Der Traum von der neuen Mythologie

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Der Traum von der neuen Mythologie
Zitate zur Vorlesung im SS 2006
W. Eckel
Das ästhetische Motiv der neuen Mythologie ............................................................................ 2
Das naturphilosophische Motiv der neuen Mythologie ............................................................. 3
Das politisch-soziale Motiv der neuen Mythologie ................................................................... 4
Das diskurstheoretische Motiv der neuen Mythologie ............................................................... 5
Das religiöse Motiv der neuen Mythologie ................................................................................ 6
Die Rolle des Individuums ......................................................................................................... 7
Der dynamisch-ironische Charakter der neuen Mythologie ...................................................... 8
Die neue Mythologie als Mythensynkretismus .......................................................................... 9
Der Mythos vom Ende des Mythos .......................................................................................... 10
Der Dichter als (falscher?) Priester bei Hölderlin .................................................................... 11
Die Stärke durch Gemeinschaft als Voraussetzung des Gottesbezugs bei Hölderlin .............. 12
Das problematische Nennen der Himmlischen bei Hölderlin .................................................. 13
Die Idee der neuen Mythologie bei Novalis............................................................................. 14
Das Problem der Darstellbarkeit bei Novalis ........................................................................... 15
Das Märchen als Medium der neuen Mythologie bei Novalis ................................................. 16
Das Klingsohr-Märchen des Novalis – ein Beitrag zu einer neuen Mythologie? .................... 17
Zitate aus dem Klingsohr-Märchen .......................................................................................... 18
„Poëtisirung“ der Wissenschaft: Naturwissenschaftliches im Klingsohr-Märchen ................. 19
Das wissenschaftliche Interesse am Mythos um 1800 in England und Frankreich ................. 20
William Blake (I): Mythopoetische Arbeiten ........................................................................... 21
William Blake (II): Zitate ......................................................................................................... 22
William Blake (III): Das Göttliche in den Dingen und die Entstehung der Priesterreligion ... 23
William Blake (IV): Urizen als erster Gesetzgeber und Priester ............................................. 24
William Blake (V): Das Ende von Urizens Reich .................................................................... 25
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (I) ..................................................................... 26
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (II) .................................................................... 27
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (III)................................................................... 28
Kursivierungen im Original. Fettdruck nicht im Original.
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das ästhetische Motiv der neuen Mythologie
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„Ihr habt selbst gedichtet, und ihr müßt es oft im Dichten gefühlt haben, daß es euch an einem
festen Halt für euer Wirken gebracht, an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer
lebendigen Luft.
Aus dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich getan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus
Nichts.
Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der
Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt
sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir
sind nahe daran, eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.
Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen wie die alte ehemalige,
überall die erste Blüte der jugendlichen Phantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller
Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller
andern Gedichte verhüllt.“
2
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das naturphilosophische Motiv der neuen Mythologie
Schiller, Die Götter Griechenlandes, 1788:
„Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach! Nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine goldne Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick
Ach! Von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb nur das Gerippe mir zurück.
Alle jenen Blüten sind gefallen
Von des Nordes winterlichem Wehn.
Einen zu bereichern, unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
Traurig such ich an dem Sternenbogen,
Dich, Selene, find ich dort nicht mehr;
Durch die Wälder ruf ich, durch die Wogen,
Ach! Sie widerhallen leer!“ (Str. 19 und 20)
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„was ist jede schöne Mythologie andres als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden
Natur in dieser Verklärung von Phantasie und Liebe?“
Schelling, Philosophie und Religion, 1804:
„Sucht ihr also eine universelle Mythologie, so bemächtigt euch der symbolischen Ansicht
der Natur, lasset die Götter wieder Besitz von ihr ergreifen und sie erfüllen.“
3
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das politisch-soziale Motiv der neuen Mythologie
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, 1796 oder 1797:
„Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen
Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im
Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse;
und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So
müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie
muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch
werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.
Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und
Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als
aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!“
4
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das diskurstheoretische Motiv der neuen Mythologie
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, 1796 oder 1797:
„Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen
Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie
alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit
verschwistert sind. […] Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende
wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie,
keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.“
Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800:
„Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch
diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit
der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen
Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer
Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der
Wissenschaft zur Poesie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existiert hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche
Trennung geschehen ist.“
5
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das religiöse Motiv der neuen Mythologie
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, 1796 oder 1797:
„Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben.
Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft
und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir
bedürfen. […] Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns
stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein.“
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen? Ist die Liebe wirklich unüberwindlich, und gibt es wohl eine Kunst, die den Namen
verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen
Bildungen beseelen muß?“
„Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier
dennoch sinnlich geistig zu schauen und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht. […] In ihrem Gewebe
ist das Höchste wirklich gebildet“
6
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Die Rolle des Individuums
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„Überhaupt muß man auf mehr als einem Wege zum Ziel dringen können. Jeder gehe ganz
den seinigen, mit froher Zuversicht, auf die individuellste Weise, denn nirgends gelten die
Rechte der Individualität – wenn sie nur das ist, was das Wort bezeichnet: unteilbare Einheit,
innrer lebendiger Zusammenhang – mehr als hier, wo vom Höchsten die Rede ist; ein Standpunkt, auf welchem ich nicht anstehen würde zu sagen, der eigentliche Wert, ja die Tugend
des Menschen sei seine Originalität.“
Novalis, Blüthenstaub (Fragment Nr. 74, urspr. handschriftl. Fassung), 1798:
„Nichts ist zur wahren Religiositaet unentbehrlicher, als ein Mittelglied – das uns mit der
Gottheit verbindet. Unmittelbar kann der Mensch schlechterdings nicht mit derselben in
Verhältniß stehen. In der Wahl dieses Mittelgliedes muß der Mensch durchaus frey seyn.
[…] Es ist ein Götzendienst, im weitern Sinn, wenn ich diesen Mittler in der That für Gott
selbst ansehe. […] Wahre Religion ist, die jenen Mittler, als Mittler annimmt – ihn gleichsam
für das Organ der Gottheit hält – für ihre sinnliche Erscheinung. […] Die wahre Religion
scheint aber bey einer nähern Betrachtung abermals antinomisch getheilt – In Panthëismus
und Entheismus. Ich bediene mich hier einer Licenz – indem ich Pantheism nicht im gewöhnlichen Sinn nehme – sondern darunter die Idee verstehe – daß alles Organ der Gottheit
– Mittler seyn könne, indem ich es dazu erhebe – so wie Enthëism im Gegentheil den
Glauben bezeichnet, daß es nur Ein solches Organ in der Welt für uns gebe [z.B. der Gottmensch Christus], das allein der Idee eines Mittlers angemessen sey, und wodurch Gott allein
sich vernehmen lasse – welches ich also zu wählen durch mich selbst genöthigt werde – denn
ohnedem würde der Enthëism nicht wahre Religion seyn. […] Jeder Gegenstand kann dem
Religiösen ein Tempel, im Sinn der Auguren, seyn.“
7
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Der dynamisch-ironische Charakter der neuen Mythologie
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„In ihrem [der Mythologie] Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung
und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ist
ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn sich so sagen darf. / Da
finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der
nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen sich zeigt, und den
unserer Freund schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt
hat. Ja, diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den
kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu
sein.“
8
Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Die neue Mythologie als Mythensynkretismus
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, 1800:
„Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden
Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol
bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter. / Warum wollt ihr euch nicht erheben, diese herrlichen Gestalten des großen Altertums neu zu beleben? Versucht es nur
einmal, die alte Mythologie voll vom Spinoza und von jenen Ansichten, welche die jetzige
Physik in jedem Nachdenkenden erregen muß, zu betrachten, wie euch alles in neuem Glanz
und Leben erscheinen wird. / Aber auch die andern Mythologien müssen wieder erweckt
werden nach dem Maß ihres Tiefsinns, ihrer Schönheit und ihrer Bildung, um die Entstehung
der neuen Mythologie zu beschleunigen. Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich
wie die des Altertums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen […]. Im
Orient müssen wir das höchste Romantische suchen […].“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Der Mythos vom Ende des Mythos
Friedrich Hölderlin, Brod und Wein, 1800:
„6
[…]
Oder er kam auch selbst und nahm [in Christus] des Menschen Gestalt an
Und vollendet’ und schloß tröstend das himmlische Fest.
7
Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinen’s wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.“
Novalis, Hymnen an die Nacht, 1800:
„Unfreundlich blies ein kalter Nordwind über die erstarrte Flur, und die erstarrte Wunderheymath
verflog in den Aether. Des Himmels Fernen füllten mit leuchtenden Welten sich. Ins tiefre
Heiligthum, in des Gemüths höhern Raum zog mit ihren Mächten die Seele der Welt – zu walten
dort bis zum Anbruch der tagenden Weltherrlichkeit. Nicht mehr war das Licht der Götter Aufenthalt und himmlisches Zeichen – den Schleyer der Nacht warfen sie über sich. Die Nacht
ward der Offenbarungen mächtiger Schoos – in ihn kehrten die Götter zurück – schlummerten ein, um in neuen herrlichern Gestalten auszugehn über die veränderte Welt.“ (5. Hymne, Prosafassung)
Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlandes, 1788:
„Alle jenen Blüten sind gefallen
Von des Nordes winterlichem Wehn.
Einen zu bereichern, unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
[…]
Müßig kehrten heim zu dem Dichterlande
Heim die Götter, unnütz einer Welt,
Die entwachsen ihrem Gängelbande,
Sich durch eignes Schweben hält.“ (Str. 20 und 22)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Der Dichter als (falscher?) Priester bei Hölderlin
Brod und Wein, 1800, 7. Strophe:
Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinen’s wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.
[…]
Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein,
So zu harren, und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht, und wozu Dichter in dürftiger Zeit.
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.“
Wie wenn am Feiertage, 1799, Schluß des Versfragments:
„Denn sind nur reinen Herzens,
Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände
Des Vaters Strahl, der reine versengt es nicht,
Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren
Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen
Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest.
Und sag ich gleich,
Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,
Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden
Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich
Das warnende Lied den Gelehrigen singe.
Dort“
Wie wenn am Feiertage, 1799, Schluß des Prosaentwurfs:
„Denn sind wir reinen Herzens nur, den Kindern gleich sind schuldlos oder gereiniget von Freveln
unsere Hände, dann tödtet dann verzehret nicht das heilige und tieferschüttert bleibt das innere
Herz doch fest, mitleidend die Leiden des Lebens, den göttlichen Zorn der Natur, u. ihre Wonnen,
die der Gedanke nicht kennt. Aber wenn von selbgeschlagener Wunde das Herz mir blutet, und
tiefverloren der Frieden ist, u. freibescheidenes Genügen, Und die Unruh, und der Mangel mich
treibt zum Überflusse des Göttertisches, wenn rings um mich
und sag ich gleich, ich wäre genaht, die Himmli[schen zu] schauen, sie selbst sie werfen mich / tief
unter die Lebenden all, / den falschen Priester hinab, daß ich, aus Nächten herauf, / das warnende
ängstige Lied / den Unerfahrenen singe.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Die Stärke durch Gemeinschaft als Voraussetzung des Gottesbezugs bei Hölderlin
Brod und Wein, 1800, 7. Strophe:
„Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zuzeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.
Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsaal
Hilft, wie Schlummer und stark machet die Noth und die Nacht
Bis daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen,
Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind.“ (Str. 7)
Brod und Wein, 1800, 4. Strophe, Rückblick auf das antike Griechenland:
„[…] es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wird’s ein Jubel“
Stutgard, 1800/01, 6. Strophe:
„Genien des Landes! o ihr, vor denen das Auge,
Seis auch stark und das Knie bricht dem vereinzelten Mann,
Daß er halten sich muß an die Freund’ und bitten die Theuern,
Daß sie tragen mit ihm all die beglükende Last“
Germanien, 1801, 4. Strophe, der Adler des Vaters an Germania:
„Du bist es, auserwählt,
Alliebend und ein schweres Glück
Bist du zu tragen stark geworden“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das problematische Nennen der Himmlischen bei Hölderlin
Der Mutter Erde, 1800:
„Die Tempelsäulen stehn
Verlassen in Tagen der Not,
Wohl tönet des Nordsturms Echo tief in den Hallen,
[…] namlos aber ist
In ihnen der Gott“
Heimkunft, 1801:
„Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen, und wenn wir
Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring ich den Dank?
Nenn ich den Hohen dabei? Unschickliches liebet ein Gott nicht,
Ihn zu fassen ist fast unsere Freude zu klein.
Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen“ (Str. 6)
Germanien, 1801:
„O trinke Morgenlüfte,
Bis daß du offen bist,
Und nenne, was vor Augen dir ist,
Nicht länger darf Geheimnis mehr
Das Ungesprochene bleiben,
Nachdem es lange verhüllt ist;
Denn Sterblichen geziemet die Scham,
Und so zu reden die meiste Zeit,
Ist weise auch von Göttern.
[…]
Dreifach umschreibe du es,
Doch ungesprochen auch, wie es da ist,
[…] muß es bleiben.“
Ermunterung, um 1800:
„O Hoffnung! bald, bald singen die Haine nicht
Der Götter Lob allein, denn es kommt die Zeit,
Daß aus der Menschen Munde sich die
Seele, die göttliche, neuverkündet.
[…]
Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt
Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist
Im Menschenwort, am schönen Tage
wieder mit Namen, wie einst, sich nennet.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Die Idee der neuen Mythologie bei Novalis
Aus den Entwürfen zu den Lehrlingen zu Saïs (1798/99):
„Verwandlung des Tempels zu Saïs.
Erscheinung der Isis.
Tod des Lehrers.
Träume im Tempel.
Werckstatt des Archaeus.
Ankunft der griechischen Götter.
Einweihung in die Geheimnisse.
Bildsäule des Memnons.
Reise zu den Pyramiden.
Das Kind und sein Johannes. Der Messias der Natur. Neues Testament – und neue Natur – als
neues Jerusalem.
Cosmogonieen der Alten. Indische Gottheiten.“
Aus den Notizen 1798:
„Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. […] Indem
ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“
An Karoline Schlegel, 20. Januar 1799:
„Die Poësie mit lebendigen Kräften, mit Menschen, und sonst gefällt mir immer mehr. Man muß
eine poëtische Welt um sich her bilden und in der Poësie leben.“
Aus den Notizen zur Fortsetzung des Heinrich von Ofterdingen:
„Hinten wunderbare Mythologie.“
„Hinten ein ordentliches Märchen in Szenen, fast nach Gozzi – nur viel romantischer. Hinten die
Poëtisirung der Welt – Herstellung der Märchenwelt. Aussöhnung der kristlichen Relig[ion] mit
der heydnischen […]. Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poëtisch. Neue goldne Zeit.“
„Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben müssen hinten zusammen, wie Eine Familie oder Gesellsch[aft] wie Ein Geschlecht handeln und sprechen.“
Heinrich zu Beginn des Ofterdingen:
„Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mit ist gerade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als
könnte ich ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das Problem der Darstellbarkeit bei Novalis
Heinrich von Ofterdingen, Achtes Kapitel (Poesiegespräch):
„Kann ein Gegenstand zu überschwänglich für die Poesie seyn?
Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen, für die Poesie, sondern nur für unsere irdischen
Mittel und Werkzeuge. Wenn es schon für einen einzelnen Dichter nur ein eigenthümliches Gebiet
giebt, innerhalb dessen er bleiben muß, um nicht alle Haltung und den Athem zu verlieren: so
giebt es auch für die ganze Summe menschlicher Kräfte eine bestimmte Grenze der Darstellbarkeit, über welche hinaus die Darstellung die nöthige Dichtigkeit und Gestaltung nicht behalten
kann, und in ein leeres täuschendes Unding sich verliert.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das Märchen als Medium der neuen Mythologie bei Novalis
Aus den Notizen:
„Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn.“
(II, 691)
„In einem ächten Märchen muß alles wunderbar – geheimnißvoll und unzusammenhängend seyn –
alles belebt. […] Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt
vermischt seyn. […] Das ächte Märchen muß zugleich Prophetische Darstellung – idealische
Darstell[ung] – abs[olut] nothwendige Darst[ellung] seyn. Der ächte Märchendichter ist ein Seher
der Zukunft. […] Mit der Zeit muß d[ie] Gesch[ichte] Märchen werden – sie wird wieder, wie
sie anfieng.“ (II, 514)
„Es liegt nur an der Schwäche unsrer Organe, und der Selbstberührung, daß wir uns nicht in einer
Feenwelt erblicken. Alle Mährchen sind nur Träume von jener heymathlichen Welt, die überall und nirgends ist.“ (II, 353)
„Ein Mährchen ist eigentlich wie ein Traumbild – ohne Zusammenhang – Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten – z.B. eine musicalische Fantasie – die Harmonischen Folgen einer Aeolsharfe – die Natur selbst. […] Ein höheres Mährchen wird es, wenn ohne den
Geist des M[ärchens] zu verscheuchen irgend ein Verstand – (Zusammenhang, Bedeutung – etc.)
hineingebracht wird.“ (II, 696f.)
An Friedrich Schlegel, 5. April 1800, zum ersten Teil des Ofterdingen:
„Es sollte mir lieb seyn, wenn ihr Roman und Märchen in einer glücklichen Mischung zu bemerken glaubtet, und der erste Theil euch eine noch innigere Mischung im 2ten Theile profezeyhte. Der Roman soll allmählich in Märchen übergehn.“ (I, 740)
Aus den Notizen zur Fortsetzung des Ofterdingen:
„Viele Erinnerungen an Mährchen. […] Wunderliche Mythologie. Die Mährchenwelt muß jetzt
recht oft durchscheinen. Die wirckl[iche] Welt selbst wie ein Mährchen angesehn.“ (I, 394)
„Hinten die Poëtisirung der Welt – Herstellung der Märchenwelt.“ (I, 397)
(Zitate nach der dreibändigen Ausgabe im Hanser-Verlag: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe,
hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das Klingsohr-Märchen des Novalis – ein Beitrag zu einer neuen Mythologie?
Handlungsräume und Personenverhältnisse im Märchen
I. Sternenwelt
ARCTUR
„Geist des Lebens“?
SOPHIE
„Weisheit“
PERSEUS
„Eisen“, „der alte Held“
FREYA
„Frieden“
ZINK, GOLD, TURMALIN
------------------------------------------------------------II. Menschenwelt
MUTTER
„Herz“
MOND
VATER
„Sinn“
EROS
„Liebe“
GINNISTAN
„Phantasie“
FABEL
„Poesie“
SCHREIBER
„Verstand“
------------------------------------------------------------III. Unterwelt
SPHINX
3 PARZEN
„Schicksal“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Zitate aus dem Klingsohr-Märchen
Die erstarrte und wiederbelebte Natur am Beginn und Ende des Märchens:
„Am herrlichsten nahm sich auf dem großen Platze vor dem Pallaste der Garten aus, der aus Metallbäumen und Krystallpflanzen bestand, und mit bunten Edelsteinbäumen und Früchten übersäet war.
Die Mannichfaltigkeit und Zierlichkeit der Gestalten, und die Lebhaftigkeit der Lichter und Farben
gewährten das herrlichste Schauspiel, dessen Pracht durch einen hohen Springquell in der Mitte des
Gartens, der zu Eis erstarrt war, vollendet wurde.“ (I, 339)
„Die Liebe wunderte sich über die königliche Stadt und ihre Reichthümer. Im Hofe sprang der lebendiggewordene Quell, der Hain bewegte sich mit den süßesten Tönen, und ein wunderbares Leben
schien in seinen heißen Stämmen und Blättern, in seinen funkelnden Blumen und Früchten zu quellen
und zu treiben.“ (I, 362)
„Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. Alles sprach und
sang. Fabel grüßte überall alte Bekannte. Die Thiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirtheten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das
Zierlichste.“ (I, 361f.)
Tod und Auferstehung der Mutter:
„Die Sonne stand feuerroth vor Zorn am Himmel, die gewaltige Flamme sog an ihrem geraubten Lichte, und so heftig sie [die Sonne] es auch an sich zu halten schien, so ward sie doch immer bleicher und
fleckiger. Die Flamme ward weißer und mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie sog das Licht immer
stärker in sich und bald war die Glorie um das Gestirn verzehrt und nur als eine matte, glänzende
Scheibe stand es noch da […]. Endlich war nichts von der Sonne mehr übrig, als eine schwarze ausgebrannte Schlacke die herunter ins Meer fiel. Die Flamme war über allen Ausdruck glänzend geworden.
[…] der Schreiber und seine Gesellen hatten sich an dem Flammentode der Mutter geweidet, waren
aber gewaltig erschrocken, wie sie den Untergang der Sonne wahrgenommen hatten.“ (I, 356)
„Sie [Sophie] ergriff nun die Urne und schüttete die Asche in die Schaale auf dem Altar. Ein sanftes
Brausen verkündigte die Auflösung, und ein leiser Wind wehte in den Gewändern und Locken der
umstehenden. / Sophie reichte die Schaale dem Eros und dieser den Andern. Alle kosteten den göttlichen Trank, und vernahmen die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern, mit unsäglicher
Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnißvolle Anwesenheit schien alle zu verklären.“
(I, 361)
Die Übertragung der Herrschaft an Liebe und Frieden am Schluß:
„Der König nahm sein Diadem vom Haupte, und band es um Eros goldene Locken. Der alte Held zog
ihm die Rüstung ab, und der König warf seinen Mantel um ihn her. Dann gab er ihm die Lilie in die
linke Hand, und Sophie knüpfte ein köstliches Armband um die verschlungenen Hände der Liebenden,
indem sie zugleich ihre Krone auf Freyas braune Haare setzte. / Heil unsern alten Beherrschern, rief
das Volk. Sie haben immer unter uns gewohnt, und wir haben sie nicht erkannt! Heil uns! Sie werden
uns ewig beherrschen! Segnet uns auch! Sophie sagte zu der neuen Königinn: Wirf du das Armband
eures Bundes in die Luft, daß das Volk und die Welt euch verbunden bleiben. Das Armband zerfloß in
der Luft, und bald sah man lichte Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog sich über die
Stadt und das Meer und die Erde, die ein ewiges Fest des Frühlings feyerte.“ (I, 363)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
„Poëtisirung“ der Wissenschaft: Naturwissenschaftliches im Klingsohr-Märchen
Die elektrostatische Aufladung Freyas und die Übertragung der Spannung auf Eisen:
„Sie [Freya] lag an seidnen Polstern auf einem Throne, der von einem großen Schwefelkrystall
künstlich erbaut war, und einige Mädchen rieben ämsig ihre zarten Glieder, die wie aus Milch und
Purpur zusammengeflossen schienen. Nach allen Seiten strömte unter den Händen das reizende
Licht von ihr aus, das den Pallast so wundersam erleuchtete. […] Der Held [Eisen oder Perseus]
schwieg. Laß mich deinen Schild berühren, sagte sie sanft. Er näherte sich dem Throne und betrat
den köstlichen Teppich. Sie ergriff seine Hand, drückte sie mit Zärtlichkeit an ihren himmlischen
Busen und rührte seinen Schild an. Seine Rüstung klang, und eine durchdringende Kraft beseelte
seinen Körper.“ (I, 339f.)
Die Wiedererweckung Atlas’ und des Vaters durch galvanisch erzeugten Strom:
„Er [Atlas] schien vom Schlage gelähmt, und konnte kein Glied rühren. Gold legte ihm eine Münze in den Mund, und der Blumengärtner [Zink] schob eine Schüssel unter seine Lenden. Fabel berührte ihm die Augen, und goß das Gefäß auf seiner Stirn aus. So wie das Wasser über das Auge in
den Mund und herunter über ihn in die Schüssel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in allen
Muskeln. Er schlug die Augen auf und hob sich rüstig empor.“ (I, 359)
„Fabel […] rief ihren Begleitern Gold und Zink, und nahte sich dem Ruhebette [des Vaters]. Ginnistan sah erwartungsvoll ihrem Beginnen zu. Gold schmolz die Münze und füllte das Behältniß,
worin der Vater lag, mit einer glänzenden Flut. Zink schlang um Ginnistans Busen eine Kette. Der
Körper schwamm auf den zitternden Wellen. Bücke dich, liebe Mutter, sagte Fabel, und lege die
Hand auf das Herz des Geliebten. / Ginnistan bückte sich. […] Die Kette berührte die Flut, ihre
Hand sein Herz; er erwachte und zog die entzückte Braut an seine Brust.“ (I, 360)
Die Entladung und Wiedererweckung Freyas:
„Ehrwürdiger Alter, sagte Fabel, Eros bedarf dein Schwerdt. Gold hat ihm eine Kette gegeben, die
mit einem Ende in das Meer hinunter reicht, und mit dem andern um seine Brust geschlungen ist.
Fasse sie mit mir an, und führe uns in den Saal, wo die Prinzessin ruht. Eros nahm aus der Hand
des Alten das Schwerdt, setzte den Knopf auf die Brust, und neigte die Spitze vorwärts. Die Flügelthüren des Saals flogen auf, und Eros nahte sich entzückt der schlummernden Freya. Plötzlich
geschah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Funken fuhr von der Prinzessin nach dem Schwerdte;
das Schwerdt und die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beynah umgesunken
wäre. Eros Helmbusch wallte empor. Wirf das Schwerdt weg, rief Fabel, und wecke deine Geliebte. Eros ließ das Schwerdt fallen, flog auf die Prinzessin zu, und küßte feurig ihre süßen Lippen.
Sie schlug ihre großen dunkeln Augen auf, und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß versiegelte
den ewigen Bund.“ (I, 362)
(Zitate nach der dreibändigen Ausgabe im Hanser-Verlag: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe,
hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Das wissenschaftliche Interesse am Mythos um 1800 in England und Frankreich
Jacob Bryant, A New System, or, An Analysis of Ancient Mythology (1774)
William Jones, On the Gods of Greece, Italy and India (1799)
Charles François Dupuis, Origine de tous les cultes ou la Religion universelle (1795)
Benjamin Constant, De la religion considérée dans sa source, ses formes et ses développements (1824-1831)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
William Blake (I): Mythopoetische Arbeiten
The Book of Thel (1789)
The Marriage of Heaven and Hell (1790-1793)
Visions of the Daughters of Albion (1793)
America. A Prophecy (1793)
Europe. A Prophecy (1794)
The Book of Urizen (1794)
The Book of Los (1795)
The Book of Ahania (1795)
The Four Zoas (ca. 1796-1807)
Milton (1804-1809)
The Everlasting Gospel (1810)
Jerusalem (1804-1820)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
William Blake (II): Zitate
„The ancient Poets animated all sensible objects with Gods or Geniuses, calling them by the names
and adorning them with the properties of woods, rivers, mountains, lakes, cities, nations, and whatever
their enlarged & numerous senses could perceive“. (Marriage, E 224)
„Die antiken Dichter beseelten alle Dinge der sinnlichen Wahrnehmung mit Göttern oder Geistern,
verliehen ihnen Namen und statteten sie aus mit den Eigenschaften von Wäldern, Flüssen, Bergen,
Seen, Städten, Völkern und was immer ihre erweiterten & zahlreichen Sinne gewahren konnten.“
„The Nature of my Work is Visionary or Imaginative; it is an Endeavour to Restore what the Ancients
call’d the Golden Age.“ (A Vision of the Last Judgement, K 604)
„Die Natur meines Werkes ist visionär oder imaginativ; es gibt ein Bestreben, das wiederherzustellen,
was die Alten das Goldene Zeitalter nannten.“
„Without Contraries is no progression. Attraction and Repulsion, Reason and Energy, Love and Hate,
are necessary to Human existence. / From these contraries spring what the religious call Good & Evil.
Good is the passive that obeys Reason. Evil is the active springing from Energy. / Good is Heaven.
Evil is Hell.“ (Marriage, E 214)
„Ohne Gegensätze gibt es keine Entwicklung. Anziehung und Abstoßung, Vernunft und Energie, Liebe und Haß sind notwendig für das menschliche Dasein. / Diesen Gegensätzen entspringt, was die
Gläubigen Gut & Böse nennen. Gut ist das Passive, das der Vernunft gehorcht. Böse ist das Aktive,
das der Energie entspringt. / Gut ist Himmel. Böse ist Hölle.“
„All Bibles or sacred codes have been the causes of the following Errors: / 1. That Man has two real
existing principles: Viz: a Body & a Soul. / 2. That Energy, call’d Evil, is alone from the Body; & that
Reason, call’d Good, is alone from the Soul. / 3. That God will torment Man in eternity for allowing
his Energies. / But the following Contraries to these are True: / 1. Man has no Body distinct from his
Soul; for that call’d Body is a portion of Soul discern’d by the five Senses, the chief inlets of Soul in
this age. / 2. Energy is the only life, and is from the Body; and Reason is the bound or outward circumference of Energy. / 3. Energy is Eternal Delight.“ (Marriage, E 214)
„Alle Bibeln oder heiligen Gesetzbücher sind die Ursache folgender Irrtümer gewesen: / 1. Daß der
Mensch zwei tatsächlich bestehende Prinzipien hat: Nämlich: einen Körper & eine Seele. / 2. Daß
Energie, Böse genannt, allein von der Seele ist. / 3. Daß Gott den Menschen, der seiner Energie folgt,
in Ewigkeit martern wird. / Aber die folgenden Gegensätze zu diesen sind Wahr: / 1. Der Mensch hat
keinen von seiner Seele getrennten Körper; denn was Körper genannt wird, ist ein Teil der Seele, erspäht von den fünf Sinnen, den Haupteingängen der Seele in dieser Zeitlichkeit. / 2. Energie ist das
einzige Leben und stammt her aus dem Körper; und Vernunft ist der Einband oder äußere Umkreis der
Energie. / 3. Energie ist Ewiges Entzücken.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
William Blake (III): Das Göttliche in den Dingen und die Entstehung der Priesterreligion als Selbstentfremdung des Menschen
The Marriage of Heaven and Hell (1790-1793):
„If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite. / For
man has closed himself up, till he sees all things thro’ narrow chinks of his cavern.“ (Marriage,
Eichhorn 229)
„Wenn die Pforten der Wahrnehmung geläutert würden, würde jedes Ding dem Menschen erscheinen, wie es ist, unendlich. / Denn der Mensch hat sich selbst eingeschlossen, bis er alle Dinge nur
mehr durch schmale Ritzen seiner Höhle sieht.“
„The ancient Poets animated all sensible objects with Gods or Geniuses, calling them by the names
and adorning them with the properties of woods, rivers, mountains, lakes, cities, nations, and whatever their enlarged & numerous senses could perceive“. (Marriage, Eichhorn 224)
„Die antiken Dichter beseelten alle Dinge der sinnlichen Wahrnehmung mit Göttern oder Geistern,
verliehen ihnen Namen und statteten sie aus mit den Eigenschaften von Wäldern, Flüssen, Bergen,
Seen, Städten, Völkern und was immer ihre erweiterten & zahlreichen Sinne gewahren konnten.“
„Till a system was formed, which some took advantage of, & enslav’d the vulgar by attempting to
realize or abstract the mental deities from their objects: thus began Priesthood; / Choosing forms of
worship from poetic tales. / And at length they pronounce’d that the Gods had order’d such things.
/ Thus men forgot that All deities reside in the human breast.“ (Marriage, Eichhorn 224)
„Bis ein System entstand, aus dem einige ihren Vorteil zogen und die Masse versklavten, indem
sie versuchten, die geistigen Gottheiten zu erkennen oder aus ihren Dingen herauszuziehen: so begann die Priesterschaft; / Die den Werken der Dichter ihre Formen der Anbetung entlehnte. / Und
schließlich verkündeten sie, daß die Götter dies so angeordnet hätten. / So vergaßen die Menschen,
daß Alle Götter in der menschlichen Brust wohnen.“
„The philosophy of the east taught the first principles of human perception: some nations held one
principle for the origin, and some another: we of Israel taught the Poetic Genius (as you now call
it) was the first principle and all the others merely derivative, which was the cause of our despising
the Priests & Philosophers of other countries, and prophecying that all Gods would at last be
proved to originate in ours & to be the tributaries of the Poetic Genius“ (Marriage, Eichhorn 224)
„Die östliche Philosophie lehrte die ersten Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung: einige
Völker hielten ein Prinzip für das ursprüngliche und einige ein anderes: wir von Israel lehrten, daß
der Poetische Genius (wie ihr ihn nun nennt) das erste Prinzip sei und alle anderen bloß von ihm
abgeleitet, was die Ursache dafür war, daß wir die Priester & Philosophen anderer Länder verachteten und verkündeten, es werde sich letztlich erweisen, daß alle Götter in unserem ihren Ursprung
hätten & dem Poetischen Genius ihren Tribut schuldeten.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
William Blake (IV): Urizen als erster Gesetzgeber und Priester
The Book of Urizen (1794), „Of the primeval Priest’s assume’d power“:
„I have sought for a joy without pain,
For a solid without fluctuation.
Why will you die, O Eternals?
Why live in unquenchable burnings?“ (338)
„Ich sucht’ nach einer Freude ohne Schmerz,
Ein Festes ohne Schwanken.
Warum, o Ewige, wollt ihr sterben?
Warum in unlöschbaren Bränden leben?“
„Lo! I unfold my darkness, and on
This rock place with strong hand the Book
Of eternal brass, written in my solitude:
Laws of peace, of love, of unity,
Of pity, compassion, forgiveness;
Let each chuse one habitation,
His ancient infinite mansion,
One command, one joy, one desire,
One curse, one weight, one measure,
One King, one God, on Law.“ (338/340)
„Seht! Ich enthülle meine Dunkelheit und lege
Auf diesen Fels mit starker Hand das Buch
Aus ew’ger Bronze, in der Einsamkeit geschrieben:
Gesetze des Friedens, der Liebe, der Einigkeit,
Des Mitleids, der Neigung, Vergebung;
Laßt jeden eine Stätte wählen,
Sein einstiges unendliches Heim,
Ein Gebot, eine Freude, ein Begehren,
Einen Fluch, ein Gewicht, ein Maß,
Einen König, einen Gott, ein Gesetz.“
„None could break the Web, no wings of fire,
So twisted the cords, & so knotted
The meshes, twisted like to the human brain.
And all call’d it The Net of Religion.“ (364/366)
„Keiner konnte das Netz durchbrechen, keine Schwinge aus Feuer,
So fest gedreht waren die Schnüre, so fest
Die Maschen geknüpft, verflochten gleich dem menschlichen Gehirn.
Und alle nannten es Das Netz der Religion.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
William Blake (V): Das Ende von Urizens Reich
The Marriage of Heaven and Hell (1790-1793), „Song of Liberty“:
„18. With thunder and fire, leading his starry hosts thro’ the waste wilderness, he [Urizen] promulgates his ten commands, glancing his beamy eyelids over the deep in dark dismay, / 19. Where
the son of fire [Orc] in his eastern cloud, while the morning plumes her golden breast, / 20. Spurning the clouds written with curses, stamps the stony law to dust, losing the eternal horses from the
dens of night, crying: / EMPIRE IS NO MORE! AND NOW THE LION & WOLF SHALL CEASE“ […] For
every thing that lives is Holy.“
„18. Mit Donner und Feuer, seine Sternenheere durch die wüste Wildnis führend, verkündet er
[Urizen] seine zehn Gebote, mit seinen strahlenden Augenlidern hinblickend über die Tiefe in
dunkler Bestürzung, / 19. Wo der Sohn des Feuers [Orc] in seiner östlichen Wolke, während der
Morgen ihre goldene Brust befiedert, / 20. Die Wolken davontreibt, die mit Flüchen beschrieben,
das steinerne Gesetz zu Staub zerstampft, die Rosse der Ewigkeit befreit aus den Höhlen der Nacht
und ausruft: / DAS REICH IST NICHT MEHR! UND NUN SOLLEN LÖWE & WOLF ENDEN […] Denn alles, was lebt, ist Heilig.“
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (I)
Die Polemik gegen Aischylos:
„I was averse from a catastrophe so feeble as that of reconciling the Champion with the Oppressor
of mankind. The moral interest of the fable, which is so powerfully sustained by the sufferings and
endurance of Prometheus, would be annihilated if we could conceive of him as unsaying his high
language and quailing before his successful and perfidious adversary.“ (264)
„In Wahrheit empfand ich eine Abneigung gegen eine so schwache Katastrophe wie die der Versöhnung des Vorkämpfers der Menschheit mit ihrem Unterdrücker. Die moralische Bedeutsamkeit
der Fabel, die so kraftvoll aufrechterhalten wird durch die Leiden und die Standhaftigkeit des
Prometheus, wäre zunichte gemacht durch die Vorstellung, er könnte seine stolzen Worte zurücknehmen und vor seinem erfolgreichen und heimtückischen Feind zurückweichen.“
Die Rücknahme des Fluchs durch Prometheus:
„I hate no more
As then, ere misery made me wise. The curse
Once breathed on thee I would recall.“ (I, 57ff.)
„It doth repent me: words are quick and vain;
Grief for awhile is blind, and so was mine.
I wish no living thing to suffer pain.“ (I, 303ff.)
„Submission, thou dost know, I cannot try:
For what submission but that fatal word,
The death-seal of mankind’s captivity –“ (I, 395ff.)
Demogorgon gegenüber Jupiter:
„Descend, and follow me down the abyss.
I am thy child, as thou wert Saturn’s child,
Mightier than thee; and we must dwell together
Henceforth in darkness. Lift thy lightnings not.
The tyranny of Heaven none may retain,
Or reassume, or hold, succeeding thee“ (III, 1, 53ff)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (II)
Das Ende aller Herrschaft überhaupt nach dem Sturz Jupiters:
„Thrones, altars, judgement-seats, and prisons – wherein,
And beside which, by wretched men were borne
Sceptres, tiaras, swords, and chains, and tomes
Of reasoned wrong, glozed on by ignorance –
Were like those monstrous and barbaric shapes,
The ghosts of a no more remembered fame,
Which, from their unworn obelisks, look forth
In triumph o’er the palaces and tombs
Of those who were their conquerors, mouldering round.
These imaged to the pride of kings and priests
A dark yet mighty faith, a power as wide
As is the world it wasted, and are now
But an astonishment; even so the tools
And emblems of its last captivity
Amid the dwellings of the peopled earth,
Stand, not o’erthrown, but unregarded now.“ (III, 4, 164ff.)
„Throne, Altäre, Richtersessel, Zellen
Wo und bei welchen Kreaturen trugen
Zepter, Tiaren, Fesseln, dicke Bände
Begründeten Unrechts, glossiert von Ignoranz
Warn so wie die monströs-barbarischen Bilder
Gespenster von nicht mehr gewußtem Ruhm
Die von unabgenutzten Obelisken
Auf Schlösser und auf Gruften niederschaun
Derer, die sie besiegten; rings vermodernd
Stellten sie vor Priester- und Königshochmut
Finstern, doch starken Glauben, Macht so weit
Wie das Stück Welt, das sie zu Wüste brannten
Und sind nun bloß bestaunt; so auch
Zeichen und Werkzeug ihrer letzten Knechtschaft
Stehn bei den Häusern der bewohnten Erde
Nicht umgestürzt, doch unbeachtet nun.“ (III, 4, 164ff.)
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Der Traum von der neuen Mythologie, Vorlesung im SS 2006
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (III)
Naturwissenschaftliches im Prometheus Unbound. Pantheias Vision der Erde:
„A sphere, which is as many thousand spheres,
Solid as crystal, yet through all its mass
Flow, as through empty space, music and light:
Ten thousand orbs involving and involved,
Purple and azure, white, and green, and golden,
Sphere within sphere; and every space between
Peopled with unimaginable shapes,
Such as ghosts dream dwell in the lampless deep,
Yet each inter-transpicuous; and they whirl
Over each other with a thousand motions,
Upon a thousand sightless axles spinning,
And, with the force of self-destroying swiftness,
Intensely, slowly, solemnly roll on,
Kindling with mingled sounds, and many tones,
Intelligible words and music wild.
With mighty whirl the multitudinous orb
Grinds the bright brook into an azure mist
Of elemental subtlety, like light;
And the wild odour of the forest flowers,
The music of the living grass and air,
The emerald light of leaf-entangled beams
Round its intense, yet self-conflicting speed,
Seem kneaded into one aerial mass
Which drowns the sense.“ (IV, 238ff.)
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