Der Sonderfall Schweiz - Schweizerischer Israelitischer

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Der Sonderfall Schweiz
Von Andreas Schneitter, 19. April 2012
Laut den neusten Zahlen ist der Antisemitismus in der Schweiz im Unterschied zu
anderen europäischen Ländern rückläufig. Das hat gesellschaftliche Gründe, allerdings
seien Jahresvergleiche in der Antisemitismusforschung nur bedingt aussagekräftig,
sagen Experten.
In verschiedenen europäischen Ländern haben antisemitische Vorfälle zugenommen. In
Frankreich ist laut dem Kantor-Zentrum der Universität
Tel Aviv die Zahl im Vergleich zum Vorjahr gleich um 60 Prozent gestiegen, ein Anstieg war
ausserdem in Grossbritannien, Deutschland, Ungarn und Griechenland zu verzeichnen. Nicht so in
der Schweiz. Laut den Antisemitismusberichten des Schweizerischen Israelitischen
Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus für die
Deutschschweiz sowie der Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la
diffamation für die Romandie hat die Zahl der Vorfälle 2012 abgenommen (vgl. tachles 13/13).
Der Rückgang ist zum Teil auf methodische Unterschiede in der Erfassung zurückzuführen (vgl.
tachles 06/13 und 12/13), hat aber auch konkrete gesellschaftliche Gründe. Michele Galizia, Leiter
der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes, weiss aus Umfragen, dass antisemitische
Einstellungen in der Schweiz stabil bei 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung verharren, «ähnlich wie
in anderen westeuropäischen Ländern». Überraschend sei hingegen der Befund, dass sich
Rassismus und Antisemitismus in der Schweiz kaum überlagern. «Im Unterschied etwa zu
Ostdeutschland, wo man eine Milieuüberschneidung von Rassismus, Antisemitismus oder auch
Frauenfeindlichkeit auffindet, sind – grob gesagt – Rassisten und Antisemiten hier verschiedene
Individuen.»
Geringe Gewaltbereitschaft
Der Schluss daraus: «Jüdinnen und Juden werden in der Schweiz in der Regel nicht mehr als
fremd angesehen. Das war nicht immer so», sagt Galizia. Präventiv dazu beigetragen habe die
sichtbare öffentliche Präsenz von jüdischen Organisationen und Einzelpersonen im interreligiösen
Dialog, im Einsatz gegen Rassismus und für Minderheiten.
Der Sonderfall Schweiz geht noch weiter. Im Unterschied zu Frankreich oder zu Belgien, wo laut
einer Umfrage muslimische Jugendliche siebenmal häufiger antisemitische Ressentiments äussern
als nicht muslimische Altersgenossen (vgl. tachles 13/13), sei dies für die Schweiz nicht belegt,
«denn die Schweizer Muslime haben zu rund 90 Prozent ihre Wurzeln in Europa, nicht in
arabischen Ländern». Ausserdem sei – auch das in Europa eher eine Ausnahmeerscheinung – die
Gewaltbereitschaft am rechten Rand verschwindend gering.
Wenig Aussagekraft misst Günther Jikeli jährlichen Vergleichszahlen zu. Jikeli,
Antisemitismusforscher und bis 2012 als Berater zur Antisemitismusbekämpfung für die
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa tätig, vergleicht die vorhandenen
Zahlen in Zehnjahresintervallen. «Da stellt man in Europa einen Anstieg fest. Die Intoleranz
gegenüber dem Antisemitismus hat abgenommen.» Das sei nicht nur auf muslimische Immigration
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zurückzuführen: «In Frankreich und in Grossbritannien waren männliche Muslime für
schätzungsweise 30 Prozent der antisemitischen Vorfälle verantwortlich, in Deutschland für zehn
Prozent. Streicht man diese Fälle, ist die Zahl noch immer grösser als in den neunziger Jahren.»
Diesen beträchtlichen nicht muslimischen Anteil der Antisemiten müsse man länderspezifisch
untersuchen. In Deutschland weisen Umfragen auf «Verfahren der Schuldrelativierung» aus der
NS-Zeit hin, etwa durch die Häufigkeit der Aussagen, dass die Palästinenser unter israelischer
Kontrolle dasselbe Los erleiden würden wie die Juden unter den Nationalsozialismus. In
Grossbritannien sei aufgrund der kolonialen Vergangenheit das Verhältnis zu Israel «von Anfang
an belastet gewesen», wodurch sich früh Antizionismus und Antisemitismus überlagert hätten.
Und in osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Litauen seien zwar die westlichen
antizionistisch-antisemitischen Muster weniger verbreitet, dafür korrelieren antisemitische
Aussagen mit einer Relativierung der jeweiligen Mittäterschaft im Holocaust.
Tradierte Vorurteile
«Den Antisemitismus kann man nur interdisziplinär verstehen», sagt Jikeli, nämlich historisch wie
sozialpsychologisch. In der Sozialpsychologe wird «Antisemitismus als Projektion verstanden, die
wenig damit zu tun hat, was das Objekt des Hasses tatsächlich tut oder ist». Projektionen, die
gesellschaftlichen Frustrationen entspringen und sich mittels Verschwörungstheorien einfach
kanalisieren liessen. Dass regelmässig die Juden zur Zielscheibe werden, habe historische Gründe:
«Seit der Trennung von Judentum und Christentum gab es Vorurteilsstrukturen gegen die Juden,
die weitergetragen wurden und in säkularisierter Form weiterexistieren. Wenn man heute in
Europa den Israeli vorwirft, sie würden mit Absicht arabische Kinder töten, interpretiere ich diesen
pauschalisierenden Vorwurf als umgedeutete Fortsetzung der mittelalterlichen Ritualmordthese.»
Diese Kombination von sozialpsychologischen Projektionen und tradierten Vorurteilen müsse man
beachten, um den Antisemitismus zu verstehen und langfristig zu überwinden – unter Muslimen
wie unter nicht Muslimen in Europa.
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