original hervorgehoben). 17 Zur Auseinandersetzung mit diesem Vorurteil vgl. besonders Ebach 1993. 16 12 Ebenso oft hört man das Stichwort von der „christlichen Nächstenliebe“18. Fragt man nach, von wem das Gebot der Nächstenliebe stammt, ist die Antwort sehr oft: von Jesus. Das ist falsch. In den Evangelien nimmt Jesus das Gebot der Nächstenliebe mehrfach in den Mund, aber als Zitat aus seiner Bibel, als Gebot Gottes, das in Lev 19,18 niedergeschrieben ist. Auch hier soll das Alte Testament (und das Judentum gleich mit dabei) pauschal als lieblos, zumindest als liebloser gegenüber dem Christentum hingestellt werden. Ja, die „christliche“ Nächstenliebe hat sogar den Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts als Rechtfertigung für ihre judenfeindlichen und –vernichtenden Maßnahmen dienen können. Umgekehrt kann das Alte Testament auch christlich vereinnahmt werden. Dies geschieht in christlichen Bibelübersetzungen etwa da, wo Vorhersagen der Hebräischen Bibel auf Jesus bezogen werden. Am bekanntesten ist die Stelle Jes 7,14, wo angekündigt wird, dass eine Junge Frau ein Kind gebären wird. In christlichen Bibelübersetzungen verfälscht man oft das hebräische Wort zu „Jungfrau“. 3. Wie kann die Hebräische Bibel zu einem gemeinsamen Buch für Judentum und Kirche werden? All diese Beispiele zeigen: Das Alte Testament der Kirche und die Hebräische Bibel des Judentums sind keineswegs deckungsgleich. Sie sind aber – das ist meine Einschätzung – gegenwärtig viel weiter auseinander, als sie sein müssten. Wie könnte die Hebräische Bibel zu einem gemeinsamen oder zumindest gemeinsameren Buch für Judentum und Kirche werden? Welche Schritte könnten Christinnen und Christen dabei tun? Ein erster Schritt wäre die Besinnung auf das, was als gemeinsame Tradition real erkennbar ist. Ich stimme der Germanistin Jutta Konda zu, wenn sie schreibt: „Es ist sicher bedenkenswert, daß der Psalter, das Gebetbuch des altbundlichen Gottesvolkes und des Judentums bis heute, auch zum offiziellen Gebetsgut der christlichen Kirche gehört.“19 Ein zweiter Schritt wäre die Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel insgesamt, insbesondere mit jenem Teil, der das Leben des religiösen Judentums bis heute am stärksten bestimmt: die Torah. Dabei wäre es wichtig – mein dritter Schritt – , die jüdische Bibel nicht nur in christlicher, sondern auch in jüdischer Übersetzung zu lesen. Die Verdeutschung der Schrift durch Martin 18 19 Zur Auseinandersetzung mit diesem Vorurteil vgl. Leutzsch 2003. Konda 1998, 252 Anm. 119. 13 Buber und Franz Rosenzweig ist nur eine von mehreren jüdischen Bibelübersetzungen, die heute im Handel erhältlich sind20. Bei solchem intensivem Lesen der Hebräischen Bibel wäre – ein vierter Schritt – die jüdische Auslegung als unersetzliche Verstehenshilfe zu entdecken. Das kann in Form von Lektüre jüdischer Auslegungen aus alter und neuer Zeit geschehen und auch durch Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen mit jüdischen Bibelauslegerinnen und –auslegern. Was von der Bibel für unsere Spiritualität wichtig wird, hängt davon ab, was über Lesen und Hören, Auge und Ohr in unser Herz gelangt. Nur wenn wir den größeren Teil der christlichen Bibel überhaupt zur Kenntnis nehmen, kann seine Botschaft auf zum Ziel gelangen. Die Hebräische Bibel lesen und auf sie hören, auf die jüdischen Auslegerinnen und Ausleger hören, mit ihnen in ein Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Israel und Kirche eintreten – nur das wird auf die Dauer das Alte Testament und die jüdische Bibel näher zueinander bringen. Solches christliche Hören auf die Bibel Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger würde und bliebe sich dankbar dessen bewusst, dass wir das, was Gott in der Hebräischen Bibel seinem Volk Israel offenbart, mithören dürfen – nicht als Hausherren, sondern als Gäste, nicht als Alleinerben, sondern als Miterben, nicht als Feinde, sondern als Mitgesegnete. 20 Ebenfalls derzeit über den Buchhandel zu beziehen sind die Übersetzungen von Moses Mendelssohn (Pentateuch), von Leopold Zunz und Mitarbeitern (ganz), von Wolgemuth, Bleichrode, Löwenstein und Bamberger (Pentateuch und Haftarot) und von Tur-Sinai (ganz). 14 Literatur Ackermann, Sonja (1997) Christliche Apologetik und heidnische Philosophie im Streit um das Alte Testament. (Stuttgarter Biblische Beiträge 36). Stuttgart Alter, Robert (1998) The Double Canonicity of the Hebrew Bible. In: David Biale/Michael Galchinsky/Susannah Heschel eds., Insider/Outsider: American Jews and Multiculturalism. 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