HS 15 210 – Kritische Theorie der Gesellschaft – Klaus Roth - SS 2010 Zur Dialektik der Aufklärung Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein“.1 G. W. F. Hegel: In ihrem Kampf mit dem Aberglauben durchschleicht die Aufklärung als ein unsichtbarer und unbemerkter Geist „die edlen Teile durch und durch und hat sich bald aller Eingeweide und Glieder des bewußtlosen Götzen gründlich bemächtigt, und ‘an einem schönen Morgen gibt sie mit dem Ellbogen dem Kameraden einen Schub, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden’. An einem schönen Morgen, dessen Mittag nicht blutig ist, wenn die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen hat; nur das Gedächtnis bewahrt dann noch als eine, man weiß nicht wie, vergangene Geschichte die tote Weise der vorigen Gestalt des Geistes auf“. „Wenn alles Vorurteil und Aberglaube verbannt worden [ist], so tritt die Frage ein, was nun weiter? Welches ist die Wahrheit, welche die Aufklärung statt jener verbreitet hat?“2 Karl Marx: „Es gibt eine große Tatsache, die für dieses unser 19.Jahrhundert bezeichnend ist, eine Tatsache, die keine Partei zu leugnen wagt. Auf der einen Seite sind industrielle und wissenschaftliche Kräfte zum Leben erwacht, von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte. Auf der anderen Seite gibt es Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stellen. In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sahen, daß die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbar zu machen, sie verkümmern läßt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden ... Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache“.3 1 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: Werke. Hg.v.W.Weischedel. Bd.XI. Frankfurt/M 1977, 53-61; hier: S.53. 2 G.W.F.Hegel: Phänomenologie des Geistes. HW 3, 359 ff.: Der sich entfremdete Geist. Die Bildung; hier: S.403, 413. 3 Karl Marx: Rede auf der Jahresfeier des „People's Paper“ am 14. April 1856 in London. In: MEW 12, S.3 f. 2 Friedrich Nietzsche fragt sich in seiner frühen Untersuchung über Die Geburt der Tragödie (1872), ob Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus sei, eine feine Notwehr gegen - die Wahrheit?4 Theorie vom sokratischen Typus wäre demnach Kompensation, wäre der Versuch, den Pessimismus abzuwehren. Nietzsche klagte damit das Verdrängte, das Beiseitegeschobene ein und machte aufmerksam auf den Verlust, der die Hinwendung zur rationalen Wissenschaft begleitete. Sein Orientierungsmuster bildeten die dionysischen Kulte und Mysterien. Hier fand er jene Begeisterung und jene Ekstase, jenen Rausch, den er selber vergeblich suchte. Dazu Wolfgang Lange: „Das Produkt der Aufklärung ist der moderne Mensch, der weder ein noch aus weiß und dem Geschehen der Welt ohnmächtig, wie einem sinn- und ziellosen Naturzusammenhang gegenübersteht. Die Substitute und Surrogate, die auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit anstelle eines umfassenden symbolischen Weltbildes angeboten werden, vermögen den inwendigen Nihilismus moderner Zeiten indes kaum zu übertünchen. Zwar schafft sich der Mensch noch abgeschwächte Formen der Verklärung, indem er Wissenschaft und Technik als deus ex machina verehrt, allein die Auflösung der äternisierenden Mächte von Kunst und Religion führt auf der Kehrseite dazu, daß die moderne Kultur zu einem ‘Pandämonium überallher zusammengefügter Mythen und Superstitionen’ verkommt“.5 Max Weber: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ Konsequenz: Rückkehr in den alten Polytheismus, in den Kampf der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte um die Hegemonie. Folge des Pluralismus und des Verfalls des christlichen Glaubens sei, daß die alten und vielen Götter, „entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte“ ihren Gräbern entsteigen und nach Gewalt über unser Leben streben.6 Therapievorschlag der Kritischen Theorie: Die wissenschaftlich-technische Entwicklung soll nicht gestoppt, sondern zum Bewußtsein ihrer selbst und d.h. unter die Kontrolle der handelnden Individuen gebracht werden. Beklagt wird nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Rationalität: „die Steigerung nämlich aller kalkulierbaren Herrschaftsapparaturen und -mittel auf Kosten des Zwecks, der vernünftigen Einrichtung der Menschheit, die der Unvernunft bloßer Machtkonstellationen überlassen bleibt“.7 4 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1872) In: Werke II, hier: S.10. 5 Wolfgang Lange: Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil. Zum Komplex des Mythos bei Nietzsche. In: K.H.Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Frankfurt/M 1983, 111-137; hier: S.121. 6 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1922, 1988 7, S.594, 605. 7 T.W.Adorno: Stichworte. Frankfurt/M 19784, S.23.