Ein einig Volk von Opfern

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ONLINE-EXTRA Nr. 5
Februar 2005
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Ernst Piper
Ein einig Volk von Opfern
Die Deutschen wollten immer nur das Gute. Die Inbesitznahme des 17. Juni im vergangenen
Jahr und des 20. Juli in diesem Jahr durch eine gewaltige Medienmaschinerie haben das einmal mehr gezeigt. Beide Gedenktage waren in je unterschiedlicher Weise jahrzehntelang umstritten, faschistischer Putschversuch westdeutscher Revanchisten hier, hochverräterischer
Attentatsversuch ehrloser Offiziere dort. Beide Gedenktage sind unversehens Glanzstücke
einer selbstverliebten Erinnerungskultur geworden. Spätestens seit Sebastian Koch als Stauffenberg mit Hardy Krüger junior an seiner Seite in den deutschen Wohnzimmern über die
Bildschirme flimmerte, ist der 20. Juli zu einem Gedenktag geworden, zu dem jeder gerne
hingeht, wie unser Kanzler sagen würde.
Der Herbst brachte uns mit Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" einen neuen Höhepunkt.
Der NPD-Mann Karl Richter, der in dem Film die Rolle des Adjutanten von Generalfeldmarschall Keitel spielt, sagt über den Film: "Ein völlig neues Hitler-Bild wird transportiert." Ein
menschliches, meint er. Auch sonst menschelt es gewaltig in diesem Film. Es wimmelt von
guten Deutschen, die aus der verfahrenen Situation das beste zu machen versuchen. Vernünftige Militärs, selbstlose Ärzte, illusionslose Väter verführter Hitlerjungen treten auf. Der SSArzt Ernst Günther Schenck, der einst für Experimente seine über Leichen ging, mutiert im
"Untergang" zu einem selbstlosen Philanthropen, der rastlos überall zu helfen versucht.
Hirschbiegel ist offensichtlich ein unkritischer Leser von Lebenserinnerungen. Auch die alten
Legenden um Albert Speer, die dieser, kräftig unterstützt von Joachim Fest, jahrzehntelang zu
verbreiten sich bemüht hat, werden erneut ins Bild gesetzt. Der Mann, der fast bis zum letzten
Kriegstag die deutsche Rüstungsindustrie ständig zu neuen Höchstleistungen antrieb, was
Abertausende von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern mit ihrem Leben bezahlten mußten,
wird von Hirschbiegel zur Lichtgestalt, zur Stimme der Vernunft an Hitlers Seite stilisiert. Im
kommenden Jahr wird die ARD mit einem Dreiteiler nachsetzen, dessen Produktion stolze
zwölf Millionen Euro gekostet hat. Sebastian Koch, der dieses Jahr den Stauffenberg gegeben
hat, wird dann als Speer zu bewundern sein. Der Regisseur Heinrich Breloer ist sich der Problematik der Aufgabe bewußt: "Wir alle schauen auf das Dritte Reich, ob wir es wollen oder
nicht, durch die Brille Albert Speers." Und wenn es schon diesem Chefplaner des Dritten Reiches, der mehr als jeder andere zur Verlängerung des Zweiten Weltkriegs beigetragen hat und
damit für Millionen von Toten verantwortlich ist, erlaubt ist, sich der Nachwelt als Verführter,
als Opfer darzustellen, als einer, der zwar zu bequem war, in ein anderes Land zu emigrieren,
wo er sich auf der untersten Stufe der Karriereleiter wiedergefunden hätte, aber doch stets
unpolitischer Technokrat geblieben war, der im Zweifel Schlimmstes verhindert hatte, etwa
die Ausführung des "Nero-Befehls" im März 1945, wie viel mehr muß es dann Durchschnittsdeutschen erlaubt sein, sich in der Opferrolle zu sehen.
1995, zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, wurde deutschen Jugendlichen der Jahrgänge 197081 die Frage gestellt: "Waren die Deutschen eher Täter oder eher Opfer im Nationalsozialismus?" 48 % der Befragten votierten für Täter, 44 % für Opfer. Diese Begriffsverwirrung hat
eine lange Vorgeschichte. Norbert Frei hat die "Vergangenheitspolitik" der ersten Jahre der
Bundesrepublik eindrucksvoll dokumentiert, eine Politik, die ihre ganzen Energien darauf
verwendete, eine Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden. Die Entnazifizierung der Alliierten wurde rasch beendet, als Nationalsozialisten entlassene Beamte alsbald
wieder eingestellt, verurteilte Kriegsverbrecher großzügig amnestiert. Eingebettet in diese
Vergangenheitspolitik war ein Viktimisierungsdiskurs, der zu einer diametralen Veränderung
der Perspektive führte. Aus der Sicht der Alliierten, die die Deutschen besiegt und damit befreit hatten, waren Opfer die dem SS-Staat Verfallenen, die ermordeten Juden, Russen, Polen
und all die anderen Opfer der deutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge. Doch in den
50er Jahren waren nicht die Opfer der Deutschen, sondern vor allem die Deutschen als Opfer
im kollektiven Gedächtnis präsent. Hatte es zunächst auf den Gedenktafeln, wo es sie gab,
zumeist geheißen "Den Opfern 1933-1945", wobei unklar blieb, ob hier die hingemordete
europäische Judenheit gemeint war oder ihre auf den Schlachtfeldern verbliebenen Henker, so
setzten sich in der Konkurrenz der Opfergruppen sehr bald diejenigen durch, denen zur Legitimierung des neuen Staatswesens und seiner politischen Führung entscheidende Bedeutung
zukam. Ganz oben auf der Prioritätenliste von Bundeskanzler Adenauer standen die Vertriebenen, die angeblich "zu Millionen umgekommen" waren, was bei allen Schrecknissen der
Vertreibungsgeschichte, die keinesfalls bagatellisiert werden sollen, doch maßlos übertrieben
war. 1953, im Jahr seiner ersten Wiederwahl, stellte Adenauer auf die Kriegsgefangenen ab.
Die Bundesregierung finanzierte die Wanderausstellung "Wir mahnen", die das Schicksal der
deutschen Kriegsgefangenen in den sowjetischen Lagern dokumentierte. Das Ausstellungsplakat zeigte einen kahlgeschorenen Kriegsgefangenen hinter Stacheldraht, ein Motiv, das
sich auch auf einer zum Muttertag erstmals ausgegebenen Sonderbriefmarke wiederfand. Adenauer parallelisierte das sowjetische Vorgehen gegen die deutschen Kriegsgefangenen ganz
ausdrücklich mit den Verbrechen des Dritten Reiches.
Doch Mitte der 60er Jahre zerbricht der Konsens des kommunikativen Beschweigens der NSVergangenheit. 1963-65 findet in Frankfurt der Auschwitz-Prozeß statt, den der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen alle Widerstände ins Werk setzt. 1965 wird in Dachau die erste
KZ-Gedenkstätte eröffnet, und im selben Jahr verlängert nach einer leidenschaftlichen Debatte der Deutsche Bundestag die Verjährungsfrist für Mord, die dann später ganz aufgehoben
wird. Es folgt eine Zeit der zunehmenden Konfrontation mit den Schrecken der NS-Zeit. "Holocaust", "Shoah" und "Schindlers Liste" heißen mediale Wegmarken jener Jahre. Eine Kultur
der Vergangenheitsbewältigung griff Platz, der Martin Walser vor sechs Jahren spektakulär
die Gefolgschaft aufkündigte. Die seiner Polemik gegen die Moralkeule Auschwitz folgende
Debatte hatte eine bedeutsame Katalysatorfunktion für die Grenzverschiebung zugunsten eines Antisemitismus, wie er sich etwa in der Rede zum deutschen Nationalfeiertag 2003 des
CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann äußerte, damals immerhin Berichterstatter
seiner Fraktion in Fragen der Zwangsarbeiterentschädigung. Hohmann blieb es vorbehalten,
seinen Zuhörern die Erkenntnis zu präsentieren, man könne die Juden mit einiger Berechtigung als Tätervolk bezeichnen. Hier gibt es krude Querverbindungen zu einem linken Antizionismus, der sich in seinem Wunsch nach Schuldabwehr durch Täter-Opfer-Umkehr durch
die Politik der israelischen Regierung seit dem Ausbruch der zweiten Intifada bestätigt sieht.
Angesichts der jüngsten Debatten über die deutschen Bombenopfer und ein Zentrum gegen
Vertreibungen diagnostizierte Norbert Frei kürzlich einen "erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel". Diese Feststellung ist richtig, übersieht aber doch etwas wesentliches. Der Blick auf
die Vergangenheit verschiebt sich nicht nur durch den wachsenden zeitlichen Abstand, das
langsame Verschwinden der Zeitzeugen, Opfer wie Täter. Seit dem Mauerfall und der nachfolgenden Wiedervereinigung stehen wir auch in einer neuen Opferkonkurrenz. Der Antifaschismusmythos der DDR diente der Legitimation eines Regimes, dessen Unrechtscharakter
von denjenigen, die die Träger der Aufklärung über die Verbrechen der NS-Zeit waren, vielfach bagatellisiert worden ist. "Man darf es Diktatur nennen", schrieb Richard Schröder kürzlich in der "Welt" und ließ dieser unbestreitbar richtigen Feststellung einen fatalen Untertitel
folgen: "Den Opfern sind die Unterschiede zwischen den totalitären Systemen vor und nach
1945 egal." Dieser Satz stellt den politischen Konsens, der in Jahrzehnten in diesem Land
erarbeitet worden ist, in seinem Kern in Frage. Gerade wenn man sieht, wie heute in den Gedenkstätten mit doppelter Vergangenheit, etwa in Torgau oder in Oranienburg, die rivalisierenden Opfergruppen, die Opfer des NS-Regimes und die Opfer des Stalinismus, erbittert um
jeden Quadratmeter miteinander ringen, dann erscheint es besonders wichtig, die Dimensionen dessen, worum es geht, nicht aus den Augen zu verlieren. Dies ist umso wichtiger, weil
im Zuge des europäischen Einigungsprozesses sich die EG um Staaten erweitert hat, deren
Vergangenheitsbewältigung kaum begonnen hat. Die frühere lettische Außenministerin
Sandra Kalniete erklärte dieses Jahr bei der Leipziger Buchmesse, Nazismus und Kommunismus seien gleich kriminell gewesen: "Es darf niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen
geben, nur weil eine Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat." Wer das Okkupationsmuseum in Riga besucht, sieht dann doch eine deutliche Gewichtung. Über 80 % der Ausstellung
sind der sowjetischen Okkupation gewidmet, die deutschen Untaten werden sehr knapp dargestellt und die lettische Mitwirkung reduziert sich auf ein paar irrgeleitete Individuen. Tatsächlich hatte die Lettische Legion fast 100.000 Mitglieder, derer jedes Jahr am "Tag des Soldaten" gedacht wird. Auch im benachbarten Estland erinnert man sich gerne der SS-Legionäre
als Freiheitskämpfer, während der vor zwei Jahren von der Regierung eingeführte HolocaustGedenktag in einer Meinungsumfrage nur bei 7 % der Bevölkerung auf Zustimmung stieß,
von 93 % aber abgelehnt wurde. Es besteht die Gefahr, daß dieser europäische Kontext dazu
beiträgt, den Konsens, der hierzulande erreicht worden ist, in Frage zu stellen. Der Leitsatz in
den Empfehlungen der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im
Prozeß der deutschen Einheit" hatte geheißen: "NS-Verbrechen dürfen nicht durch die Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Nachkriegszeit relativiert werden, das Unrecht der
Nachkriegszeit darf aber nicht mit dem Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden."
Der Antrag, den, nach sehr kontroversen Diskussionen über das Sächsische Gedenkstättengesetz, der CDU-Abgeordnete Günter Nooke vor einem Jahr im Bundestag eingebracht hat und
der im April 2004 in erster Lesung diskutiert worden ist, fällt, auch in der nach internationalen
Protesten revidierten Fassung, deutlich hinter diesen Konsens zurück. Staatsministerin Christina Weiss sprach deshalb in der Bundestagsdebatte zu Recht davon, daß Nooke und seine
Mitstreiter einen Paradigmenwechsel in der Geschichtsbetrachtung und konsequenterweise
auch in der Geschichtspolitik anstreben. Hier geht es nicht nur um eine Gleichrangigkeit der
Opfer des SED-Regimes mit denen des Nationalsozialismus, sondern auch um die deutschen
Zivilopfer. Nooke fordert ein integrales Konzept für die Gedenkstättenarbeit, für Sachverhalte, die historisch und in ihren Wirkungen, insbesondere auf deutschem Boden, höchst unterschiedlich waren, sowie eine "zentrale finanzielle Verantwortung", will sagen, ein Direktionsrecht für eine nach 2006 womöglich konservative Bundesregierung. Wie könnte ein "integrales Konzept" aussehen? Nooke läßt uns darüber nicht im Unklaren. An erster Stelle stehen die
"Opfer der beiden deutschen Diktaturen". Es folgen die Opfer von Krieg und Vertreibung, die
zivilen Opfer der alliierten Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs, schließlich die friedliche
Revolution und Wiederherstellung der staatlichen Einheit. Vom Holocaust, diesem monströsesten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, das in der Memorialkultur der alten Bun-
desrepublik in den letzten Jahrzehnten einen zentralen Platz eingenommen hat, ist an keiner
Stelle die Rede. Nooke wünscht sich statt dessen ein Zentrum gegen Vertreibungen, ein
Mahnmal für die Bombenopfer und ein neues Nationaldenkmal auf der Berliner Schloßfreiheit für die friedlichen Revolutionäre des Jahres 1989.
Auch andere haben Wünsche. Klaus Wowereit möchte einen Geschichtspfad quer durch Berlin, der alles mit allem verbindet, Hubertus Knabe, Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen, wünscht sich ein zentrales Kommunismus-Museum, und eine beachtliche
Gruppe von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen hat eine Initiative für ein zentrales Dokumentationszentrum zur Geschichte der Berliner Mauer am Brandenburger Tor ergriffen.
Während der wirtschaftliche Aufschwung noch ein fragiles Pflänzchen ist, steht der Gedenkstandort Deutschland in voller Blüte. Es gibt, unter anderem, bereits eine Gedenkstätte und
ein Dokumentationszentrum Berliner Mauer in der Bernauer Straße. An zentraler Stelle steht
das Checkpoint-Charlie-Museum. Diese private, äußerst gewinnträchtige Einrichtung wird
von Alexandra Hildebrandt, der Witwe des Gründers, betrieben. Die gebürtige Ukrainerin läßt
mitteilen, sie habe gar nichts gegen Juden, aber wichtig ist ihr: "Die zweite deutsche Diktatur
war nicht harmloser als die erste." Kürzlich ließ Frau Hildebrandt auf zwei angemieteten
Nachbargrundstücken 1065 Holzkreuze mit Namenstafeln errichten. Prompt titelte die
"Welt": "1065 Holzkreuze, 2700 Betonstelen". Die Holzkreuze stehen für die 1065 Opfer des
40jährigen Grenzregimes der DDR. Das ist schlimm genug. Aber das Stelenfeld des nahen
Holocaust-Mahnmals soll an die Ermordung von fast sechs Millionen Juden erinnern. Es ist
traurig genug, daß man heute wieder daran erinnern muß, daß das ein Verbrechen von ganz
anderer Dimension war. "Wir bauen ein monströses Holocaust-Mahnmal", sagt Frau Hildebrandt. "Wir haben so viele Konzentrationslager, muß das noch sein?" Ihre Holzkreuze, die
vom "größten Gästebuch der Welt" überragt werden, sind monströs allenfalls in ihrer Geschmacklosigkeit. Und entlarvend ist die aufgeregte Diskussion, die diese Installation ausgelöst hat.
Hinterlassenschaften des DDR-Regimes gibt es naturgemäß nur im kleineren Teil Deutschlands. Dennoch ist die stalinistische Vergangenheit der DDR keine Regionalgeschichte, dies
schon deshalb nicht, weil die deutsche Teilung eine unmittelbare Folge von Hitlers Größenwahn war. Dies darf aber nicht zu einer Einebnung der Schuldfrage führen. Die Erinnerung an
den Holocaust steht heute vor der doppelten Herausforderung der Historisierung und der Relativierung. Und die Lust der Deutschen, sich nach Jahrzehnten voller Schuldgefühle endlich
einmal nicht als Täter, sondern als Opfer zu sehen, ist groß. Sechzig Jahre nach Kriegsende ist
der antifaschistische Grundkonsens, den die alte Bundesrepublik nach langen und schwierigen
Jahren schließlich gefunden hatte, akut bedroht. Eine Rede wie die, die Richard von
Weizsäcker am 8. Mai 1985 gehalten hat, wäre heute ein unerwarteter Glücksfall.
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