Gottesglaube - Atheismus (LP III, 2 P)

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Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
1
1993 - 1. Pannenberg
Die Behauptung, daß religiöse Vorstellungen, auch die der Bibel, Projektionen des menschlichen Geistes darstellen und nicht einfach eine dem Menschen begegnende Wirklichkeit
benennen, braucht keinen atheistischen Charakter zu haben. Für viele neuzeitliche Theorien
des Erkennens hat alle Erfahrung und alles Denken der Menschen die Form schöpferischen
Entwerfens, also den Charakter von Projektionen, nicht den einer bloß passiven Hinnahme
vorgegebener Daten. Der Entwurfcharakter aller geistigen Akte schließt dabei keineswegs
aus, daß sich Erkenntnis auf außermenschliche Wirklichkeit beziehen und diese auch treffen
kann.
Wenn mit dem Begriff Projektion kein Vorurteil gegen einen entsprechenden Realitätsbezug
religiöser Erfahrung verbunden wäre, brauchte die Kennzeichnung des Redens von Gott als
Projektion nicht prinzipiell verworfen zu werden. Nur zu oft ist allerdings ein derartiges Vorurteil mit der Beschreibung religiöser Erfahrungen als Projektionen verknüpft worden. Man erklärte dann den Inhalt religiöser Erfahrungen als Spiegelung, als Übertragung anderer
Erfahrungen auf die geheimnisvolle Macht, deren das religiöse Erleben gewahr wird. Man
dachte dabei an Erfahrungen von Naturmächten, besonders aber an die Vorstellungen der
Menschen von sich selbst. ...
Dennoch läßt sich das Gesamtphänomen göttlicher Wirklichkeit, wie sie in den verschiedenen Religionen erfahren wurde, nirgends erschöpfend durch derartige Übertragungen von
außerreligiösen Erfahrungen her und besonders von der menschlichen Selbsterfahrung her
erklären.
W. Pannenberg, Wie kann heute glaubwürdig von Gott geredet werden? in: F. Lorenz (Hrsg. i.A. der
Leitung des Deutschen Evangelischen Kirchentags), Gottesfrage heute, Stuttgart 1969, 53f.
Aufgaben:
1.
Geben Sie die Gedanken des Textes zum Projektionsverständnis wieder. (10 P.)
2.
Stellen Sie Anliegen und Argumentation eines Religionskritikers der Neuzeit dar.
(15 P.)
3.
Entfalten Sie an zwei biblischen Texten, wie einerseits die Rede von Gott in der Bibel
durch bildliche Vorstellungen bzw. Projektionen geprägt ist, andererseits aber einer
Festlegung Gottes durch Bilder gewehrt wird. (20 P.)
4.
Setzen Sie sich mit dem Vorwurf von Religionskritikern auseinander, der Gottesglaube hindere den Menschen an seiner Selbstverwirklichung und am Einsatz für die
Gestaltung der Welt. (15 P.)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 1. Pannenberg
Lösungshinweise
zu Aufgabe 1:
Der Text setzt sich mit dem Gottesglauben als Projektion auseinander. Dabei kommt es zu
folgenden Aussagen:
 religiöse Vorstellungen tragen Projektionscharakter
 alles menschliche Denken hat den Charakter des Entwurfs
 der Entwurfscharakter schließt außermenschlicheWirklichkeit nicht aus
 der Realitätsbezug religiöser Aussagen wird dadurch nicht zwingend entwertet
 die Aussage über religiöse Vorstellungen als Projektion ist nicht notwendig atheistisch
 religiöse Erfahrung ist mehr als Spiegelung der Selbsterfahrung
 die Wirklichkeit Gottes läßt sich mit anthropomorphen Übertragungen nicht erfassen.
zu Aufgabe 2:
Entsprechend den im Unterricht behandelten Positionen sind für die Darstellung denkbar:
Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud oder Sartre.
Beispiel Feuerbach:
Anliegen seiner Religionskritik sind:
 Überwindung der Spaltung und Selbstentfremdung des Menschen
 Wiedererlangung der Würde des Menschen, die durch die Religion verloren gegangen ist
 Betonung der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des Menschen (Anthropologie
statt Theologie)
 Befreiung zu verantworteter Humanität (homo homini deus)
Die Argumentation Feuerbachs stützt sich u.a. auf folgende Gedanken:
 der Mensch wird gesehen als begrenztes und bedürftiges Wesen
 Religion und Glaube sind nichts anderes als Wunschbilder des Menschen (Projektion als
Illusion), mit deren Hilfe er seine eigene Schwäche und Unvollkommenheit kompensiert
 die Gottesvorstellung ist zu verstehen als Entzweiung des Menschen mit sich selbst (Abspaltung seiner positiven Möglichkeiten)
 Liebe zu Gott ist Verhinderung der Liebe zum Menschen
zu Aufgabe 3:
Bild- und Projektionscharakter haben die Aussagen über Gott z.B. in folgenden Texten:
 Lk 15,11ff: das „Vaterbild“ im Gleichnis vom verlorenen Sohn
 Mt 25,31ff: das „Richterbild“ im Gleichnis vom Weltgericht
 Gen 1 und 2: unterschiedliche Ausprägungen des Bildes von Gott als dem „Schöpfer“
Die Abwehr einer Festlegung Gottes durch Bilder wird deutlich z.B. in folgenden Texten:
 Ex 20,4f: das Bilderverbot (evtl. in Verbindung mit Ex 32, der Geschichte vom goldenen
Kalb)
 Ex 3: die Selbstoffenbarung Gottes
 1. Kön 19,11ff: Gottes Epiphanie am Horeb (Elia)
Besonders zu werten ist es, wenn der Schüler bei den Beispielen bildlicher Rede auf die
Grenze des jeweiligen Bildes verweist.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
3
zu Aufgabe 4:
Der Schüler kann sich entweder allgemein mit dem genannten religionskritischen Vorwurf
auseinandersetzen oder konkret auf einzelne Argumente eines oder mehrerer Religionskritiker eingehen (evtl. unter Anknüpfung an Aufgabe 2).
Die Auseinandersetzung soll verdeutlichen, welchen Beitrag der christliche Glaube zu
Selbstverwirklichung und Weltgestaltung leisten kann. Dabei können
z.B. folgende Aspekte entfaltet werden:
 die Bedeutung von Gestalt und Botschaft Jesu in ihrem den Menschen befreienden Charakter (Geborgenheit in der Nähe Gottes, Angenommensein, Selbstvertrauen, Befreiung
von Angst)
 die Bedeutung des christlichen Glaubens in seiner Betonung der Nächstenliebe und
Weltoffenheit (sozialer und politischer Dienst)
 die Bedeutung des Selbstverständnisses des Menschen als Geschöpf und Ebenbild sowie der christlichen Hoffnung auf Vollendung im Blick auf die Verantwortung für die
Schöpfung.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 2. Küng
Welche Zukunft hat die Religion?
Man blicke in die DDR, nach Polen, in die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion, nach
Südafrika, ... schließlich auch nach Nord- und Südamerika: die These vom Ende oder Absterben der Religion erscheint heute eindeutig falsifiziert1. Weder dem atheistischen Humanismus (à la Feuerbach) noch dem atheistischen Sozialismus (à la Marx) noch der
atheistischen Wissenschaft (à la Freud) ist es gelungen, die Religion zu ersetzen. Im Gegenteil: Je mehr die Ideologien, diese modernen säkularen Glaubensüberzeugungen, an
Glaubwürdigkeit verloren, umso mehr hatten die Religionen, alte und neue religiöse Glaubensüberzeugungen, Auftrieb ...
Es ist die institutionalisierte Religion, es sind die christlichen Kirchen, die zumindest in Europa aufgrund selbstverschuldeter Erstarrung und Isolierung (katholische Kirche) oder Erschöpfung und Profillosigkeit (protestantische Kirche) in einer Krise stecken. Aber von einem
Absterben der Religion generell kann ... keine Rede sein. ...
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich deutlicher als früher gezeigt, daß sich eine Religion nicht nur für die Unterdrückung, sondern auch für die Befreiung des Menschen einsetzen
kann... Hier wurde nicht mehr, wie Marx und Engels im vergangenen Jahrhundert zu Recht
kritisierten, eine Klassenmoral propagiert; hier wurde - von Lateinamerika bis Korea, von
Südafrika bis zu den Philippinen, von der DDR bis nach Rumänien - für eine humane Gesellschaft gekämpft. Hier überall hat sich gezeigt, daß Religion zur Beförderung von Freiheit,
zur Beachtung der Menschenrechte und zur Heraufkunft der Demokratie beitragen kann. ...
Und die allerjüngste Entwicklung hat ja nun demonstriert, wie von Religionen darüber hinaus
ein Ethos2 gefördert werden kann, wie es bisher in dieser Form kaum zu beobachten war:
die geradezu revolutionäre Macht eines Ethos der Gewaltlosigkeit. Zum erstenmal in der
neueren Zeit haben wir im Herbst 1989 nicht eine Revolution feuernder Gewehre erlebt (in
Leipzig und anderswo), sondern eine Revolution brennender Kerzen. An der Spitze dieser
gewaltlosen revolutionären Bewegung standen freilich weder konservative Hierarchen erstarrter Kirchen ... noch die vielen wohlangepaßten „grauen Kirchenmäuse“. Kristallisationspunkte waren dynamische und zugleich verantwortungsbewußte, tolerant-offene und
zugleich konsequente religiöse Führungspersönlichkeiten und Gruppen.
Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, 68f.
Worterklärungen:
1
erscheint falsifiziert - hat sich als falsch erwiesen
2
Ethos
- sittliche Grundeinstellung
Aufgaben:
1.
2.
3.
4.
Küng sieht die Religion im „Auftrieb“, die Kirchen aber in der „Krise“. Beschreiben
Sie, mit welchen Beobachtungen Küng seine Sichtweise begründet und nehmen Sie
aus Ihrer eigenen Erfahrung dazu Stellung. (15 P.)
Zeigen Sie an zwei biblischen Beispielen, inwiefern Religion als Befreiung des Menschen oder als Kampf gegen Unterdrückung theologisch begründet werden kann.
(18 P.)
Der Text spricht vom „atheistischen Sozialismus“. Stellen Sie die Grundzüge der Religionskritik von Karl Marx dar. (15 P.)
Überlegen Sie ausgehend vom Text und von biblischen Zusammenhängen, in welchen Punkten Christen Marx einerseits widersprechen und andererseits von ihm lernen können. (15 P.)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 2. Küng
Lösungshinweise
zu Aufgabe 1:
Küng stützt seine Sicht auf folgende Beobachtungen:
 die Falsifikation der marxistischen Prognose vom Ende der Religion
 die schwindende Überzeugungskraft der säkularen Ideologien
 die wachsende Bedeutung alter und neuer Religiosität
 der neue Beitrag der Religion für Freiheit und Menschenrecht in vielen Diktaturen
 die gewaltlose Revolution der Kerzen im Herbst 1989 mit ihren religiösen Anführern, die
nicht aus der Kirchenhierarchie kamen
Dagegen sieht Küng die Kirchen eher in der Krise und von folgenden Schwächen gezeichnet:
 die Erstarrung der katholischen Kirche und die Profillosigkeit der evangelischen Kirche
 das Zusammenwirken zwischen konservativer Hierarchie und „wohlangepaßten Kirchenmäusen“
In der Stellungnahme wird erwartet, daß der Schüler seine (mehr oder weniger intensive) Erfahrung mit Kirche und Religion zur Sprache bringt und damit seine (ähnliche oder abweichende) Sicht begründet.
zu Aufgabe 2:
Ein mögliches Beispiel aus dem Alten Testament wäre der Dekalog im Zusammenhang mit
2. Mose 19 und dem Exodusgeschehen.
Dabei kann der Schüler den Schwerpunkt verschieden setzen, z.B.:
 Gottes Gebote gründen in der Befreiung (1.Gebot) und sind „Marschbefehle in die Freiheit“ (Westermann).
 Das Bilderverbot wendet sich gegen versklavende Projektionen.
 Im Verhältnis zum Befreiergott (1.Tafel) wurzelt das gemeinschaftsgerechte Verhalten
zum Mitmenschen (2.Tafel); die Menschenrechte haben ihren Grund im Gottesrecht.
 Das Sabbatgebot setzt Herren und Knechte an einen Tisch, das Sabbatjahr befreit die
Sklaven.
 Die Eigentumsgebote (7./9./10. Gebot) meinen nicht das Privateigentum sondern das
göttliche Eigentum, das der Arme nutzen darf und das gegen den Zugriff der Mächtigen
geschützt wird.
Als weitere Beispiele wären u.a. denkbar:
 Dt 26,5-9: Gottes befreiendes Handeln in der Geschichte
 Am 5: Das Eintreten des Propheten für die Unterdrückten
 Mt 25,31ff: Der wahre Gottesdienst als Mitmenschlichkeit
zu Aufgabe 3:
Als Grundzüge marxistischer Religionskritik könnten beschrieben werden:
Karl Marx hat in seiner Religionskritik die gesellschaftlich-politische Funktion der Religion kritisiert. Die Kritik des Himmels (Feuerbach) wandelt sich für ihn in die Kritik der Erde, des
Rechts, der Politik. Religion ist das Resultat falscher sozialer Strukturen und gehört zum
geistigen Überbau der kapitialistischen Produktionsverhältnisse. Sie ist das „Opium des Vol-
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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kes“, das die Menschen betäubt und über ihr schweres Schicksal hinwegtröstet durch die
Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Andererseits ist Religion das willkommene Instrument
der Herrschenden, das ungerechte System zu rechtfertigen und zu stabilisieren.
Eine Befreiung von der Herrschaft ist zugleich eine Befreiung von der Religion. Wenn der
Mensch die Gestaltung seiner Welt in die eigene Hand nimmt, wird die Religion von selbst
absterben.
zu Aufgabe 4:
Hat der Schüler in den ersten beiden Aufgaben gut vorgearbeitet, kann er diesen Faden jetzt
aufnehmen und eventuell wie folgt fortsetzen.
Er könnte Marx u.a. entgegenhalten:
 Die Religion ist entgegen allen Prognosen nicht abgestorben.
 Die Religion kann sich auch für Befreiung einsetzen und hat dafür gute biblische Gründe.
 Gott ist nicht Opium in der Gefangenschaft sondern Manna auf dem Weg in die Freiheit.
 Die Marx'sche Religionskritik findet sich in der Bibel selbst.
Aus denselben Gründen können Christen von Marx lernen.
Sie können durch ihn ihre soziale Verantwortung neu entdecken.
Sie können sich von ihm sagen lassen, worin die Krise der Kirchen ihren Grund haben könnte, z.B.:
 in Weltflucht und Jenseits-Verströstung
 im Götzendienst des Geldes
 in religiöser Rechtfertigung von Sklaverei und Rassismus
 im Mißbrauch der Religion als Heiligenschein einer heillosen Gesellschaft
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 3. Hünermann
Es ist verständlich, daß im 19. Jahrhundert angesichts der unermeßlichen Expansion des
Wissens, angesichts der Entdeckung, daß und wie der Mensch Gestalter seines eigenen
gesellschaftlichen Lebens ist, der Gedanke der Autonomie1 und des Selbstgenügens des
Menschen Boden gewann. Verbunden mit diesem Verständnis menschlicher Autonomie war
eine scharfe Religionskritik. Die Religion erschien als jenes Gehäuse, das der Mensch gerade durch die Revolution von Wissenschaft, Technik und eigenverantwortlicher Gestaltung
der Gesellschaft aufgebrochen hat. Für eine ganze Reihe von Denkern verband sich mit dieser Kritik zugleich die Überzeugung, daß damit nicht nur eine zeitgeschichtliche Form der
Religion zertrümmert worden sei. Sie waren vielmehr der Auffassung, daß man Gott, den
Begriff oder die Vorstellung Gottes, grundsätzlich auf den Menschen reduzieren bzw. aus
ganz bestimmten menschlichen Gegebenheiten ... ableiten könne. Ludwig Feuerbach hat
dieses Programm in seinem Werk „Vom Wesen des Christentums“ erstmals entfaltet. Die
Religionskritik von Karl Marx baut darauf auf. . . . Der Atheismus, die Leugnung Gottes,
schien die der Wissenschaft und Technik entsprechende Weltanschauung zu sein.
Aber gerade jene Momente, die im 19. Jahrhundert den Anlaß eines theoretischen und zugleich praktischen Atheismus gaben, bringen heute die Frage nach Gott zurück. Die Notwendigkeit umfassender Gestaltung der menschlichen Lebensbedingungen läßt die Frage
nach der letzten Orientierung menschlicher Praxis unabweislich aufstehen. Nagelt die Aufgabe umfassender Organisation und Gestaltung aller öffentlichen Lebensbereiche den heutigen Menschen nicht gerade auf sich selbst fest? Woher soll er für diese umfassende
Gestaltung und Organisation Grenzen und Maßstäbe nehmen, wenn er selbst alles bestimmt
und entscheidet, all dies verantworten muß? ...
Hat es der Mensch grundsätzlich nur mit menschlichen Werten zu tun, die ganz von ihm abhängen? Gelten dann im Hinblick auf den geballten Einsatz des Herrschaftswissens, der
technischen Mittel und Möglichkeiten, nicht lediglich pragmatische2, den eigenen Vorteil betreffende Beweggründe? Fragen solcher und ähnlicher Art haben der Frage nach Gott gerade in der neuzeitlichen Gesellschaft eine ganz neue Dringlichkeit gegeben.
P. Hünermann, in: Wer ist Gott?, hg. von A. Th. Khoury und P. Hünermann, Freiburg 1983, S. 7f
Anmerkungen:
1 Autonomie
- Selbstbestimmung
2 pragmatisch
- am praktischen Nutzen orientiert
Aufgaben:
1.1
Beschreiben Sie anhand des Textes die vom Verfasser aufgeführten Ursachen, die „im 19.
Jahrhundert den Anlaß zur Ausbildung eines theoretischen und zugleich praktischen Atheismus gaben“. (5 P.)
1.2
Zeigen Sie, welche Probleme sich nach dem Text aus dem neuzeitlichen Verständnis der Autonomie des Menschen ergeben. (5 P.)
2.
Stellen Sie dar, mit welchen Argumenten Feuerbach oder Marx oder Freud die im Text beschriebene Auffassung begründen, daß man „Gott, den Begriff oder die Vorstellung Gottes,
grundsätzlich auf den Menschen reduzieren bzw. aus ganz bestimmten menschlichen Gegebenheiten ... ableiten könne“. (15 P.)
3.
Entfalten Sie an je einem Beispiel aus dem Alten und dem Neuen Testament Grundzüge des
Gottesglaubens und zeigen Sie, daß der biblische Gottesglaube nicht im Wiederspruch zu
Freiheit und Eigenverantwortung des Menschen stehen muß. (20 P.)
4.
Erläutern Sie, warum der Autor die Frage nach Gott mit neuer Dringlichkeit gestellt sieht, setzen Sie sich mit seinen Gedanken auseinander und begründen Sie Ihre Meinung. (15 P.)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 3. Hünermann
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1.1:
Der Verfasser spricht folgende Ursachen an:
 die Expansion des menschlichen Wissens
 die Entdeckung des Menschen als des selbstverantwortlichen Gestalters gesellschaftlichen Lebens
 das Bewußtwerden von Autonomie und Selbstgenügen des Menschen
 die revolutionäre Entwicklung in Wissenschaft und Technik
 die Überzeugung, Religion behindere den Fortschritt und der Atheismus sei die der Wissenschaft und Technik entsprechende Weltanschauung
 die Auffassung, Gott könne auf den Menschen reduziert oder aus betimmten menschlichen Gegebenheiten abgeleitet werden.
zu Aufgabe 1.2:
Folgende Probleme werden genannt:
 die Notwendigkeit, nach letzter Orientierung zu fragen
 die drohende Fixierung des Menschen auf sich selbst und seine alleinige Verantwortung
für alle Lebensbereiche
 die Frage nach letzten Begründungen menschlicher Werte
 die Gefahr rein pragmatischer, auf den eigenen Vorteil bedachter Handlungsorientierung.
zu Aufgabe 2:
Z. B. Feuerbach:
Feuerbach erklärt alle Religion als Produkt menschlicher Hoffnungen, Sehnsüchte und
Wünsche. Der Mensch, der sich in seiner Begrenztheit und Mangelhaftigkeit erfährt, muß
diesen Mangel kompensieren. Er projiziert ein entsprechend vollkommenes Gottesbild an
den Himmel. In Wahrheit ist es seine eigene Vollkommenheit, die er durch solche „Selbstentzweiung“ an den Himmel verliert.
Marx und Freud übernehmen Feuerbachs Projektionstheorie im Prinzip:
Marx findet das menschliche Defizit, das Religion braucht, nicht in individuellen Gegebenheiten sondern in gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Religion ist für ihn der geistige Überbau des Kapitalismus, Opium des Volkes, Ausdruck der sozialen Not und zugleich hilfloser
Protest dagegen, die Illusion eines
himmlischen Ausgleichs und ein Teil der Entfremdung selbst.
Freud sieht das Bedürfnis nach Religion in individuellen und kollektiven psychischen Fehlhaltungen begründet. Der psychische Infantilismus projiziert eine Vaterfigur und kompensiert so
sein Hilflosigkeitsgefühl. Kollektive Schuldgefühle gegenüber dem toten Stammesvater führen zu dessen religiöser Verehrung und Hypostasierung.
Die wesentlichen Aussagen und Begriffe des jeweiligen Religionskritikers sollten in sinnvollem Zusammenhang dargestellt werden. Die volle Punktzahl ist zu geben, wenn die Darstellung über eine reine Reproduktion hinaus Verständnis für die Konzeption des
Religionskritikers erkennen läßt.
Zu Aufgabe 3:
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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Mögliche Beispiele aus dem AT:
 Ps 8 / Gen 1-2: Gott, der Schöpfer und Erhalter
 Dtn 26,5ff / Ex 3: Gott, der Befreier und Retter Israels
 Am 5: der Gott des Bundes, der Gemeinschaft und der Gerechtigkeit
Mögliche Beispiele aus dem NT:
 Lk 11,1-4 / 15,11ff: Gott, der Vater
 Mk 1,14f: Ankündigung der Gottesherrschaft
AT:
Im Gegensatz zu dem Vorwurf, der Glaube an Gott sei mit Freiheit und Eigenverantwortlichkeit nicht vereinbar, kann an den genannten Beispielen
gezeigt werden:
 Gott als Schöpfer gibt dem Menschen in der Schöpfung einen Raum zur Entfaltung seiner
Gaben; als Gottes Ebenbild erhält er einen Gestaltungsauftrag, den er in Freiheit und
Verantwortung erfüllen kann.
 Gott als Befreier führt sein Volk aus der Sklaverei und macht so eigenverantwortliches
Handeln erst möglich.
 Gott als Bundespartner sorgt dafür, daß die Armen wieder ihre Rechte als Glieder des befreiten Gottesvolkes wahrnehmen können.
NT:
 Der Vater des verlorenen Sohnes eröffnet dem Heimgekehrten neu die Freiheit, sein Leben verantwortlich zu gestalten.
 Jesu Predigt vom Reich Gottes ist eine befreiende Botschaft für alle Armen und Kranken,
für alle religiös und sozial Deklassierten.
Die Aufgabe ist gelöst, wenn der Schüler an zwei Bibeltexten wesentliche Merkmale des
Glaubens entfaltet und deutlich macht, daß Gott die Freiheit nicht verhindert, sondern durch
seine liebende und vergebende Hinwendung zum Menschen erst ermöglicht. Der Mensch
verwirklicht diese Freiheit im Vertrauen auf Gott.
zu Aufgabe 4:
Der Schüler sollte erkennen, daß das neue Aufbrechen der Gottesfrage aus der Verlegenheit des modernen Menschen entspringt, seine Lebensbedingungen zu gestalten in einer
Welt, in der er scheinbar nur noch sich selbst gegenübersteht. Die Ursache dieses Dilemmas sieht der Autor in dem seit dem 19. Jahrhundert herrschenden Autonomieverständnis.
Mit dieser Sicht soll sich der Schüler auseinandersetzen. Er hat die Freiheit, biblisch, historisch oder systematisch anzusetzen und seine persönliche Auffassung einzubringen. Die
Richtung der Aussage ist offen.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1993 - 4. Track
Die religiöse Sprache hat Überzeugungscharakter. Dies hat faktisch in der Geschichte des
religiösen Redens immer wieder dazu geführt, daß das Wort Gott ein für vielerlei Interessen,
Bedürfnisse und Manipulationen genutztes und ausgenutztes Wort geworden ist... .
Zu dieser Schwierigkeit, die für jedes Reden von Gott gilt, kommt nun noch eine Verlegenheit, die sich aus dem spezifisch christlichen Gottesverständnis ergibt. Der Gott, von dem
wir reden, ist der Gott, der in Jesu Verkündigung und Geschick gezeigt hat, wer er sein will
und wo er sein will. Wer unser Gott ist, das wird in Kreuz und Auferstehung erfahren. Dies
aber heißt, der Gott, den der christliche Glaube bekennt, ist ein Gott, der in der Ohnmacht
der Liebe mächtig sein will. Freiheit und Lebenkönnen sind nach christlichem Verständnis
allein in der liebenden Zuwendung Gottes begründet, der für uns um der Liebe willen Leid
und Tod auf sich nimmt und sich damit der Ohnmacht der Liebe ausliefert, die von allem,
was nicht Liebe ist, hinweggefegt, verwundet, tödlich verletzt werden kann. Gott läßt sich in
Kreuz und Auferstehung auf einen Prozeß ein, in dem wir eingeschlossen werden in seine
lebendige Geschichte mit uns.
Dies macht christliches Reden von Gott doppelt schwer. Nun heißt es nicht nur: Gott kann
man nicht ergreifen, verobjektivieren, festmachen, beherrschen und verpflichten, weil er Gott
ist. Es heißt darüberhinaus: Selbst dort, wo Gott in der Geschichte kenntlich und erfahrbar
werden will, begegnet er unter dem Gegenteil einer allgemeinen Gottesvorstellung. Gott ist
nach christlichem Verständnis kein Unberührbarer, Unangreifbarer. Er begibt sich in eine
Geschichte um der Liebe willen und der Freiheit des Menschen willen, in der er verwechselbar und verletzbar wird und gerade in dieser Liebe mächtig sein will.
Joachim Track, Überlegungen zum christlichen Gottesverständnis im Horizont des Dialogs von Theologie und
Naturwissenschaft, in: H. Dietzfelbinger und L. Mohaupt (Hrsg.), Gott - Geist - Materie,
Theologie und Naturwissenschaft im Gespräch, Hamburg 1980, S. 94f
Aufgaben:
1.
Geben Sie wieder, welche Schwierigkeiten der Autor für die religiöse sowie für die
spezifisch christliche Rede von Gott sieht. (12 P.)
2.
Zeigen Sie an zwei biblischen Beispielen, wie nach christlichem Verständnis „Freiheit
und Lebenkönnen“ durch die liebende Zuwendung Gottes ermöglicht werden. (18 P.)
3.
Stellen Sie die Religionskritik Feuerbachs dar, und zeigen Sie, inwiefern seine Religionskritik ein Gottesbild zum Gegenstand hat, das für „vielerlei Interessen, Bedürfnisse und Manipulationen“ genutzt wurde. (15 P.)
4.
Erörtern Sie, inwieweit die Religionskritik Feuerbachs eine ständige Herausforderung
ist und damit der christlichen Religion einen Dienst erweist. (15 P.)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
11
1993 - 4. Track
Lösungshinweise
zu Aufgabe 1:
Der Autor nennt folgende Schwierigkeiten:
 der Überzeugungscharakter religiöser Sprache bedingt, daß die Rede von Gott von unterschiedlichen Absichten durchsetzt und damit entstellt und mißbraucht werden kann
 menschliche Sprache kann Gott nicht verobjektivieren und festmachen; Gott ist der Verfügbarkeit des Menschen entzogen
 nach christlichem Glauben erweist sich die Macht Gottes in der Ohnmacht der Liebe
(Kreuz und Auferstehung), die tödliche Verletzbarkeit einschließt
 Freiheit und Leben des Menschen sind in dieser Liebe begründet
 Gott, der sich in die Geschichte hinein begibt und in ihr erfahren wird, ist verwechselbar
 die christliche Gottesvorstellung steht im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung von der
Unnahbarkeit Gottes.
zu Aufgabe 2:
Unter christologischer Perspektive, die durch den Text gegeben ist, sind als Beispiele neutestamentliche Texte naheliegend, die die Heilsbedeutung von Kreuz und Auferstehung zum
Thema haben. Die Aufgabenstellung verweist jedoch allgemein auf die liebende Zuwendung
Gottes, so daß als biblische Beispiele u.a. auch herangezogen werden können:
 die Herausführung des Volkes Israel aus der Sklaverei (Exoduserzählung)
 die Freiheit und Leben ermöglichenden Weisungen Gottes im Dekalog (Ex 20)
 das Angebot Gottes zu Umkehr und neuem Leben im Bild der Gleichnisse vom großen
Mahl (Lk 14,16ff) oder vom gütigen Vater (Lk 15,11ff).
Beim Gleichnis vom gütigen Vater können u.a. folgende Aspekte hervorgehoben
werden:
 im Bild des Vaters begegnet Gott dem Menschen mit dem Angebot seiner Liebe
 er mutet dem Menschen die Entscheidung zur Freiheit zu und verhindert möglichen Mißbrauch nicht
 mit der gegebenen Freiheit hält er den Weg der Umkehr zu einem anderen Leben offen
 er geht dem Umkehrenden in liebender Zuwendung entgegen
 er ermöglicht ihm neuen Anfang und neues Leben
 er setzt sich in seiner vergebenden Liebe dem Mißverstehen aus.
zu Aufgabe 3:
Die Religionskritik Feuerbachs enthält folgende Überlegungen:
 Gott ist nichts anderes als eine Projektion menschlicher Vorstellungen und Sehnsüchte
 indem der Mensch diese Vorstellungen auf Gott überträgt, entzweit er sich zugleich mit
seinem eigenen Wesen
 damit stellt er sich als nichtiges Wesen einem absolut und vollkommen gedachten Gott
gegenüber
 um des Menschen willen muß die Illusion dieser Projektion zurückgenommen werden:
aus Theologie muß Anthropologie werden.
Feuerbach wendet sich gegen eine Religionsvorstellung, die geprägt ist von einem Gottesbild, das
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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 Gott als ferne, unnahbare, absolute Größe sieht, die keinen Bezug zur Welt und zum
menschlichen Leben hat und damit den Menschen in seiner Nichtigkeit und Unfähigkeit
gefangen hält
 Notleidende und Arme auf ein Jenseits vertröstet
 Gott zur Stabilisierung herrschender Verhältnisse mißbraucht.
zu Aufgabe 4:
Feuerbachs Religionskritik fordert zu kritischer Reflexion religiöser Sprache heraus:
 jede menschliche Wahrnehmung ist gebunden an Projektion (alle menschliche Rede von
Gott enthält menschliche Wünsche und Sehnsüchte)
 Bild und Sache müssen unterschieden werden (jedes Reden von Gott ist zwangsläufig
auf Bilder angewiesen, ohne Gott selbst zu fassen).
Feuerbachs Religionskritik fordert das Christentum zur Reflexion seiner Grundlagen, seines
Selbstverständnisses und zur Überprüfung seiner Praxis heraus. Das Christentum wird zur
Selbstbesinnung darüber gezwungen,
 welche Erfahrungen dem christlichen Glauben zugrunde liegen
 ob und wo die Religion/der Glaube Probleme verdeckt und deren Lösung verhindert
 welchen Beitrag der christliche Glaube zu einer befreienden Lebenspraxis unter den Anforderungen der heutigen Zeit leistet.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1996 - 5. Zahrnt
Die Geburt Gottes aus dem Geist oder der Seele des Menschen - dieser Verdacht der Projektion kam gebündelt von der Philosophie, der Soziologie und der Psychologie, von Feuerbach, Marx und Freud. ...
Die neuzeitliche Religionskritik zeigt eine deutlich emanzipatorische Tendenz; sie zielt auf
die Befreiung des Menschen aus seiner Selbstentfremdung zum vollen, wahren Menschsein:
Die Menschen sollen aufwachen aus dem illusorischen Wunschtraum der Religion, sollen ihre Wünsche, statt sie an einen imaginären Himmel zu verschleudern, selber in die Hand
nehmen, sie zu Inhalten ihres eigenen Denkens und Handelns machen und so sich fest im
Diesseits etablieren.
Damit erweist sich der neuzeitliche Atheismus von Anfang an als ein radikaler Humanismus.
Es geht ihm primär nicht darum, daß kein Gott sei, sondern daß der Mensch Mensch sei.
Aber eben damit der Mensch endlich Mensch sein kann, darf kein Gott sein. Durch die Religion wird das Ziel aller Geschichte, die Menschwerdung des Menschen, vereitelt und der
Fortschritt zum Stillstand gebracht. Darum wird der radikale Humanismus als ein Programm
für den Menschen fast zwangsläufig zu einem Programm gegen Gott.
Aber gerade die Leidenschaft seines emanzipatorischen Wollens läßt den atheistischen
Humanismus fast schon wieder in »Religion« umschlagen. Feuerbach spricht von der göttlichen Natur aller wesentlichen Lebensverhältnisse des Menschen, Marx gibt der sozialen Revolution den Anschein eines heilsgeschichtlichen Ereignisses, Freud hofft wenigstens auf
den Fortschritt der Menschheit durch die Wissenschaft. Solange der Mensch noch ein leidenschaftlicher Atheist ist, bleibt Gott sein Nachbar.
H. Zahrnt, Gotteswende. Christsein zwischen Atheismus und Neuer Religiosität, München 21989, 26ff
Aufgaben:
1. Erheben Sie aus dem Text, wie der Verfasser die neuzeitliche Religionskritik beschreibt.
10 P
2. Stellen Sie Inhalt und Ziel einer der im Text genannten religionskritischen
Positionen dar, und erläutern Sie, inwiefern ihr auf die Befreiung des Menschen zielendes Interesse fast schon wieder in „Religion“ umschlägt.
15 P
3. Erläutern Sie an einer alttestamentlichen und an einer neutestamentlichen Aussage, wie aus der Sicht des biblischen Glaubens dem Vorwurf
der Projektion bzw. Illusion der von Ihnen dargestellten Religionskritik
begegnet werden kann.
20 P
4. Erörtern Sie an einem Beispiel, inwiefern der biblische Glaube in heutiger Zeit emanzipatorische Tendenzen freisetzen und „auf die Befreiung
des Menschen .. zum vollen, wahren Menschsein“ zielen kann.
15 P
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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1996 - 5. Zahrnt
Lösungshinweise
zu Aufgabe 1:
Die neuzeitliche Religionskritik wird vom Verfasser in folgender Weise beschrieben:
Von philosophischer (Feuerbach), soziologischer (Marx) und psychologischer (Freud) Seite
wird im Blick auf
die Gottesvorstellung der Verdacht der Projektion erhoben und Gott als Erfindung des Menschen erklärt.
Dadurch erweist sich die neuzeitliche Religionskritik als
 emanzipatorischer Akt
 Befreiung des Menschen aus Selbstentfremdung zu wahrem Menschsein
 Entlarvung des illusionären Wunschcharakters der Religion
 Aufruf zu eigenem Denken und Handeln im Diesseits
 radikaler Humanismus, dem es darum geht, daß der Mensch Mensch wird und die Geschichte ihr Ziel erreicht
 Instrument zur Bestreitung der Wirklichkeit Gottes und damit Programm gegen Gott
 quasi-religiöses Phänomen, das in der Nachbarschaft Gottes bleibt, sofern es ihn mit Leidenschaft bestreitet
zu Aufgabe 2:
Der Schüler kann zwischen den im Text genannten religionskritischen Positionen Feuerbach, Marx oder Freud auswählen.
Folgende Aspekte können genannt werden:
 Religion entsteht aus der Unvollkommenheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen
(Projektion / Illusion)
 Religion führt zur Entzweiung bzw. Selbstentfremdung des Menschen und erweist damit
ihren wahren Charakter als inhaltslose Illusion, als Vertröstung auf ein imaginäres Jenseits oder als infantile Zwangsneurose
 Religion muß überwunden werden um der Menschwerdung des Menschen willen.
Ziel der drei religionskritischen Positionen ist es, dem Menschen zur Mündigkeit und Selbstverantwortung und damit zur Selbstverwirklichung zu verhelfen.
Ausgehend vom Text können emanzipatorisches Interesse und quasi-religiöser Charakter
der neuzeitlichen Religionskritik unter folgenden Aspekten verdeutlicht werden:
Feuerbach:
 Göttliche Prädikate werden den Menschen zurückgegeben
 an die Stelle des Gottesglaubens tritt der Glaube an den Menschen bzw. die Gattung
Mensch.
Marx:
 Das revolutionäre Programm wird zum Vehikel der Hoffnung
 der Glaube an die Machbarkeit sozialen Friedens und absoluter Gerechtigkeit macht die
Vollendung der Geschichte zur Tat des Menschen.
Freud:
 Die Befreiung vom göttlichen Über-Vater führt zum autonomen Menschen
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
15
 der Glaube an die wissenschaftliche Vernunft läßt auf die Überwindung infantiler Abhängigkeiten des Menschen hoffen.
zu Aufgabe 3:
Aus der Sicht des alttestamentlichen Gottesglaubens kann dem Vorwurf der Projektion bzw.
Illusion z.B.
durch folgende Argumente begegnet werden:
 Gott als Herr der Geschichte entzieht sich jeder menschlichen Verfügbarkeit
 das Bilderverbot widerspricht jeder menschlichen Festlegung Gottes
 der JAHWE-Name ist keine Wesensaussage, sondern Verheißung an das Volk
 die prophetische Kritik stellt jede Funktionalisierung Gottes in Frage.
Aus der Sicht des Neuen Testamentes ergeben sich z.B. folgende Gesichtspunkte:
 Das Kreuz Jesu widerspricht allen menschlichen Wunschvorstellungen
 Jesus korrigiert in Wort und Tat das patriarchalisch geprägte Gottesbild seiner Zeit und
entzieht damit allen tyrannischen Gottesvorstellungen ihre Legitimation
 die Botschaft Jesu befreit zu tätiger Nächstenliebe und fordert zur Verantwortung gegenüber Gott und Welt heraus
 Jesu Heilszusage an die Armen, Ausgegrenzten und Unterdrückten gilt jetzt schon und
nicht erst im Jenseits.
zu Aufgabe 4:
Es wird erwartet, daß der Schüler
 das gewählte Beispiel sachgerecht darstellt
 mögliche Verhaltensalternativen aufzeigt
 biblisch-theologische Kriterien mit emanzipatorischem und befreiendem Charakter in die
Erörterung einbezieht
Solche Kriterien können u.a. sein:
 Die Relativierung irdischer Werte durch die Verheißung des kommenden Gottesreichs
 die Befreiung zum Handeln im Wissen um die vorbehaltlose Zuwendung Gottes zum
Menschen
 die aus der Hoffnung resultierende Ermutigung zum Handeln aller Resignation und allen
pessimistischen Aussichten zum Trotz
 die Wahrung der Menschlichkeit des Menschen durch seine Beziehung zu Gott
 die Fähigkeit des Menschen, seine Endlichkeit und Fehlsamkeit im Vertrauen auf Gott
durchzuhalten.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
16
1996 - 6. Wartenberg-Potter
Auf dem Flug von der Karibik nach Europa sitze ich neben einem braungebrannten Russen.
Er hat als Auszeichnung für besonderen Einsatz Ferien machen dürfen in Kuba. Er ist gut
gelaunt und möchte gleich anfangen, mit mir zu sprechen. Aber welche Sprache sollen wir
benutzen? Ich kann nicht Russisch. Er kann nur zehn Wörter Deutsch. Keine Verständigung
möglich? Aber er läßt nicht locker. Und so entsteht folgendes Gespräch:
Er fragt: „Tourista?“ Ich sage: „Nein, Konferenz.“ - „Aha“, sagt er. Dann malt er einen Fisch
auf ein Stück Zeitungspapier, das vor uns liegt. Er fragt nach dem Thema der Konferenz.
Ich male eine Kirche aufs Papier. Er macht große Augen. Er benutzt offensichtlich das russische Wort für Kirche mit einem großen Fragezeichen dahinter. „Wieso Kirche?“ Er deutet
auf mich und fragt: „Arbeiten?“
Ich male mich im Talar hin. Er schüttelt ungläubig den Kopf. Das geht nicht in seinen an orthodoxe Priester gewöhnten Kopf. Und dann sagt er: „Nix Gott - Gott nein!“ Ich sage: „Gott ja!“ Er erklärt, so gut es eben geht, daß der Sputnik in den Himmel geflogen sei, aber da sei
kein Gott gewesen.
Er malt dazu folgendes kleine Bild:
Ich sage: „Gott ist nicht in den Wolken, er ist zum Beispiel in Ihrem Herzen.“ Ich male ein
Herz aufs Papier und zeige auf sein Herz. Er lacht ungläubig und faßt sich an die Brust:
„Gott nein - nix sehen!“ Ich möchte ihm erklären, daß es viele Dinge gibt, die man nicht sieht,
aber die wir erfahren, zum Beispiel die Liebe. „Liebe“, sagt er, „aber meine Frau ...“ er zeigt
mir, daß er sie anfassen kann.
Ich male eine Weltkugel und sage: „Gott ist überall.“ . . .
Er zeigt auf meine rotlackierten Zehennägel und sagt: „Gott - nein!“ Ich sage, daß Gott meine Zehennägel nicht stören. Inzwischen hat er eine Flasche Sekt bestellt. Wir trinken den
Sekt, und er meint, das würde Gott nicht gefallen.
Ein junger russischer Student, der französisch kann, kommt zu uns und erklärt seinem
Landsmann, daß er in Frankreich viele Marxisten getroffen habe, die auch Christen seien.
Mein Nachbar findet das alles komisch und schüttelt ungläubig den Kopf. Noch einmal
macht er einen Versuch, mich zu überzeugen. Er erklärt mir, daß das Flugzeug starten und
landen könne ohne Gott. „Gott schläft“, sagt er. . . .
Das war der erste Russe, den ich persönlich kennengelernt habe. Welch interessanten Dialog über die Existenz Gottes haben wir geführt! Was für ein Gottesbild er hat! Und deshalb
der ganze Atheismus? Er fragte nach einem Ding, und ich sprach von einer Erfahrung. Babylonische Sprachenverwirrung! Wenn wir dieses Mißverständnis - denke ich aufgeregt klären könnten, bräuchten wir die Welt vielleicht nicht umzubringen; zumindest aber würden
nicht so viele Menschen den ideologischen Rattenfängern nachlaufen, die es betreiben.
„Gott“, das wurde mir in diesem Gespräch klar, ist mehr als das angesammelte metaphysische1 Wissenskapital der Jahrhunderte, das wir in einer Glaubensbank deponieren. Wenn
man es abheben will, ist es nur ausgedroschenes Stroh. So doch nicht. Alle Seinsaussagen
sind verlorene Liebesmühe. Sie waren vielleicht einmal nötig, jetzt aber sind sie abgeschält.
Aber dennoch gibt es dieses hartnäckige Beharren von Menschen - und ich gehöre zu ihnen
-, die behaupten, sie seien Gott begegnet, gibt es die Zeugnisse aus Jahrhunderten von der
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
17
nicht ermüdenden Sehnsucht, sich auf jemanden, auf etwas zu beziehen, was außerhalb
von uns selbst ist, etwas wirklich Wahres, etwas wirklich Klares, Wichtiges, Ewiges.
Nach der Erfahrung der Gottesfinsternis haben wir wohl aufgehört zu fragen: „Wie ist Gott?“
Aber wir hören nicht auf zu fragen: „Wo begegnen wir Gott? Was bedeutet Gott für unser
Leben?“ . . .
Mit der Frage „Wo begegnen wir Gott?“ öffnet sich nach der Gottesfinsternis eine neue Tür
für uns abendländische Menschen, durch die das Licht Gottes vielleicht wieder hereinfallen
kann.
Bärbel v. Wartenberg-Potter, Wir werden unsere Harfen nicht an die Weiden hängen, Stuttgart, 1988, S 116ff
Worterklärung:
1
metaphysisch - hier: „Wissenskapital“ über die Grundursachen des Seins
Aufgaben:
1.
Geben Sie die unterschiedlichen Gottesvorstellungen von Bärbel Wartenberg-Potter
und ihrem russischen Gesprächspartner wieder. (12 P)
2.1
Stellen Sie die Religionskritik von Karl Marx dar. (10 P)
2.2
„Ein junger russischer Student . . . erklärt . . . , daß er Marxisten getroffen
habe,
die auch Christen seien.“
Untersuchen Sie, welche Gründe es dafür geben könnte, daß es heute Marxisten
gibt, die es nicht als Widerspruch empfinden, gleichzeitig Christen zu sein. (10 P)
3.
Beschreiben Sie an zwei Texten beispielhaft, welche unterschiedlichen Gottesvorstellungen das Alte Testament vermittelt und gegen welche Vorstellung es sich abgrenzt.
(16 P)
4.
„Mit der Frage 'Wo begegnen wir Gott?' öffnet sich . . . eine neue Tür für uns abendländische Menschen, durch die das Licht Gottes vielleicht wieder hereinfallen kann.“
Überlegen Sie, welche menschlichen Erfahrungen auch heute auf Gott hin gedeutet
werden können, so daß sich „eine neue Tür für uns öffnen kann“. (12 P)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
18
1996 - Wartenberg-Potter
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1:
Die Gottesvorstellung des russischen Gesprächspartners wird u.a. an folgenden Äußerungen deutlich:
 räumliche Gottesvorstellung (Sputnik begegnete Gott nicht)
 Gott fordert vom Menschen Verzicht (keine rotlackierten Nägel, kein Sekt)
 Gott ist nicht nötig, um das Leben zu meistern (Flugzeug startet und landet ohne Gott)
 Gott ist ein Ding
 für Gott gibt es keine Beweise, folglich existiert er nicht.
Die Gottesvorstellung von Bärbel von Wartenberg-Potter kann z.B. an folgenden Punkten
deutlich gemacht werden:
 Gott hat etwas mit einer Wirklichkeit zu tun, die außerhalb des Beweisbaren liegt (Herz,
Liebe)
 Gott geht über das hinaus, was man in den vergangenen Jahrhunderten über Gott als
„Wissen“ zusammengetragen hat
 Gott hat etwas mit einer Sehnsucht zu tun, die sich auf etwas / jemand außerhalb des
Menschen bezieht und die das Wesentliche des Lebens betrifft (etwas Wahres, Klares,
Wichtiges, Ewiges)
 Gott hat konkret etwas mit meinem Leben in der Gegenwart zu tun (Was bedeutet Gott
für mein Leben?)
 Entscheidend sind deshalb meine Erfahrungen mit Gott, nicht Beweise oder Wesensmerkmale Gottes (Wo begegnen wir Gott?)
zu Aufgabe 2.1:
Für Marx gilt die Religion durch Ludwig Feuerbach als endgültig widerlegt. Über Feuerbachs
philosophische Auseinandersetzung mit der Gottesfrage hinausgehend, beschäftigt er sich
mit den Ursachen von Religion mit dem Ziel, eine Veränderung der Welt zu bewirken.
Nach Marx entsteht Religion durch ungerechte und unmenschliche Lebensbedingungen und
ist Symptom gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entfremdung.
Religion ist „Opium des Volkes“.
Das heißt einerseits, daß Religion betäubend wirkt: das tagtägliche Elend wird vom Volk ertragen in der Hoffnung auf eine Entschädigung im Jenseits.
Das heißt andererseits, daß das Volk durch die Benutzung seines „Opiums“ auf die bestehenden Zustände als Belastung hinweist:
Religion ist „Protestation gegen das wirkliche Elend“, „Seufzer der bedrängten Kreatur“,
„Gemüt einer herzlosen Welt“.
Negative Folgen des „Opiums“ sind:
 die Droge verhindert den Kampf und es tritt keine Veränderung der bestehenden Situation ein - der Protest bleibt also unwirksam
 ohne Religion würde das Volk nicht tatenlos ausharren, da die Hoffnung auf eine bessere
Zeit wegfallen würde
 die Religion ist der ideologische Überbau für die ungerechten Produktions- und Eigentumsverhältnisse - durch ihre Existenz werden diese legitimiert.
Folglich fordert Marx die Aufhebung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entfremdung
und prophezeit im Anschluß daran den Untergang der Religion, da für diese dann keine
Notwendigkeit mehr bestehe. Solange die Verhältnisse jedoch so sind, billigt Marx der Religion auch eine positive Funktion zu:
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
19
 sie ist der einzige Lichtblick für das Volk
 sie stellt die „imaginären Blumen an der Kette“ dar.
zu Aufgabe 2.2:
Als Gründe dafür, daß es heute Marxisten gibt, die gleichzeitig Christen sind, könnten z.B.
angeführt werden:
 sowohl Marxisten als auch Christen beschäftigt die Sorge um Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit in der Welt. Beiden geht es um ein menschenwürdigeres Leben
 obwohl der Name Gottes oft dazu mißbraucht wurde, das Bestehende zu rechtfertigen,zeigt die Geschichte, daß der Ausfall von Religion immer wieder mit der Unterdrückung des Menschen und seiner Würde zusammenfiel
 das Christentum betont auch dann noch die Würde des Menschen, wenn dieser für die
Gemeinschaft nichts (mehr) leisten kann
 im Gegensatz zu Marx' Vorstellung kann also das Christentum durchaus „Salz der Erde“
sein - es beinhaltet ein dynamisches Element, das helfen kann, Wirklichkeit zu verändern
 Jesus stand von Anfang an auf der Seite der Armen, Schwachen, Benachteiligten und erregte dadurch Anstoß - er wurde im Stall geboren und starb am Kreuz, gehörte also
selbst zu den Außenseitern der Gesellschaft
 sein Vorbild kann neue Impulse geben und die Hoffnung und Kraft verleihen, die Welt zu
verändern.
zu Aufgabe 3:
Unterschiedliche Gottesvorstellungen im AT können z.B. an folgenden Texten aufgezeigt
werden:
Amos 4 und 5
 ein Gott, der Recht und Gerechtigkeit fordert
 Einheit von Jahwe-Glaube und sozialem Handeln
Amos als Jahwes Bote und Anwalt der Unterdrückten:
 Kritik an den Machthabern in unmißverständlicher, drastischer Sprache (vgl. z.B. Am 4,1)
 Anprangerung der ungerechten Verteilung des Wohlstandes
 Hinweis auf die gestörte Beziehung zu Jahwe als Urrache für die sozialen Mißstände
 Kritik an heuchlerischem Verhalten der Wohlhabenden (vgl. z.B. Am 5,23ff)
 Einziger Ausweg: Umkehr (vgl. Am 5,4)
5. Mose 26 - Kleines heilsgeschichtliches Credo
 ein Gott, der in der Geschichte handelt
 ein Gott, der die Freiheit der Menschen will
 Geschichte als Herrschaftsgebiet Jahwes, Anwesenheit Jahwes in der Geschichte: Heilsgeschichte
 Befreiung aus Ägypten, aus der Sklaverei, aus der Unterdrückung, als Anfang der Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott
 Durch den Glauben an das Geschichtshandeln Jahwes: Erleben einer weiteren Befreiung,
nämlich von den Naturgöttern.
Zur Abgrenzung gegen andere Vorstellungen könnte z.B herangezogen werden
 das Bilderverbot als Abgrenzung gegen die Gleichsetzung Jahwes mit einem Götterbild,
wie im Alten Orient damals verbreitet und als Hinweis auf die Unverfügbarkeit Jahwes
durch das Verbot, Jahwe auf ein Bild festzulegen und zu reduzieren
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
20
 die Abgrenzung gegen die Naturgötter, die für die Menschen immer wieder eine Bedrohung darstellten.
Die volle Punktzahl erhält die Schülerin / der Schüler, wenn sie / er an den gewählten Texten
aus dem Alten Testament unterschiedliche Gottesvorstellungen und eine Abgrenzung gegen
andere Vorstellungen überzeugend und zusammenhängend darlegt.
zu Aufgabe 4:
Die Aufgabe ist vollständig gelöst, wenn entweder an einem selbst gewählten Beispiel oder
allgemein überzeugend und im Zusammenhang gezeigt werden kann, daß christlicher Glaube und Engagement für eine bessere Welt eng miteinander verknüpft sind, und so „das Licht
Gottes vielleicht wieder“ durch die geöffnete Tür „hereinfallen kann“.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
21
1999 - Zahrnt
Gott um Gottes willen
5
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40
45
Im Horizont der Welt ist Gott nicht notwendig. Der Mensch kann auch ohne Gott
Mensch sein - sowohl gut leben als auch gut handeln. Den Glauben an Gott unter
dem Gesichtspunkt des Zwecks als notwendig erweisen zu wollen, ist ein verächtliches Unterfangen, weder für Gott noch für den Menschen schmeichelhaft. Einen
Gott, den man braucht, braucht es nicht - ein brauchbarer Gott ist immer ein Götze. Gott hat seinen Grund allein in sich selbst und ist darum auch nur um seiner
selbst willen interessant. . . .
Im Sinne eines Nutzeffekts - um gut durchs Leben zu kommen, um einen festen
Halt zu haben, um moralisch gebessert zu werden oder um die Welt zu erklären,
den Staat zu stützen, die Gesellschaft zu verändern - braucht der Mensch Gott
nicht. Wer die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit des Gottesglaubens mit seinem Nutzen zu beweisen trachtet, unterschätzt den Menschen in seinen sittlichen,
rationalen und kreativen Fähigkeiten und erniedrigt Gott zugleich zu einer Zulieferfirma von Ersatzteilen bei beschädigter menschlicher Existenz. . . .
Gott ist kein Lückenbüßer an den Grenzen der Wissenschaft, kein Problemlöser in
den Zwängen der Politik und auch kein Narkotikum für die Seele, um den ständigen Schmerz des Daseins aushalten zu können. Wenn es um das geht, was das
Leben zuletzt hält und trägt, dann verliert das bloß Nützliche und Zweckmäßige
ohnehin sehr bald an Wert.
Mit der wahren Religion verhält es sich wie mit der ehelichen Liebe. Fragt man
zwei glückliche Eheleute, „was sie von ihrer Ehe hätten“, so würden sie erstaunt
zurückfragen, wie man so etwas überhaupt fragen könne: Eheliche Liebe ist einfach da, und indem sie da ist, ist sie gut; sie hat ihren Sinn in sich selbst, und in
diesem Sinn ist sie notwendig und trägt mannigfach Frucht: Geborgenheit, sexuelle Erfüllung, Kinder, wirtschaftliche Sicherheit, gleiche Interessen, gemeinsames
Altwerden. Aber all diese Dinge, so nützlich und zweckvoll sie sind, begründen für
die Eheleute nicht ihre Ehe, sondern sind nur Folgen, Wirkungen und Begleiterscheinungen der für sie allein wichtigen Tatsache, daß sie einander haben, und
damit des einzig Sinnvollen und Notwendigen.
Nicht anders steht es mit der Notwendigkeit Gottes für den Glauben.
Auch der Glaube an Gott läßt sich mit keinerlei Nutzen und Zweck als notwendig
begründen, er ist sinnvoll in sich selbst. Doch auch er „zeitigt“ Früchte im Laufe
der Geschichte - in Politik, Gesellschaft, Sitte und Kultur: irdische Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit, sinnvolles Leben, ewige Seligkeit - alle diese Dinge sind zwar
keine Beweise für die Notwendigkeit Gottes im Sinne eines Nutzeffekts, aber sie
stellen sich mit Gott gleichsam von selbst ein.
Gerade das ganz und gar Nicht-Notwendige des Glaubens ist es, das den Menschen davor bewahrt, nun seinerseits unter dem Gesichtspunkt von Nutzen und
Notwendigkeit verrechnet zu werden. Nur wo „Gott um Gottes willen“ gilt, gilt auch
der „Mensch um des Menschen willen“. . . .
Christen glauben nicht an Gott (wenigstens sollten sie es nicht tun), um etwas zu
erreichen, was ihnen nützt, und sie reden auch nicht von ihrem Glauben, um ihn
anderen als nützlich aufzureden, sondern sie glauben an Gott und reden davon,
weil sie etwas erfahren haben, was für sie wahr ist, was ihnen Freude macht und
was sie deshalb auch anderen mitteilen möchten, so wie man eine gute Nachricht eben weitersagt.
Heinz Zahrnt, Gotteswende, München 1989, S.102-106 (leicht gekürzt)
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
22
Aufgaben:
1.
„Ein brauchbarer Gott ist immer ein Götze. Gott hat seinen
Grund allein in sich selbst.“ (Z. 5f.) Erheben Sie aus dem Text,
wie Zahrnt diese These begründet.
10 P.
2.1
„Sie glauben an Gott und reden davon, weil sie etwas erfahren
haben.“ (Z.43f.)
Schildern und erläutern Sie beispielhaft, wie Menschen der Bibel Gott erfahren haben und von ihm erzählen.
20 P.
2.2
Überprüfen Sie, inwieweit sich Zahrnts Aussagen an dem von
Ihnen dargestellten Beispiel verdeutlichen lassen.
3.
Schildern Sie ausführlich die Position eines atheistischen Religionskritikers.
15 P.
4.
Schreiben Sie in einem fiktiven Brief an den in Aufgabe 3 gewählten Religionskritiker, was Sie von ihm gelernt haben oder
worin Sie ihn kritisieren möchten. Lassen Sie sich dazu auch
durch Zahrnt anregen.
15 P.
60 P.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
23
1999 - Zahrnt
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1:
Gott und der Glaube an Gott kann nicht durch einen „Nutzeffekt“ begründet werden: Wo der
Mensch an Gott glaubt, weil dieser ihm nützlich ist, glaubt er an einen selbstgemachten Götzen, z.B. um einen Halt zu haben, um sich moralisch zu bessern, um Unerklärliches zu erklären usw.
Durch die Reduzierung aufs „Nützliche“ wird der Mensch in seinen Fähigkeiten unterschätzt
und Gott erniedrigt zum Ersatzteillager für jedes menschliche Defizit. Gott ist kein Lückenbüßer, wenn der Mensch nicht mehr weiter weiß - weder in der Wissenschaft noch in der Politik. Gott ist kein Opium, das über die Schmerzen hinweghilft.
Zahrnt vergleicht Gott und den Glauben mit der ehelichen Liebe: Sie hat ihren Sinn in sich
selbst und braucht keine Begründung. Sie trägt Früchte: Geborgenheit, sexuelle Erfüllung,
Kinder, Gemeinschaft im Alter usw. Aber all diese begründen nicht die Ehe, sondern sind
nur Folgen und Wirkungen.
So hat auch der Glaube viele Folgen: Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, sinnvolles Leben,
ewige Seligkeit. Aber das begründet ihn nicht und ist kein Beweis für die „Notwendigkeit Gottes“.
Wo Gott „um seiner selbst willen“ geglaubt wird, da wird auch der Mensch nicht wegen seiner „Nützlichkeit“, sondern um seiner selbst willen geachtet.
Christen glauben nicht, um etwas zu erreichen und verteidigen ihren Gott nicht als „nützlich“.
Sie reden von ihm, weil sie etwas erfahren haben, was sie so überzeugt und freut, daß sie
davon erzählen müssen.
zu Aufgabe 2:
Im AT könnte sich die Schülerin / der Schüler z.B. auf die Exodus-Tradition nach Dt 26,5-9 /
Ex 3 / Ex 32 beziehen:
Israel feiert das Erntedankfest nicht, um sich diese und die nächste Ernte zu sichern, und
sucht Gott nicht im Wetter, sondern in der Geschichte.
Israel erinnert sich an die Befreiung aus der Sklaverei und die wunderbare Führung durch
die Wüste wie an eine Liebesgeschichte.
Zahrnts Aussagen könnten folgendermaßen verdeutlicht werden:
Diese Wunder in der Wüste machen Gott nicht „nützlich“. Sie bleiben unverfügbar wie Gott
selbst im brennenden Busch. Es wäre ein Götzenglaube, wenn die Geretteten dabei Gott in
den Griff bekommen wollten, wie sie es mit dem „Goldenen Kalb“ versucht haben (das „Goldene Kalb“ ist ein Rückfall in den Fruchtbarkeitskult der ägyptischen Staatsreligion).
Im NT könnte sich die Schülerin / der Schüler z.B. auf das Gleichnis vom Weltgericht Mt 25,
31ff beziehen:
Jesus erzählt dieses Gleichnis auf Grund neuer Erfahrungen mit Gott. Auch die Hörer selbst
machen dabei neue Erfahrungen, wenn sie sich mit denen „zur Rechten“ oder denen „zur
Linken“ identifizieren. Sowohl die Gesegneten als auch die Verfluchten sind überrascht. Erstere wissen nicht, wofür sie belohnt werden sollten, und Letztere können ihre Strafe nicht
begreifen. Das entscheidende Kriterium ist der Umgang mit den Armen, mit denen sich der
König identifiziert. Was sie an den Armen getan oder versäumt haben, das haben sie an ihm
getan oder versäumt.
Zahrnts Aussagen könnte man wie folgt verdeutlichen:
Hier kritisiert Jesus die „verzweckte Frömmigkeit“, die etwas „erreichen“ will. Man ist fromm
und glaubt an Gott, um gerettet und selig zu werden; und man weiß genau, was da zu tun
ist. Jesus aber sagt: Am Ende werden die gerettet, die nicht wußten, wie man fromm ist und
die das Rechte ahnungslos getan haben.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
24
zu Aufgabe 3:
z.B. Ludwig Feuerbach:
Feuerbach erklärt alle Religion als Produkt menschlicher Hoffnungen, Sehnsüchte und
Wünsche.
Der Mensch, der sich in seiner Begrenztheit und Mangelhaftigkeit erfährt, projiziert ein entsprechend vollkommenes Gottesbild an den Himmel.
In Wahrheit ist es seine eigene Vollkommenheit, die er durch solche „Selbstentzweiung“ an
den Himmel verliert.
Ziel der Feuerbachschen Religionskritik ist
 die Aufhebung dieser Selbstentzweiung
 die Rückführung des Menschen auf sich selbst und seine Gattung
 die Wahrnehmung der Aufgaben in der Welt und am Mitmenschen.
Dabei können sich ungeahnte Kräfte entfalten, die bisher an den Himmel gebunden waren.
z.B. Karl Marx:
Marx übernimmt Feuerbachs Projektionstheorie im Prinzip.
Er findet das menschliche Defizit, das Religion braucht, nicht in individuellen Gegebenheiten,
sondern in gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.
Religion ist für ihn der geistige Überbau der kapitalistischen Wirtschaft, Opium des Volkes,
Ausdruck der sozialen Not und zugleich hilfloser Protest dagegen, die Illusion eines himmlischen Ausgleichs und ein Teil der Entfremdung selbst.
z.B. Sigmund Freud:
Freud sieht das Bedürfnis nach Religion in individuellen und kollektiven psychischen Fehlhaltungen begründet.
Stichworte: Projektion einer Vaterfigur, psychischer Infantilismus, Kompensation von Hilflosigkeitsgefühlen, kollektive Zwangsneurose.
zu Aufgabe 4:
Bei völlig offener Aufgabenstellung soll die Schülerin / der Schüler zeigen, daß sie / er mit
der religionskritischen Position selbständig umgehen kann und ein eigenes, begründetes Urteil findet. Es ist kein Fehler, wenn Zahrnt übergangen wird, aber es zeigt TransferFähigkeit, wenn die Schülerin / der Schüler merkt und aus dem Text belegen kann, daß
auch Zahrnt von Feuerbach positiv gelernt hat.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
25
1999 - Scholl
5
10
15
20
25
30
35
„Alles beginnt mit der Sehnsucht”, schreibt die jüdische Dichterin Nelly Sachs. Das
Kind sehnt sich nach Geborgenheit, Wärme, Zuwendung. Der erwachsene
Mensch sehnt sich nach einem Du, das seine Einsamkeit aufhebt, das ihm Heim
und Heimat schenkt, das seine Freuden und Leiden mit ihm teilt. Jeder Mensch
sehnt sich nach Anerkennung, nach Zärtlichkeit, nach Liebe.
Manchmal bringt er die Sehnsucht zum Schweigen. Dann regt sie sich nicht mehr.
Sie ist zugeschüttet von Alltagsgeschäften, von Betriebsamkeit, von Terminen, von
Pflichten. Der Mensch kann nicht mehr über sich hinauswachsen; er kreist nur
noch um sich selbst.
Aber ganz ist die Sehnsucht doch nicht wegzubekommen. Urplötzlich kann sie
wieder auftauchen - vielleicht mitten in den Erfahrungen von Glück und Freude,
auf die sie sich wie ein Hauch von Melancholie legt, weil sie daran erinnert, daß
alles Glück und alle Freude nicht von Dauer sind. Oder in Zeiten der Not und des
Leids, weil sie schmerzlich zu Bewußtsein bringt, daß diese Welt nicht vollkommen
ist, daß menschliches Leben bedroht und gefährdet ist, begrenzt und ausgesetzt
einer Fülle von Mächten und Gewalten, die nicht in den Griff zu bekommen sind.
Sehnsucht ist mehr als bloßes Wünschen. Sie ist stärker, unüberwindlich, unausrottbar. Und das, obwohl jeder Mensch immer wieder erkennen muß, daß sein
Sehnen nur beschränkt Erfüllung findet, daß Sehnsucht ungestillt bleibt, daß Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht werden. Die Sehnsucht läßt den Menschen
nicht los.
Er beginnt, über dieses eigenartige Phänomen nachzudenken. Woher kommt
Sehnsucht eigentlich? Ist sie eine Art von Trieb, der den Menschen immer wieder
über sich hinausgreifen läßt? Ist sie bloßes Wunschdenken, geboren aus der
schmerzlichen Erkenntnis eigener Unvollkommenheit? Ist sie Ausdruck eines trotzigen Dennoch, eines Hoffens gegen alle Hoffnung?
Heinrich Böll sagte in einem Interview, für ihn sei der Mensch selbst ein Gottesbeweis. Und er begründete das mit der „Tatsache, daß wir alle eigentlich wissen auch wenn wir es nicht zugeben - daß wir auf der Erde nicht zuhause sind, nicht
ganz zuhause sind, daß wir also woanders hingehören und von woanders herkommen.” Böll nennt das einen Traum, eine Sehnsucht, ein Empfinden, und er
glaubt, ”daß es sich hier keineswegs um ein bloßes Gefühl handelt, sondern vielleicht um eine uralte Erinnerung an etwas, das außerhalb unserer selbst existiert.”
Sehnsucht ist nicht etwas, was der Mensch aus sich heraus schafft. Sehnsucht ist
in ihn hineingelegt. Sie ist der Traum von einer anderen, besseren, vollendeten,
ewigen Welt.
Sie ist der Vorgriff des Menschen auf die Erfüllung allen Hoffens und Wünschens.
Norbert Scholl, Gott ist immer größer, Mainz 1985, S. 23f
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
26
Aufgaben:
1.
„Alles beginnt mit der Sehnsucht.” (Z. 1) Stellen Sie dar, wie
Norbert Scholl diese Aussage entfaltet und begründet.
12 P.
2.
„Woher kommt Sehnsucht eigentlich?” (Z.21f.) Legen Sie dar,
wie Ludwig Feuerbach, ausgehend von seiner Religionskritik,
im Unterschied zu Norbert Scholl diese Frage beantworten
würde.
18 P.
3.
Zeigen Sie an jeweils einem Text aus dem Alten Testament
und dem Neuen Testament, wie die Bibel von dem „Traum von
einer anderen, besseren, vollendeten, ewigen Welt” (Z.34f.)
spricht.
15 P.
4.
Erörtern Sie an einem Beispiel, wie der Glaube Menschen bewegen kann, sich für eine bessere Welt einzusetzen.
15 P.
60 P.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
27
1999 - Scholl
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1:
Sehnsucht ist ein existentielles Grundempfinden und ein Wesenszug des Menschen von
Kindheit an. In ihm ist die Sehnsucht lebendig nach dem, was er braucht: Anerkennung, Liebe, Zuwendung, ein Gegenüber, das Einsamkeit aufhebt und Heimat gibt.
Wo Sehnsucht im Alltag zugeschüttet wird, kann der Mensch nicht mehr über sich selber
hinauswachsen - er kreist um sich selber.
Dennoch taucht Sehnsucht immer wieder auf - in Erfahrungen von Glück und Freude oder in
Zeiten der Not und des Leids. Sie ist Hinweis auf die Vergänglichkeit des Glücks, auf die
Unvollkommenheit und Unverfügbarkeit der Welt.
Weil die Sehnsucht ein Charakteristikum des Menschen ist, kann er sie zwar zum Schweigen bringen, sie aber nicht überwinden, denn sie ist - trotz allen unerfüllten Anteilen - unausrottbar und stark. Die Sehnsucht läßt den Menschen nicht los.
Woher kommt Sehnsucht? Ist sie eine Art von Trieb oder bloßes Wunschdenken, das der
Mensch aus sich heraus schafft?
Der Autor lehnt diese Deutungen ab. Sehnsucht ist nicht selbstgemacht. Sie ist in den Menschen hineingelegt als Traum von einer anderen, vollendeten Welt.
Nach Böll ist der Mensch in seiner Sehnsucht ein Gottesbeweis, denn sie weist auf „etwas,
das außerhalb unserer selbst existiert“, etwas, das Ursprung, Heimat und Ziel ist.
So kann die Sehnsucht als Hinweis auf menschliche Urerfahrungen des Göttlichen gedeutet
werden.
zu Aufgabe 2:





Die Erfahrung der Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit läßt im Menschen die
Sehnsucht nach Unendlichkeit, Unsterblichkeit und Vollkommenheit entstehen.
Der Mensch projiziert diese Sehnsucht auf die Gottesidee bzw. das Jenseits; Religion ist
damit nichts anderes als ein psychischer Projektionsvorgang, ein Werk des Menschen.
Die Wünsche und Sehnsüchte, an denen sich der Mensch orientiert, sind aber letztlich
illusionär, unerfüllbar und für den Menschen schädlich: indem der Mensch daran glaubt,
macht er sich von der Erwartung ihrer Erfüllung abhängig und verliert den Bezug zum
diesseitigen Leben.
Damit nimmt Feuerbach eine klare Gegenposition zu den Äußerungen von Scholl ein:
Sehnsucht verweist nicht auf etwas Göttliches, das außerhalb von uns existiert und woran der Mensch seine Hoffnungen und Träume binden sollte, Sehnsucht ist vielmehr etwas, was seinen Ursprung im Menschen hat.
Der Mensch sollte zwischen echter, wahrer und unechter, trügerischer Sehnsucht unterscheiden; echte menschliche Sehnsucht bezieht sich auf das Diesseits und sucht seine
Erfüllung in der humanen und gerechten Organisation des menschlichen Zusammenlebens.
zu Aufgabe 3:
Der „Traum von einer anderen, besseren, vollendeten, ewigen Welt“ zieht sich wie ein roter
Faden durch die biblische Tradition. Verheißungen weisen darauf hin, dass dieser Traum
einst verwirklicht werden wird, doch auch schon in der Gegenwart soll der Traum im Zusammenleben der Menschen Wirklichkeit werden.
Aus dem Alten Testament könnte genannt werden:
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
28
 die Vorstellung des Friedensgottes, der Frieden für die Völker schafft und die Menschen
dazu bringt, in Frieden miteinander zu leben (Jes.2,2-4)
 der Glaube an den Gott, der die Unterdrückung seines Volkes sieht, der Freiheit, Zukunft
und Lebensgrundlagen schenkt und sein Volk begleitet (Dtn.26,5-9; Exodustradition)
 die Einheit von Gottesglauben und gerechtem sozialem Handeln, besonders Schwächeren gegenüber (Ex.20; Sozialgesetzgebung des AT; Amos).
Aus dem Neuen Testament könnte genannt werden:
 Jesu Ankündigung der Gottesherrschaft, die eine Umkehr des Menschen nötig macht
(Mk.1,15)
 Jesu Zuwendung zu den Verlorenen, den religiös und sozial Ausgegrenzten seiner Zeit
(Lk.15; Heilungsgeschichten - Heilungen als Zeichen des Gottesreiches)
 Jesu Solidarisierung mit den Bedürftigen (Mt.25)
 ...oder andere Beispiele, die den Aspekt von Gemeinschaft und Gerechtigkeit im Reich
Gottes deutlich machen.
zu Aufgabe 4:
Die Aufgabe ist gelöst, wenn es der Schülerin/dem Schüler gelingt, das gewählte Beispiel in
seinem gesellschaftlichen Kontext sachgemäß darzustellen und biblisch-theologische Kriterien in die Erörterung einzubeziehen.
Als Beispiele können angeführt werden:
 Engagement in Bereichen der Diakonie und Jugendarbeit
 Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung: Obdachlosenarbeit,
Kirchenasyl, Initiativen für Arbeitslose, Amnesty International, Greenpeace, BUND, Eine-Welt-Arbeit etc.
Gottesglaube - Atheismus (alter Lehrplan)
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2002 - Drewermann
„Den Gott, den es gibt, gibt es nicht!“
Dietrich Bonhoeffer
In einem Interview äußert sich der bekannte Theologe und
Psychotherapeut Eugen Drewermann zur Frage
der Gottesbeziehung heutiger Menschen
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PUBLIK-FORUM: Wie kann denn Bonhoeffer seinen schwierigen Satz gemeint haben? Läuft der nicht darauf hinaus, sich überhaupt kein Bild von Gott machen zu wollen? Den Gott, den es gibt, gibt es nicht! Das heißt dann: Lebe mit Gott in der
Bildlosigkeit.
Drewermann: Ganz richtig. Denn der traditionell vorgestellte Gott ist immer noch ein
Erkenntnisgegenstand unseres Denkens. Diesem so erklärten Gottesbild entspricht
tatsächlich nichts. Gott ist nie ein Gegenstand. Das Credo1 im 20. Jahrhundert lässt
sich in diesem Kernsatz zusammenfassen: Gott ist das Subjekt, das nie zum Objekt
gemacht werden kann. Deswegen ist ein viel ursprünglicheres Fragen zur Voraussetzung der Gottesfrage zu erheben. Kein Mensch fragt als Erstes danach: Wie erkläre
ich die Welt? Jeder Mensch fragt zunächst: Welchen Sinn macht mein Leben? Wo finde ich die notwendige Liebe, wo habe ich Stützen meines Vertrauens, die mich über
die Angst hinwegheben?
Diese zentral von Menschen herkommenden Fragen sind es ja auch, die in der Bibel
die Grundlage des Jahwe-Glaubens bilden. Für mich ist es kein Zufall, dass das gesamte biblische Denken eben nicht mit einer Umarbeitung ägyptischer oder babylonischer Schöpfungsmythen beginnt. Wider den Augenschein ist das erste Kapitel der
Bibel ja erst sehr spät, vermutlich erst im 6. Jahrhundert vor Christus, entstanden. Die
Texte über den Glauben Abrahams aber gab es über 1000 Jahre lang vorher. In ihnen
ist Gott als Erstes der Wegführende, der Lenkende, derjenige, der in einem ständig offenen Dialog die Begegnung mit den Menschen sucht.
PUBLIK-FORUM: Heißt das, man kann Gott durchaus als Du ansprechen, mit ihm reden und gleichzeitig sich eingestehen, „ich weiß nicht, ob Du der Schöpfer bist, und
was Du überhaupt mit dieser Welt vorhast, das ist mir alles schleierhaft, aber ich vertraue Dir“?
Drewermann: Ganz entscheidend ist, dass wir Gott als Du anreden. Gehen wir von
der naturhaften Welt aus, werden wir ein Du nie finden. Eben weil diese Welt nicht
menschlich sein kann, bedürfen wir zur Selbstbegründung der Menschlichkeit des
Menschen eines absoluten Gegenübers, das wir mit Du anreden und in dem wir die
Geborgenheit spüren, die es in der Welt nicht gibt. Erst im Schutze dieses Vertrauens
lässt sich am Ende die Beziehung zu Gott, ganz wie in der Bibel, dahin ausweiten,
dass wir diesem Gott auch die Schöpfung der Welt zutrauen. Aber das ist ein vollkommen umgekehrter Gedanke. Wenn der Prophet Jona zum Beispiel den Schiffsleuten sagt: „Ich glaube an den Gott, der Meer und Festland gemacht hat“, will er ja nicht
eine geologische oder ozeanologische Theorie anbieten, er will sagen: „Gott ist der
Grund oder der Abgrund meines Daseins, je nachdem, wie ich mich zu ihm verhalte.“
Aus diesem existenziellen Begriff von „Welt“, deren Hintergrund so oder so Gott ist,
entwickelt sich dann ein Vertrauen, das auch die objektive Welt Gott zutraut.
PUBLIK-FORUM: Würden Sie denn sagen, dass man dieses Du in einer bestimmten
Weise auch erfahren kann?
Drewermann: Ganz sicher. ... Immer wenn ich Menschen sagen höre, sie glauben
nicht an Gott, und ich gehe dieser bitteren Aussage nach, finde ich zweierlei: Entweder
sie gehen, ohne dass sie es sich zugeben, in vielen Punkten von Vorgaben aus, die
ich selber in meiner Sprache mit Gott verbinden würde. Oder aber sie leiden sehr darunter, keinen Ort zu haben, an dem sie sich wesentlich geliebt, berechtigt, gemocht
fühlen. Immer wenn Menschen ernsthaft nach Gott fragen, fragen sie nach einem
Grund und der Möglichkeit der Liebe. Alles, was wir in der traditionellen Rede als Gna-
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de, als Anruf, als Berufung verstehen, hat zu tun mit der Kraft, die ein Mensch erfährt,
wenn er im Raum der Liebe sich selber zutraut, Entfaltung und Zukunft zu haben. ...
Das Entscheidende ist, dass wir Menschen Liebe nur begrenzt vermitteln können, aber
dass wir, sobald wir sie irgendwie spüren, ein Unendliches an Sehnsucht in uns wach
werden fühlen. Das, was Menschen in der Liebe einander schenken, ist ein Versprechen, das sie nie einhalten können. Aber in der Liebe wird der eine Mensch dem
anderen zu einem Fenster ins Unendliche. Der Fehler, den die Theologie macht, ist
darin zu sehen, dass sie diese Fenster selber für die Sonne nimmt. Wir müssten vielleicht, um im Bilde zu bleiben, darauf setzen, dass wir Menschen für Gott keine rechten Augen haben - so wenig wie die Blumen; aber dass, wenn die Sonne scheint, das
Wachstum der Blumen selber alles aufnimmt, was nötig ist, um sich selber zu vollziehen. Dieser Grund, der uns Mut gibt, uns selber zu vollziehen als Menschen, ist Gott.
in: Publik-Forum, Nr. 18 vom 22. 9. 2000 (leicht gekürzt) - die Fragen stellte Peter Rosien
Worterklärung:
¹ Credo – Glaubensbekenntnis
Aufgaben:
1.
„Den Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ (Z. 2f.) - Machen Sie mit
eigenen Worten deutlich, wie Eugen Drewermann diesen Satz
Bonhoeffers entfaltet.
18 P.
2.
Für Drewermann ist Gott derjenige, „der in einem ständig offenen Dialog die Begegnung mit den Menschen sucht“. (Z. 18)
Überprüfen Sie anhand biblischer Aussagen, ob Drewermanns
Aussage Gotteserfahrungen der Bibel entspricht.
15 P.
3.
Stellen Sie die Grundgedanken eines Religionskritikers dar und
nehmen Sie dazu Stellung.
12 P.
4.
Erläutern Sie an einem Beispiel aus der Geschichte oder der
Gegenwart, wie der christliche Glaube „Grund“ (Z. 30 und 53)
und „Kraft“ (Z. 42) für den Menschen sein kann.
15 P.
60 P.
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2002 - Drewermann
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1:
Drewermann grenzt sich ab vom traditionellen Gottesbild, bei dem Gott in erster Linie Erkenntnisgegenstand unseres Denkens ist und definiert wird. Für ihn ist Gott Subjekt, er kann
nicht zum Objekt gemacht werden. Die Frage nach Gott entsteht aus den existentiellen Fragen des Menschen nach Sinn, Liebe, Vertrauen.
Diese Fragen sind es auch, die die Grundlage des Jahwe-Glaubens bilden:
 Gott wird erfahren als Subjekt, als der Wegführende, der Lenkende, derjenige, der in einem ständig offenen Dialog die Begegnung mit den Menschen sucht und dadurch stets
unverfügbar bleibt.
 Gott ist Gegenüber, das wir mit Du anreden, bei dem Geborgenheit und Vertrauen erfahrbar werden. Gott wird also erfahren und diese Erfahrungen verdichten sich schließlich in „definitorischen“ Aussagen.
Das Problem der Menschen, die nicht an Gott glauben, liegt nach Drewermann oft darin,
dass sie
 ein eingeschränktes oder gar falsches Bild von Gott haben
 darunter leiden, keinen Ort gefunden zu haben, an dem sie sich geliebt und wertvoll fühlen.
Drewermann sieht Gott als Kraft, die dem Menschen Mut und Zutrauen gibt, um sich selber
zu vollziehen, d.h. zu Selbstbewusstsein und Selbstentfaltung zu gelangen und Zukunft gestalten zu können. Dies wird möglich durch die Liebe. Zwar können Menschen Liebe nur begrenzt vermitteln, dennoch können sie einander zum Fenster in die Dimension des
Göttlichen werden.
Wir Menschen haben für Gott zwar keine rechten Augen – können ihn aber doch erfahren.
Er ist der Grund für unsere menschliche Existenz.
zu Aufgabe 2:
Der Gott der Bibel ist der Gott, der in der Geschichte des Volkes Israel und in der Lebensgeschichte Einzelner erfahren wird (z. B. Ex 20 oder Dtn 26,5-9).
Er stellt sich Mose vor als Jahwe: „ich bin, der ich bin“, „ich werde sein, der ich sein werde“.
Wer er ist, bzw. wer er sein wird, bestimmt er selbst. Eine Festlegung auf ein bestimmtes
Bild ist danach ausgeschlossen.
Menschen, denen er begegnet - und denen er Zweifel und Widerspruch zugesteht - gewinnen Selbstbewusstsein und Hoffnung, finden den Mut, sich aus alten Bindungen zu lösen,
die Zukunft zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen (z.B. Abraham in Gen 12ff; Mose in Ex 3ff; Jeremia in Jer 1).
Er zeigt sich in Jesus, der die Begegnung mit den Außenseitern und Problembeladenen
seiner Zeit suchte und sie nicht auf ihre Schwäche festlegte. Sie werden sich ihrer Stärke
und ihres Wertes bewusst und können sich aufrichten, z.B. „Gleichnis vom barmherzigen
Vater“ (Lk 15) oder „Heilung der gekrümmte Frau“ (Lk 13,10ff).
zu Aufgabe 3:
Die Aufgabe ist gelöst, wenn eine religionskritische Position sachgerecht dargestellt ist und
deutlich wird, auf welches Bild von Gott sich die Kritik bezieht.
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Die Schülerin / der Schüler sollte in der Stellungnahme herausarbeiten welche Stärken die
dargestellte Position hat, auf welche Fehlentwicklungen in Glaube, Kirche, Gesellschaft
aufmerksam gemacht wird. Zugleich sollte sie kritisch hinterfragt und auf ihre Schwächen
eingegangen werden. Der Bezug zum Text könnte insofern wiederaufgenommen werden,
als deutlich gemacht wird, dass sich die Religionskritik meist auf den Gott bezieht, „den es
gibt“.
zu Aufgabe 4:
Der christliche Glaube kann Grund und Kraft für den Menschen sein,
 um einen Sinn in seinem Leben zu finden
 um sein eigenes Lebensschicksal bewältigen und gestalten zu können
 um sich mit seinen Fähigkeiten für andere zu engagieren.
Als Beispiele können u.a. angeführt werden:
 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Haftzeit
 Gruppen, Initiativen, Organisationen, Kirchengemeinden u. a., die sich einsetzen z. B für
Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Die Aufgabe ist gelöst, wenn das Beispiel sachgerecht erläutert wurde und spezifische
Glaubensinhalte als „Motor“ für Lebensbewältigung, Engagement etc. deutlich werden.
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2002 - Havel
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Die Welt wird heute dominiert von einigen großen religiösen Systemen, deren
Unterschiede immer deutlicher hervortreten und die sogar im Hintergrund vieler politischer und bewaffneter Konflikte
zu stehen scheinen. Dieser Umstand
verwischt einen ungleich wesentlicheren: dass nämlich die gegenwärtige globale Zivilisation im Grunde höchst
atheistisch ist. Sie ist die erste atheistische Zivilisation in der gesamten bisherigen Geschichte. Zugleich ist sie die
erste Zivilisation, die den ganzen Planeten umspannt. Der Atheismus dieser Zivilisation steht in einem Zusammenhang
mit der Hypertrophie1 der Partikularinteressen
und
Partikularverantwortlichkeiten und der Krise der globalen
Der Schriftsteller und Präsident
Verantwortung. Ist nicht die Tatsache,
der Tschechischen Republik
dass der Mensch nur in den Grenzen
Václav Havel
des Überschaubaren denkt und nicht
imstande ist, auch an das zu denken,
was danach kommt zeitlich oder räumlich -, die Folge des Verlustes der metaphysischen2 Gewissheiten, Fluchtpunkte und Horizonte? Ist nicht der ganze Charakter der
gegenwärtigen Zivilisation mit ihrer Kurzsichtigkeit, der stolzen Betonung
des menschlichen Individuums als Höhepunkt und der Herr der Schöpfung,
dem grenzenlosen Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, das Universum mit den Instrumenten seiner rationalen Erkenntnis begreifen zu können - ist nicht dies alles schlicht die natürliche Folge des Verlustes von
Gott? Oder genauer: des Respektes vor der Ordnung des Seins, dessen
Schöpfer wir nicht sind, sondern nur dessen Bestandteil. Vor dem geheimnisvollen inneren Sinn oder Geist, den diese Ordnung hat. ...
Die Krise der heute so notwendigen globalen Verantwortung hat ihre Ursache im Verlust unserer Gewissheit, dass das All, die Natur, das Sein und
unser Leben Werke der Schöpfung sind, die von einer bestimmten Absicht
geleitet ist und ein bestimmtes Ziel verfolgt. Und dass wir zusammen mit
dieser Gewissheit folglich auch alle Demut vor dem verloren haben, was
über uns hinausweist und uns umgibt. Diesen Verlust begleitet selbstverständlich auch der Verlust des Gefühls, dass wir alles, was wir tun, der
Rücksicht auf die höhere Ordnung unterordnen müssen, deren Teil wir
sind, und der Achtung vor ihrer Autorität, in deren besonderem Blickfeld
sich jeder von uns auf Dauer befindet.
Václav Havel: „Moral in Zeiten der Globalisierung“, Reinbek 1998, S. 47 f.
Worterklärungen:
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Hypertrophie - übermäßiges Wachstum
metaphysisch - jenseits von Erfahrung bzw. aller Erfahrung zugrundeliegend
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Aufgaben:
1.
Erheben Sie aus dem Text, wie der Verfasser zu der Behauptung kommt, dass „die gegenwärtige globale Zivilisation im
Grunde höchst atheistisch ist“. (Z. 7ff.)
15 P.
2.
Vergleichen Sie die Vorstellung von Gott, die im Text zum Ausdruck kommt mit den Gotteserfahrungen, von denen die Bibel
berichtet. Machen Sie deutlich, worin die biblischen Gotteserfahrungen über Havels Vorstellung hinausgehen.
18 P.
3.
Stellen Sie die religionskritische Position Ludwig Feuerbachs
oder Friedrich Nietzsches dar.
12 P.
4.
Erörtern Sie, inwiefern der Glaube an Gott Motor zur Wahrung
„der heute so notwendigen globalen Verantwortung“ (Z. 30)
sein kann.
15 P.
60 P.
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2002 - Havel
Lösungsvorschlag
zu Aufgabe 1:
Havel geht zunächst davon aus, dass viele Konflikte in der Welt religiös motiviert sind (vgl.
dazu auch evtl. Huntington, Kampf der Kulturen). Dieser Sachverhalt dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir Teil einer weltweiten atheistischen Zivilisation sind.
Kennzeichen dieser Zivilisation sind z.B., dass Menschen
 privates Wohlergehen höher bewerten als die Interessen der Gemeinschaft
 kurzsichtig sind und nicht mehr fragen „was danach kommt“ (Z. 20f.)
 die „metaphysischen Gewissheiten“ verloren haben. (vgl. dazu Nietzsche)
 sich als „Herr(en) der Schöpfung“ (Z. 24) gebärden, die angeblich alles mit der Vernunft
erfassen können
 keinen Respekt mehr haben vor den größeren Ordnungen der Schöpfung
 einer grenzenlosen Selbstüberschätzung verfallen sind.
Havel deutet alle diese Phänomene als „natürliche Folge des Verlustes von Gott“. (Z. 26f)
zu Aufgabe 2:
Gott erscheint in diesem Text als Schöpfer und Garant einer umgreifenden höheren Ordnung, die allem ihren Sinn gibt und unserem Erkennen letztlich nicht vollständig zugänglich
ist. Diesem Gott, dem offenbar frühere Zivilisationen Achtung und Ehrfurcht gezollt haben,
werde nun keine Beachtung mehr geschenkt. Damit gehe die Rücksicht auf das Ganze und
seinem verborgenen Sinn verloren. Havel hat also offenbar eine „Gottesbild“ vor Augen, das
Gott als Schöpfer und ordnungsschaffendes Prinzip versteht, das durch seine Autorität Menschen vor einem falschen egoistischen und unsozialem Verhalten bewahrt.
Die biblische Rede von Gott geht demgegenüber weit darüber hinaus.
Dies könnte an folgenden biblischen Texten aufgezeigt werden:







Gott befreit aus der Knechtschaft und erwartet gemeinschaftsgemäßes Verhalten.(Ex
3;20; Am 5)
Gott ist nicht nur Schöpfer (Gen 1; 2; Ps 8; 104) sondern auch Erhalter des Lebens.
(Gen 8,21)
Gott ist nicht nur „allmächtige Autorität“ die bedingungslosen Gehorsam unter seine Gebote und Ordnungen verlangt, sondern auch Gesprächspartner des Menschen. (Gen
1,26f.; Lk 11,1-4)
Gott wird Mensch und wendet sich den Menschen zu. (Joh 1; 3,16; Mt 22,23)
Gott ist verborgen erfahrbar. (Rö 8,35.38f.)
Gott ist auf kein Bild festzulegen. (Ex 20)
Gott leidet mit den Menschen mit. (Mk 15 par.)
zu Aufgabe 3:
Ludwig Feuerbach erklärt alle Religion als Produkt menschlicher Hoffnungen, Sehnsüchte
und Wünsche.
Der Mensch, der sich in seiner Begrenztheit und Mangelhaftigkeit erfährt, projiziert ein entsprechend vollkommenes Gottesbild an den Himmel.
In Wahrheit ist es seine eigene Vollkommenheit, die er durch solche „Selbstentzweiung“ an
den Himmel verliert.
Ziel der Feuerbachschen Religionskritik ist
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 die Aufhebung dieser Selbstentzweiung
 die Rückführung des Menschen auf sich selbst und seine Gattung
 die Wahrnehmung der Aufgaben in der Welt und am Mitmenschen.
Dabei können sich ungeahnte Kräfte entfalten, die bisher an den Himmel gebunden waren.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist ein Philosoph, der die schonungslose Destruktion aller
weltanschaulichen und moralischen Werte – und damit auch des Christentums – verfolgt.
Er beschreibt das Christentum als „Verschwörung gegen das Leben“ Er kam zu der für ihn
schrecklichen Erkenntnis: „Gott ist tot“. Er lehrte den „Übermenschen“ in einer sinnlosen
Welt (Nihilismus), ohne Ziel und Horizont.
Besonders positiv zu werten ist, wenn es der Schülerin / dem Schüler gelingt, nicht nur die
Philosophie Nietzsches bzw. Feuerbachs sachgemäß und umfassend darzustellen, sondern
auch aus der Beschäftigung mit dem vorliegenden Text sinnvolle Bezüge zu Nietzsche bzw.
Feuerbach herzustellen.
zu Aufgabe 4:
Die Aufgabe gilt als gelöst, wenn – entsprechend an mindestens einem im Unterricht behandelten geschichtlichen oder aktuellen Beispiel – deutlich gemacht wird, dass der Glaube
auch in einer säkularen Welt
 eine sinnstiftende Funktion haben kann
 für die Übernahme von Weltverantwortung ermutigen kann
 den Menschen eine Hoffnung für eine gerechte Zukunft eröffnen kann
 die Theodizeefrage nicht ausklammert.
Diese „Glaubenserfahrungen“ könnten am Engagement der Glaubenden z.B. in der weltweiten ökumenischen Bewegung, Friedensbewegung, Weltethos, für eine gerechte Welt (z.B.
EDCS usw.) aufgezeigt werden.
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