Interview mit Bischof Karl Josef Romer

Werbung
1
Interview mit Bischof Karl Josef Romer
MG: Du warst in der Primarschule oft unterfordert. Was hättest du dir von den
Lehrern erhofft oder was hat dir sogar gefallen?
KJR: Die Lehrer leisteten damals grossartiges, denn sie mussten oft mehrere
Klassen unterschiedlicher Stufen gleichzeitig unterrichten. Dabei bewiesen sie
meistens grosse Geduld mit den Schwächeren der Klasse. Ich vermisste jedoch eine
spezielle Förderung der wirklich interessierten Schüler, denn schon damals hätte ich
darauf gebrannt z. B. eine Fremdsprache zu erlernen. Unser Kaplan hatte einmal mit
einem Fremdsprachkurs angefangen, dieser wurde jedoch nach wenigen Lektionen
wieder kommentarlos eingestellt.
Ausserdem fand ich es sehr bedauerlich, dass die Lehrer, ausser ein paar
moralischen Ermahnungen, keine Erklärungen zum Krieg abgaben.
Der Bibelunterricht hingegen war weitgehend lehrreich und grundlegend. Er war
pädagogisch zwar eher einfach gehalten, doch im Vergleich zu heute, wo oft auf den
„Kurzfilm“ ohne pädagogisches Programm zurückgegriffen wird, sehr strukturiert und
informativ.
MG: Die damalige Zeit war für die Familie auch finanziell schwierig. Wie wurde
bestimmt, wer welche Schule besuchen durfte?
KJR: Diese Frage drängte sich mit dem Übertritt in die Sekundarschule auf. Damals
standen drei Möglichkeiten zur Auswahl, die Sekundarschulen in Kaltbrunn und
Uznach oder die Klosterschule in Näfels. Die letzte Möglichkeit war mit nicht
unbedeutenden Kosten für die Bahnfahrt und das Mittagessen verbunden. Dass die
Eltern mich trotzdem nach Näfels gehen liessen, empfand ich als grosses Vertrauen
in meinen Eifer und als Ausdruck Ihrer Grossherzigkeit. Dies war für mich sehr
wichtig, da es mir die Möglichkeit bot Latein zu studieren.
MG: Was waren die schlimmsten Entbehrungen aufgrund von
Weltwirtschaftskrise und zweitem Weltkrieg, welche die Familie zu ertragen
hatte?
KJR: Es wäre leicht auf viel Negatives zu verweisen. Doch ich sehe diese
Entbehrungen im Zusammenhang mit dem Erleben einer harmonischen Familie. Das
Gemeinschaftserlebnis einer kämpfenden Familie bildete für mich Grundwerte. Das
2
Baden in der Linth, das Entdecken des Waldes mit dem Vater, das „Spicken“ von
kleinen unreifen Äpfeln mit einer biegsamen Rute (unsere Interpretation des
Hockeys ?) und die Freude der Eltern über eine gesegnete Ernte waren für mich
sehr wichtige Erlebnisse und Erfahrungen.
MG: Wie hat die Familie auf das Einrücken des Vaters in den Militärdienst
reagiert?
KJR: Vor allem für meine Mutter war es eine sehr schwere Zeit. Sie suchte Kraft und
Halt im Gebet. Deshalb betete sie viel und hielt auch uns zum Beten an. Ich
hingegen war stolz auf meinen Vater und war mir sicher, dass er wieder
zurückkommen würde.
MG: Was waren die ersten Kontakte zur Kirche und zum christlichen Glauben?
KJR: Da das ganze Dorf katholisch war, gab es verschiedene Kontakte. Einerseits
waren sicherlich das Gebet in der Familie und der sonntägliche Kirchengang wichtige
Kontakte mit dem Glauben. Aber auch das gelungene Zusammenspiel von Religion
und Schule, war prägend. Es gab damals noch nicht diesen krankhaften Dualismus
zwischen konkretem Glauben und Wissenschaft.
MG: Warum hast du dich für ein Studium der Theologie entschieden?
KJR: Diese Entscheidung fiel nicht erst nach dem Kollegium, sondern war ein langer
innerer Prozess. Mein Wunsch mit 12 Jahren Latein zu erlernen galt schon damals
diesem vagen Ziel. Ausserdem waren einige sehr wertvollen Lehrer in Näfels und
Appenzell von grossem Einfluss. Besonders in der Philosophie und der
Literaturgeschichte die 2 Jahre vor der Matura war der Personenbildung
grösstes Interesse geschenkt. Sie begründeten in mir eine Synthese von Glauben
und Wissen.
MG: Inwiefern hat sich deine Haltung zum Glauben durch dieses Studium
geändert?
KJR: Selbstverständlich hatte das Theologiestudium vieles zu klären und zu
vertiefen. Ein im wahren Sinne kritisches Hinterfragen muss den Glauben nicht
schwächen; es kann ihn reinigen (von Nebensächlichkeiten) und vertiefen und
stärken. Ich glaubte nicht, weil ich die Menschen in der Kirche als vollkommene
3
betrachtete. Aber ich entdeckte die Macht des Glaubens in den Märtyrern der ersten
drei Jahrhunderte. Ich begegnete jener rational nicht voll erklärbaren Energie,
die – Welt und Kultur verwandelnd – von Franziskus ausging, und ich erkannte,
immer mehr die strahlende Kraft, die von Edith Stein, von Mutter Theresia von
Kalkutta und von Modernen Märtyrern ausgeht. Die Macht lässt den Menschen
ins Göttliche eindringen, aber sie entzieht ihn nicht der Welt, sondern sie
vermenschlicht den Menschen im vollen Sinne.
MG: Wieso hast du dich nach dem Studium zum Priester weihen lassen?
KJR: Hier gibt es keine punktuelle Antwort, denn es handelt sich um psychische
und geistige Entwicklung seit der Kindheit bis zur Matura und bis zum Abschluss der
Universität. Es geht um die Grundoption des Lebens, wozu Fragen der
Philosophie, der kulturellen Welt mit ihren Zukunftswerten und des christlichen
Glaubens als existentielle Totalinanspruchnahme dazugehören. Der Wunsch, die
Absicht und das Ziel Priester zu werden entstand in mir schon zwischen der 3.-und 5.
Klasse. Dazu trug vieles bei. Einerseits waren die Geborgenheit, das positive
Familienklima, gegenseitige Rücksichtnahme, das vorbildliche Verhalten der Eltern
und das Familiengebet sehr prägend. Andererseits war ich sehr beeindruckt vom
frohen und wohlwollenden Lebensstil des Kaplans Oberholzer. Zudem waren
hervorragenden Pädagogen in Sekundarschule und Gymnasium entscheidender
Faktor.
MG: Wie haben die Familie und Freunde darauf reagiert?
KJR: Jeder in unserer Familie musste für seine Berufsausbildung kämpfen. Manch
einer meinte vielleicht deshalb: „Was fällt dem ein, nochmals und so lange in die
Schule zu gehen?“ Auch später bei der Priesterweihe war der Vater zuerst etwas
zurückhaltend. Er riet mir, noch einige Jahre zu warten um mit grösserer Reife
diesen Entscheid zu fällen. Doch ich wusste auch, dass meine Mutter grosse Freude
hatte über diesen Entscheid. Bei Freunden stellte ich bisweilen ein schiefes
Lächeln des Mitleides oder der Enttäuschung fest. Sie priesen die Vorteile anderer
Berufe. Sie redeten vom Vielfachem an Einkommen, das in anderen Berufen
gesichert sei. Der Priesterberuf, sagten sie, habe nur für speziell Fromme eine
Bedeutung, aber nicht für die moderne Welt. Durch mein Philosophiestudium war mir
jedoch bewusst, dass solche Argumente tragisch ins Leere liefen. Ich war
4
überzeugt, dass der Priester nicht nur feierliche Sakramente zu zelebrieren
hatte. Er musste doch vorerst aus der Weisheit der Menschen und von Gott her
auf die letzten Fragen der der armen und reichen Menschen Antwort suchen.
MG: Welche Tätigkeiten gefielen dir in der Schweiz am besten?
KJR: Am besten hat mir neben der Zusammenarbeit mit Erwachsen die Katechese
für Kinder und Jugendliche gefallen. Gerne erinnere ich mich an die Pfadfinderund Jungwachtlager zurück, in welchen das Entdecken der Natur und das
gemeinsame Erlebnis im Zentrum standen. Auch das Besuchen von Schwerkranken
(manchmal auch mitten in der Nacht) hat mich viel wahrhaft Menschliches gelehrt.
Ausserdem erinnere ich mich oft auch an manch nächtliches Gespräch mit Männern,
die nach dem Sinn eines schwer geprüften Lebens suchten.
MG: Warum hast du dich nach Rio entsenden lassen, obwohl du wusstest,
dass du deine Familie für Jahre nicht mehr sehen und sprechen kannst?
KJR: Ich liebte meinen Beruf. Aber ich sah darin keine soziale Frage, sondern seit
jeher wollte ich mein Handeln vom Glauben her abwägen. Mich beeindrucken
folgende Worte vom Apostel Paulus sehr: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht
predige!“ (1 Korintherbrief 9,16). Darum wollte ich eine Zusatzausbildung an der
Universität München absolvieren um gut auf den Religionsunterricht an der
Kantonsschule vorbereitet zu sein. Es kam aber ganz anders, da mich ein junger
Bischof, der kurz vorher nach Salvador in Brasilien versetzt worden war, um Hilfe bat.
Er wollte die Gesamte philosophische und theologische Ausbildung des Klerus neu
konzipieren. Zuerst erschrak ich, aber ich sah in der Loslösung von Heimat und
Familie und im unabschätzbar Neuen ganz konkret den apostolischen Auftrag.
MG: Warum wurdest eigentlich für das Amt des Bischofs ausgewählt?
KJR: Meine siebenjährige Arbeit in Salvador hat, trotz Anfangsschwierigkeiten, eine
positives Echo ausgelöst. Als ich dem inzwischen vom Papst zum Kardinal ernannten
Bischof Eugenio Araujo Sales nach Rio folgte, fand ich dort ein grosses Tätigkeitsfeld
vor. Mich hat dann vor allem gefreut, dass der Kardinal selbst auf den Gedanken
kam mich als Bischof einzusetzen. Priester und Laien unterstützten diese Absicht
und so wurde ich am 12. Dezember 1975 zum Bischof geweiht.
5
MG: Was bedeutet für dich das Amt des Bischofes?
KJR: Ich setze hier voraus, dass Jesus selber die Apostel einsetzte, und dass
diese nach dessen Tod und Auferstehung die Hauptverantwortlichen für die
Evangelisierung waren. Ihre Mitarbeiter waren von hoher Bedeutung. So ist die
ganze Tradition der Kirche weitergegangen. Die Bischöfe, als Nachfolger der
Apostel, sind ins volle Amt der Evangelisierung eingesetzt. Die Priester, Pfarrer,
Diakone, usw. sind ihre verantwortungsvollen und unentbehrlichen Mitarbeiter am
Evangelium Jesu Christi. In diesem Sinne freute ich mich, denn das Bischofsamt
ist die volle Form des Priesteramtes.
MG: War dieses Amt in diesen Tätigkeiten hilfreich oder vielleicht manchmal
hinderlich?
KJR: Das Amt wurde sehr hilfreich. Früh erkannte ich viele sich aufdrängende
Änderungen. Vieles davon konnte ich als Bischof leichter durchsetzen, da ich
die übrigen Geistlichen zum Mitdenken und Mittun einladen konnte. Darin hatte
ich eine wahre Führungsfunktion.
MG: Hattest du nie den Wunsch eine eigene Familie zu gründen?
KJR: Mir war auch die angeborene Neigung des Mannes eine Familie zu
gründen bewusst. Hier liegt eine grundlegende Frage auch meines Lebens. Ich
hatte wertvolle geistige Freundschaften auch mit Leuten des anderen Geschlechtes,
und habe diese nie aufgegeben. Für mich sind geistige Freundschaften reicher als
andere. Dafür allerdings brauchte es ein höheres Ideal, dem man das ganze
Leben widmen kann. Dem, der die Kirche nur als fromme Organisation sieht, ist
es kaum möglich, eine solche Entscheidung zu verstehen. Man muss
hineingewachsen sein in das Urerlebnis der Apostel, die Jesus kannten und
anbeteten, und ihm mit vollen Idealismus bis zum Martyrium folgten.
MG: Gab es nie einen Moment, indem du an deinem Weg gezweifelt hast?
KJR: Gezweifelt nicht, aber ich brauchte neue Sicherheit und Klarheit auf der Basis
der Wissenschaft und des Verstandes. Ich versuchte auf den Wegen der oft allzu
menschlichen Geschichte der Kirche und ihres Glaubens zurückzufinden bis zu
den Spuren der im Martyrium besiegelten Zeugnisse der Apostel. So fand der
kritisch suchende Glaube Kraft aus der Quelle, die Jesus selber ist.
6
MG: In seinem Buch über deine Entsendung nach Brasilien schreibt Jean
Ziegler: „Den finsteren Kirchenoberen von St. Gallen wird er mit seinem allzu
scharfen Urteil bald zur Last. Da greift die Vorsehung ein: In den heissen Tagen
des zweiten vatikanischen Konzils sitzt der Bischof von St. Gallen neben dem
Primas von Brasilien. Dieser bittet ihn, ihm zur Bekämpfung der marxistischen
Subversion in der brasilianischen Kirche einen gebildeten Theologen zu
überlassen. Freudig entledigt sich der Bischof von St. Gallen des allzu
intelligenten Abbé Romer. (…) (Ziegler, 1990,72) Was haltest du von diesen
Aussagen? Wurdest du dem St. Galler Bischof tatsächlich gefährlich?
KJR: Ich kenne Dr. Jean Ziegler ziemlich gut und bin ihm in Rio freundschaftlich und
mit Takt begegnet. Ich stelle fest, dass seine Büchern gerne sachliche
Darstellungen dramatisierend ausschmücken. Ich kannte in meinen Vorgesetzten
auch grosse menschliche Werte, wenn ich auch Begrenztheiten sah. Der Grund
meiner Versetzung nach Brasilien war jedoch ein ganz anderer. Es war die
Sorge um die Kirche Lateinamerikas. Jedoch suchte der Primas von Brasilien
keineswegs einen Mann zur Bekämpfung „der marxistischen Subversion“. Diese
wurde erst einige Jahre später aktuell, als eine von marxistischen Ideen beeinflusste
Befreiungstheologie sich auszubreiten begann. Ausserdem war ich dem St. Galler
Bischof nicht zu gefährlich; der bot mir mehrmals wichtige Posten an.
MG: Jean Ziegler bezeichnet dich als „ultrakonservativen, glänzenden,
starrsinnigen und tief gläubigen Kreuzritter“. Trifft diese Charakterisierung auf
dich zu?
KJR: Es freut mich, dass dieser Autor in mir einen tiefgläubigen Mann sieht
(hoffentlich zurecht). Als Professor müsste er jedoch wissen, dass der wahre
Fortschritt aus mutiger Offenheit zum Künftigen und notwendiger Bewahrung
bestehender gültiger Werte entsteht. Konservativ und progressiv sind nicht
immer gegensätzlich, sondern oft bedingen sie sich gegenseitig.
MG: Du warst in Brasilien mit der Priesterausbildung beauftragt. In welchem
Zustand fandest du die dafür zuständigen Institutionen vor?
KJR: Für das Verständnis der Krise der katholischen Kirche in Brasilien in der Mitte
des 20. Jahrhunderts sind zwei Daten wichtig. Einerseits war die katholische Kirche
7
sehr lange die fast einzige Kirche; man erkannte kaum, oder zu spät, die
dringenden Forderungen einer andrängenden pluralistischen Welt. Es fehlte oft
an brennender geistiger Unruhe und an kirchlichen Strukturen. Andererseits
führten im 19. Jahrhundert freimaurerische Kaiser, die Seminareintritte verboten,
zu rapider zahlenmässiger Verringerung der Priester und Ordensleute. Und es
mangelte an qualifizierten Führungskräften.
MG: Was waren die Aufgaben deines Auftrages der Priesterausbildung?
KJR: Der erste Auftrag war, einen Teil der systematisch dogmatischen Theologie zu
dozieren. Anfangs noch auf Latein, später dann auf Portugiesisch, was mir auch
einen Gesamtüberblick über die Lage der Diözese und den Priesternachwuchs
verschaffte. Dann holten wir europäische Professoren nach Brasilien und ich
bemühte mich gleichzeitig, junge brasilianische Priester in Rom ausbilden zu lassen,
damit allmählich eigene Kräfte diese Aufgaben übernehmen konnten.
MG: Was hast für Änderungen hast du vorgenommen?
KJR: Zum Einen habe ich dafür gesorgt, dass die Bibliothek mit repräsentativer
Literatur versehen wurde. Andererseits mussten die Wohnräumlichkeiten und die
Ernährung der Studenten verbessert werden. Lokale Unternehmen halfen mit, aber
ich musste oft auch Mittel aus der Schweiz beschaffen.
Die grösste Änderung, die ich beim Bischof beantragte, war die Abspaltung des
Theologiekurses vom Seminar, da er dort zu einem häuslich familiären Betrieb
entartet war. Ich gründete, eine von der Seminarleitung unabhängige
Theologische Hochschule. Sie unterstand dem Erzbischof und mir mit tüchtigen
Professoren. Später wurde sie dann in die katholische Universität eingegliedert, wo
solide Ausbildung bis heute funktioniert. Zudem boten wir nun auch theologische
Kurse für Laien an, welche sich grosser Beliebtheit erfreuten.
MG: Hattest du auch gegen Widerstände zu kämpfen?
KJR: Ich versuchte die Widerstände in die Dynamik der Begeisterung über das eben
zu Ende gegangene Konzil zu integrieren. Einige sagten mir, dass ich bei meinem
Idealismus gar nicht merke, dass erschrockene Leute sich gegen mich stellten.
MG: Warst du froh vom etwas abgeschnittenen Bahia nach Rio zu wechseln?
8
KJR: Bahia machte damals eine enorme Entwicklung durch: Erschliessung von
Erdölquellen und Planung des enormen Industriezentrums Aratú. Dies führte
zu einem rasanten Bevölkerungsanstieg. Im Jahre 1965 waren es etwa 750‘000
Einwohner und im Jahre 2000 schon über 2 Millionen. Enorme Infrastrukturen
wurden benötigt. Durch Dialog mit den führenden Schichten, aber auch mit
Arbeiterklassen übte die katholische Kirche bedeutenden Einfluss auf die
Vermenschlichung dieser gigantischen Projekte. Da ich auch in der Bevölkerung
gut ankam, hätte ich gerne auch in Bahia einen Beitrag zur Entwicklung geleistet.
MG: Wie kam es zu deinem karitativen Einsatz in den Favelas der Grossstadt
Rio?
KJR: Meine eigentlichen Tätigkeiten waren an der Universität. Mir wurde klar, dass
man keine tiefen Reflexionen über den heiligen und barmherzigen Gott anstellen
konnte, wenn man täglich an den hungernden und kranken Menschen vorbeifährt,
ohne etwas zu unternehmen. Ich schloss mich dem Bestreben gewisser Gruppen an,
die Favelas zu besuchen. Dann organisierten wir Studientage für Unternehmer,
Politiker, Arbeiter, Professoren und Studenten, um die wichtigen Personen an einen
Tisch zu bringen und etwas Neues in Bewegung zu setzen. So gelang es uns, den
Staat zu veranlassen, Infrastrukturprobleme in Favelas zu bearbeiten.
MG: Waren die Hilfswerke Teil des Bischofauftrages?
KJR: Der Bischof ist in erster Linie Verkünder und Behüter des Evangeliums und
nicht ein Sozialarbeiter. Allerdings kann das Evangelium nicht verkündet werden,
wenn der Zuhörer an Hunger oder Krankheit leidet. Da auch der Kardinal ein offenes
Ohr hatte für diese Anliegen, wurde mit diversen Projekten begonnen. Ein anderes
Problem sind die relativ gut organisierten Banden, die sich mit der Polizei regelrechte
Schlachten liefern. Hier konnte die katholische Kirche als neutrale Vermittlerin oft
Grosses bewirken.
MG: Wie ist dein Hilfswerk aufgebaut?
KJR: Das hängt je von den verfügbaren Kräften in den Favelas ab. Grundsätzlich
braucht es an jedem Ort einen festen Kern, der meist aus 2-4 Schwestern besteht,
die wenn möglich inmitten der Favela wohnen. Sie besuchen und betreuen die
Menschen und leisten erste Hilfe. Dann versucht man, freiwillige Ärzte für einen
9
Nachmittag pro Woche zu bekommen. Ausserdem werden katechetische Kurse
organisiert und die Menschen werden zum gemeinsamen Gebet eingeladen. Mit den
Eltern von Kindern ohne Schulbildung wird eine Lösung gesucht. Es wird probiert, die
Stadtverwaltung für die Errichtung einer Schule in oder nahe bei der Favela zu
gewinnen. Für junge Männer werden verkürzte Berufslehren angeboten. Sicherlich
ein grosser Erfolg war die Gründung des katholischen Ärztevereins, weshalb nun
viele Ärzte an gewissen Nachmittagen bereit sind, gratis in Favelas zu arbeiten.
MG: Was für eine Idee steckt hinter diesen Projekten?
KJR: Christlich: Wenn Gott selbst Mensch geworden ist, darf kein Mensch würdelos
wie ein Tier vegetieren oder als Verbrecher in der Unterwelt hausen. Jeder der diese
Würde erkannt hat, muss sie anderen Menschen schenken. Jeder Mensch hat
Anrecht auf volles Menschsein. Der Christ muss den Anruf Christi annehmen.
Menschlich: Auch die Ärmsten haben viele Werte in sich, die jedoch zum Teil unter
auswegloser Not verschüttet ist. Diese verdrängten Werte der Mutterschaft, der
Vaterschaft oder des Jungseins müssen geweckt und geschützt werden. Nur so
kann man durch Kurse und Gruppenerlebnisse an der gesamtmenschlichen Bildung
arbeiten. Dies ist v.a. für junge Mädchen und Burschen wichtig.
MG: Was ist das Ziel dieser Projekte?
KJR: a) sofortige Hilfeleistung in Härtefällen
b) dem Volke, in dem kein Vertrauen, aber unendlich viel Enttäuschung herrscht, das
menschliche Gefühl der Sicherheit zu geben
c) Durch das Gebet die Menschen öffnen zum Erkennen ihrer wahren Würde.
MG: Wer profitiert von diesen Projekten?
KJR: Die Projekte kennen keine Grenzen. Sie sind allen frei zugänglich, da weder
nach Herkunft, Religion oder Sprache unterschieden wird. Nicht-Katholischen wird
diskret auf Angebote ihres Glaubens hingewiesen und den Katholiken werden unsere
religiösen Werke noch zusätzlich zugänglich gemacht.
MG: Wie finanziert sich dein Hilfswerk?
KJR: Es gibt nun gewisse Projekte, die der Staat mitfinanziert. Der grösste Teil wird
aber immer noch von grosszügigen Angehörigen und Bekannten aus der Schweiz
10
und aus Deutschland finanziert. Zudem wären diese Projekte niemals möglich ohne
die Hilfe zahlreicher Freiwilliger, Einheimischer. Ob diese Projekte
jemals
selbsttragend werden, ist schwierig abzuschätzen und hängt von verschiedenen
Faktoren ab. Die internationale Wirtschaft macht Druck auf Entwicklungsländer.
Wird der Anteil armer Länder am Reichtum der Grossen möglich? Einstweilen
ist ein wesentlicher Teil noch abhängig von aussen.
Ehemalige Mitarbeiter führen diese Projekte in meinem Sinne und unter meiner
Kontrolle weiter. Durch mich müssen immer noch viele Hilfsquellen fliessen.
MG: Was sind die grössten Probleme dieser Leute/Strassenkinder?
KJR: Die Strassenkinder sind nicht das grösste Problem, sondern die Folge dieser
Probleme:
-
Die Entmenschlichung einer Welt ohne Glauben, ohne Liebe. Das einzige
Informationsmittel dieser Leute, das Fernsehen, vermittelt keine wahre Ethik
keine verpflichtende Moral.
-
Die nackte Armut: viele Arbeiter bekommen nur den gesetzlichen Minimallohn
von 300 Franken im Monat. Wie soll man dafür Unterkunft, Nahrung, Licht,
Wasser und Schultransport der Kinder bezahlen?
-
Drogenhandel: der Drogenverkauf, der grossenteils in den Favelas
abgewickelt wird, nützt die bittere Armut junger Menschen aus. Für den
Transport der Drogen bekommen sie ein wenig Geld, während die Drahtzieher
in fürstlichen Vierteln an der Copacabana wohnen.
-
Die religiöse Gleichgültigkeit der Gesellschaft führt dazu, dass die Medien der
armen Bevölkerung das Besitztum als Ideal vorzeichnen. Dass der christliche
Glauben Halt geben kann, wird verschwiegen, da er in den Privatbereich des
Einzelnen verbannt wird.
MG: Was hat die Regierung unternommen um die Situation zu verbessern?
KJR: Die Regierung hat oft sehr Widersprüchliches getan. 1967 als in Rio etwa
700‘000 in den Favelas wohnten, entschied die Stadtverwaltung die Favelas zu
räumen und die Menschen in Sozialwohnungen ausserhalb der Stadt zu
verfrachten. Nach 3 Jahren hatte man etwa 100‘000 abgeschoben; als man
jedoch nachzählte waren nun plötzlich eine Million Bewohner in den Favelas. In
der Zwischenzeit waren neue Flüchtlinge aus dem Norden gekommen, und die
11
Abgeschobenen
waren
heimlich
zurückgekehrt,
nachdem
sie
die
Sozialwohnung demontiert hatten.
Der Staat hat nun begonnen, teilweise in unsere Projekte zu investieren, und
diese werden angesichts der Hilflosigkeit der öffentlichen Hand sehr geschätzt.
MG: Auf welche Erfolge deiner Arbeit bist du am meist stolz?
KJR: Stolz ist das falsche Wort, denn all diese Projekte wären niemals möglich
gewesen ohne zahlreiche freiwillige Helfer. Es gibt aber Episoden, welche mich
mit grosser Freude und Dankbarkeit erfüllen. Zum Beispiel die Geschichte einer
Studentin, die kurz vor dem Medizinabschluss stand, jedoch kein Geld mehr
hatte. Ich half ihr mit meinen knappen Mitteln das Studium zu beenden. Heute
arbeitet sie an jedem Mittwochnachmittag gratis für die Armen der Favelas. Meine
Investition hat sich dadurch unendlich vielfach zurückbezahlt.
MG: Wie hält man dieses Engagement bei einem Problem aus, das sich nie
als ganz lösbar zeigt?
KJR: Wer liebt, wird es aushalten. Ich habe mich stets an jedem gefreut, dem ich
helfen konnte. Aber es belastete mich, die Gesamtlösung überhaupt nicht sehen
zu können. Wenn wir jedoch objektiv sind, müssen wir sehen, dass die grossen
Ideale unseres Lebens immer relativ unerfüllbar sind in diesem Leben. Für alle
Menschen, die wir schätzen und lieben, tragen wir in uns den Wunsch nach
wahren Idealen und deren grösserem Glücke. Dass nicht alles erfüllt werden
kann, zerstört nicht die grosse Freude an dem, was getan werden darf. Diese
geschichtliche Unruhe gehört wesentlich zum christlichen Leben.
MG: Was ist die Befreiungstheologie und wann geht diese für die
katholische Kirche zu weit?
KJR: Die Befreiung des Menschen aus jeder Knechtschaft ist ein Urargument des
christlichen Glaubens. Dass Christus sich für die Armen einsetzte ist klar. Es gibt
nun aber Befreiungstheologen die einen unbegründbaren Sprung gemacht haben
und begannen, mit dem Klassenkampf des Marxismus zu argumentieren. Nach
den Begründern des Marxismus ist aber der Hass die eigentliche Treibkraft
12
des Klassenkampfes. Wie sich das mit Jesus vereinbart, haben diese
Befreiungstheologen nie erklärt.
Deshalb gehen jene radikalen Befreiungstheologen in die falsche Richtung, die
den Marxismus als Philosophie einführen wollen. Dies ist ein systematisches
Verbrechen gegen die menschliche Freiheit und gegen die Würde des
Menschen. Diese Tendenzen haben vielerorts zur geistigen Verarmung geführt.
MG: Wer hat dich für den Posten des Generalsekretärs des PFR 1 angefragt
und wieso?
KJR: Nach meiner 25 jährigen Tätigkeit in Rio als Weihbischof fand der damalige
Papst Johannes Paul II., er bräuchte mich in Rom, um in der Frage der Familie
auch die speziellen Probleme der Familien in Lateinamerika mit einzubeziehen.
Nach einer provisorischen Zusage wurde ich dann auch noch offiziell vom
Dikasterium leitenden Kardinal Alfonso López Trujillo angefragt. Da der Papst
selber dies wünschte, sagte ich selbstverständlich zu.
MG: Wieso gibt es einen PFR und was sind seine Aufgaben?
KJR: Am 13. Mai 1981, als das Attentat auf den Papst verübt wurde, trug dieser
die Mitteilung mit sich, dass er den päpstlichen Familienrat gründe. Dies war zu
einer Zeit als sich die Wenigsten Rechenschaft über die Auswirkungen der
Moderne auf die Familie gaben. Es herrscht heute ein Relativismus, der jede
unabdingbare Norm aufgibt, und deshalb gilt die Meinung der demokratischen
Mehrheit. Natürlich ist Demokratie eine hohe Form der gesellschaftlichen Freiheit,
doch sie muss Grenzen haben, welche durch die Evidenz des Naturrechts und
der menschlichen Vernunft gegeben sind. Denn auch Hitler wurde demokratisch
gewählt, dies rechtfertigt jedoch in keiner Weise seine Entscheidung Millionen von
Juden
zu
ermorden.
Genauso
unmenschlich
ist
die
„demokratische
Entscheidung“, abtreiben zu können. Auch Bestrebungen, gleichgeschlechtliche
„Ehen“ zu ermöglichen und die Bipolarität des Menschen zu bestreiten sind
heute Probleme unabsehbarer Folgen. Der PFR berät die Bischöfe auf der
ganzen Welt in diesen und anderen Fragen der Familie. Ausserdem versucht er
die Öffentlichkeit mit sachlichen Informationen zu informieren und für den Erhalt
der traditionellen Familie, der Würde des menschlichen Lebens und andere
1 PFR=
päpstlicher Familienrat
13
ethische Fragen, welche die Familie betreffen, zu kämpfen. Den die meisten
Politiker haben zwar viel Ahnung von Schule, Strassenbau, Infrastrukturprojekten
und anderem. Doch haben sie oft auch über grosse philosophische Fragen, wie
Familie, Abtreibungen, personale Geschlechtlichkeit, Lebensbeginn und dessen
Würde abzustimmen. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit lassen diese sich von
verschiedenen Interessengruppen dazu bringen, für Gesetze zu stimmen, die
gegen die Evidenz des menschlichen Verstandes sind und der objektiven Natur
widersprechen. Der PFR versucht aufzuklären und einen Gegenpol darzustellen.
MG: Was waren deine Aufgaben und welche (meist umstrittenen) Themen
sind dir am Herzen gelegen?
KJR: Die Aufgaben des PFR und ihrer Vertreter bestehen prinzipiell darin,
weltweit die Probleme der Familie zu studieren und mit den wichtigen
Entscheidungsträgern in Kontakt zu treten. Dabei geht es nicht primär darum eine
Idee der katholischen Kirche jemandem aufzuschwatzen, sondern aufklärerische
Arbeit zu leisten um das Menschliche und dessen unabdingbaren Wert zu retten.
Ein grosses Problem, was mich auch persönlich sehr beschäftigt hat, war die
selektive Abtreibung. Vor allem in ärmeren Ländern werden weibliche
Nachkommen als Belastung für die Familie angesehen und deshalb abgetrieben.
Dies führt dazu, dass in z B. In Indien in den nächsten Jahren etwa 15 Millionen
Frauen fehlen werden. In Indien hat nun der zuständige staatliche Minister einen
Schritt auf die katholische Kirche zu und auch andere religiöse Gruppen gemacht,
um Hilfe zu erbeten, damit dieser Massenmord endlich aufhöre. Prinzipiell lässt
sich sagen, dass mir besonders die Themen am Herzen liegen, welche die
menschliche Würde berühren.
MG: Gibt es bei diesen Themen einen gemeinsamen Nenner?
KJR: Ja! Die im Naturrecht festgelegte und von der Lehre Jesu Christi bestärkte
Würde des menschlichen Lebens mit seiner absoluten Berufung.
MG: Du kritisierst das Verhalten einiger Staaten in diesen Themen (z.B.
Abtreibung, Stammzellenforschung). Was ist das Problem ihres Verhaltens,
14
denn die Regierungen sind ja demokratisch gewählt worden und vertreten
somit den Willen des Volkes?
KJR: Hitler war demokratisch gewählt; er und Stalin haben eine Zeit lang den
fehlgeleiteten Willen des Volkes vertreten. Der Wille des Volkes kann jedoch
nicht über letzte Grundrechte verfügen: Mord an gewissen Menschengruppen,
Unterdrückung menschlicher (auch religiöser) Freiheit. Nehmen wir die
Stammzellenforschung. Es handelt sich um ein beispielloses Versagen der
Wissenschaftler, denn jeder dieser Wissenschaftler müsste wissen, dass durch
die Forschung die Embryonen getötet werden. Wer hat das Recht in menschliche
Leben einzugreifen? Zudem haben embryonale Stammzellen bis heute gar
keinen Fortschritt erzielt. Die adulten Stammzellen, welche v.a. aus dem But der
Nabelschnur gewonnen werden, sind viel erfolgsversprechender und erzeugen
zudem keinen Krebs. Es wäre also ohne weiteres möglich zu forschen und dabei
menschliches Leben unangetastet zu lassen.
MG:
Einige
Forscher
argumentieren, dass
ein
Embryo noch
kein
menschliches Leben sei. Warum gilt deiner Meinung nach dieses Argument
nicht?
KJR: Die Frage ist ob der Embryo wirklich menschliches Leben darstellt. Dazu
ist zu sagen, dass mit der Verschmelzung der reifen Eizelle und dem Spermium
die gesamte physische Struktur des menschlichen Lebens gegeben ist und nie
mehr unterbrochen wird in ihrer natürlichen Entwicklung. Somit ist schon im
Embryo genau die Identität des Individuums bis zu Lebensende festgelegt.
Deshalb ist es nach den Ergebnissen der modernen Wissenschaft absurd, eine
Anzahl Tage festzulegen, in denen die „wachsende Zellansammlung“ noch ein
anonymes Wesen sei. Auch die Identität des Embryos an die Einnistung in die
Gebärmutter binden zu wollen, ist absurd.
MG: Obwohl es gegen die Menschenrechte verstösst, wird es enorm
populär. Warum?
KJR: Dies ist der Ausdruck des Schlimmsten am Menschen, denn er vergeht sich
an einem wehrlosen Geschöpf. Diese Entwicklung ist abgedeckt durch einen
juristischen Positivismus, bei dem unangenehme Sachen schön geredet werden.
15
So hat man z. B. in den USA vorerst definiert, der Mensch sei erst nach der
Geburt Träger von Rechten und Pflichten. Somit entfällt die philosophische
Realitätsfrage: „Was ist das nicht geborene Kind? Ist es schon ein Mensch?“ Dies
ermöglichte auch die grausame „Partial Birth Abortion“, bei welcher das
geburtsreife Kind im Mutterleib gedreht und an den Füssen gezogen wird, bis
das Genick erscheint. Dort wird dann eine Nadel eingeführt und der Kopfinhalt mit
hoher Saugkraft herausgesogen. „Das Kind ist dann tot geboren worden.“
MG: Im Lexikon Familie wird die Homosexualität als Privatproblem einer
Minderheit beschrieben, welches aufgrund eines inneren ungelösten
Konflikts entstanden ist. Sind Homosexuelle anders gesagt psychisch
gestörte Menschen?
KJR: Meiner Meinung nach ist die Ursächlichkeit der Homosexualität noch nicht
genügend erforscht. Sicher ist es aber keine wahre dritte Form der sexuellen
Orientierung der Natur, denn oft sind mit der Homosexualität mit viel Leid und
Sorge verbunden, welche von den Betroffenen meist verschwiegen werden. Sehr
wichtig ist jedoch, dass diese Menschen respektiert und geachtet werden. Auf
keinen Fall aber darf die Verbindung von zwei Homosexuellen im
öffentlichen Rechte der Ehe ähnlich oder gleich gestellt werden. Dies würde
der natürlichen Grundordnung zutiefst widersprechen und die Ehe gröbstens
diskriminieren. Stellt doch nur die Ehe zwischen Mann und Frau den
Fortbestand der Gesellschaft sicher, im Gegensatz zur gleichgeschlechtlichen
Partnerschaft. Darum sollen Gleichgeschlechtliche in Wertschätzung ihrer
Persönlichkeit dem Zivilrecht unterstehen, aber keinen Status im öffentlichen
Rechte bekommen.
MG: Weichen deine Meinungen manchmal vom offiziellen Kurs des Vatikans
ab?
KJR: Der offizielle Kurs ist für jeden Katholiken Gewissenspflicht, soweit er das
Lehramt der Kirche betrifft und umso mehr, wenn der Papst hinter dieser Aussage
steht.
Anders
sieht
es
bei
den
Veröffentlichungen
verschiedener
vatikansicher Dikasterien. In Einzelpunkten könnte ein Katholik versuchen,
durch gediegene Argumente andere Gesichtspunkte zu finden. Von dieser
Freiheit habe auch ich schon Gebrauch gemacht.
16
MG: Letztes Jahr bist du zum Kanonikus im Petersdom ernannt worden. Wie
kam es zu dieser Ehre?
KJR: Ich hatte dies der alleinigen Grossherzigkeit des hl. Vaters zu verdanken,
der diese Entscheidung persönlich gefällt hat. Der hl. Vater will damit eine
spezielle Wertschätzung oder Anerkennung auszudrücken.
MG: Was ist ein Kanonikus und was sind deine Verpflichtungen?
KJR: Die Kanoniker, deren Zusammengehörigkeit Kapitel genannt wird, sind eine
Jahrhunderte alte Vertrauensgruppe, denen v.a. die würdige Feier des
Gottesdienstes anvertraut ist. Der Name „Kanoniker“ stammt vom Wort „canon,
canones“, d.h. Kirchengesetzte nach denen diese Priester eine relativ strenge
Lebensform zu befolgen hatten. Da sie eine Belohnung bekamen, waren sie aber
zu gewissen Zeiten verpflichtet auf alles andere Vermögen zu verzichten und es
den Armen und der Kirche zu geben. Ihre Namen wurde in einer Liste im
kanonischen Buch eingetragen. Heute gibt es sie in den Basiliken des Papstes
und in Bischofskirchen. Die Bischöfe regeln die Verpflichtungen der Kanoniker, in
Rom jedoch untersteht die Ordnung dem Papste. Wir haben zu gewissen
Stunden im Petersdom das Lob Gottes zu feiern (Laudes, Vesper,…) und mit
dem Volk hl. Messen zu feiern.
MG: Hat dir die Aufgabe in Rio oder in Rom besser gefallen?
KJR: Es sind zwei völlig verschiedene Welten. In Rio hatte ich einen viel engeren
Kontakt zu den brennenden Problemen der Gesellschaft und einzelner
Menschen. In Rom arbeite ich an Aufgaben, die der gesamten Welt
zugute
kommen sollen.
MG: Wie wird deine Zukunft aussehen und v.a. wo wird sie stattfinden?
KJR: Ich bin daran mich von einem gesundheitlichen Rückschlag zu erholen und
werde mich dann je nach verfügbaren Kräften entscheiden. Rom als
Kulturzentrum ist sehr begeisternd. Ich habe viele Anfragen für Vorträge und
geistliche Exerzitien, was mich sehr begeistert, da ich mich gerne mit der Bildung
des Menschen befasse.
17
Rio de Janeiro ist ein sehr grosser persönlicher Wunsch von mir, da ich sehr
gerne direkt an den begonnenen Projekten weiterarbeiten möchte.
Die Schweiz ist natürlich meine erste Heimat. Wenn dorthin ich zurückkehren
würde, dann nicht um mich auszuruhen. Ich möchte mich auch hier sinnvoll
einbringen.
Mein Ideal ist es, Gott noch mehr kennen zu können und den Menschen Licht und
Hilfe zu sein. Vielleicht werde ich das Glück haben, einmal bei der Arbeit sterben
zu können und den guten Menschen nicht zur Last zu werden.
MG: Wieso verwehrt die katholische Kirche den Frauen das Priesteramt?
KJR: Dies geht auf die Handlungsweise Jesu Christi zurück, denn er war es, der
nur Männer als Apostel ernannte. Die Handlungsweise Jesu basiert aber nicht
primär auf soziologischen und kulturellen Motiven der damaligen Zeit. Er wollte
damit sicherlich nicht die Frauen diskriminieren, was auch an der Stellung Marias
im Christentum ersichtlich ist. Es ist eigentlich nicht die katholische Kirche, die
es verwehrt, sondern der Papst will sich einfach nicht über die Handlungsweise
Jesu hinweg setzten.
MG: Wie ist das Zölibat entstanden und wieso hält die katholische Kirche
daran fest?
KJR: Das Wort kommt ursprünglich aus dem Latein (caelebs / cáelibis), was den
unverheirateten Mann bedeutet. Das Zölibat ist die Standesplicht des Priesters
und verpflichtet, unverheiratet und in Keuschheit zu leben. Die Grundlage des
Zölibates ist kein Gesetz, sondern das persönliche Beispiel Jesu und darauf
hinweisende Schriften. Ausserdem zeigte die Erfahrung, dass Ehelose mehr
Hingabe zu ihrem Amt hatten und viele Geistliche schon spontan so lebten. Ich
empfinde es aber nicht als „eisernes Festhalten“, sondern als Nachleben des
Vorbildes von Jesus Christus.
MG: Was ist für dich das wichtigste am Priesteramt?
KJR: Die wichtigsten Dinge sind für mich das Gebet, der Dienst, das Verständnis
für die Mitmenschen, die Freude, die Klarheit und die Liebe in der Verkündigung.
Für mich ist es eine ehrenvolle Aufgabe, die Menschen zu Christus zu führen.
18
Folgendes Zitat veranschaulicht meine Haltung sehr gut: „Wehe mir, wenn ich das
Evangelium nicht verkündige!“ (1Kor 9,16).
MG: Der Vatikan wird immer wieder kritisiert wegen seiner Haltung zum
Thema Exorzismus. Was ist deine Meinung dazu?
KJR: Der Vatikan hat allgemein verpflichtende Normen aufgestellt, damit weder
der Ernst der Sache unterlaufen, noch die Sache übertrieben wird. Die Praxis
und konkrete Anleitung eines Exorzismus bedarf der Bewilligung des Bischofs.
MG: Kritiker sagen, dass diese Symptome Ausdruck einer psychischen
Störung sind. Warum stimmt das nicht?
KJR: Nur eine psychische Störung? Nein! Dagegen sprechen zwei wichtige
Gründe:
-
Einerseits hat Jesus selbst von der Macht des Bösen gesprochen und zwar
geht es hier nicht nur um das Böse, sondern vor allem den Bösen. Heute wird
oft die Existenz des Satans mit einem Lächeln abgetan.
-
Andererseits ist es nicht auszuschliessen, dass sich der Satan auch
psychischer Krankheit bedient, um eine Person zu quälen oder zu schädigen.
MG: Musstest du das sogenannte „rituale romanum“ auch schon
anwenden?
KJR: Ja, auf den Wunsch von meinem damaligen Chef, dem Pfarrer von St.
Otmar und nach Rücksprache mit dem Bischof von St. Gallen. Das Wesentliche
ist für mich dabei, möglichst lange an einer Besessenheit zu zweifeln und erst
dann zu handeln, wenn die Schulmedizin aufgegeben hat.
MG: Wie legitimiert sich der Absolutheitsanspruch des Papstes und wie
kann es sein, dass ein Mensch etwas so göttliches für sich beansprucht?
KJR: Es gibt keinen Absolutheitsanspruch des Papstes. Absolutismus im Staate
führt zu Tyrannei. Dies wäre auch in der Kirche undenkbar. Der oberste
Autoritätsanspruch (nicht Absolutheitsanspruch) des Papstes erklärt sich einzig
durch Jesus Christus, der den Petrus als verpflichtendes Kriterium in Fragen der
Identität der Kirche bestimmte. Diese Macht gilt nur in Glaubens- und Sittenfragen
uns ist zudem stark begrenzt. Petrus (der Papst) kann keine Sakramente
19
aufheben,
noch
einsetzen
oder
eine
durch
einen
Priester
gegebene
Sündenvergebung aufheben. Etwas Göttliches kann nicht beansprucht werden,
aber es kann einem gegeben sein. Jeder Christ, der ehrlich versucht, nach dem
Vorbild Jesu zu leben, trägt jetzt schon etwas Göttliches in sich.
MG: Gibt es auch Möglichkeiten auf die Entscheidungen zurückzukommen?
KJR: Wenn der Papst im Privaten als Philosoph oder Theologe spricht oder
schreibt, dann ist es jederzeit möglich, dass Professoren oder die Instanzen der
Kurie Einspruch erheben. Wenn er jedoch „ex cathedra“2 spricht, um der von
Jesus übertragenen Pflicht der Stärkung des Glaubens nachzukommen, nicht.
MG: Die kath. Kirche bezeichnet sich als einzig wahre Kirche. Was fehlt
denn den anderen?
KJR: Die kath. Kirche findet es sehr schade, dass Luther entgegen den
Festlegungen der hl. Schrift Sakramente relativiert oder abgeschafft hat.
Ausserdem hat er die von den Aposteln herkommende Interpretation der
Realpräsenz Jesu in der Eucharistie umgedeutet. (Die Beichte hat er nicht
abgeschafft, er hat beinahe wöchentlich bis zu seinem Tode gebeichtet). Ebenso
ist für die kath. Kirche nicht ersichtlich, wie die anderen Konfessionen die
Schriftstellen mit dem Auftrag des Petrusamtes deuten. Die schweren Konflikte in
der anglikanischen Kirche („Bischöfinnen“ entgegen einer 2000 jährigen, durch
Jesus eingesetzten Tradition) weisen schmerzlich darauf hin, was der Verlust des
Papstamtes bedeuten kann.
MG: Glaubst du, dass sich abgespaltene Kirchen wieder einmal mit der
katholischen Kirche vereinen? Ist die kath. Kirche auch zu Konzessionen
bereit?
KJR: Ja! Die kath. Kirche hat schon bedeutende Zeichen gesetzt. Die Tendenzen
der Ostkirchen und der Protestanten sind sehr wichtig. Papst Johannes Paul II.
hat vor Jahren die nicht katholischen Christen aufgerufen, ihm zu helfen und zu
zeigen wie er das Papstamt perfekter gestalten solle, um unnötige Hindernisse
aus dem Weg zu räumen. Gewiss es braucht Zeit, da die Trennungen Frucht der
Sünde auf allen Seiten waren.
2
ex cathedra=vom geistigen Lehrstuhle aus
Herunterladen