E-mail für Dich Gleich nachdem Ingrid aufgewacht war, ging sie zu ihrem Computer, ließ sich mit dem Internet verbinden und rief ihre E-mails ab. Ein Strahlen machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie dort lesen konnte: Sie haben eine neue Nachricht. Sogleich öffnete sie diese und begann, gespannt zu lesen. Hallo lonely woman! Nun schreiben wir uns schon seit einer Woche E-mails. Ich kann mit dir über den Computer reden, als ob du vor mir sitzen würdest. Wir kennen uns noch nicht lange und doch habe ich schon Vertrauen zu dir gefasst wie zu einer alten Freundin. Mit „alt“ meine ich nicht dein Lebensalter, sondern die Zeit, die wir schon befreundet sind. Deine Ängste und Sorgen verstehe ich gut. Mir geht es so ähnlich. Auch ich fühle mich oft verlassen und einsam in meinem Haus. Dort lebe ich schon viele Jahre allein. Meine Frau ist bereits lange verstorben. Danach hatte ich zwar eine längere Beziehung und viele Affären, aber nichts, was für den Rest meines Lebens hielt. Wir sind eine Art Seelenverwandte. Ich bin frohd durch ein Versehen auf die Flirtline und dich gestoßen zu sein. Hab einen schönen Tag. Bis bald, dein big boss. Ingrid lehnte sich mit einem tiefen Seufzer in ihrem Sessel zurück. So gut wie in der letzten Woche war es ihr schon lange nicht mehr gegangen. Flugs begann sie, eine Mail an ihren big boss zu schreiben. Hallo big boss! Du meinst, wir sind Seelenverwandte? Dann sag mir, lieber Seelenverwandter, was tust du, um der Einsamkeit zu entfliehen oder mit ihr klarzukommen? Ich fühle mich ständig, als ob mir die Decke auf den Kopf fällt. Führe Selbstgespräche. Wenn ich ausgehe, so suche ich oft vergebens nach Gesprächspartnern, obwohl ich mich nicht für unansehnlich halte. Dann gehe ich lieber wieder zurück in meine Wohnung. Dort angekommen wäre ich lieber wieder unter Menschen. In letzter Zeit bin ich ruhelos. Ich höre oft lange Musik, versuche zu lesen, sehe fern, aber nichts hilft mir hundertprozentig über das allein sein hinweg. Also lieber Freund, ich darf dich doch so nennen, was tust du, wenn Du dich alleine fühlst? Melde dich bald wieder. Liebe Grüße, deine lonely woman. Wie war sie überhaupt an diesen Mann mit dem Codenamen „big boss“ gekommen? Ingrid erinnerte sich mit einem verklärten Blick daran. Ihr 60. Geburtstag lag nun schon einige Zeit zurück und auch die Beziehung mit Harry Vorndran war beendet. Nur die Einsamkeit war ihr ständiger Begleiter in den letzten Tagen und Wochen gewesen. An so einem leeren Abend surfte Ingrid im Internet und stieß durch Zufall auf eine Flirtline für Menschen über 60 Jahre. Zuerst dachte sie, dass das alles Blödsinn sei, dann kam ihr der Gedanke, dass man es ja mal versuchen könnte, denn diese Line warb für absolute Diskretion und man lernte den anderen nur unter einem Decknamen kennen. Schnell hatte Ingrid sich einen solchen Codenamen ausgesucht. Sie hieß nun „lonely woman“. In den Text ihrer Anzeige hatte sie nur folgendes geschrieben: Wo ist der Mann, der mir hilft, meine Einsamkeit zu besiegen? Melde dich, bin an tiefgründigen Gesprächen interessiert. Bereits einen Tag darauf hatte sie eine E-mail von ihrem „big boss“, wie sie ihren Mailpartner inzwischen liebevoll nannte, erhalten. Er war männlich und ebenfalls über 60 Jahre alt. Auch er litt unter seiner Einsamkeit und suchte nach einem offenen und ehrlichen Gesprächspartner. Das alles hatte er in seiner ersten Mail an Ingrid geschrieben: Hallo lonely woman! Hier ist ein Mann, den die Einsamkeit aufzufressen droht. Warum verbannen wir nicht gemeinsam dieses Wort aus unserem Wortschatz und unserem Leben? Gespräche, die zu Herzen gehen? In meinem Leben habe ich bisher nur zwei Menschen kennen gelernt, mit denen ich das konnte. Beide habe ich verloren. Es wäre schön, wieder jemanden zu haben, zu dem man offen und ehrlich sprechen kann. Über eine Antwort von dir würde ich mich sehr freuen. Viele Grüße big boss. Ingrid war erstaunt über diese Reaktion auf ihre Anzeige. Doch ehe sie sich auf ein Internetabenteuer einließ, wollte sie noch mehr Details über diesen Mann wissen, nicht über sein Leben, sein Aussehen, nein, das war tabu, sie wollte mehr über sein Innerstes erfahren, die Echtheit seiner Aussagen prüfen. So schrieb sie ihm: Hallo big boss! Gerne will ich mich offen und ehrlich mit dir unterhalten. Man braucht einfach einen Menschen, mit dem man über alles reden kann und von dem man genau weiß, er versteht einen und ist immer für einem da. Ich hatte mal einen Menschen, den ich sehr geliebt habe, eigentlich noch immer sehr liebe, bei dem dachte ich, er wäre so ein verständiger Mann, der stets Zeit für mich und meine Sorgen hat. Aber ich habe mich leider getäuscht. Ja, ich war immer für ihn da, egal wann, wo und wie, nur als ich ihn brauchte, da ließ er mich im Stich. Das tat sehr weh. Also überlege es dir gut, ob du mein Vertrauter sein willst oder nicht, denn, wie du siehst, ich verlange sehr viel von dieser Person. Warte sehnsüchtig auf deine Antwort. Grüße von lonely woman. Nach dieser Mail hörte Ingrid zwei Tage, zwei lange Tage nichts von big boss, egal, wie oft sie auch in ihren Maileingang sah. Dann endlich las sie wieder die bekannten Worte: Sie haben eine neue Nachricht! Und diese neue Nachricht kam von big boss, enthielt jedoch nicht ganz das, was Ingrid erwartet und erhofft hatte, denn er schrieb: Hallo lonely woman! Es ist jetzt zwei Tage her, dass du mir deine letzte Mail geschickt hast. Ich reagiere erst jetzt darauf, da ich erst einmal darüber nachdenken musste, zu was ich in unserer Mailbeziehung bereit bin. Ich bin mir ganz sicher, ich will für dich da sein, in allen Lebensfragen, zu jeder Zeit. Ich weiß, wie das ist, von jemandem, dem man alles gegeben hat, enttäuscht zu werden. Damals war ich derjenige, der enttäuscht hat. So möchte ich nie wieder sein. Das verspreche ich dir. Es grüßt der big boss. Wer Ingrid gut kannte, der sah ihr ihre Enttäuschung an und der machte sie Luft, indem sie kurz und knapp folgende Mail verschickte: Hallo big boss! Was ist aus der Person geworden, die du enttäuscht hast? Entscheide über einen weiteren Kontakt zu dir nach deiner Antwort. Lonely woman. Auch ihr unbekannter Mailpartner hatte Ingrids Missstimmung erkannt und schrieb ihr sogleich diese Zeilen: Hallo lonely woman! Du scheinst verärgert. So etwas hattest du mir nicht zugetraut, oder? Bist du jetzt enttäuscht? Hier meine ehrliche Antwort. Diese Person und ich sind nun freundschaftlich miteinander verbunden. Sie steht mir immer noch mit Rat und Tat zur Seite und auch ich bemühe mich, ihr zu helfen. Durch die damals entstandene Kluft sind jedoch so viele Barrieren aufgebaut worden, dass sie mir nie wieder so vertrauen wird, wie sie es einmal getan hat. Das bedauere ich noch immer sehr. Ich hoffe, meine Ehrlichkeit führt dazu, dass du mir eine Chance gibst, es bei dir besser zu machen. Mit stiller Hoffnung. Grüße von big boss. Der große Unbekannte, der irgendwo an irgendeinem Computer in Deutschland saß und Ingrid diese Mail geschrieben hatte, hatte mit seinen Worten ihr Herz berührt und so antwortete sie ihm: Hallo big boss! Menschen können sich ändern und meiner Meinung nach hat jeder eine zweite Chance verdient. Ich habe damals meinem Partner keine Möglichkeit gegeben, mich überhaupt um eine zweite Chance zu bitten. Heute tut mir das sehr leid. Du sollst eine Chance bei mir haben. Nutze sie. Viele Grüße von lonely woman. Von nun an waren die Mails der beiden von Sorgen und Ängsten des Alltags und des Lebens geprägt, wie man anhand der letzten und nächsten elektronischen Briefe sehen kann. Gernot betrat wie immer erst nach Barbara sein Büro, er war und ist nun mal ein Morgenmuffel, obwohl inzwischen jedem im Hause aufgefallen war, dass er seit mehreren Tagen immer recht gut gelaunt war. Nachdem Frau Grigoleit ihm seinen allmorgendlichen Kaffee mit Keks gebracht hatte, setzte sich Gernot sogleich an seinen Computer und ließ sich mit dem Internet verbinden. Er sah jedoch, wie man nun meinen könnte, nicht in seine E-mails, die die Arbeit betrafen, oh nein, er öffnete eine relativ neu eingerichtete Mailadresse und las dort die für ihn mittlerweile magisch gewordenen Worte: Sie haben eine neue Nachricht. Diese konnte nur von seiner Mailfreundin lonely woman sein. Er öffnete den Brief und las, was da stand. Ein zufriedenes Grinsen machte sich auf seinen Lippen breit. Seit nun mehr als einer Woche stand er in täglichem Kontakt mit dieser Frau, die irgendwo in Deutschland lebte und genauso einsam war wie er. Bei dem Gedanken an sein Alleinsein kam ihm wieder Ingrid in den Sinn. Sie hatte er geliebt, zutiefst geliebt und alles falsch gemacht, bis sie ihn verlassen hatte. Von da an hatte er nach einer Frau gesucht, die ihr ähnlich war. Vielleicht ist es diese Frau lonely woman, er wollte es herausfinden. Ob sie sich genauso über eine Nachricht von ihm freute, wie er über eine von ihr? Wer weiß. Sogleich machte er sich daran, einen neuen Brief an sie zu verfassen: Hallo lonely woman! Gleich, als ich heute Morgen an meinem Computer saß, las ich deine neue Nachricht. Ich freue mich immer wieder, wenn ich so schnell von dir Antwort bekomme. Heute sprang mein Herz sichtlich höher. Du nennst mich deinen Freund, das macht mich sehr glücklich. Es gibt nur wenige Menschen, die mich so nennen. Gern will ich dein Freund sein. Was tu ich, um meiner Einsamkeit zu entfliehen? Arbeiten, am liebsten rund um die Uhr. Dadurch werden meine sozialen Kontakte aber noch weniger, also ein Teufelskreis. Seit neustem mache ich noch etwas gegen die Leere in meinem Leben, ich schreibe dir. So eine unkomplizierte Freundschaft habe ich immer gesucht. Man redet offen über alles, ist sich nahe und doch nicht zu nahe. Wobei ich dich gerne noch näher kennen lernen möchte. Wie wäre es, wenn wir uns treffen würden? Eine schöne Zeit, bis bald, Dein big boss. Gernot hatte gerade die E-mail abgeschickt, als Barbara an seine Tür klopfte. Nach einem „Herein“ von ihm öffnete sie die Tür und fragte: „Herr Professor, Frau Marquardt und die Oberschwester würden sie gerne sprechen. Es scheint sich um eine sehr dringende Angelegenheit zu handeln.“ „Ich lasse die Damen bitten.“ Frau Marquardt lief mit hoch erhobenem Haupt in das Büro ihres Chefs und Ingrid folgte ihr sichtlich angespannt und nervös. „So Herr Professor, ich habe es Ihnen immer gesagt, Frau Rischke ist ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen.“ „Wenn Sie sich vielleicht beide zuerst einmal setzen würden! Dann können Sie mir der Reihe nach erzählen, was vorgefallen ist.“ Ohne noch einmal direkt dazu aufgefordert worden zu sein, sprudelte es aus Sarah heraus: „Vorige Woche hat mir die Oberschwester den Medikamentenverbrauch der letzten drei Monate vorgelegt. Danach habe ich eine Inventur angeordnet, wobei sich zeigte, dass wesentlich weniger Morphium im Hause ist, als nach meiner Bestellung und dem Verbrauch es der Fall sein sollte. Die Oberschwester konnte mir leider nicht sagen, wo die fehlende Menge abgeblieben ist. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Herr Professori.“ „Aha, stimmt das, Ingrid?“ „Leider ja, laut Frau Marquardt und ihrer Einkaufsliste müsste doppelt so viel Morphium vorhanden sein, als wie wir tatsächlich da haben.“ „Das ist schlimm. Wer außer dir hat einen Schlüssel für diesen besonderen Medikamentenschrank?“ „Du weißt doch, nur ich und Schwester Yvonne und für die lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Schön und gut, aber das hieße ja dann, dass du die fehlenden Medikamente entwendet oder verlegt hast. Ersteres schließe ich mal aus. Letzteres wäre ein unverzeihlicher Fehler.“ „Traust du mir das wirklich zu?“ „Wenn nicht du, wer dann?“ „Das weiß ich nicht. Vielleicht wurde bei der Bestellung oder der Verteilung innerhalb des Hauses ein Fehler gemacht.“ „Meinst du nicht, dass Frau Marquardt das überprüft hat, bevor sie zu mir gekommen ist. Nein, diesmal scheint der Fehler bei dir zu liegen, liebe Ingrid.“ Gernot hatte völlig übersehen, wie blass beide Frauen bei seinen Ausführungen geworden sind. „Gernot und was soll das nun für mich bedeuten?“ „Nun ja, du kannst uns keine Auskunft über den Verbleibe der Arznei geben, so etwas ist dir in deinen langen Dienstjahren noch nie passiert gewesen, also denke ich, eine schriftliche Ermahnung dürfte genügen. War es das meine Damen?“ Ingrid fehlten die Worte, sie stand auf und wendete sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zum Gehen. Nur Sarah lächelte zufrieden und meinte zum Professor: „Das war genau die Reaktion, die ich von Ihnen erwartet hatte. Noch einen schönen Tag.“ Gernot vergaß die Angelegenheit sofort wieder, denn er hatte noch viel zu tun, nur Ingrid konnte einfach nicht vergessen, was geschehen war. Einerseits, weil Frau Marquardt dafür sorgte, dass in kürzester Zeit das ganze Haus wusste, dass sie eine Ermahnung erhalten hatte und zum anderen, weil sie Gernots Verhalten nicht verstand. So etwas hatte er noch nie getan. Ohne sich näher mit der Sachlage auseinander zu setzen, hatte er sie gerügt. Immer war er auf ihrer Seite gewesen und hatte sie verteidigt, was war nur los mit ihm? War er nicht mehr ihr Freund? Was hatte sie nur falsch gemacht? Sie dachte an ihren big boss, der hätte sie bestimmt nicht so im Stich gelassen und Sarah zum Fraß vorgeworfen. Und so sehnte sie sich nach Hause und nach einer Mail von ihm. Auch Yvonnes tröstende Worte konnten ihr nicht helfen. Zurück in der Kochstraße führte Ingrids erster Weg zu ihrem Computer. Sogleich stachen ihr die Worte: Sie haben eine neue Nachricht, in die Augen. Was schrieb ihr Freund da? Er wollte sie treffen. Danach war ihr nun gar nicht zu Mute. Sie wollte ihm erst einmal ihr Leid klagen und so schrieb sie ihm folgende Zeilen: Hallo big boss! Heute ist etwas Unvorstellbares geschehen. Ein guter Freund hat mich verraten, er hat mich im Stich gelassen, als ich es am wenigsten von ihm erwartet hätte. Man hat mir eine Tat unterstellt, die ich nicht begangen habe und ohne sich näher damit auseinander zu setzen, hat mich mein Freund dafür verurteilt. Meine Gegenspielerin hat mich darauf hin bei allen Kollegen schlecht gemacht, auf so eine Gelegenheit hatte sie nur gewartet. Was habe ich nur getan, dass mein Freund sich so verhalten hat? Ich verstehe ihn nicht. Was soll ich nur tun? Ich bin mir keiner Schuld bewusst und die Tat habe ich auch nicht begangen. Wie soll es weitergehen? Soll ich mit ihm reden? Bitte, lieber Freund, gib mir einen Rat. Deine verzweifelte lonely woman. Ingrid konnte immer noch nicht fassen, was geschehen war. Sie hoffte, dass ihr verständnisvoller Freund sich noch an diesem Abend bei ihr melden würde. Gernot sah eigentlich nur einmal am Tag nach seinen Mails. Aus einem unerklärlichen Grund ging er an diesem Abend ein zweites Mal ins Internet. Die Nachricht seiner lonely woman versetzte ihm einen gehörigen Schrecken. Wer wagte es, eine solche Frau im Stich zu lassen, das war doch unglaublich. Mit Wut im Bauch setzte er sich hin und verfasste eine neue Mail an sie: Liebe lonely woman! Man hat dir wehgetan? Das ist für mich unbegreiflich. Wer tut einer solch lieben Frau so etwas an? Du willst einen Rat von mir? Das ist nicht leicht. Zuerst einmal: Kämpfe. Wenn du dir keiner Schuld bewusst bist, dann beweise allen Kollegen, dass du keinen Fehler gemacht hast. Das soll für dich jetzt an erster Stelle stehen. Danach kommt erst das Verhältnis zu deinem Freund. Ist der Fall geklärt, dann wird auch die Beziehung zu deinem Freund und sein Verhalten neu definiert werden. Wenn es an der Zeit ist, wird er zu dir kommen und dir sagen, warum er sich so und nicht anders verhalten hat. Meistens gibt es in solchen Fällen eine ganz simple Erklärung. Er hat dich verletzt, aber stelle deswegen nicht eure ganze Freundschaft in Frage, eine Sache sollte sie nicht zerstören können, denn sonst war es keine echte, tiefe Verbundenheit. Lass den Kopf nicht hängen. Ich wünsche dir viel Glück. Ich bin immer für dich da, Dein big boss. Alle halbe Stunde sah Ingrid nach, ob big boss ihr auf ihren Hilferuf schon geantwortet hatte. Ihre Freude über seine schnelle Reaktion ließ sich kaum in Worte fassen. Was sie da las, beruhigte sie sichtlich und sie beschloss, am nächsten Tag sich auf die Spur der verschwundenen Medikamente zu machen. Als Dank schickte sie noch eine kurze Nachricht an big boss: Lieber big boss! Danke, ich sage einfach danke. Du hast mir sehr geholfen. Es ist gut, einen Freund wie dich zu haben. Melde mich morgen wieder. Hoffe, dass die Sache dann schon beigelegt ist. In tiefer Verbundenheit, Deine lonely woman. Früh, früher als sonst, machte sich Ingrid auf den Weg zur Arbeit. Bevor sie auf Station ging, kontrollierte sie noch einmal den Morphiumbestand im Medikamentenschrank und schaute überall dort nach, wo man aus Versehen das Medikament auch hätte unterbringen können. Jedoch ohne Erfolg. Trotzdem trat eine sichtlich fröhliche Ingrid ihren Dienst an, das erkannte auch Schwester Yvonne. „Guten Morgen, Oberschwester, geht es Ihnen besser als gestern?“ „Ja, viel besser. Ich muss nur beweisen, dass ich keinen Fehler gemacht habe, das hat man mir geraten.“ „Wer hat Ihnen das geraten Oberschwester?“ „Ein Freund, ein guter Freund.“ „Habe ich da etwas verpasst? Sind Sie wieder in festen Händen?“ „Nein Yvonne. Ich meine einen richtigen Freund, so zum Reden und Probleme lösen.“ „Wo haben Sie einen Mann kennen gelernt, mit dem man über alles reden kann? Hat der noch einen jüngeren Bruder?“ „Das weiß ich nicht. Ich habe ihn über das Internet kennen gelernt. Wir sprechen nur über all das, was uns bewegt. Familiäres und so bleibt außen vor.“ „Dieser Mann scheint Sie aber gut getröstet zu haben.“ „Ja, er kann das mit wenigen Worten. Es ist fast so wie in dem Film. Wissen Sie in dem, wo ein Mann und eine Frau sich auch durch das Internet verbunden sind und in Wirklichkeit hassen, bis sie sich lieben lernen. Wie heißt der Film doch gleich?“ „E-mail für Dich.“ „Ja, genau den meine ich.“ „Na, dann kann ja nichts mehr Ihre gute Laune vertreiben. Ich wünsche Ihnen noch viele schöne E-mails.“ „Danke Yvonne, jetzt aber schnell an die Arbeit.“ In ihrer Mittagspause aß Ingrid eine Kleinigkeit in der Cafetéria und hörte durch Zufall, wie sich zwei Schwestern aus der Notaufnahme unterhielten: „Stell dir vor, Frau Marquardt hat uns schon wieder Morphium bestellt.“ „Wo sollen wir das denn noch lagern?“ „Das habe ich sie auch gefragt.“ „Sie sagte, dass nach unserem Verbrauch unser Bestand schon fast leer sein müsste.“ „Und was hast du ihr geantwortet?“ „Dass sie uns doch erst letzte Woche welches bestellt hätte.“ „Ihre Reaktion?“ „Das würde nicht stimmen, wir hätten letzte Woche keines bekommen. Ich erklärte ihr, dass das nicht richtig sei, aber sie wollte davon nichts mehr hören und legte einfach auf. Das war gestern Mittag. Bis heute hat sie sich nicht wieder gerührt.“ „Ich versteh’ die Welt nicht mehr. Frau Marquardt ist doch sonst immer so sparsam.“ „Ja, eigentlich schon, wechseln wir das Thema: Was machst du heute nach Feierabend?“ Ingrid hörte sich die Antwort der anderen Schwester nicht mehr an, sie wusste schon genug. Auf direktem Wege ging sie zu Frau Marquardt. Sie klopfte an ihre Bürotür und wartete das „Herein“ ab. „Ach Frau Rischke, was kann ich noch für Sie tun?“ „Die Sache mit dem verschwundenen Morphium aufklären.“ „Wieso ich? Was kann ich dafür, wenn Sie nicht ordentlich mit ihren Medikamenten umgehen?“ „Nun tun Sie mal nicht so, als ob Sie nicht wüssten, wovon ich rede. Ich habe durch Zufall erfahren, dass die Notaufnahme zuviel Morphium hat, weil Sie dieser Abteilung zu oft welches bestellt haben. Mich würde es nicht wundern, wenn die genau die Menge zu viel hätten, die wir zu wenig haben. Und Sie wissen das seit gestern Mittag. Bestimmt haben Sie das schon überprüft und wenn nicht, dann sollten Sie das so schnell wie möglich tun. Ach, wollen Sie es Professor Simoni später sagen oder soll ich das machen? Ich lasse Ihnen die Wahl. Schließlich will ich nicht, dass Sie sagen können, ich wäre nachtragend oder rachsüchtig. Ich wünsche einen schönen Tag.“ Siegessicher verließ Ingrid, mit sich und der Welt zufrieden, das Büro der Verwaltungschefin. Genauso schnell wie am Tag davor von Ingrids Ermahnung machte heute Frau Marquardts Fehler und Ingrids Unschuld in Sachen Morphium im Hause die Runde. Alle Schwestern und Pfleger freuten sich mit ihr, denn jedem war klar gewesen, dass Ingrid keine Medikamente verlegt hatte. Abends schrieb Ingrid noch schnell ein paar Zeilen an ihren big boss: Lieber big boss! Dein Rat hat geholfen. Danke nochmals. Ich habe den Fall geklärt und meine Unschuld bewiesen. Nun warte ich geduldig auf ein Zeichen des Bedauerns von meinem Freund. Was machst du so? Es grüßt deine lonely woman. Gernot kehrte nach einem langen Tag in der Klinik müde in die Villa zurück und morgen stand ihm ein unangenehmer Gang bevor. Frau Marquardt hatte ihm nachmittags gestanden, dass sie einen Fehler mit dem Morphium gemacht hatte und nicht Ingrid. Nun war es an ihm, sie um Verzeihung zu bitten. Warum hatte er sie auch so schnell verurteilt. Das war Gedankenlosigkeit. Ob sie noch einmal Nachsicht mit ihm üben würde? Er hoffte es sehr. Um sich abzulenken, sah er in seine Mails. Und da war sie, die neue, sehnsüchtig erwartete Nachricht von seiner lonely woman. Zum Glück, wenigstens ging es ihr wieder besser. Und so antwortete er: Liebe lonely woman! Ich freue mich von ganzem Herzen für dich, dass die Sache erst einmal aufgeklärt ist. Dein Freund wird sich bestimmt auch noch bei dir entschuldigen. Überlege genau, was du dann tust. Vergib ihm nicht zu schnell. Mir steht morgen auch Ärger ins Haus. Hier bin ich der, der etwas falsch gemacht hat, aber ich denke, ich kann die Angelegenheit schnell wieder ins Lot bringen. Halte durch, du bist eine starke Frau und in Gedanken bin ich bei dir. Dein big boss. Wie jeden Tag, bevor Ingrid ihre Wohnung verließ, sah sie in ihre Mails und siehe da, es gab eine neue Nachricht von ihrem big boss. Auf dem ganzen Weg in die Klinik gingen ihr seine Worte nicht aus dem Kopf. Verzeih deinem Freund nicht so schnell. Big boss hatte Recht. Immer wieder hatte sie Gernot alles verziehen, wenn er sie nur anlächelte und mit seinem „Ich bin ein großer dummer Junge“ Blick angesehen hatte. Diesmal wollte sie es ihm nicht leicht machen. Er sollte endlich mal über sich und sein Verhalten nachdenken. Ingrid nahm sich fest vor, ihm gegenüber standhaft zu bleiben und was Ingrid sich fest vorgenommen hatte, das schaffte sie auch, meistens. An diesem Tag stand die Dienstplanbesprechung mit Ingrid an. Gernot wollte sich bei dieser Gelegenheit gleich bei ihr für sein einfach blödes Verhalten von vor zwei Tagen entschuldigen. Ingrid betrat pünktlich wie eh und je das Büro von Gernot. „Hallo Ingrid, schön dass du da bist. Komm setzt dich. Bevor wir anfange,n wollte ich noch etwas mit dir bereden.“ „Guten Tag Gernot. Was gibt es denn mit mir zu bereden?“ „Also das mit dem Morphium, das tut mir leid. Ich habe da voreilig reagiert, einfach gedankenlos. Besser wäre gewesen, die Sache genauer zu untersuchen, bevor ich dich schriftlich ermahne. Diese ist hiermit zurückgenommen. Verzeihst du mir noch einmal?“ Und da war er, dieser „Ich bin ein großer dummer Junge“ Blick, doch diesmal konnte Ingrid ihm widerstehen, denn wie hatte ihr Internetfreund gesagt: Verzeih ihm nicht zu schnell. „War das alles, Gernot?“ „Ja.“ „Gut, dann lass uns am Dienstplan arbeiten, ich habe noch viel auf Station zu tun und wenig Zeit.“ „Du verzeihst mir also?“ Da war wieder dieser Blick. „Nein, tu ich nicht. Was du getan hast, hat mich zutiefst verletzt. Ein Freund hört sich erst einmal beide Seiten genau an, bevor er eine Entscheidung trifft und untersucht den Fall haarklein. Ich dachte, du bist mein Freund! Mit ein paar lapidaren Worten ist es diesmal nicht getan. Als ich einen Freund brauchte, warst du nicht für mich da. Du hast mich stattdessen Frau Marquardt zum Fraß vorgeworfen. Genug geredet. Lass uns jetzt arbeiten oder ich gehe wieder.“ Gernot sah Ingrid erstaunt an. So kannte er sie nur von damals, als sie ihn verlassen hatte. Wollte sie ihm jetzt auch noch ihre Freundschaft kündigen? Und wieder wäre er, ganz allein er, daran schuld gewesen. Das durfte nicht sein. Diesmal wollte er kämpfen, wenigstens um ihre Freundschaft wollte er kämpfen, wenn er ihre Liebe schon ganz verloren hatte. Doch im Augenblick, das wusste er hundertprozentig, war es besser zu schweigen. So erledigten sie ihre Arbeit, ohne ein weiteres Wort über den Vorfall zu verlieren. An diesem Abend setzte sich Ingrid innerlich aufgewühlt an den Computer, um big boss mitzuteilen wie gut sein Rat funktioniert hatte und was für Gefühle die Konfrontation mit Gernot in ihr wach gerufen hatte. Lieber big boss ! Ich habe es geschafft! Heute wollte sich mein Freund für sein unmögliches Verhalten mir gegenüber entschuldigen. Doch ich akzeptierte seine Ausrede nicht. Ich blieb hart. Obwohl es mir sehr wehgetan hat zu sehen, wie betroffen ihn das machte. Stark sein, nicht nachgeben. Er soll einmal am eigenen Leib erfahren, wie es ist, so enttäuscht zu werden. Bin ich rachsüchtig oder gehässig? Gehe ich zu weit? Was meinst du? Ach, du hattest doch neulich vorgeschlagen, dass wir uns treffen könnten. Hast du immer noch Lust dazu? Liebe Grüße, deine lonely woman. Zweifel über ihr Verhalten stiegen in Ingrid auf. Aber das Gefühl, Gernot einmal all das, was er ihr angetan hatte heimzuzahlen, überwog und so schlief sie mit sich und der Welt zufrieden ein. Anders ging es zu diesem Zeitpunkt Gernot. Er war immer noch in der Klinik. Ingrids Verhalten hatte ihm zugesetzt, sehr zugesetzt. Sie hatte ihm doch sonst immer seine Fehler verziehen, warum diesmal nicht? War er zu weit gegangen? Hatte er zu viel von ihr verlangt? Waren seine Fehler bei Ingrid angesammelt worden und der jetzige hatte sie, wie ein Tropfen zuviel ein Fass zum Überlaufen gebracht. Oh, ich Idiot. Gernot konnte nur noch den Kopf über sich selbst schütteln. Wieso hatte er sich nicht für Ingrid eingesetzt? Er wusste keine Antwort. Genauso wenig wie auf die Frage, wie er sich mit ihr wieder versöhnen konnte, denn ein Gedanke ließ ihn momentan überhaupt nicht los: Ich darf Ingrid als Freundin nicht auch noch verlieren. Da er mit dieser Sache an einem Punkt angelangt war, an dem ihm nichts mehr einfiel, beschloss er sich erfreulicheren Dingen zuzuwenden und öffnete das Internet. Und da stand wie erwartet: Sie haben eine neue Nachricht. Ein zufriedenes Lächeln machte sich nach dem Lesen der Mail auf seinem Gesicht breit. Seine lonely woman hatte durchgehalten und nicht nur das, sie wollte sich sogar mit ihm treffen. Schnell antwortete er ihr: Liebe lonely woman! Ich bin stolz auf dich. Du darfst jetzt nicht nachgeben, noch nicht. Lass ihn zappeln. Er muss ein für alle Mal einsehen, dass er dich so nicht behandeln darf. Du gehst nicht zu weit. Du öffnest ihm nur die Augen. Wir Männer brauchen das manchmal. Ich eingeschlossen. Treffen? Gerne. Sag wann und wo und ich bin da. Eine gute Nacht wünscht dir dein big boss. Am anderen Morgen in der Kochstraße: Big boss hatte es also Ernst gemeint. Er wollte sie tatsächlich persönlich kennen lernen. Warum nicht. Ingrid überlegte. Wann? Wo? Da kam ihr die Idee. Flink schrieb sie ihm eine Nachricht: Lieber big boss! Wo wir uns treffen? Eine gute Frage. Ich weiß nicht, wo du lebst und deshalb mache ich dir einen Vorschlag für einen Treffpunkt, vielleicht kannst du da ja hinkommen. Dieses Wochenende bin ich bei einer Freundin in Leipzig. Sie schwärmt immer so vom Leipziger Hof. Wie wäre es Samstagabend dort um sagen wir 19.00 Uhr? Ginge das? In erwartungsvoller Vorfreude Deine lonely woman. Ob das funktionieren würde? Ingrid hoffte es von ganzem Herzen. Sie freute sich so, diesem wunderbaren Mann persönlich gegenüberzustehen. War er wirklich so wie in seinen E-mails? Aufgeregt wie ein junger Teenager verließ sie die Wohnung und ging zur Arbeit. Dort begegnete sie als erstes Yvonne, der Ingrids besondere Laune nicht verborgen blieb. „Na, Sie sehen ja zu so früher Morgenstunde schon fröhlich aus.“ „Yvonne, mir geht es herrlich.“ „Wer oder was hat dazu beigetragen, etwa der Professor?“ „Der, aber nein, mein Mailfreund. Wir wollen uns treffen.“ „Oh, das finde ich aber toll. Wann denn?“ „Wahrscheinlich am Samstag.“ „Erzählen Sie mir dann am Montag, wie es war?“ „Nichts lieber als das. Das ist ein Mann.“ „Oberschwester, Oberschwester, Sie träumen ja mit offenen Augen. Hoffentlich kommt nicht das bittere Erwachen hinterher.“ „Nun sehen Sie mal nicht gleich wieder schwarz. Ich freue mich.“ „Da kann ja nichts mehr schief gehen. Ich habe jetzt Dienstschluss. Noch einen schönen Tag.“ „Ihnen auch, Yvonne, Ihnen auch.“ Und so gingen die Beiden ihrer Wege, Yvonne nach Hause, Ingrid zum Dienst, mit der Hoffnung, schon am Abend zu wissen, ob es mit dem Treffen klappen würde. Ein neuer Morgen, doch Gernot wusste, dass ihn in der Klinik nichts Gutes zu erwarten hatte, viel Arbeit, Streit mit Ingrid, oh wie er das hasste. Und so entschloss er sich, gerade in der Klinik angekommen, erst einmal nachzusehen, ob seine lonely woman ihm geantwortet hatte. Diese Frau war verständnisvoll, sie hätte ihm bestimmt gleich seinen kleinen Fehler verziehen oder etwa nicht? Egal, erst mal in die Mails sehen, dann an die Arbeit gehen. Gernot lachte selbst über seinen kleinen gedanklichen Reim. Im selben Augenblick erschienen folgende Worte auf dem Bildschirm: Sie haben eine neue Nachricht. Oh wie schön, lonely woman stimmte einem Treffen zu und sogar in Leipzig, was für ein Zufall, dass sie das kommende Wochenende ausgerechnet hier verbrachte. Gernot antwortete ihr nur ein paar Zeilen: Hallo lonely woman! Habe heute viel Arbeit und kann daher leider nur kurz antworten. Ich freue mich auf unser Treffen am Samstag. Kann es zeitlich einrichten, an diesem Tag um diese Zeit an diesem Ort zu sein. Das wollte ich dir schnell mitteilen. Aber wie erkenne ich dich? Verzeih, die nächste Mail wird länger, versprochen. Bis dann liebe Grüße Dein big boss. Abschicken und fertig. Der Alltag hatte Gernot wieder und ließ ihn erst spät an diesem Tag nach Hause kommen. Anders erging es Ingrid. Sie machte Feierabend wie immer und sah als aller erstes, nachdem sie nach Hause gekommen war, in ihre Nachrichten im Computer. Wie erhofft hatte ihr big boss schon geantwortet. Sie überlegte lange, woran big boss sie erkennen sollte und da fiel ihr wieder dieser Film ein, der mit der Mailfreundschaft, E-mail für Dich. Sie suchte in ihrem Schrank und fand die Videokassette. Die wollte sie als Erkennungszeichen zu dem Abendessen mitnehmen. Eine nette Mail als Antwort, danach Abendbrot und dann das Video sehen, genau so machte es Ingrid. Lieber big boss! Es ist nicht schlimm, dass du momentan keine Zeit für lange Mails hast. Wir sehen uns ja schon am Samstag. Wie du mich erkennst? Ich werde eine Videokassette von dem Film „Email für Dich“ mitbringen. Weißt du, der Film, wo sich auch zwei Menschen über das Internet kennen lernen und noch mehr. Freue mich jetzt schon. Arbeite nicht so viel. Grüße Deine lonely woman. Ingrid sah sich den Film “E-mail für Dich” an. Und wie jedes Mal musste sie zum Ende des Filmes weinen, vor Freude und Rührung weinen. Doch an diesem Tag stieg in ihr noch ein anderer Gedanke auf. Sollte ihr Mailfreund etwa auch jemand sein, den sie schon kannte, den sie vielleicht nicht mochte oder mit dem sie in Zwietracht lag? Ach was, das gibt es nur im Film. Mit diesem Satz wischte Ingrid all ihre Gedanken weg. Wenn sie gewusst hätte, wie nah ihr Leben momentan doch diesem Film kam. Ob auch das Ende dasselbe sein würde? Endlich war der besagte Samstag gekommen. Ingrid hatte sich schon den ganzen Tag auf diesen entscheidenden Abend vorbereitet. Sie suchte mit bedacht ihre Garderobe heraus. Gönnte sich über mehrere Stunden ein Wohlfühl- und Schönheitsprogramm, begann rechtzeitig sich anzuziehen, zu schminken und zu stylen. Für 18.15 Uhr hatte sie sich ein Taxi bestellt. Es kam auf die Minute genau in der Kochstraße an und fuhr sie zum vereinbarten Treffpunkt. Dem Kellner vom Leipziger Hof sagte sie ihren Namen und ließ sich zu dem reservierten Tisch bringen. Auf diesen legte sie, gut sichtbar, das vereinbarte Erkennungszeichen, die Videokassette. Dann begann sie zu warten. Bei jedem älteren Herrn, der an ihrem Tisch vorbeikam, durchfuhr sie nur ein Gedanke: Ist er es? Plötzlich blieb ein Mann neben ihrem Tisch stehen und sprach sie an: „Guten Abend, Ingrid. Du bist auch hier zu Essen? Wie ich sehe in Begleitung.“ Dabei zeigte er auf den Platz ihr gegenüber, der für big boss gedeckt war. Ingrid zuckte zusammen. „Gernot, was machst du denn hier?“ „Essen. Ich habe gehört man soll hier sehr gut essen können, da wollte ich es einmal ausprobieren. Wo ist denn deine Begleitung?“ Ironie lag in seinen Worten. „Die kommt erst noch.“ Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte Gernot sich auf den freien Platz Ingrid gegenüber. „Ich darf doch, bis dein Freund kommt, oder? Es ist doch ein Freund und keine Freundin?“ „Gernot, das ist mir jetzt nicht so recht.“ „Warum? Weil er nicht weiß, dass wir mal ein Paar waren? Ist er vielleicht eifersüchtig?“ „Nein, das ist es nicht.“ „Dann können wir uns doch noch ein bisschen unterhalten bis er da ist. Oh, du hast ein Video mitgebracht? E-mail für dich. Wie romantisch, Liebe per Internet und Streit in der Realität. Fast wie bei uns, wir streiten uns ja auch momentan.“ „Das ist richtig, aber wir mailen nicht miteinander und wir verlieben uns nicht ineinander.“ „Was macht dich da so sicher?“ „Gernot, ich bitte dich.“ „Also, was für einen Mann erwartest du? Einen wie diesen Harry, der dich komplett umkrempeln will? Oder einen wie mich, der dich versetzt und nicht versteht? Oder einen wie deinen Ex-Mann?“ „Bitte, werde nicht geschmacklos. Der Mann, den ich heute hier treffe, der ist wie keiner von meinen anderen Beziehungen.“ „Bist du dir da ganz sicher?“ „Hundertprozentig.“ „Da musst du ihn ja gut kennen. Schau mal, da kommt ein Mann zur Tür herein, ist er das?“ „Ich weiß es nicht.“ „Was heißt, du weißt es nicht? Ich dachte, du kennst ihn?“ „Ich kenne seine Meinung, seine Einstellungen, seine Ängste, seine Gefühle, aber sein Äußeres kenne ich nicht.“ „Das verstehe ich jetzt nicht.“ „Musst du auch nicht, Hauptsache ich verstehe es. Bitte geh nun.“ „Wie du möchtest. Na, dann noch einen schönen Abend. Hoffentlich versetzt er dich nicht.“ Gernot geht ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ingrid ist sauer. Über Gernots Verhalten und darüber, dass big boss noch nicht da ist. Als er eine Stunde später immer noch nicht erschienen ist, bezahlt Ingrid ihr Getränk, bestellt sich ein Taxi und lässt sich enttäuscht nach Hause fahren. Warum ist big boss nicht gekommen? Diese Frage quält Ingrid das ganze Wochenende. Bisher ist auch keine Mail des Bedauerns oder der Entschuldigung gekommen. Ingrid versteht die Welt und vor allen Dingen ihren big boss nicht mehr. Doch im Laufe des Sonntags beginnt die Wut und Enttäuschung der Sorge um ihren Mailfreund zu weichen. Was ist, wenn er nicht gekommen ist, weil ihm etwas passiert ist? Sie kann jedoch nichts tun, als auf ein Lebenszeichen, also eine Mail von ihm, warten. Montags erreicht eine schlecht gelaunte Ingrid ihren Arbeitsplatz. Im Schwesternzimmer trifft sie auf Yvonne, die ihr sofort ansieht, dass das Wochenende nicht so verlaufen ist, wie Ingrid es sich vorgestellt hatte. „Guten Morgen, Oberschwester. Oh, oh, Sie sehen aber gar nicht gut aus. Ist er nicht gekommen?“ „Guten morgen, Yvonne. Ja, er ist nicht gekommen.“ „Das bedauere ich sehr, denn ich hätte Ihnen gewünscht, dass er kommt. Warum hat er Sie versetzt?“ „Das weiß ich nicht.“ „Hat er Ihnen nicht den Grund dafür gemailt?“ „Bisher noch nicht. Vielleicht ist ihm etwas dazwischen gekommen oder zugestoßen.“ „Das kann alles möglich sein. Dann mussten Sie ja die ganze Zeit im Restaurant alleine sitzen und auf ihn warten.“ „So alleine war ich leider nicht. Professor Simoni war auch zufällig im Leipziger Hof. Er leistete mir kurz Gesellschaft.“ „Oh, und dabei haben Sie doch momentan miteinander Krach.“ „Ja, das war auch aus jedem Wort von uns zu hören. Nach einer Viertelstunde ging er zum Glück wieder.“ „Na, Oberschwester, ich hoffe, Ihr Freund meldet sich noch und es gibt eine ganz plausible Erklärung, warum er nicht da war.“ „Das hoffe ich auch. So viel zu meinem verpatzten Samstagabend. Ich versorge jetzt Herrn Michel, übernehmen Sie Frau Schneider?“ „In Ordnung.“ Und Yvonne dachte noch, dass das Geschehen sie immer mehr an den Film „E-mail für Dich“ erinnerte, aber das sprach sie im Beisein der Oberschwester lieber nicht laut aus. Gernot hatte ebenfalls ein schlimmes Wochenende hinter sich. Da hatte er voller Vorfreude den Leipziger Hof betreten, um sich mit seiner Mailpartnerin lonely woman zu treffen und wenn traf er? Seine große Liebe und eigentlich gute Freundin, mit der er momentan leider Streit hatte, Ingrid. Zu allem Überfluss musste er dann auch noch feststellen, dass Ingrid und lonely woman ein und dieselbe Person waren. Und was tat er Trottel? Er verärgerte Ingrid noch mehr, als sich mit ihr auszusöhnen. Warum hatte sie ihm seinen Fehler nicht verziehen? Weil ihr Mailfreund, also er selbst, ihr dazu geraten hatte. Die Suppe, die er sich da eingebrockt hatte, musste er nun auch ganz alleine wieder auslöffeln. So grübelte er den ganzen Sonntag darüber, wie er aus dieser verfahrenen Situation wieder herauskommen könnte. Irgendwann kam ihm der Film „E-mail für Dich“ wieder in den Sinn. Wie hatte der Mann sich da aus der prikären Situation gerettet? Und er beschloss, es so ähnlich wie dieser Joe Fox zu machen, denn eines war ihm heute klarer denn je: Er liebte Ingrid. Als Freundin wollte er sie wenigstens behalten, doch noch schöner wäre es, ihre Liebe wieder zurückzugewinnen. Was hatte lonely woman ihm einmal geschrieben: Sie liebte einen Mann, für den sie immer da gewesen war, der sie aber damals, als sie ihn brauchte, im Stich gelassen hatte, damit konnte Ingrid doch nur ihn gemeint haben. Dieser Gedanke beflügelte Gernot unendlich und so stand am Ende des Tages fest, wie er in der nächsten Zeit vorgehen wollte um Ingrid neu zu erobern, als Frau zu erobern. Als Erstes schrieb er am Montagmorgen im Büro eine Mail an lonely woman: Liebe lonely woman! Bist du sehr enttäuscht, weil ich nicht zu unserem vereinbarten Treffen gekommen bin? Ich war da, doch bei dir saß bereits ein Mann. Es tat weh, dich mit jemand anderem zu sehen, deshalb ging ich wieder. Vielleicht hat sich dein Herz ja schon entschieden, für ihn entschieden. Da wollte ich nicht stören. Liebe Grüße Dein big boss. Was Ingrid ihm wohl antworten würde? Das zweite, was er an diesem Morgen tat, war in Sachen Gernot einen Weg zu Ingrid zu suchen. Er bestellte ab heute für die nächsten vierzehn Tage einen Strauß mit fünfzehn gelben Rosen, der jeden Morgen um 10.00 Uhr in der Klinik für Ingrid abgeliefert werden sollte. Dann machte er sich an seine Arbeit und wartete in aller Ruhe ab. Punkt 10.00 Uhr gab ein Fleuropbote einen Strauß gelber Rosen mit Karte für Ingrid im Schwesternzimmer ab. Ingrid las die Karte und dachte: „Oh du Charmeur, jetzt versuchst du, dich mit Blumen wieder bei mir einzuschmeicheln, aber ganz so einfach mache ich es dir diesmal nicht.“ Zu Beginn ihrer Mittagspause ging sie in Gernots Büro, klopfte an, wartete das „Herein“ ab und öffnete die Tür. „Guten Tag Gernot. Danke für die Blumen.“ „Gern geschehen, Ingrid. Ich wollte mich noch für mein unmögliches Verhalten am Samstagabend entschuldigen. Wie ich sehe, willst du gerade Pause machen? Lass uns doch etwas essen gehen, ich lade dich ein.“ „Aha, ja, warum eigentlich nicht.“ „Ich verspreche auch, hoch und heilig, nicht mit dir zu streiten und dich nicht zu ärgern.“ „Ja, dann, worauf warten wir noch?“ Gernot bot Ingrid seinen Arm an und zusammen gingen sie zum Italiener um die Ecke. Nach dem Essen: „Ist der Mann, auf den du gewartet hast, eigentlich noch gekommen?“ „Nein, aber warum interessiert dich das?“ „Weil wir befreundet sind. Schade, dass er nicht da war. Hat er dir schon geschrieben, warum er nicht gekommen ist?“ „Auch diese Frage muss ich mit einem „nein“ beantworten. Bist du nun zufrieden?“ „Bin ich nicht. Ich sehe, dass du enttäuscht und traurig bist. Das tut mir leid.“ „Ich tu dir leid? Seit wann das denn wieder?“ „Ingrid, ich verstehe deinen Sarkasmus. Ich habe dich im Stich gelassen, als Freund im Stich gelassen. Das verzeihst du mir nicht so schnell, ich weiß, aber auch ich verzeihe es mir nicht, zumal es aus einer Gedankenlosigkeit heraus geschehen ist. Dabei will und wollte ich dir doch immer zur Seite stehen. Diese Rolle hat jetzt wohl ein anderer Mann übernommen. Ich hoffe, er macht es besser als ich.“ „Oh ja, er hätte mich nicht einfach mal eben so verurteilt. Er versteht mich und meine Sorgen, Ängste und Gefühle.“ „Ingrid, einen solchen Freund und Mann brauchst du. Ich wäre gerne dieser Mann für dich gewesen, aber es hat nicht sollen sein. Solltest du doch irgendwann einmal wieder meine Hilfe oder Freundschaft brauchen, so sollst du wissen, ich bin immer für dich da.“ „Na, versprich nur nichts, was du nicht halten kannst. So, danke für das Essen, ich muss zurück zum Dienst.“ „Ja, lass uns zahlen und zurückgehen. Eines noch, bedenke immer, kein Mensch ist ohne Fehler, weder du noch dein Mailfreund.“ „Was sollte an ihm nicht in Ordnung sein?“ „Nun, vielleicht ist er hässlich oder schwer krank. Wie heißt er denn?“ „Auch das weiß ich nicht, ich kenne nur seinen Decknamen.“ „Wie nennt er sich denn?“ „Big boss.“ „Das kann heißen, er ist reich und sucht nur eine Abwechslung oder er ist im Job ein Diktator.“ „Das glaube ich nicht, dazu sind seine Mails zu gefühlvoll.“ „Man kann jemand anderem auch etwas vormachen. Ich versuche, ehrlich zu sein. Dadurch bin ich schusselig und trample oft auf deiner Seele herum. Jeder ist eben, wie er ist.“ „Jetzt gehen wir aber endgültig, bevor du noch poetisch wirst.“ Zurück in der Klinik ging eine nachdenkliche Ingrid auf Station und Gernot freute sich darüber, er wollte sie ins wanken bringen, im Bezug auf big boss. Wenn sie wüsste. Abends in ihrer Wohnung las Ingrid die Nachricht von big boss. Natürlich verzieh sie ihm sofort, dass er bei Gernots Anblick die Flucht ergriffen hatte. Sie schrieb ihm, was in der letzten Zeit mit ihrem Freund so alles geschehen war und dass eben dieser der Mann im Restaurant gewesen war. Zum Schluss der Mail fragte sie noch folgendes: Sag mal lieber Freund, suchst du dir mit dieser Internetfreundschaft nur eine Abwechslung zu deinem Leben? Bist du ein Chef, weil du dich big boss nennst? Wenn ja, was für einer? Grüße Deine lonely woman. Gernot wusste genau, was er wollte und so trat er momentan immer dann in Ingrids Leben, wenn sie nicht damit rechnete. Zum Beispiel zwei Tage später. Sie hatte ihren freien Nachmittag und bummelte durch die Stadt. In einem Straßencafé machte sie Pause und wer saß da? Gernot. Überrascht trat sie an seinen Tisch: „Hallo Gernot, hast du etwa auch frei?“ „Ja, ich dachte so ein Nachmittag ohne die Arbeit würde mir auch mal nicht schaden.“ „Allerdings. Für solche Ideen hattest du doch früher nie Zeit.“ „Die Zeiten ändern sich, Menschen ändern sich. Man muss nur eine Chance dazu bekommen. Fehler gehören auch dazu. Schlimm ist, wenn man seine Fehler nicht erkennt oder sie nicht einsieht. Versucht man sie in Zukunft zu vermeiden, so hat jeder eine Chance verdient, denke ich. Komm, setzt dich her.“ „Danke.“ „Was macht eigentlich dein big boss, so hieß er doch. Hat er sich für sein Fernbleiben am Samstag entschuldigt?“ „Ja, er ist nicht gekommen, weil er dich bei mir gesehen hat.“ „Das ist ein triftiger Grund. Hast du ihm verziehen?“ „Natürlich.“ „Ach, wie konnte ich das vergessen, er darf das ja, ich nicht. Aber ich will nicht nachtragend sein. Darf ich dich auf eine Tasse Kaffee einladen?“ „Ja, das darfst du. Nochmals vielen Dank für die Rosen. Meinst du nicht, dass ich jetzt genügend habe?“ „Genügend? Eine schöne Frau hat nie genügend Blumen.“ „Du machst mich ja ganz verlegen!“ „Und ich dachte schon, das kann nur dein big boss. Hast du ihn gefragt, warum er sich so nennt?“ „Ja, ich habe gefragt.“ „Was hat er geantwortet?“ „Dass ich ihn gut genug kennen müsste, um zu wissen, ob er ein Diktator ist oder mit mir nur eine Abwechslung sucht.“ „Also hat er es nicht abgestritten.“ „Nicht direkt.“ „Ich glaube, er hat auch seine Fehler.“ „Gut, ich gebe zu, inzwischen denke ich auch, dass er nicht perfekt ist.“ „Niemand ist perfekt. Kleine Fehler gehören zum Leben dazu und es ist schön, wenn sie einem nachgesehen werden.“ „Ich gebe mich geschlagen. Nun lass uns unseren Kaffee genießen.“ Wieder zu Hause dachte Ingrid noch lange über Gernots Worte nach und so schrieb sie in ihrer nächsten E-mail: Mein Freund sagt, jeder macht Fehler, machst du heute auch noch welche? Ich dachte, du wärst dazu zu sensibel. Täusche ich mich da? Bitte raube mir nicht meine Hoffnung. Liebe Grüße, deine lonely woman. Postwendend kam die Antwort: Wenn ich dir deine Hoffnung raube, indem ich sage, ich mache auch heute noch Fehler, so muss ich sie dir rauben. Kein Mensch ist perfekt. Ich mache Fehler wie alle anderen auch. Im Alltag durch den Stress bin ich oft gedankenlos und dann verlässt mich meine Sensibilität. Doch ich stehe zu meinen Fehlern und entschuldige mich dafür. Meist verzeiht man mir dann auch. Du fragst das bestimmt, weil ich dir den Rat gegeben habe, deinem Freund seine Missetat nicht so schnell zu vergeben. Nun hat er dir gesagt, dass niemand perfekt ist. Jeder kann auf Vergebung hoffen, wenn er sein fehlerhaftes Verhalten einsieht. Habe ich Recht? Dieser Freund hat schon öfter deine Seele verletzt, wie du mir geschrieben hattest. Darum sagte ich, lass ihn zappeln, doch ich wollte nicht, dass du dich mit ihm auf Dauer zerstreitest. Ich wollte nur, dass er sich Mühe gibt, den Fehler wieder gut zu machen, wenn er das tut, dann vergib ihm, denn es wird auch dir gut tun, wenn ihr euch wieder versteht und glaube mir, ein zweites Mal wird ihm das nicht so schnell passieren. Bis bald, Dein big boss. Ingrid glaubte nicht, was sie in der aller neusten Mail von ihrem Freund lesen konnte. Er war also kein Übermensch. Im Grunde ihres Herzens erkannte sie, dass er mit dem, was er ihr gemailt hatte, die Wahrheit sagte. Zudem gab sich Gernot so viel Mühe. Sie wollte ihm demnächst sagen, dass sie ihm seinen Fehltritt verzeihen würde und alles wieder beim Alten zwischen ihnen sein sollte. Doch zuvor reagierte sie noch als lonely woman: Lieber big boss! Du hast, wie immer, den Nagel auf den Kopf getroffen, danke für deine Offenheit, auch wenn sie schmerzt. du bist ein wirklich guter Freund. Wollen wir uns nicht doch noch treffen? Einen schönen Tag von Deiner lonely woman. Zuerst an diesem sonnigen Morgen las Gernot Ingrids Mail. Eine Antwort wollte er erst später abschicken. Denn er wusste in diesem Augenblick noch nicht, ob die Zeit schon reif war für eine Demaskierung von big boss. Heute stand eine große Besprechung beim Chef an. Alle waren da, natürlich auch Ingrid. Zum Schluss der Besprechung meinte Gernot: „Wie Sie alle wissen, meine Damen und Herren, gab es vor einiger Zeit Probleme mit angeblich fehlendem Morphium. Schnell dachte ich, eine Schuldige gefunden zu haben und ließ die Sache auf sich beruhen. Genauso schnell stellte sich heraus, dass es sich nur um eine Verwechslung gehandelt hatte. Was habe ich daraus gelernt? Man muss angebliche Tatsachen erst bis ins letzte Detail überprüfen, bevor man jemanden zu Unrecht verurteilt. Deshalb möchte ich mich hier noch einmal in aller Form bei unserer lieben Oberschwester dafür entschuldigen. Des weiteren hoffe ich, dass wir alle etwas daraus lernen können, nämlich wie wichtig es ist, etwas mehr als einmal zu überarbeiten, ehe man damit an die Öffentlichkeit geht. Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Die Ärzte, Frau Marquardt und Frau Grigoleit verließen den Raum, nur Ingrid blieb zurück und räusperte sich, damit Gernot, der sich schon wieder in seine Akten vertieft hatte, sie bemerkte. „Ach, kann ich noch etwas für dich tun?“ „Was du eben gesagt hast, also, dass du dich bei mir vor allen Kollegen entschuldigt hast, das rechne ich dir hoch an. Ich denke, es ist an der Zeit, das Kriegsbeil zu begraben. Lass uns wieder Freunde sein.“ „Ja, gerne. Wobei Ingrid, ich will ganz ehrlich zu dir sein. Als ich dachte, ich hätte dich auch noch als Freundin verloren, da stiegen Gefühle in mir auf, die ich längst für verschollen gehalten hatte. Der Gedanke, dich nun endgültig zu verlieren, war genauso schlimm wie dich damals als Frau verloren zu haben. Ich kann nichts dagegen tun, ich liebe dich noch immer. Doch mehr als ein Freund kann ich momentan nicht sein, denn die besseren Karten hat dieser big boss. Ob es eine Chance für uns ohne ihn gäbe, wer weiß. Das wollte ich nur noch loswerden.“ Gernot war bei seinen Worten aufgestanden, hatte Ingrid an den Händen gefasst und ihr tief in die Augen gesehen. Dort schimmerten jetzt Tränen. Schnell entzog sie ihm ihre Hände. „Ja, Gernot, wer weiß, was wäre, wenn es big boss nicht gäbe, aber es gibt ihn. Deine Freundschaft möchte ich aber auf keinen Fall missen. Noch einen schönen Tag.“ Ohne eine Antwort von Gernot abzuwarten, verließ Ingrid das Büro. Gernot war nicht entgangen, wie sehr Ingrid seine Worte verwirrt hatten und so ging er ins Internet und schrieb lonely woman eine Mail. Er stimmte einem erneuten Treffen zu. Er schlug wieder einen Ort in Leipzig vor, diesmal das Friedensdenkmal, am Sonntag, 14.00 Uhr und fragte sie nach ihren Lieblingsblumen. Wie begründete er seinen Vorschlag doch so schön: Liebe lonely woman, da hast du wieder einen Grund, deine Freundin zu besuchen, wenn wir erneut uns in Leipzig treffen wollen. Gernot wusste, die Zeit war reif, sich zu erkennen zu geben. Ingrid sichtlich hin- und her gerissen, las diese neue Mail von big boss, sagte zu und schrieb ihm, dass ihre Lieblingsblumen gelbe Rosen seien. Bis Sonntag waren es noch drei Tage, drei lange Tage. In ihrem Innersten wusste Ingrid, dass sie Gernot liebte, immer noch, unaufhörlich. Doch da war dieser andere Mann, big boss, der so vieles hatte, was sie sich an Gernot immer gewünscht hatte. Was sollte sie nur tun? Konnte Gernot nicht sein wie big boss? Dann wären all ihre Probleme gelöst. Trotz allem freute sie sich endlich ihn, big boss, zu sehen, von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Doch die Tage und Stunden bis zu dem erneuten Treffen wollte Gernot nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er hatte Ingrid ja nun schon seine Gefühle offen gestanden, doch wollte er ihr Herz ganz davon überzeugen, dass er und nur er der einzig richtige Mann für sie war. Es war an Ingrids freiem Abend. Plötzlich klingelte es an der Tür, als sie öffnete, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihr stand Gernot im festlichen Anzug. „Guten Abend, Ingrid. Überraschung. In einer Stunde gibt es ein Mozartkonzert im Gewandhaus. Schaffst du es, dich bis dahin ausgehfein zu machen? Du bist nämlich dazu hiermit von mir eingeladen.“ „Ja, für Mozart würde ich alles hinbekommen. Komm rein, in einer halben Stunde bin ich fertig. Setzt dich doch so lange ins Wohnzimmer. Willst du etwas trinken?“ „Nein danke. Ich werde geduldig warten, geh schon. Schade, dass du nur für Mozart alles hin bekommen würdest oder für big boss.“ „Gernot“, Ingrid sah ihn zärtlich an und strich ihm sacht über die Wange, „ für dich würde ich auch fast alles hinbekommen.“ „Das lässt mich hoffen.“ Ingrid schüttelte nur noch den Kopf und verschwand im Bad. Nach einem wunderschönen Konzertabend gingen Ingrid und Gernot schweigend nebeneinander her in die Kochstraße. Die Einladung Gernots auf ein Glas Wein hatte sie abgelehnt. Doch das machte nichts. Sie hatten einen wunderschönen Abend miteinander verbracht. Ingrid durchbrach das Schweigen: „Gernot, meinst du das wirklich ehrlich?“ „Was Ingrid?“ „Dass du mich noch immer liebst?“ „Ja, das meine ich ehrlich.“ „Warum sagst du mir das erst jetzt und hast es mir nicht schon viel früher gestanden?“ „Weil ich erst dadurch, dass ich dich fast auch noch als Freundin verloren hätte, meine wahren Gefühle für dich richtig erkannt und zugelassen habe.“ „Das fiel dir wirklich spät ein.“ „Zu spät?“ Sie waren vor Ingrids Haustür angekommen. „Danke für die schönen Stunden, lieber Gernot. Gute Nacht. Bis morgen. Komm gut nach Hause.“ „Bekomme ich keine Antwort auf meine Frage?“ Statt ihm irgendetwas halbherziges zu antworten, hauchte Ingrid Gernot einen sachten Kuss auf jede Wange, dann auf den Mund und verschwindet im Haus. Gernot bleibt mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen allein zurück. Er war überhaupt nicht traurig, denn er wusste, Mozart hatte ihn seinem Ziel wieder einen Schritt näher kommen lassen. Und auch in dieser Nacht fand Ingrid kaum Schlaf, so durcheinander war ihr Herz und steckte damit den Verstand an. Freitag, der Freitag vor dem bewussten Samstag: Ingrid stand nach Schichtende an der Bushaltestelle und sah dem abfahrenden Bus nach. „Oh, wie ärgerlich“, dachte Ingrid, denn sie hatte ihn nur um ein paar Sekunden verpasst und der nächste kam erst in einer halben Stunde. Während sie noch nachdachte, was sie jetzt tun sollte, hielt neben ihr ein BMW, Gernots BMW. Er öffnete die Scheibe der Beifahrerseite und fragte: „Du hast den Bus versäumt? Darf ich dich nach Hause fahren?“ „Das wäre nett.“ Schnell stieg Gernot aus, umrundete sein Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür, ließ Ingrid einsteigen, ehe er sich wieder hinter das Steuer setzte. „Lieb, dass du mich fährst.“ „Aber nicht mal halb so lieb wie big boss.“ „Nein, du kommst ihm inzwischen gefährlich nahe.“ „Ach ja?“ „Ach ja, aber bilde dir darauf bitte nicht zu viel ein.“ „Das könnte ich nie.“ Doch in Gernots Augen war zu lesen, wie sicher er sich war, dass er Ingrid neu erobert hatte und der morgige Tag nur noch die letzte Bestätigung dafür sein sollte. Da waren sie auch schon in der Kochstraße angekommen und Ingrid verabschiedete sich, wie nach dem Konzert, mit einem Kuss auf jede Wange, einen auf den Mund und einem „Vielen Dank und komm gut nach Hause“. Der spannende Moment war gekommen. Ingrid wartete am Friedensdenkmal. Big boss wollte sich zu erkennen geben, indem er ihr einen Strauß gelber Rosen mitbrachte. Auf einmal sah Ingrid diese Rosen. Sie sah auf und erblickte den Mann, der dazu gehörte, der zu dem Decknamen big boss gehörte. All ihre Sorgen und Gedanken waren mit einem Mal weggewischt. Ihre kühnsten Träume und Wünsche waren wahr geworden. Vor ihr stand Gernot, ihr big boss. Ihr Herz hatte es sich so gewünscht. Unaufhaltsam liefen ihr Tränen über die Wangen. Gernot nahm sie beschützend in die Arme, wischte ihr die Tränen fort und sagte immer wieder: „Jetzt wird alles gut.“ Ingrid beruhigte sich langsam. Währenddessen begann Gernot, sie zu küssen. Erst sacht auf die Haare, die Stirn, die Nase, dann auf den Mund und seine Küsse wurden immer fordernder und begehrender. „Ingrid, ich liebe dich, ich liebe dich von ganzem Herzen. Meine Freude, als ich erkannte, dass die Frau, lonely woman, die seit langem es mal wieder geschafft hatte mein Herz zu berühren, die Frau war, die ich über alles liebte, war einfach unbeschreiblich. Ich dachte immer, du würdest für mich nichts mehr empfinden, wobei ich dich mit jeder Faser meines kranken Herzens noch immer liebte. Lonely woman sagte mir, dass ich da an einem Irrglauben litt, dafür bin ich ihr immer dankbar.“ „Gernot, ich liebe dich, wie eh und je. Ich würde alles für dich tun und dir alles verzeihen. In den letzten Tagen habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass du von big boss lernen könntest. Wie ich sehe hast du gelernt, viel dazu gelernt. Das Schönste für mich ist, dass du mein big boss und mein Gernot bist.“ Eng umschlungen blieben die zwei noch eine Weile da stehen, dann machten sie sich Arm in Arm auf den Weg zu Gernots Villa. Unterwegs sprachen sie noch viel über den Film „E-mail für Dich“ und Ingrid erkannte, dass es ein Happyend nicht nur im Film, sondern auch im wahren Leben geben kann. In Gernots Villa angekommen küssten sich die zwei erneut. Stürmisch und immer leidenschaftlicher. Irgendwann zwischen zwei endlos erscheinenden Küssen strich Gernot Ingrid eine Strähne aus dem Gesicht, fuhr ihr zärtlich über den Rücken und sah sie fragend an. Ingrid nickte ihm bestätigend zu. Er ergriff ihre Hand, küsste sie und zog sie mit sich fort in sein Schlafgemach. Einige Stunden später: Man hatte sich im Wohnzimmer eingefunden, nach einem kleinen Imbiss, zu einem Glas Wein. „Wie soll es nun weitergehen?“ „Was meinst du? Ob wir noch hier sitzen bleiben oder uns schlafen legen?“ „Ingrid, das meine ich nicht. Wobei natürlich primär die Frage zu klären ist, ob du die Nacht mit mir in der Villa verbringen möchtest.“ „Getrennt oder zusammen?“ Gernot schnaufte hörbar auf. Ingrid begann laut zu lachen. „Entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern, nur etwas necken. Big boss hätte das bestimmt verstanden und den Spaß mitgemacht.“ „Und lonely woman hätte gewusst, dass ich in diesem Punkt keinen Spaß verstehe.“ Ingrid richtet esich auf, denn bis jetzt hatte ihr Kopf an Gernots Schulter gelegen, setzte sich steif auf die Couch und sagte mit ernster Mine: „Herr Simoni, ich würde mich über alle Maße freuen, wenn es Ihnen genehm wäre, dass ich mit Ihnen die Nacht unter diesem Dach, in einem Bett, verbringe.“ „Duuuu!“ Gernot gab sich gespielt entrüstet und kitzelte Ingrid so lange, bis sie zu lachen anfing, dieses helle Lachen, das er so vermisst hatte. Als sich, nach mehreren Küssen, die Gemüter wieder beruhigt hatten, setzte Gernot noch einmal zu einem ernsthafteren Gespräch an: „Ich wollte vorhin eigentlich von dir wissen, wie du dir unsere gemeinsame Zukunft vorgestellt hast.“ „Ach das meintest du, diese Frage kann ich dir sofort und problemlos beantworten: Ich kündige meine Wohnung, ziehe wieder zu dir, du hilfst mir bei meinem Umzug. Dann stimmen wir für die Zukunft unsere Dienstpläne und den Urlaub aufeinander ab, du reduzierst etwas deine Arbeitszeit und wir verbringen viele schöne Stunden mit dem anderen. Vielleicht heiraten wir ja irgendwann einmal.“ Gernot war so erstaunt und verwundert über Ingrids Worte, dass er erst einmal sprachlos war. Schließlich sagte er: „Ja Ingrid, so machen wir es,“ und zur Bestätigung seiner Worte küsste er Ingrid voll inniger Liebe. „Aber das mit dem Heiraten, das machen wir nicht erst irgendwann, sondern so schnell wie möglich, denn ich liebe dich, weißt du das nun endlich?“ „Ja, jetzt weiß ich es und ich liebe dich auch.“ Die darauf folgenden Minuten und Stunden gehörten ganz dem wiedergefundenen Glück der Zwei. Einsam, so wollten sie nie mehr sein, ein Leben zusammen planten sie für ihre Zukunft und die begann bereits an diesem Nachmittag in Gernots Villa. Big boss und lonely woman haben die Einsamkeit besiegt und Gernot und Ingrid in der Realität wieder zusammen gebracht. Gernot würde ein Leben lang ein Stück big boss und Ingrid ein wenig lonely woman sein und wenn sich einmal dunkle Wolken über ihrem neu gefundenen Glück zusammenbrauen sollten, dann dachten sie an diese Zeit zurück und sahen sich zusammen den Film „E-mail für Dich“ an und die Welt war für Gernot und Ingrid wieder in Ordnung. Als Schwester Yvonne von der abschließenden Entwicklung der Beziehung von Chef und Oberschwester erfuhr, da sagte sie: „Ich hab’ es doch gleich gewusst. Wie dieser Film, sogar der glückliche Schluss stimmt.“ Ende.