1 Interview mit Bischof Karl Josef Romer MG: Du warst in der Primarschule oft unterfordert. Was hättest du dir von den Lehrern erhofft oder was hat dir sogar gefallen? KJR: Die Lehrer leisteten damals grossartiges, denn sie mussten oft mehrere Klassen unterschiedlicher Stufen gleichzeitig unterrichten. Dabei bewiesen sie meistens grosse Geduld mit den Schwächeren der Klasse. Ich vermisste jedoch eine spezielle Förderung der wirklich interessierten Schüler, denn schon damals hätte ich darauf gebrannt z. B. eine Fremdsprache zu erlernen. Unser Kaplan hatte einmal mit einem Fremdsprachkurs angefangen, dieser wurde jedoch nach wenigen Lektionen wieder kommentarlos eingestellt. Ausserdem fand ich es sehr bedauerlich, dass die Lehrer, ausser ein paar moralischen Ermahnungen, keine Erklärungen zum Krieg abgaben. Der Bibelunterricht hingegen war weitgehend lehrreich und grundlegend. Er war pädagogisch zwar eher einfach gehalten, doch im Vergleich zu heute, wo oft auf den „Kurzfilm“ ohne pädagogisches Programm zurückgegriffen wird, sehr strukturiert und informativ. MG: Die damalige Zeit war für die Familie auch finanziell schwierig. Wie wurde bestimmt, wer welche Schule besuchen durfte? KJR: Diese Frage drängte sich mit dem Übertritt in die Sekundarschule auf. Damals standen drei Möglichkeiten zur Auswahl, die Sekundarschulen in Kaltbrunn und Uznach oder die Klosterschule in Näfels. Die letzte Möglichkeit war mit nicht unbedeutenden Kosten für die Bahnfahrt und das Mittagessen verbunden. Dass die Eltern mich trotzdem nach Näfels gehen liessen, empfand ich als grosses Vertrauen in meinen Eifer und als Ausdruck Ihrer Grossherzigkeit. Dies war für mich sehr wichtig, da es mir die Möglichkeit bot Latein zu studieren. MG: Was waren die schlimmsten Entbehrungen aufgrund von Weltwirtschaftskrise und zweitem Weltkrieg, welche die Familie zu ertragen hatte? KJR: Es wäre leicht auf viel Negatives zu verweisen. Doch ich sehe diese Entbehrungen im Zusammenhang mit dem Erleben einer harmonischen Familie. Das Gemeinschaftserlebnis einer kämpfenden Familie bildete für mich Grundwerte. Das 2 Baden in der Linth, das Entdecken des Waldes mit dem Vater, das „Spicken“ von kleinen unreifen Äpfeln mit einer biegsamen Rute (unsere Interpretation des Hockeys ?) und die Freude der Eltern über eine gesegnete Ernte waren für mich sehr wichtige Erlebnisse und Erfahrungen. MG: Wie hat die Familie auf das Einrücken des Vaters in den Militärdienst reagiert? KJR: Vor allem für meine Mutter war es eine sehr schwere Zeit. Sie suchte Kraft und Halt im Gebet. Deshalb betete sie viel und hielt auch uns zum Beten an. Ich hingegen war stolz auf meinen Vater und war mir sicher, dass er wieder zurückkommen würde. MG: Was waren die ersten Kontakte zur Kirche und zum christlichen Glauben? KJR: Da das ganze Dorf katholisch war, gab es verschiedene Kontakte. Einerseits waren sicherlich das Gebet in der Familie und der sonntägliche Kirchengang wichtige Kontakte mit dem Glauben. Aber auch das gelungene Zusammenspiel von Religion und Schule, war prägend. Es gab damals noch nicht diesen krankhaften Dualismus zwischen konkretem Glauben und Wissenschaft. MG: Warum hast du dich für ein Studium der Theologie entschieden? KJR: Diese Entscheidung fiel nicht erst nach dem Kollegium, sondern war ein langer innerer Prozess. Mein Wunsch mit 12 Jahren Latein zu erlernen galt schon damals diesem vagen Ziel. Ausserdem waren einige sehr wertvollen Lehrer in Näfels und Appenzell von grossem Einfluss. Besonders in der Philosophie und der Literaturgeschichte die 2 Jahre vor der Matura war der Personenbildung grösstes Interesse geschenkt. Sie begründeten in mir eine Synthese von Glauben und Wissen. MG: Inwiefern hat sich deine Haltung zum Glauben durch dieses Studium geändert? KJR: Selbstverständlich hatte das Theologiestudium vieles zu klären und zu vertiefen. Ein im wahren Sinne kritisches Hinterfragen muss den Glauben nicht schwächen; es kann ihn reinigen (von Nebensächlichkeiten) und vertiefen und stärken. Ich glaubte nicht, weil ich die Menschen in der Kirche als vollkommene 3 betrachtete. Aber ich entdeckte die Macht des Glaubens in den Märtyrern der ersten drei Jahrhunderte. Ich begegnete jener rational nicht voll erklärbaren Energie, die – Welt und Kultur verwandelnd – von Franziskus ausging, und ich erkannte, immer mehr die strahlende Kraft, die von Edith Stein, von Mutter Theresia von Kalkutta und von Modernen Märtyrern ausgeht. Die Macht lässt den Menschen ins Göttliche eindringen, aber sie entzieht ihn nicht der Welt, sondern sie vermenschlicht den Menschen im vollen Sinne. MG: Wieso hast du dich nach dem Studium zum Priester weihen lassen? KJR: Hier gibt es keine punktuelle Antwort, denn es handelt sich um psychische und geistige Entwicklung seit der Kindheit bis zur Matura und bis zum Abschluss der Universität. Es geht um die Grundoption des Lebens, wozu Fragen der Philosophie, der kulturellen Welt mit ihren Zukunftswerten und des christlichen Glaubens als existentielle Totalinanspruchnahme dazugehören. Der Wunsch, die Absicht und das Ziel Priester zu werden entstand in mir schon zwischen der 3.-und 5. Klasse. Dazu trug vieles bei. Einerseits waren die Geborgenheit, das positive Familienklima, gegenseitige Rücksichtnahme, das vorbildliche Verhalten der Eltern und das Familiengebet sehr prägend. Andererseits war ich sehr beeindruckt vom frohen und wohlwollenden Lebensstil des Kaplans Oberholzer. Zudem waren hervorragenden Pädagogen in Sekundarschule und Gymnasium entscheidender Faktor. MG: Wie haben die Familie und Freunde darauf reagiert? KJR: Jeder in unserer Familie musste für seine Berufsausbildung kämpfen. Manch einer meinte vielleicht deshalb: „Was fällt dem ein, nochmals und so lange in die Schule zu gehen?“ Auch später bei der Priesterweihe war der Vater zuerst etwas zurückhaltend. Er riet mir, noch einige Jahre zu warten um mit grösserer Reife diesen Entscheid zu fällen. Doch ich wusste auch, dass meine Mutter grosse Freude hatte über diesen Entscheid. Bei Freunden stellte ich bisweilen ein schiefes Lächeln des Mitleides oder der Enttäuschung fest. Sie priesen die Vorteile anderer Berufe. Sie redeten vom Vielfachem an Einkommen, das in anderen Berufen gesichert sei. Der Priesterberuf, sagten sie, habe nur für speziell Fromme eine Bedeutung, aber nicht für die moderne Welt. Durch mein Philosophiestudium war mir jedoch bewusst, dass solche Argumente tragisch ins Leere liefen. Ich war 4 überzeugt, dass der Priester nicht nur feierliche Sakramente zu zelebrieren hatte. Er musste doch vorerst aus der Weisheit der Menschen und von Gott her auf die letzten Fragen der der armen und reichen Menschen Antwort suchen. MG: Welche Tätigkeiten gefielen dir in der Schweiz am besten? KJR: Am besten hat mir neben der Zusammenarbeit mit Erwachsen die Katechese für Kinder und Jugendliche gefallen. Gerne erinnere ich mich an die Pfadfinderund Jungwachtlager zurück, in welchen das Entdecken der Natur und das gemeinsame Erlebnis im Zentrum standen. Auch das Besuchen von Schwerkranken (manchmal auch mitten in der Nacht) hat mich viel wahrhaft Menschliches gelehrt. Ausserdem erinnere ich mich oft auch an manch nächtliches Gespräch mit Männern, die nach dem Sinn eines schwer geprüften Lebens suchten. MG: Warum hast du dich nach Rio entsenden lassen, obwohl du wusstest, dass du deine Familie für Jahre nicht mehr sehen und sprechen kannst? KJR: Ich liebte meinen Beruf. Aber ich sah darin keine soziale Frage, sondern seit jeher wollte ich mein Handeln vom Glauben her abwägen. Mich beeindrucken folgende Worte vom Apostel Paulus sehr: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige!“ (1 Korintherbrief 9,16). Darum wollte ich eine Zusatzausbildung an der Universität München absolvieren um gut auf den Religionsunterricht an der Kantonsschule vorbereitet zu sein. Es kam aber ganz anders, da mich ein junger Bischof, der kurz vorher nach Salvador in Brasilien versetzt worden war, um Hilfe bat. Er wollte die Gesamte philosophische und theologische Ausbildung des Klerus neu konzipieren. Zuerst erschrak ich, aber ich sah in der Loslösung von Heimat und Familie und im unabschätzbar Neuen ganz konkret den apostolischen Auftrag. MG: Warum wurdest eigentlich für das Amt des Bischofs ausgewählt? KJR: Meine siebenjährige Arbeit in Salvador hat, trotz Anfangsschwierigkeiten, eine positives Echo ausgelöst. Als ich dem inzwischen vom Papst zum Kardinal ernannten Bischof Eugenio Araujo Sales nach Rio folgte, fand ich dort ein grosses Tätigkeitsfeld vor. Mich hat dann vor allem gefreut, dass der Kardinal selbst auf den Gedanken kam mich als Bischof einzusetzen. Priester und Laien unterstützten diese Absicht und so wurde ich am 12. Dezember 1975 zum Bischof geweiht. 5 MG: Was bedeutet für dich das Amt des Bischofes? KJR: Ich setze hier voraus, dass Jesus selber die Apostel einsetzte, und dass diese nach dessen Tod und Auferstehung die Hauptverantwortlichen für die Evangelisierung waren. Ihre Mitarbeiter waren von hoher Bedeutung. So ist die ganze Tradition der Kirche weitergegangen. Die Bischöfe, als Nachfolger der Apostel, sind ins volle Amt der Evangelisierung eingesetzt. Die Priester, Pfarrer, Diakone, usw. sind ihre verantwortungsvollen und unentbehrlichen Mitarbeiter am Evangelium Jesu Christi. In diesem Sinne freute ich mich, denn das Bischofsamt ist die volle Form des Priesteramtes. MG: War dieses Amt in diesen Tätigkeiten hilfreich oder vielleicht manchmal hinderlich? KJR: Das Amt wurde sehr hilfreich. Früh erkannte ich viele sich aufdrängende Änderungen. Vieles davon konnte ich als Bischof leichter durchsetzen, da ich die übrigen Geistlichen zum Mitdenken und Mittun einladen konnte. Darin hatte ich eine wahre Führungsfunktion. MG: Hattest du nie den Wunsch eine eigene Familie zu gründen? KJR: Mir war auch die angeborene Neigung des Mannes eine Familie zu gründen bewusst. Hier liegt eine grundlegende Frage auch meines Lebens. Ich hatte wertvolle geistige Freundschaften auch mit Leuten des anderen Geschlechtes, und habe diese nie aufgegeben. Für mich sind geistige Freundschaften reicher als andere. Dafür allerdings brauchte es ein höheres Ideal, dem man das ganze Leben widmen kann. Dem, der die Kirche nur als fromme Organisation sieht, ist es kaum möglich, eine solche Entscheidung zu verstehen. Man muss hineingewachsen sein in das Urerlebnis der Apostel, die Jesus kannten und anbeteten, und ihm mit vollen Idealismus bis zum Martyrium folgten. MG: Gab es nie einen Moment, indem du an deinem Weg gezweifelt hast? KJR: Gezweifelt nicht, aber ich brauchte neue Sicherheit und Klarheit auf der Basis der Wissenschaft und des Verstandes. Ich versuchte auf den Wegen der oft allzu menschlichen Geschichte der Kirche und ihres Glaubens zurückzufinden bis zu den Spuren der im Martyrium besiegelten Zeugnisse der Apostel. So fand der kritisch suchende Glaube Kraft aus der Quelle, die Jesus selber ist. 6 MG: In seinem Buch über deine Entsendung nach Brasilien schreibt Jean Ziegler: „Den finsteren Kirchenoberen von St. Gallen wird er mit seinem allzu scharfen Urteil bald zur Last. Da greift die Vorsehung ein: In den heissen Tagen des zweiten vatikanischen Konzils sitzt der Bischof von St. Gallen neben dem Primas von Brasilien. Dieser bittet ihn, ihm zur Bekämpfung der marxistischen Subversion in der brasilianischen Kirche einen gebildeten Theologen zu überlassen. Freudig entledigt sich der Bischof von St. Gallen des allzu intelligenten Abbé Romer. (…) (Ziegler, 1990,72) Was haltest du von diesen Aussagen? Wurdest du dem St. Galler Bischof tatsächlich gefährlich? KJR: Ich kenne Dr. Jean Ziegler ziemlich gut und bin ihm in Rio freundschaftlich und mit Takt begegnet. Ich stelle fest, dass seine Büchern gerne sachliche Darstellungen dramatisierend ausschmücken. Ich kannte in meinen Vorgesetzten auch grosse menschliche Werte, wenn ich auch Begrenztheiten sah. Der Grund meiner Versetzung nach Brasilien war jedoch ein ganz anderer. Es war die Sorge um die Kirche Lateinamerikas. Jedoch suchte der Primas von Brasilien keineswegs einen Mann zur Bekämpfung „der marxistischen Subversion“. Diese wurde erst einige Jahre später aktuell, als eine von marxistischen Ideen beeinflusste Befreiungstheologie sich auszubreiten begann. Ausserdem war ich dem St. Galler Bischof nicht zu gefährlich; der bot mir mehrmals wichtige Posten an. MG: Jean Ziegler bezeichnet dich als „ultrakonservativen, glänzenden, starrsinnigen und tief gläubigen Kreuzritter“. Trifft diese Charakterisierung auf dich zu? KJR: Es freut mich, dass dieser Autor in mir einen tiefgläubigen Mann sieht (hoffentlich zurecht). Als Professor müsste er jedoch wissen, dass der wahre Fortschritt aus mutiger Offenheit zum Künftigen und notwendiger Bewahrung bestehender gültiger Werte entsteht. Konservativ und progressiv sind nicht immer gegensätzlich, sondern oft bedingen sie sich gegenseitig. MG: Du warst in Brasilien mit der Priesterausbildung beauftragt. In welchem Zustand fandest du die dafür zuständigen Institutionen vor? KJR: Für das Verständnis der Krise der katholischen Kirche in Brasilien in der Mitte des 20. Jahrhunderts sind zwei Daten wichtig. Einerseits war die katholische Kirche 7 sehr lange die fast einzige Kirche; man erkannte kaum, oder zu spät, die dringenden Forderungen einer andrängenden pluralistischen Welt. Es fehlte oft an brennender geistiger Unruhe und an kirchlichen Strukturen. Andererseits führten im 19. Jahrhundert freimaurerische Kaiser, die Seminareintritte verboten, zu rapider zahlenmässiger Verringerung der Priester und Ordensleute. Und es mangelte an qualifizierten Führungskräften. MG: Was waren die Aufgaben deines Auftrages der Priesterausbildung? KJR: Der erste Auftrag war, einen Teil der systematisch dogmatischen Theologie zu dozieren. Anfangs noch auf Latein, später dann auf Portugiesisch, was mir auch einen Gesamtüberblick über die Lage der Diözese und den Priesternachwuchs verschaffte. Dann holten wir europäische Professoren nach Brasilien und ich bemühte mich gleichzeitig, junge brasilianische Priester in Rom ausbilden zu lassen, damit allmählich eigene Kräfte diese Aufgaben übernehmen konnten. MG: Was hast für Änderungen hast du vorgenommen? KJR: Zum Einen habe ich dafür gesorgt, dass die Bibliothek mit repräsentativer Literatur versehen wurde. Andererseits mussten die Wohnräumlichkeiten und die Ernährung der Studenten verbessert werden. Lokale Unternehmen halfen mit, aber ich musste oft auch Mittel aus der Schweiz beschaffen. Die grösste Änderung, die ich beim Bischof beantragte, war die Abspaltung des Theologiekurses vom Seminar, da er dort zu einem häuslich familiären Betrieb entartet war. Ich gründete, eine von der Seminarleitung unabhängige Theologische Hochschule. Sie unterstand dem Erzbischof und mir mit tüchtigen Professoren. Später wurde sie dann in die katholische Universität eingegliedert, wo solide Ausbildung bis heute funktioniert. Zudem boten wir nun auch theologische Kurse für Laien an, welche sich grosser Beliebtheit erfreuten. MG: Hattest du auch gegen Widerstände zu kämpfen? KJR: Ich versuchte die Widerstände in die Dynamik der Begeisterung über das eben zu Ende gegangene Konzil zu integrieren. Einige sagten mir, dass ich bei meinem Idealismus gar nicht merke, dass erschrockene Leute sich gegen mich stellten. MG: Warst du froh vom etwas abgeschnittenen Bahia nach Rio zu wechseln? 8 KJR: Bahia machte damals eine enorme Entwicklung durch: Erschliessung von Erdölquellen und Planung des enormen Industriezentrums Aratú. Dies führte zu einem rasanten Bevölkerungsanstieg. Im Jahre 1965 waren es etwa 750‘000 Einwohner und im Jahre 2000 schon über 2 Millionen. Enorme Infrastrukturen wurden benötigt. Durch Dialog mit den führenden Schichten, aber auch mit Arbeiterklassen übte die katholische Kirche bedeutenden Einfluss auf die Vermenschlichung dieser gigantischen Projekte. Da ich auch in der Bevölkerung gut ankam, hätte ich gerne auch in Bahia einen Beitrag zur Entwicklung geleistet. MG: Wie kam es zu deinem karitativen Einsatz in den Favelas der Grossstadt Rio? KJR: Meine eigentlichen Tätigkeiten waren an der Universität. Mir wurde klar, dass man keine tiefen Reflexionen über den heiligen und barmherzigen Gott anstellen konnte, wenn man täglich an den hungernden und kranken Menschen vorbeifährt, ohne etwas zu unternehmen. Ich schloss mich dem Bestreben gewisser Gruppen an, die Favelas zu besuchen. Dann organisierten wir Studientage für Unternehmer, Politiker, Arbeiter, Professoren und Studenten, um die wichtigen Personen an einen Tisch zu bringen und etwas Neues in Bewegung zu setzen. So gelang es uns, den Staat zu veranlassen, Infrastrukturprobleme in Favelas zu bearbeiten. MG: Waren die Hilfswerke Teil des Bischofauftrages? KJR: Der Bischof ist in erster Linie Verkünder und Behüter des Evangeliums und nicht ein Sozialarbeiter. Allerdings kann das Evangelium nicht verkündet werden, wenn der Zuhörer an Hunger oder Krankheit leidet. Da auch der Kardinal ein offenes Ohr hatte für diese Anliegen, wurde mit diversen Projekten begonnen. Ein anderes Problem sind die relativ gut organisierten Banden, die sich mit der Polizei regelrechte Schlachten liefern. Hier konnte die katholische Kirche als neutrale Vermittlerin oft Grosses bewirken. MG: Wie ist dein Hilfswerk aufgebaut? KJR: Das hängt je von den verfügbaren Kräften in den Favelas ab. Grundsätzlich braucht es an jedem Ort einen festen Kern, der meist aus 2-4 Schwestern besteht, die wenn möglich inmitten der Favela wohnen. Sie besuchen und betreuen die Menschen und leisten erste Hilfe. Dann versucht man, freiwillige Ärzte für einen 9 Nachmittag pro Woche zu bekommen. Ausserdem werden katechetische Kurse organisiert und die Menschen werden zum gemeinsamen Gebet eingeladen. Mit den Eltern von Kindern ohne Schulbildung wird eine Lösung gesucht. Es wird probiert, die Stadtverwaltung für die Errichtung einer Schule in oder nahe bei der Favela zu gewinnen. Für junge Männer werden verkürzte Berufslehren angeboten. Sicherlich ein grosser Erfolg war die Gründung des katholischen Ärztevereins, weshalb nun viele Ärzte an gewissen Nachmittagen bereit sind, gratis in Favelas zu arbeiten. MG: Was für eine Idee steckt hinter diesen Projekten? KJR: Christlich: Wenn Gott selbst Mensch geworden ist, darf kein Mensch würdelos wie ein Tier vegetieren oder als Verbrecher in der Unterwelt hausen. Jeder der diese Würde erkannt hat, muss sie anderen Menschen schenken. Jeder Mensch hat Anrecht auf volles Menschsein. Der Christ muss den Anruf Christi annehmen. Menschlich: Auch die Ärmsten haben viele Werte in sich, die jedoch zum Teil unter auswegloser Not verschüttet ist. Diese verdrängten Werte der Mutterschaft, der Vaterschaft oder des Jungseins müssen geweckt und geschützt werden. Nur so kann man durch Kurse und Gruppenerlebnisse an der gesamtmenschlichen Bildung arbeiten. Dies ist v.a. für junge Mädchen und Burschen wichtig. MG: Was ist das Ziel dieser Projekte? KJR: a) sofortige Hilfeleistung in Härtefällen b) dem Volke, in dem kein Vertrauen, aber unendlich viel Enttäuschung herrscht, das menschliche Gefühl der Sicherheit zu geben c) Durch das Gebet die Menschen öffnen zum Erkennen ihrer wahren Würde. MG: Wer profitiert von diesen Projekten? KJR: Die Projekte kennen keine Grenzen. Sie sind allen frei zugänglich, da weder nach Herkunft, Religion oder Sprache unterschieden wird. Nicht-Katholischen wird diskret auf Angebote ihres Glaubens hingewiesen und den Katholiken werden unsere religiösen Werke noch zusätzlich zugänglich gemacht. MG: Wie finanziert sich dein Hilfswerk? KJR: Es gibt nun gewisse Projekte, die der Staat mitfinanziert. Der grösste Teil wird aber immer noch von grosszügigen Angehörigen und Bekannten aus der Schweiz 10 und aus Deutschland finanziert. Zudem wären diese Projekte niemals möglich ohne die Hilfe zahlreicher Freiwilliger, Einheimischer. Ob diese Projekte jemals selbsttragend werden, ist schwierig abzuschätzen und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die internationale Wirtschaft macht Druck auf Entwicklungsländer. Wird der Anteil armer Länder am Reichtum der Grossen möglich? Einstweilen ist ein wesentlicher Teil noch abhängig von aussen. Ehemalige Mitarbeiter führen diese Projekte in meinem Sinne und unter meiner Kontrolle weiter. Durch mich müssen immer noch viele Hilfsquellen fliessen. MG: Was sind die grössten Probleme dieser Leute/Strassenkinder? KJR: Die Strassenkinder sind nicht das grösste Problem, sondern die Folge dieser Probleme: - Die Entmenschlichung einer Welt ohne Glauben, ohne Liebe. Das einzige Informationsmittel dieser Leute, das Fernsehen, vermittelt keine wahre Ethik keine verpflichtende Moral. - Die nackte Armut: viele Arbeiter bekommen nur den gesetzlichen Minimallohn von 300 Franken im Monat. Wie soll man dafür Unterkunft, Nahrung, Licht, Wasser und Schultransport der Kinder bezahlen? - Drogenhandel: der Drogenverkauf, der grossenteils in den Favelas abgewickelt wird, nützt die bittere Armut junger Menschen aus. Für den Transport der Drogen bekommen sie ein wenig Geld, während die Drahtzieher in fürstlichen Vierteln an der Copacabana wohnen. - Die religiöse Gleichgültigkeit der Gesellschaft führt dazu, dass die Medien der armen Bevölkerung das Besitztum als Ideal vorzeichnen. Dass der christliche Glauben Halt geben kann, wird verschwiegen, da er in den Privatbereich des Einzelnen verbannt wird. MG: Was hat die Regierung unternommen um die Situation zu verbessern? KJR: Die Regierung hat oft sehr Widersprüchliches getan. 1967 als in Rio etwa 700‘000 in den Favelas wohnten, entschied die Stadtverwaltung die Favelas zu räumen und die Menschen in Sozialwohnungen ausserhalb der Stadt zu verfrachten. Nach 3 Jahren hatte man etwa 100‘000 abgeschoben; als man jedoch nachzählte waren nun plötzlich eine Million Bewohner in den Favelas. In der Zwischenzeit waren neue Flüchtlinge aus dem Norden gekommen, und die 11 Abgeschobenen waren heimlich zurückgekehrt, nachdem sie die Sozialwohnung demontiert hatten. Der Staat hat nun begonnen, teilweise in unsere Projekte zu investieren, und diese werden angesichts der Hilflosigkeit der öffentlichen Hand sehr geschätzt. MG: Auf welche Erfolge deiner Arbeit bist du am meist stolz? KJR: Stolz ist das falsche Wort, denn all diese Projekte wären niemals möglich gewesen ohne zahlreiche freiwillige Helfer. Es gibt aber Episoden, welche mich mit grosser Freude und Dankbarkeit erfüllen. Zum Beispiel die Geschichte einer Studentin, die kurz vor dem Medizinabschluss stand, jedoch kein Geld mehr hatte. Ich half ihr mit meinen knappen Mitteln das Studium zu beenden. Heute arbeitet sie an jedem Mittwochnachmittag gratis für die Armen der Favelas. Meine Investition hat sich dadurch unendlich vielfach zurückbezahlt. MG: Wie hält man dieses Engagement bei einem Problem aus, das sich nie als ganz lösbar zeigt? KJR: Wer liebt, wird es aushalten. Ich habe mich stets an jedem gefreut, dem ich helfen konnte. Aber es belastete mich, die Gesamtlösung überhaupt nicht sehen zu können. Wenn wir jedoch objektiv sind, müssen wir sehen, dass die grossen Ideale unseres Lebens immer relativ unerfüllbar sind in diesem Leben. Für alle Menschen, die wir schätzen und lieben, tragen wir in uns den Wunsch nach wahren Idealen und deren grösserem Glücke. Dass nicht alles erfüllt werden kann, zerstört nicht die grosse Freude an dem, was getan werden darf. Diese geschichtliche Unruhe gehört wesentlich zum christlichen Leben. MG: Was ist die Befreiungstheologie und wann geht diese für die katholische Kirche zu weit? KJR: Die Befreiung des Menschen aus jeder Knechtschaft ist ein Urargument des christlichen Glaubens. Dass Christus sich für die Armen einsetzte ist klar. Es gibt nun aber Befreiungstheologen die einen unbegründbaren Sprung gemacht haben und begannen, mit dem Klassenkampf des Marxismus zu argumentieren. Nach den Begründern des Marxismus ist aber der Hass die eigentliche Treibkraft 12 des Klassenkampfes. Wie sich das mit Jesus vereinbart, haben diese Befreiungstheologen nie erklärt. Deshalb gehen jene radikalen Befreiungstheologen in die falsche Richtung, die den Marxismus als Philosophie einführen wollen. Dies ist ein systematisches Verbrechen gegen die menschliche Freiheit und gegen die Würde des Menschen. Diese Tendenzen haben vielerorts zur geistigen Verarmung geführt. MG: Wer hat dich für den Posten des Generalsekretärs des PFR 1 angefragt und wieso? KJR: Nach meiner 25 jährigen Tätigkeit in Rio als Weihbischof fand der damalige Papst Johannes Paul II., er bräuchte mich in Rom, um in der Frage der Familie auch die speziellen Probleme der Familien in Lateinamerika mit einzubeziehen. Nach einer provisorischen Zusage wurde ich dann auch noch offiziell vom Dikasterium leitenden Kardinal Alfonso López Trujillo angefragt. Da der Papst selber dies wünschte, sagte ich selbstverständlich zu. MG: Wieso gibt es einen PFR und was sind seine Aufgaben? KJR: Am 13. Mai 1981, als das Attentat auf den Papst verübt wurde, trug dieser die Mitteilung mit sich, dass er den päpstlichen Familienrat gründe. Dies war zu einer Zeit als sich die Wenigsten Rechenschaft über die Auswirkungen der Moderne auf die Familie gaben. Es herrscht heute ein Relativismus, der jede unabdingbare Norm aufgibt, und deshalb gilt die Meinung der demokratischen Mehrheit. Natürlich ist Demokratie eine hohe Form der gesellschaftlichen Freiheit, doch sie muss Grenzen haben, welche durch die Evidenz des Naturrechts und der menschlichen Vernunft gegeben sind. Denn auch Hitler wurde demokratisch gewählt, dies rechtfertigt jedoch in keiner Weise seine Entscheidung Millionen von Juden zu ermorden. Genauso unmenschlich ist die „demokratische Entscheidung“, abtreiben zu können. Auch Bestrebungen, gleichgeschlechtliche „Ehen“ zu ermöglichen und die Bipolarität des Menschen zu bestreiten sind heute Probleme unabsehbarer Folgen. Der PFR berät die Bischöfe auf der ganzen Welt in diesen und anderen Fragen der Familie. Ausserdem versucht er die Öffentlichkeit mit sachlichen Informationen zu informieren und für den Erhalt der traditionellen Familie, der Würde des menschlichen Lebens und andere 1 PFR= päpstlicher Familienrat 13 ethische Fragen, welche die Familie betreffen, zu kämpfen. Den die meisten Politiker haben zwar viel Ahnung von Schule, Strassenbau, Infrastrukturprojekten und anderem. Doch haben sie oft auch über grosse philosophische Fragen, wie Familie, Abtreibungen, personale Geschlechtlichkeit, Lebensbeginn und dessen Würde abzustimmen. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit lassen diese sich von verschiedenen Interessengruppen dazu bringen, für Gesetze zu stimmen, die gegen die Evidenz des menschlichen Verstandes sind und der objektiven Natur widersprechen. Der PFR versucht aufzuklären und einen Gegenpol darzustellen. MG: Was waren deine Aufgaben und welche (meist umstrittenen) Themen sind dir am Herzen gelegen? KJR: Die Aufgaben des PFR und ihrer Vertreter bestehen prinzipiell darin, weltweit die Probleme der Familie zu studieren und mit den wichtigen Entscheidungsträgern in Kontakt zu treten. Dabei geht es nicht primär darum eine Idee der katholischen Kirche jemandem aufzuschwatzen, sondern aufklärerische Arbeit zu leisten um das Menschliche und dessen unabdingbaren Wert zu retten. Ein grosses Problem, was mich auch persönlich sehr beschäftigt hat, war die selektive Abtreibung. Vor allem in ärmeren Ländern werden weibliche Nachkommen als Belastung für die Familie angesehen und deshalb abgetrieben. Dies führt dazu, dass in z B. In Indien in den nächsten Jahren etwa 15 Millionen Frauen fehlen werden. In Indien hat nun der zuständige staatliche Minister einen Schritt auf die katholische Kirche zu und auch andere religiöse Gruppen gemacht, um Hilfe zu erbeten, damit dieser Massenmord endlich aufhöre. Prinzipiell lässt sich sagen, dass mir besonders die Themen am Herzen liegen, welche die menschliche Würde berühren. MG: Gibt es bei diesen Themen einen gemeinsamen Nenner? KJR: Ja! Die im Naturrecht festgelegte und von der Lehre Jesu Christi bestärkte Würde des menschlichen Lebens mit seiner absoluten Berufung. MG: Du kritisierst das Verhalten einiger Staaten in diesen Themen (z.B. Abtreibung, Stammzellenforschung). Was ist das Problem ihres Verhaltens, 14 denn die Regierungen sind ja demokratisch gewählt worden und vertreten somit den Willen des Volkes? KJR: Hitler war demokratisch gewählt; er und Stalin haben eine Zeit lang den fehlgeleiteten Willen des Volkes vertreten. Der Wille des Volkes kann jedoch nicht über letzte Grundrechte verfügen: Mord an gewissen Menschengruppen, Unterdrückung menschlicher (auch religiöser) Freiheit. Nehmen wir die Stammzellenforschung. Es handelt sich um ein beispielloses Versagen der Wissenschaftler, denn jeder dieser Wissenschaftler müsste wissen, dass durch die Forschung die Embryonen getötet werden. Wer hat das Recht in menschliche Leben einzugreifen? Zudem haben embryonale Stammzellen bis heute gar keinen Fortschritt erzielt. Die adulten Stammzellen, welche v.a. aus dem But der Nabelschnur gewonnen werden, sind viel erfolgsversprechender und erzeugen zudem keinen Krebs. Es wäre also ohne weiteres möglich zu forschen und dabei menschliches Leben unangetastet zu lassen. MG: Einige Forscher argumentieren, dass ein Embryo noch kein menschliches Leben sei. Warum gilt deiner Meinung nach dieses Argument nicht? KJR: Die Frage ist ob der Embryo wirklich menschliches Leben darstellt. Dazu ist zu sagen, dass mit der Verschmelzung der reifen Eizelle und dem Spermium die gesamte physische Struktur des menschlichen Lebens gegeben ist und nie mehr unterbrochen wird in ihrer natürlichen Entwicklung. Somit ist schon im Embryo genau die Identität des Individuums bis zu Lebensende festgelegt. Deshalb ist es nach den Ergebnissen der modernen Wissenschaft absurd, eine Anzahl Tage festzulegen, in denen die „wachsende Zellansammlung“ noch ein anonymes Wesen sei. Auch die Identität des Embryos an die Einnistung in die Gebärmutter binden zu wollen, ist absurd. MG: Obwohl es gegen die Menschenrechte verstösst, wird es enorm populär. Warum? KJR: Dies ist der Ausdruck des Schlimmsten am Menschen, denn er vergeht sich an einem wehrlosen Geschöpf. Diese Entwicklung ist abgedeckt durch einen juristischen Positivismus, bei dem unangenehme Sachen schön geredet werden. 15 So hat man z. B. in den USA vorerst definiert, der Mensch sei erst nach der Geburt Träger von Rechten und Pflichten. Somit entfällt die philosophische Realitätsfrage: „Was ist das nicht geborene Kind? Ist es schon ein Mensch?“ Dies ermöglichte auch die grausame „Partial Birth Abortion“, bei welcher das geburtsreife Kind im Mutterleib gedreht und an den Füssen gezogen wird, bis das Genick erscheint. Dort wird dann eine Nadel eingeführt und der Kopfinhalt mit hoher Saugkraft herausgesogen. „Das Kind ist dann tot geboren worden.“ MG: Im Lexikon Familie wird die Homosexualität als Privatproblem einer Minderheit beschrieben, welches aufgrund eines inneren ungelösten Konflikts entstanden ist. Sind Homosexuelle anders gesagt psychisch gestörte Menschen? KJR: Meiner Meinung nach ist die Ursächlichkeit der Homosexualität noch nicht genügend erforscht. Sicher ist es aber keine wahre dritte Form der sexuellen Orientierung der Natur, denn oft sind mit der Homosexualität mit viel Leid und Sorge verbunden, welche von den Betroffenen meist verschwiegen werden. Sehr wichtig ist jedoch, dass diese Menschen respektiert und geachtet werden. Auf keinen Fall aber darf die Verbindung von zwei Homosexuellen im öffentlichen Rechte der Ehe ähnlich oder gleich gestellt werden. Dies würde der natürlichen Grundordnung zutiefst widersprechen und die Ehe gröbstens diskriminieren. Stellt doch nur die Ehe zwischen Mann und Frau den Fortbestand der Gesellschaft sicher, im Gegensatz zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Darum sollen Gleichgeschlechtliche in Wertschätzung ihrer Persönlichkeit dem Zivilrecht unterstehen, aber keinen Status im öffentlichen Rechte bekommen. MG: Weichen deine Meinungen manchmal vom offiziellen Kurs des Vatikans ab? KJR: Der offizielle Kurs ist für jeden Katholiken Gewissenspflicht, soweit er das Lehramt der Kirche betrifft und umso mehr, wenn der Papst hinter dieser Aussage steht. Anders sieht es bei den Veröffentlichungen verschiedener vatikansicher Dikasterien. In Einzelpunkten könnte ein Katholik versuchen, durch gediegene Argumente andere Gesichtspunkte zu finden. Von dieser Freiheit habe auch ich schon Gebrauch gemacht. 16 MG: Letztes Jahr bist du zum Kanonikus im Petersdom ernannt worden. Wie kam es zu dieser Ehre? KJR: Ich hatte dies der alleinigen Grossherzigkeit des hl. Vaters zu verdanken, der diese Entscheidung persönlich gefällt hat. Der hl. Vater will damit eine spezielle Wertschätzung oder Anerkennung auszudrücken. MG: Was ist ein Kanonikus und was sind deine Verpflichtungen? KJR: Die Kanoniker, deren Zusammengehörigkeit Kapitel genannt wird, sind eine Jahrhunderte alte Vertrauensgruppe, denen v.a. die würdige Feier des Gottesdienstes anvertraut ist. Der Name „Kanoniker“ stammt vom Wort „canon, canones“, d.h. Kirchengesetzte nach denen diese Priester eine relativ strenge Lebensform zu befolgen hatten. Da sie eine Belohnung bekamen, waren sie aber zu gewissen Zeiten verpflichtet auf alles andere Vermögen zu verzichten und es den Armen und der Kirche zu geben. Ihre Namen wurde in einer Liste im kanonischen Buch eingetragen. Heute gibt es sie in den Basiliken des Papstes und in Bischofskirchen. Die Bischöfe regeln die Verpflichtungen der Kanoniker, in Rom jedoch untersteht die Ordnung dem Papste. Wir haben zu gewissen Stunden im Petersdom das Lob Gottes zu feiern (Laudes, Vesper,…) und mit dem Volk hl. Messen zu feiern. MG: Hat dir die Aufgabe in Rio oder in Rom besser gefallen? KJR: Es sind zwei völlig verschiedene Welten. In Rio hatte ich einen viel engeren Kontakt zu den brennenden Problemen der Gesellschaft und einzelner Menschen. In Rom arbeite ich an Aufgaben, die der gesamten Welt zugute kommen sollen. MG: Wie wird deine Zukunft aussehen und v.a. wo wird sie stattfinden? KJR: Ich bin daran mich von einem gesundheitlichen Rückschlag zu erholen und werde mich dann je nach verfügbaren Kräften entscheiden. Rom als Kulturzentrum ist sehr begeisternd. Ich habe viele Anfragen für Vorträge und geistliche Exerzitien, was mich sehr begeistert, da ich mich gerne mit der Bildung des Menschen befasse. 17 Rio de Janeiro ist ein sehr grosser persönlicher Wunsch von mir, da ich sehr gerne direkt an den begonnenen Projekten weiterarbeiten möchte. Die Schweiz ist natürlich meine erste Heimat. Wenn dorthin ich zurückkehren würde, dann nicht um mich auszuruhen. Ich möchte mich auch hier sinnvoll einbringen. Mein Ideal ist es, Gott noch mehr kennen zu können und den Menschen Licht und Hilfe zu sein. Vielleicht werde ich das Glück haben, einmal bei der Arbeit sterben zu können und den guten Menschen nicht zur Last zu werden. MG: Wieso verwehrt die katholische Kirche den Frauen das Priesteramt? KJR: Dies geht auf die Handlungsweise Jesu Christi zurück, denn er war es, der nur Männer als Apostel ernannte. Die Handlungsweise Jesu basiert aber nicht primär auf soziologischen und kulturellen Motiven der damaligen Zeit. Er wollte damit sicherlich nicht die Frauen diskriminieren, was auch an der Stellung Marias im Christentum ersichtlich ist. Es ist eigentlich nicht die katholische Kirche, die es verwehrt, sondern der Papst will sich einfach nicht über die Handlungsweise Jesu hinweg setzten. MG: Wie ist das Zölibat entstanden und wieso hält die katholische Kirche daran fest? KJR: Das Wort kommt ursprünglich aus dem Latein (caelebs / cáelibis), was den unverheirateten Mann bedeutet. Das Zölibat ist die Standesplicht des Priesters und verpflichtet, unverheiratet und in Keuschheit zu leben. Die Grundlage des Zölibates ist kein Gesetz, sondern das persönliche Beispiel Jesu und darauf hinweisende Schriften. Ausserdem zeigte die Erfahrung, dass Ehelose mehr Hingabe zu ihrem Amt hatten und viele Geistliche schon spontan so lebten. Ich empfinde es aber nicht als „eisernes Festhalten“, sondern als Nachleben des Vorbildes von Jesus Christus. MG: Was ist für dich das wichtigste am Priesteramt? KJR: Die wichtigsten Dinge sind für mich das Gebet, der Dienst, das Verständnis für die Mitmenschen, die Freude, die Klarheit und die Liebe in der Verkündigung. Für mich ist es eine ehrenvolle Aufgabe, die Menschen zu Christus zu führen. 18 Folgendes Zitat veranschaulicht meine Haltung sehr gut: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige!“ (1Kor 9,16). MG: Der Vatikan wird immer wieder kritisiert wegen seiner Haltung zum Thema Exorzismus. Was ist deine Meinung dazu? KJR: Der Vatikan hat allgemein verpflichtende Normen aufgestellt, damit weder der Ernst der Sache unterlaufen, noch die Sache übertrieben wird. Die Praxis und konkrete Anleitung eines Exorzismus bedarf der Bewilligung des Bischofs. MG: Kritiker sagen, dass diese Symptome Ausdruck einer psychischen Störung sind. Warum stimmt das nicht? KJR: Nur eine psychische Störung? Nein! Dagegen sprechen zwei wichtige Gründe: - Einerseits hat Jesus selbst von der Macht des Bösen gesprochen und zwar geht es hier nicht nur um das Böse, sondern vor allem den Bösen. Heute wird oft die Existenz des Satans mit einem Lächeln abgetan. - Andererseits ist es nicht auszuschliessen, dass sich der Satan auch psychischer Krankheit bedient, um eine Person zu quälen oder zu schädigen. MG: Musstest du das sogenannte „rituale romanum“ auch schon anwenden? KJR: Ja, auf den Wunsch von meinem damaligen Chef, dem Pfarrer von St. Otmar und nach Rücksprache mit dem Bischof von St. Gallen. Das Wesentliche ist für mich dabei, möglichst lange an einer Besessenheit zu zweifeln und erst dann zu handeln, wenn die Schulmedizin aufgegeben hat. MG: Wie legitimiert sich der Absolutheitsanspruch des Papstes und wie kann es sein, dass ein Mensch etwas so göttliches für sich beansprucht? KJR: Es gibt keinen Absolutheitsanspruch des Papstes. Absolutismus im Staate führt zu Tyrannei. Dies wäre auch in der Kirche undenkbar. Der oberste Autoritätsanspruch (nicht Absolutheitsanspruch) des Papstes erklärt sich einzig durch Jesus Christus, der den Petrus als verpflichtendes Kriterium in Fragen der Identität der Kirche bestimmte. Diese Macht gilt nur in Glaubens- und Sittenfragen uns ist zudem stark begrenzt. Petrus (der Papst) kann keine Sakramente 19 aufheben, noch einsetzen oder eine durch einen Priester gegebene Sündenvergebung aufheben. Etwas Göttliches kann nicht beansprucht werden, aber es kann einem gegeben sein. Jeder Christ, der ehrlich versucht, nach dem Vorbild Jesu zu leben, trägt jetzt schon etwas Göttliches in sich. MG: Gibt es auch Möglichkeiten auf die Entscheidungen zurückzukommen? KJR: Wenn der Papst im Privaten als Philosoph oder Theologe spricht oder schreibt, dann ist es jederzeit möglich, dass Professoren oder die Instanzen der Kurie Einspruch erheben. Wenn er jedoch „ex cathedra“2 spricht, um der von Jesus übertragenen Pflicht der Stärkung des Glaubens nachzukommen, nicht. MG: Die kath. Kirche bezeichnet sich als einzig wahre Kirche. Was fehlt denn den anderen? KJR: Die kath. Kirche findet es sehr schade, dass Luther entgegen den Festlegungen der hl. Schrift Sakramente relativiert oder abgeschafft hat. Ausserdem hat er die von den Aposteln herkommende Interpretation der Realpräsenz Jesu in der Eucharistie umgedeutet. (Die Beichte hat er nicht abgeschafft, er hat beinahe wöchentlich bis zu seinem Tode gebeichtet). Ebenso ist für die kath. Kirche nicht ersichtlich, wie die anderen Konfessionen die Schriftstellen mit dem Auftrag des Petrusamtes deuten. Die schweren Konflikte in der anglikanischen Kirche („Bischöfinnen“ entgegen einer 2000 jährigen, durch Jesus eingesetzten Tradition) weisen schmerzlich darauf hin, was der Verlust des Papstamtes bedeuten kann. MG: Glaubst du, dass sich abgespaltene Kirchen wieder einmal mit der katholischen Kirche vereinen? Ist die kath. Kirche auch zu Konzessionen bereit? KJR: Ja! Die kath. Kirche hat schon bedeutende Zeichen gesetzt. Die Tendenzen der Ostkirchen und der Protestanten sind sehr wichtig. Papst Johannes Paul II. hat vor Jahren die nicht katholischen Christen aufgerufen, ihm zu helfen und zu zeigen wie er das Papstamt perfekter gestalten solle, um unnötige Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Gewiss es braucht Zeit, da die Trennungen Frucht der Sünde auf allen Seiten waren. 2 ex cathedra=vom geistigen Lehrstuhle aus