Ein alter Satz und eine moderne Frage

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Ein alter Satz und eine
moderne Frage
2.1
Der Satz des Pythagoras
Wenden wir uns der Geometrie zu und fragen: Was sind
eigentlich die im vorhergehenden Kapitel erwähnten unterschiedlichen „Geometrien“? Erinnern wir uns zunächst
an unsere Begegnung mit Pythagoras und den berühmten
nach ihm benannten Lehrsatz:1 In jedem rechtwinkligen
Dreieck ist der Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse (das ist die dem rechten Winkel gegenüberliegende
Seite) gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate
über den Katheten, den anderen Seiten (Abb. 2.1). Mit
welchem Grund halten wir diese Behauptung für wahr?
Wie lässt sich der Satz des Pythagoras „beweisen“? Es gibt
viele Beweise, von denen ich hier zwei führen möchte, die
besonders klar sind und jeweils einen eigenen Schwerpunkt setzen.
Beim ersten Beweis betrachten wir das in Abb. 2.2 dargestellte Kachelmuster aus zwei unterschiedlich großen
Quadraten. Das Muster lässt sich „offensichtlich“ beliebig
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1
Historisch gesehen ist völlig unklar, wer als Erster die heute als Satz des Pythagoras
bekannte Aussage bewiesen hat (Fußnote 1 in Kap. 1). Anscheinend haben die alten
Ägypter und Babylonier zumindest viele Beispiele für diesen Satz gekannt. Über die
Rolle des Pythagoras und seiner Anhänger können wir nur Vermutungen anstellen.
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Der Weg zur Wirklichkeit
Abb. 2.1 Der Satz des Pythagoras: Bei jedem rechtwinkligen Dreieck
ist die Fläche des Quadrats über der Hypotenuse c gleich der Summe
der Flächen der Quadrate über den Katheten a und b.
Abb. 2.2 Eine Überdeckung der Ebene durch Kopien zweier Quadrate
unterschiedlicher Größe.
Abb. 2.3 Die Mittelpunkte beispielsweise der großen Quadrate bilden
die Kreuzungspunkte eines Gitters aus größeren Quadraten, das den
Ausgangsquadraten gegenüber gekippt ist.
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fortsetzen, und man kann die ganze Ebene ohne irgendwelche Lücken oder Überlappungen mit einem solchen Muster
überdecken. Die Wiederholbarkeit des Musters wird noch
klarer, wenn wir die Mittelpunkte der größeren Quadrate
markieren und als Ecken eines Gitters von etwas größeren,
„gekippten“ Quadraten sehen (Abb. 2.3). Dieses Gitter überdeckt sicherlich die gesamte Ebene. Jedes einzelne der gekippten Quadrate ist genau gleich markiert, und die Markierungen eines jeden lassen die des ursprünglichen Systems
von zwei Quadraten erkennen. Dasselbe gilt, wenn wir
nicht die Mittelpunkte der größeren der beiden Quadrate
des ursprünglichen Systems wählen, sondern irgendeinen
beliebigen Punkt zusammen mit allen ihm entsprechenden
Punkten des Musters. Das neue Gitter gleicht haargenau
dem ersten, ist ihm gegenüber aber (ohne es zu drehen)
verschoben – eine Veränderung, die wir Translation nennen. Der Einfachheit zuliebe wählen wir als Ausgangspunkt ohne Beschränkung der Allgemeinheit eine der
Ecken des ursprünglichen Systems (Abb. 2.4).
Die Fläche eines der größeren gekippten Quadrate ist
offensichtlich gleich der Summe der Flächen der beiden
kleineren Quadrate – die Teile der gekippten Quadrate,
die sich durch die Markierungen dieses größeren Quadrats
ergeben, lassen sich für jeden Ausgangspunkt ohne Drehung so verschieben, dass sie die beiden kleineren Quadrate ergeben (z. B. Abb. 2.5). Außerdem geht aus Abb. 2.4
hervor, dass die Seite des großen gekippten Quadrats die
Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen andere Seiten so lang sind wie die Seiten der beiden kleineren Quadrate. Damit haben wir den Satz des Pythagoras
bewiesen: Das Hypotenusenquadrat ist gleich der Summe
der Kathetenquadrate.
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Der Weg zur Wirklichkeit
Abb. 2.4 Das Gitter der gekippten Quadrate lässt sich so verschieben,
dass die Kreuzungspunkte des gekippten Gitters mit Kreuzungspunkten
des ursprünglichen Musters zusammenfallen, und wie das zeigt, sind
die Seiten jedes der gekippten Quadrate genau so lang wie die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks (hier schattiert), dessen andere Seiten
gleich den Seiten der ursprünglichen Quadrate sind.
Abb. 2.5 Unabhängig davon, welcher Punkt als Eckpunkt des gekippten
Quadrats gewählt wird, schneiden die ursprünglichen Quadrate das gekippte Quadrat in Teile, die zusammen genauso groß sind wie die beiden
kleineren Quadrate.
Dieser einfache Beweis enthält alles, was ein Beweis dieses Satzes braucht – und mehr noch, er liefert einen einsichtigen „Grund“ für seine Wahrheit, was keineswegs
selbstverständlich ist, denn ein Beweis kann auch rein
formal sein und aus einer Folge nicht klar motivierter logischer Schritte bestehen. Man beachte jedoch, dass in diesen
Beweis stillschweigend mehrere Annahmen eingegangen
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sind. Nicht die unwichtigste ist die Voraussetzung, dass
das scheinbar ganz einfache Muster der sich wiederholenden Quadrate in Abb. 2.3 oder auch in Abb. 2.6 geometrisch möglich ist – oder, noch wichtiger, dass ein Quadrat
geometrisch möglich ist. Was meinen wir denn überhaupt
mit einem „Quadrat“? Wir stellen uns ein Quadrat in der
Regel als eine ebene Figur vor, deren Seiten alle gleich
lang sind und deren Winkel alle rechte Winkel sind. Was
ist ein rechter Winkel? Nun, da können wir uns zwei Geraden vorstellen, die einander in einem Punkt so schneiden,
dass vier gleiche Winkel entstehen. Jeder dieser gleichen
Winkel ist dann ein rechter Winkel.
Versuchen wir uns jetzt an der Konstruktion eines
Quadrats. Man nehme drei gleich lange Strecken AB, BC
und CD, wobei ABC und BCD rechte Winkel sind und
D und A wie in Abb. 2.7 auf derselben Seite der Strecke
BC liegen. Dann stellt sich die Frage: Ist AD genauso lang
wie die anderen drei Strecken? Mehr noch, sind die Winkel
DAB und CDA ebenfalls rechte Winkel? Sicher sind diese
Winkel gleich, denn die Abbildung ist in Bezug auf rechts
und links symmetrisch, aber sind sie auch wirklich rechte
Winkel? Das scheint uns nur deshalb offensichtlich, weil
Abb. 2.6 Das vertraute Gitter aus gleich großen Quadraten. Woher
wissen wir, dass es existiert?
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Der Weg zur Wirklichkeit
Abb. 2.7 Zum Versuch, ein Quadrat zu konstruieren. Man nehme ABC
und BCD als rechte Winkel und AB = BC = CD. Folgt dann, dass DA die
gleiche Länge hat wie sie und DAB und CDA ebenfalls rechte Winkel
sind?
wir mit Quadraten vertraut sind; vielleicht auch, weil wir
uns aus unserer Schulzeit an eine auf Euklid zurückgehende
Feststellung erinnern, wonach die Seiten BA und CD
„parallel“ sein müssen und „Stufenwinkel“, wie sie entstehen, wenn eine Gerade ein Parallelenpaar schneidet, gleich
sind. Dann also ist der Winkel DAB in Abb. 2.7 gleich
dem Winkel EDC, der ADC ergänzt (wobei E ein Punkt
der Geraden ADE ist), und auch, wie oben bemerkt,
gleich dem Winkel ADC. (Die Winkel ADC und EDC
heißen übrigens zueinander komplementär.) Nun kann
ein Winkel (ADC) nur dann gleich seinem Komplement
(EDC) sein, wenn er ein rechter Winkel ist. Wir müssen
auch beweisen, dass die Seite AD genauso lang ist wie BC,
aber auch das folgt beispielsweise aus den Eigenschaften
einer die Parallelen AB und CD schneidenden Gerade. Wir
können also wirklich aus einer solchen euklidischen Argumentation schließen, dass es Quadrate, d. h. Figuren
mit gleich langen Seiten und rechten Winkeln, gibt. Darin
steckt jedoch ein großes Problem.
2 Ein alter Satz und eine moderne Frage
2.2
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Die euklidischen Postulate
Als Euklid seine geometrischen Begriffe entwickelte, achtete er sorgfältig auf die Voraussetzungen, auf die er seine
Beweise gründete.2 Insbesondere unterschied er sorgfältig
jene Behauptungen, die er Axiome nannte – er hielt sie für
selbstverständlich wahr – und die im Wesentlichen definieren, was beispielsweise mit Punkt und Gerade gemeint
ist, von seinen fünf Postulaten, also Annahmen, deren Gültigkeit ihm weniger gesichert schien, die jedoch anscheinend für die Geometrie unserer Welt gelten. Die letzte
dieser Annahmen, also das fünfte euklidische Postulat, galt
immer als weniger offensichtlich als die anderen vier, und
man meinte viele Jahrhunderte lang, es müsse sich mithilfe
der anderen offensichtlicheren Postulate beweisen lassen.
Euklids fünftes Postulat wird gewöhnlich als Parallelenpostulat bezeichnet, und so nenne ich es auch hier.
Bevor wir das Parallelenpostulat erörtern, lohnt es sich,
die anderen vier Postulate zu betrachten. Zunächst geht es
dabei um die Geometrie der (euklidischen) Ebene – später
betrachtete Euklid auch den dreidimensionalen Raum. Die
Grundelemente der ebenen euklidischen Geometrie sind
Punkte, Geraden und Kreise. Hier verstehe ich „gerade Linie“
(oder einfach „Gerade“) als in beiden Richtungen unendlich
ausgedehnt; geht es um ein gerades Gebilde endlicher Länge,
so spreche ich von einem „Geradenabschnitt“ oder einer
„Strecke“. Euklids erstes Postulat besagt im Wesentlichen,
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Trotz aller großen Sorgfalt verbergen sich in Euklids Werk Annahmen, die im
Wesentlichen mit jenen Fragen zu tun haben, die wir heute als „topologisch“ bezeichnen. Für Euklid und seine Zeitgenossen wären sie „offensichtlich“ gewesen.
Erst viele Jahrhunderte später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, haben Mathematiker,
besonders Hilbert und seine Kollegen, diese unerwähnten Annahmen bemerkt. Ich
lasse sie im Folgenden außer Acht.
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Der Weg zur Wirklichkeit
dass es zu zwei Punkten genau eine Verbindungsgerade gibt.
Sein zweites Postulat behauptet, dass man jeden Geradenabschnitt unbegrenzt fortsetzen kann. Sein drittes Postulat
behauptet, dass jeder Punkt der Mittelpunkt eines Kreises mit
beliebigem Radius sein kann, und sein viertes Postulat schließlich besagt, dass alle rechten Winkel einander gleich sind.3
Wir modernen Menschen finden einige dieser Postulate,
besonders das vierte, merkwürdig, aber wir sollten bedenken,
wie Euklid auf die Gedanken kam, die seiner Geometrie
zugrunde liegen. Es ging Euklid hauptsächlich um die
Bewegung idealisierter starrer Körper und den Begriff der
Kongruenz, der dann ins Spiel kommt, wenn ein solcher
idealisierter starrer Körper mit einem anderen zur Deckung gebracht wird. Die Gleichheit der rechten Winkel
zweier Körper hatte mit der Möglichkeit zu tun, einen
Körper so zu bewegen, dass die Geraden, die einen der
rechten Winkel bilden, mit den Geraden zusammenfallen,
die den anderen rechten Winkel bilden. Im Wesentlichen
behauptet das vierte Postulat die Isotropie und Homogenität des Raums, denn diese Eigenschaften garantieren,
dass eine Figur an einem Ort „dieselbe“ (im Sinne der
Kongruenz) geometrische Form hat wie an einem anderen. Das zweite und das dritte Postulat erfassen den Gedanken, dass der Raum unendlich ausgedehnt ist und keine
„Lücken“ aufweist, während das erste das Wesen eines Geradenabschnitts erfasst. Obwohl Euklids Art der Betrachtung der Geometrie sich von unserer heutigen Betrachtungsweise unterscheidet, enthalten die vier ersten Postulate
im Grunde unseren heutigen Begriff eines (zweidimensionalen) metrischen Raums, der vollständig homogen und
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Siehe z. B. Thomas (1939). Vgl. auch Schutz (1997), der eine schöne axiomatische
Darstellung von Minkowskis vierdimensionaler Raumzeitgeometrie gibt.
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isotrop und unendlich ausgedehnt ist. Dieses Bild entspricht recht genau dem Bild der modernen Kosmologie
von der großräumigen Struktur des Universums.
Und das Wesen des fünften Postulats, des Parallelenpostulats? Es besagt in Euklids Formulierung, dass in der
Ebene zwei Geradenabschnitte a und b, die beide eine
dritte Gerade c schneiden, sich in ihren Verlängerungen
auf derjenigen Seite von c schneiden, auf der die Summe
der Innenwinkel kleiner ist als zwei rechte Winkel (Abb.
2.8a). Eine äquivalente Form diese Postulats (das gelegentlich auch Playfair-Axiom genannt wird) sagt aus, dass es zu
einer beliebigen Geraden und zu jedem Punkt, der nicht
auf dieser Geraden liegt, genau eine eindeutig bestimmte
Gerade durch diesen Punkt gibt, die parallel ist zur ersten
Geraden (Abb. 2.8b). Bei dieser Formulierung sind die
„parallelen“ Geraden zwei Geraden, die in derselben Ebene
liegen und einander nicht schneiden (man erinnere sich,
dass ich mit „Gerade“ ein unendlich ausgedehntes Gebilde
meine und nicht Euklids „Geradenabschnitte“).[2.1]
Mithilfe des Parallelenpostulats können wir angeben,
welche Eigenschaft eine Figur haben muss, damit sie ein
Quadrat ist. Wenn eine Gerade ein Geradenpaar so
schneidet, dass die Summe der Innenwinkel auf einer Seite
der schneidenden Geraden zwei rechte Winkel beträgt,
lässt sich zeigen, dass die Geraden des Paars parallel sind.
Mehr noch, es folgt unmittelbar, dass jede andere das Parallelenpaar schneidende Gerade genau dieselbe Winkeleigenschaft hat. Das ist im Grunde genau das, was wir oben
für die Konstruktion des Quadrats gebraucht haben. Wir
brauchen also in der Tat gerade das Parallelenpostulat,
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☺ [2.1] Man zeige, dass Playfairs Behauptung über die Eindeutigkeit der Parallelen
direkt aus Euklids Form des Parallelenpostulats folgt.
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Der Weg zur Wirklichkeit
wenn wir zeigen wollen, dass unsere Konstruktion ein
Quadrat ergibt, dessen Seiten alle gleich lang und dessen
Winkel alle rechte Winkel sind. Ohne das Parallelenpostulat
können wir nicht beweisen, dass Quadrate (in denen, wie
gewöhnlich, alle Innenwinkel rechte Winkel sind) überhaupt existieren.
Es mag als pure mathematische Pedanterie erscheinen,
wenn wir uns darum sorgen, welche Annahmen gemacht
werden müssen, um die so offensichtliche Existenz eines
Quadrats zu beweisen. Warum sollen wir uns überhaupt
mit solchen Fragen abgeben, wenn doch ein „Quadrat“
einfach diese vertraute, uns allen bekannte Figur ist? Nun,
wir werden bald sehen, dass Euklid außerordentlichen
Scharfsinn bewies, als er sich solche Fragen stellte. Euklids
Pedanterie hat mit einem tiefen Problem zu tun, das die Geo-
Abb. 2.8 (a) Euklids Parallelenpostulat. Die Gerade c schneidet die
Geradenabschnitte a und b so, dass die Innenwinkel dort, wo a beziehungsweise b auf c treffen, zusammen weniger als zwei rechte Winkel
ergeben. Dann schneiden sich a und b, wenn sie hinreichend weit verlängert werden. (b) Playfairs Parallelenaxiom. Wenn in einer Ebene mit
der Geraden a ein Punkt P nicht auf dieser Geraden liegt, dann gibt es
in der Ebene genau eine Parallele zu a, die durch P geht.
http://www.springer.com/978-3-8274-2341-2
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