Frühling im kirchlichen Leben

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Frühling im kirchlichen Leben?
Vortrag in Will / Schweiz bei Toni Miesch (Forum Ost), 2007-11-17
Frühling im kirchlichen Leben? Ehrlich gesagt möchte ich den Mund nicht zu voll nehmen. Ich sehe
einige Schneeglöckchen und Krokusse, vielleicht sogar hier und da eine Tulpe und ein paar Narzissen.
Aber in der Breite unserer Kirche in Deutschland kann sicher nicht von einem Frühling im kirchlichen
Leben gesprochen werden.
1967 veröffentlichte der Spiegel die Ergebnisse einer kirchensoziologischen Untersuchung, die im
Auftrag des Emnid-Institutes durchgeführt wurde. Als Zusammenfassung kommentierte der Spiegel
die Befunde folgendermaßen:
Die Kirchenmitglieder „sind nicht gegen, aber auch nicht für die Kirche. Sie wollen sie nicht
abschaffen, aber sie halten sie für überflüssig. Nur zu Familienfesten soll sie noch dabei sein – wie
eine gute, alte Tante (…) Sie sind nicht gegen, aber auch nicht für den Christen-Glauben. Sie glauben,
was und wie es ihnen gefällt. Was die anderen glauben, ist ihnen so gleichgültig, dass sie es nicht
einmal mehr wissen wollen“ (18.12.1967).
Das war vor 40 Jahren. 1967! Die 68-er waren gerade erst im Anmarsch.
Wir dürfen uns nichts vormachen. Wir leben in einem weitgehend unchristlichen Land. Der geistliche
Grundwasserspiegel sinkt weiter. Die Säkularisierung ist vielleicht nur noch in Frankreich und
Skandinavien größer. Ansonsten ist eine solche Religionslosigkeit weltweit ziemlich einmalig.
Massiver Mitgliederschwund:
Evangelisch-reformierte Kirche Kanton Basel Stadt:
Katholische Kirche Basel:
1960
2006
2015
1973
2002
137.000 Mitglieder
40.000 Mitglieder
26.000 Mitglider (knapp 20
% von 1960)
92.000 Mitglieder
32.000 Mitglieder
Evangelische Kirche in Deutschland rechnet damit, dass wir bis zum Jahr 2030 ein Drittel weniger
Kirchenmitglieder und nur noch die Hälfte der heutigen Finanzkraft haben werden („Kirche der
Freiheit“, 2007). Evangelische Landeskirche in Württemberg: 2,3 Mio. Mitglieder. Kirchenbezirk
Reutlingen (Dekanat): 76.000 Mitglieder.
Trotz dieser wenig erfreulichen Prognosen wittern wir Morgenluft – Frühlingsluft.
Im Frühjahr dieses Jahres begann in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine große Serie zum Thema „Was
soll ich glauben?“ Es ist auffallend, welche neue Beachtung die Religion in den deutschen Leitmedien
erfährt. Spiegel und Fokus berichten nicht nur zu Weihnachten über religiöse Themen. Talkmaster wie
Beckmann oder Harald Schmidt scheuen sich nicht, über den Glauben zu reden. Bücher von Peter
Hahne und Anselm Grün erreichen Millionenauflagen.
Spiegel-Bestseller-Liste von dieser Woche:
1
Hape Kerkeling, Ich bin dann mal weg
3
Richard Dawkins, Der Gotteswahn
10
Manfred Lutz, Gott. Eine kleine Geschichte des Größten
Warum hat sich der Wind gedreht? Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle. Die 68-er-Generation
tritt langsam ab. Starke Börsenverluste im Jahr 2000, der Anschlag auf das World Trade Center in
New York am 11. September 2001 und der Tod von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2005. „Wir sind
Papst“, titelte die Bildzeitung nach der Wahl Kardinal Ratzingers zum neuen Papst. Niemand sprach
vom Muff unter den Talaren – im Gegenteil, ein Hauch von 2000 Jahren Geschichte wehte in die
deutschen Wohnzimmer und ließ viele etwas von der Kraft des christlichen Glaubens ahnen.
So beginnt im neuen Millenium ein vorsichtiges Tasten nach etwas, das in unserer
Multioptionsgesellschaft Halt bieten könnte. Wir, die Aldi-, Lidl- und Tschibo-Generation lechzen
geradezu nach Werten, die länger als fünf Jahre Bestand haben. Wir wollen durchaus beides: Das
Schnäppchen und das, was Bestand hat.
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„Ist unsere christliche Kultur erkaltet?“, fragt Stephan Kulle in seinem Buch „Warum wir wieder
glauben wollen… Unser christliches Abendland scheint vor etwas zu stehen, das man verschiedenartig
einschätzen kann. Es reicht von Erkaltung oder Desinteresse bis hin zu Verwirrung oder Wertesuche…
Eines ist mir klar geworden: Jemand, der in seinem Religions- und Weltanschauungs-Mix aufgeht,
mag auf diese Weise gut leben. Jedoch lebt er allein, denn er wird kaum jemanden finden, der einen
deckungsgleichen Mix an Gedanken und Empfindungen hat. Vielleicht ist es menschlicher und
einfacher in einer religiösen oder sinnstiftenden Gemeinschaft zu leben, auch wenn der Einzelne nicht
mehr so autonom ist.“
Zitat: IV. Mitgliedschaftsstudie der EDK, S. 116
Eva: als Kind hat mich das fasziniert, wenn ich da gestanden habe und [...] eine Riesengruppe alle
dasselbe gesagt haben, äh und, also so ah ihren Glauben bekannt haben, das heißt, äh, die, ich hob ja
geglaubt, dass die das, was sie da sagen, auch wirklich glauben. Und da hab ich gedacht, das glauben
die alle. Und die sagen das alles zusammen, und irgendwann sagst du das auch. [...] Ich habe nie an
die Jung frauengeburt geglaubt. Ich hab immer schon als Kind gewusst, das kann nicht sein. Jungfrauen kriegen keine Kinder [...] das muss, muss 'n schönes Märchen sein oder so. Aber weil dieses äh
Märchen allen gehört,.. das fand ich schön. Also ist egal, äh äh, das muss man ja, manche glauben,
dass das Märchen Wahrheit ist, andere sagen, das ist 'n schönes Märchen, äh, und andere sagen, nee,
das ist, hat äh äh 'n tieferen Sinn, das hat 'ne Bedeutung. Das gibt so, aber alle, allen gehört dieses
Märchen. Alte, also ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, es gehört ihnen, sie gehören zusammen,
Lisa: Und da spielt die Rolle, eine Rolle mit,
Eva: Ja.
Lisa: Eva, du bist mittendrin in einer Gemeinschaft
Eva: Ja. Jaja, so.
Lisa: Und das ist so im selben Rhythmus, dieselben Laute,
Eva: Ja. Jaja.
Lisa: und du gehörst da mit rein, das ist ja 'n Stück, als wenn du so ein Molekül bis in einem, in einer
Gemeinschaft. Da ist Geborgenheit.
Zeit-Interview von Bernd Ulrich über den christlichen Glauben mit „einer Reihe von Geistlichen“. Am
Ende seines gescheiten Artikels schreibt Bernd Ulrich: „Noch einmal zurück zu unseren geistlichen
Gesprächspartnern. Sie lassen einen schon staunen. So frei und offen wie mit ihnen lässt sich
außerhalb des engsten Familien und Freundeskreises kaum über den Tod, die Liebe und den Sinn
reden. Dabei wirken sie selten durch ihr Amt gehemmt, eher von ernster Gelassenheit geprägt. Und sie
reden nicht wie Therapeuten über diese Fragen, sondern als Leute, die es selber betrifft. Was vor 2000
Jahren begann, es glüht noch immer“ (Die Zeit, 8.2.2007).
Danach sehnen sich die Menschen. Nach der Glut. Nach der Wärme. Nach Menschen, die für ihre
Überzeugung einstehen. Nach einer Gemeinschaft, in der etwas von der Liebe Gottes spürbar wird.
Davon ein „Molekül“ sein.
An dieser Stelle möchte ich zum Blick über den eigenen Kirchturmhorizont einladen. Genauer gesagt
nach England in die Anglikanische Kirche. Die standen und stehen vor den gleichen Problemen wie
wir in Deutschland oder in der Schweiz. Das ist der Vorteil. Die Engländer haben eine ähnliche
volkskirchliche Situation wie wir. Darum sind die Verhältnisse vergleichbarer als mit den USA
(Willow Creek oder Saddleback).
Callum Brown („The Death of Christian Britain. Understanding Seculariszation 1800-2001“, London
2001): „Britian is showing the world how religion as we have known it can die.“
Auch in England war es so, dass der Rückgang an finanziellen Ressourcen das Umdenken in den
Köpfen beschleunigt, wenn nicht überhaupt erst bewirkt hat. Im Februar waren Bischof John Finney
und Dekanin Felicity Lawson von der anglikanischen Kirche in Bernhausen (Württemberg). John
Finney sagt: „Gott sprach zu uns in der Sprache, die auch die Bischöfe verstehen, in der Sprache des
Geldes.“
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Diese Sprache versteht man auch in Stuttgart oder in Karlsruhe, in Basel, Zürich, Aarau und St.
Gallen. Wie reagieren wir darauf?
In meiner Stadt Reutlingen reagierte die „Kirchenleitung“ damit, dass zwei neue Gremien geschaffen
wurden:
a) Die Struktur- und Sparkommission
b) Die Arbeitsgruppe Raumkonzeption
Beide Gremien sind – ohne Zweifel – wichtig. Wenn aber die Kirche allein auf eine strukturelle
Neuordnung setzt, dann verkennt sie die Situation. Wir haben doch in erster Linie ein spirituelles, ein
geistliches Problem. Wie habt Benedikt von Nursia formuliert: Ora et labora. Darum der Blick nach
England.
Gordon Bates, Bischof von Whitby, sagte schon 1998: “Die Kirche muss ihre missionarische
Verantwortung erkennen. Wir leben in einer Gesellschaft, die – ganz gleich ob in der Stadt oder auf
dem Land – schon in der zweiten oder gar dritten Generation wieder aus Heiden besteht; und wir
können nicht einfach weiter von der Annahme ausgehen, dass es reicht, die Menschen an ihren lange
verschütteten Glauben zu erinnern, um sie zum Glauben an Jesus Christus zu führen. Bei vielen
Menschen ist nicht einmal ein Rest von christlichem Glauben vorhanden. Er ist nicht etwa verschüttet,
er ist nicht existent. Wir müssen also in den meisten Fällen ganz von vorne anfangen und befinden uns
vor einer kritischen Phase missionarischer Herausforderung.“
1999 hat das übrigens auch Professor Eberhard Jüngel aus Tübingen erkannt und auf einer EKDSynode formuliert: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden
Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen.“
Im Prinzip ist die Krankheit erkannt. Aber die Mittel sind bei uns noch nicht gefunden. Sie bekommen
bei uns die Arznei noch nicht in den Läden.
Drei Schritte erkennen wir bei den Engländern:
1.) Sie versuchen herauszubekommen, wie Menschen zum Glauben kommen
2.) Sie gehen den Weg der persönlichen Evangelisation durch Glaubenskurse
3.) Sie bringen eine hohe Bereitschaft zum Wagnis hinsichtlich kirchlicher Organisationsformen
mit
1.) Die Frage danach, wie Menschen zum Glauben kommen
Während deutsche Untersuchungen sich eher darauf beschränken, den „religiösen Aggregatzustand“
(Herbst) festzustellen und nach der Verbundenheit mit der Kirche zu fragen, hat John Finney 1992
eine Untersuchung vorgelegt, die konkret danach fragt, wie es dazu kommt, dass (erwachsene)
Menschen zum Glauben kommen: „Finding Faith Today“. Die Engländer sagen: „Evangelisation
braucht eine Basis, die mehr auf Fakten beruht als auf Fanatsie.“
 In kleinen Gemeinden kommen Menschen eher zum Glauben als in großen
 In sozial schwachen Gebieten kommt es zu mehr Bekehrungen (Konversionen) als in
wohlhabenden
 Wichtig ist die familiäre Sozialisation und die Erfahrungen in der kirchlichen Kinder- und
Jugendarbeit
 Beziehungen sind viel wichtiger als Veranstaltungen und evangelistische Events (belonging
before believing)
 Ein Drittel spricht von einer Bekehrung als einem Ereignis, zwei Drittel sagen, dass ihr Weg
zum Glauben eine jahrelange, begleitete spirituelle Reise gewesen sei.
 Wir sind jetzt dabei, mit Hilfe des Insituts zur Erforschung von Evangelisation und
Gemeindeentwicklung in Greifswald eine ähnliche deutsche Forschungsarbeit in Angriff zu nehmen
(Württemberg: Heinzpeter Hempelmann, früher Liebenzeller Mission). Projekt „Wachsende Kirche“
in Württemberg.
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Bob Jackson, Hope for the Church (2002)
Bob Jackson war nach einer Karriere als Wirtschaftsberater der Regierung 20 Jahre lang im
Gemeindedeinst und seither Forschungsbeuftragter für Springboard, die Evangelisationsinitiative der
Erzbischöfe von Caterbury und York.
Neben der nüchternen Beschreibung des gravierenden Niedergangs in der Anglikanischen Kirche stellt
er fest, dass 20 Prozent der Gemeinden in den vergangenen zehn Jahren nicht geschrunpft, sondern
gewachsen sind. Er sagt: Es gibt bessere und darum auch schlechtere gemeindliche, pastorale
Strategien.
Er vergleicht die Situation mit einem Loch im Eimer. Man wird nicht den ganzen Eimer reparieren,
sondern das Loch suchen und es schließen. Oder: Eine Warenhauskette verliert immer mehr Kunden.
Was wird sie tun? Sie wird erforschen, welche Manager, Läden, Warenangebote, Verkaufs- und
Werbestrategien, Servicekultur usw. mit diesem Verlust in Verbindung gebracht werden können und
welche nicht. Und sie wird ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen. Nur so kann auch die Kette als
ganze überleben. In der Kirche aber, so vermerkt er selbstkritisch, gehen wir mit dem „Loch im
Eimer“ anders um. Manche sagen: „Da ist gar kein Loch!“ Andere meinen: „Naja, es tropft ein
bisschen, aber der Eimer sieht immer noch gut aus.“ Einige sagen: „Es tropft zwar, aber auf lange
Sicht ist noch genug Wasser im Eimer – bis ich in Ruhestand gehe.“ Wiederum andere meinen: „Man
kann einfach überhaupt nichts dagegen tun, wenn postmoderne Eimer Wasser verlieren.“
Die Engländer sprechen von „best-practice“-Beispielen. Wo gibt es Wachstum? Wo kommen
Menschen zum Glauben? Und wo nicht?
 Kongress Wachsende Kirche
Robert Warren: The Healthy Churches´ Handbook (2004)
Auch von ihm wurden Gemeinden untersucht, die ein signifikantes Wachstum zeigten. Es waren sehr
unterschiedliche Gemeinden: Es ist nicht das spezielle Umfeld, oder die bestimmt Größe der Kirche,
nicht eine besondere Frömmigkeitstradition, oder ein Leitungsstil, der es wahrscheinlicher machen
würde, dass eine Gemeinde wächst. Trotzdem fand Warren sieben Merkmale gesunder Gemeinden:
1. Gesunde Gemeinden sind vom Glauben begeistert (energised) – nicht nur schauen, dass die
Dinge laufen, oder dass wir überleben
 Die Feier im Gottesdienst und die Feier der Sakramente bewegen die Menschen,
Gottes Liebe zu erfahren
 Motivation: Energie kommt von dem Verlangen, Gott zu dienen und auch einander zu
dienen
 In Verbindung mit der Heiligen Schrift: auf kreative Weise, die etwas mit dem
alltäglichen Leben zu tun hat (Hauskreise!)
 Den Glauben an Jesus Christus pflegen / weitergeben: Helfen, dass andere wachsen
im Glauben und ihren Glauben teilen.
2. Gesunde Gemeinden sind eher nach außen als nach innen orientiert. Der Blick nach draußen –
mit dem Anliegen, den Menschen nicht nur mit einem kirchlichen Fokus zu begegnen
(Missionsopfer)
3. Gesunde Gemeinden suchen herauszufinden, was Gott möchte – auf der Tagesordnung stehen
nicht nur unsere Lieblingsthemen
4. Gesunde Gemeinden nehmen die Kosten und den Aufwand für die Veränderungen und für das
Wachstum in Blick. Krisen werden als Herausforderungen angenommen.
5. Gesunde Gemeinden bilden eine Gemeinschaft – sie funktionieren nicht wie ein Club oder
eine religiöse Organisation
 Beziehungen werden gepflegt, sodass die Einzelnen spüren, sie sind Teil einer
Gemeinschaft des Glaubens (oft in Hauskreisen) mit der Möglichkeit, sich gegenseitig
zu helfen.
 Leiterschaft: Ordinierte und Nicht-Ordinierte arbeiten als Team zusammen, um
angemessene Formen für eine gesunde Kirche zu entwickeln.
 Allgemeines Priestertum (lay ministry): die unterschiedlichen (Geistes-)Gaben, die
Erfahrungen und Glaubenswege von allen werden geschätzt und zum Ausdruck
gebracht in und außerhalb der Kirche.
6. Gesunde Gemeinden schaffen Raum für andere (sie sagen das nicht nur)
5




Willkommen heißen
Kinder und Jugendliche
Fragende und Zweifelnde
Verschiedenheit wird als Stärke gesehen und wird angestrebt (Unterschiedlichkeit in
sozialer, etnischer, intellektueller, körperlicher, altersmäßiger Hinsicht.)
7. Gesunde Gemeinden beschränken sich auf weniges – aber das machen sie sehr gut
Kultur ist wichtiger als Struktur. Wir müssen an unserer Kultur arbeiten – nicht nur an Strukturen
(Pfarrplan; Katholische Kirche: Seelsorgeeinheiten; Pastoralräume).
Herbst: Bei der Kultur einer Gemeinde geht es vor allem um gemeinsame Werte, Haltungen, tief
in der DNS der Gemeinde verankerte Überzeugungen, so etwas wie ein emotionales Grundmuster
der Gemeinde. Firmen haben so etwas, Familien haben so etwas, Fakultäten haben so etwas, aber
eben auch Gemeinden. Man spürt es, wenn man in die Gemeinde kommt. Man merkt einen
bestimmten Geist. Vielleicht kann man auch vom Charakter einer Gemeinde sprechen. Der
Charakter einer Gemeinde, das ist die Art des Umgangs miteinander, aber auch mit dem Fremden
und dem Gast. E ist auch die Art, wie wir uns geben, wenn wir beten. Der Charakter einer
Gemeinde, das ist das Ensemble der Werte, die bei uns gelten.
 Beispiel: Kinderecke mit Pampers-Höschenwindeln für jedes Kleinkind („ihr seid uns
willkommen“)
 Einspielung CD Hüsch
2.) Die persönliche Evangelisation durch Glaubenskurse
In der Anglikanischen Kirche wurde sehr viel intensiver als in Deutschland das Modell der befristeten
evangelistischen Glaubenskurse propagiert und auch fast flächendeckend eingeführt. Allein am
Alphakurs haben im „United Kingdom“ bisher rund zwei Millionen Menschen teilgenommen. 7.000
Alphakurse laufen derzeit in England. In der Schweiz sind es immerhin 700 (Alphalive), in
Deutschland liegen wir bei 1.300 Alphakursen. Viele Ehrenamtliche sind bereit, zu eine solchen
Veranstaltungsreihe einzuladen, zu dekorieren, zu kochen, in Kleingruppen über den eigenen Glauben
zu reden. Der Alphakurs ist eine großartige Herausforderung, seinen eigenen Glauben zu formulieren.
Dieser „evangelistic turn“ kann kaum überschätzt werden (ermutigende Erfahrungen als AlphaBerater).
John Finney (Emerging Evangelism, London 2004) sagt: „In 1985 evangelism for most people still
meant the big meeting, the important speaker, the exhausting (and expensive) effort by the church. By
2000 evangelism in the United Kingdom meant the small group, the ordinary member of the
congregation, the continuous work of the church.”
Neben Alpha: Emmaus-Kurs; Christ werden – Christ bleiben; Religionsunterricht für Erwachsene /
Stufen des Lebens.
Man spricht von persönlicher oder permanenter Evangelisation.
Exkurs: Persönliche Evangelisation oder Veranstaltungsevangelisation?
Als Pfarrer und Evangelist der württembergischen Zeltkirche muss ich hier ein Veto einlegen.
[idea-Spektrum, April 2007:]
Engagierte, am Gemeindewachstum interessierte Christen setzen heute fast ausschließlich auf die
sogenannte permanente Evangelisation: Glaubenskurse, Kleingruppen, Weitersagen der Guten
Nachricht im Alltag und im Rahmen gewachsener Beziehungen. Großevangelisationen scheinen aus
der Mode zu kommen. Dabei kommt es auf den richtigen Mix an. Der „Event“ und der Hauskreis
müssen Hand in Hand gehen. Der große, öffentliche Auftritt braucht die Bodenhaftung der
permanenten Evangelisation. Aber ohne den Mut, das Evangelium auch auf den „Marktplatz“ zu
bringen, verlieren wir Christen an Weite und gesellschaftsprägender Kraft.
Das mediterane Frühlingswetter macht es mir leicht, eine Lanze für die Zeltmission zu brechen.
Während manche unken, nach gut hundert Jahren hätte sich die Evangelisation in einem Zelt überlebt,
spricht die Zeit eine andere Sprache. Zeltveranstaltungen sind weltweit im Kommen. Ob beim
Sommerfest des Bundespräsidenten, beim CHIO in Aachen, oder beim EU-Gipfel in Athen – überall
werden attraktive Zelte aufgebaut. Auf der Wiesn in München sitzen Menschen unterschiedlicher
Couleur nebeneinander im Zelt. Die Menschen schätzen Zelte als Orte der lockeren Kommunikation.
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In unseren modernen, in der Regel transparenten Evangelisationszelten knüpfen wir am Lebensgefühl
und an den Denkmustern unserer Gäste an. Wir holen sie ab, nehmen sie ernst und versuchen, ein
Stück Weges mit ihnen zu gehen. Wo es zur Begegnung mit dem heiligen Gott kommt, entsteht immer
eine Mischung aus Fascinosum und Tremendum (Zittern). Wir treiben die Gäste aber nicht in die
Enge, sondern laden ein zur Freiheit eines Christenmenschen.
Es sind vermutlich weniger theologische Gründe, die heute manche Gemeinden vor einer großen
Evangelisation zurückschrecken lassen. Viele fühlen sich ausgelastet, überlastet, oder verwechseln ein
lebhaftes Gemeindeleben mit geistlicher Lebendigkeit. Wo ist die Leidenschaft geblieben,
Fernstehende mit dem Evangelium zu erreichen?
„Zeltwochen“ haben nicht nur eine große Öffentlichkeitswirkung, sondern auch eine enorme
Mobilisierungskraft. In einem Ort hat sich das Team der Kinderbibelwoche durch die Evangelisation
verdoppelt. Anderswo war der Bürgermeister so begeistert, dass er fünf Männer vom Bauhof für den
Zeltabbau zur Verfügung stellte. Die positiven Kontakte, die zu den Kommunen und örtlichen
Vereinen entstehen, sind in ihrer Langzeitwirkung nicht zu unterschätzen.
Bei den heutigen Zeltevangelisationen gehen wir in der Regel auf die örtlichen Vereine zu und bitten
sie um Mitarbeit. Die Feuerwehr schneidet einen Unfallwagen auf und wir sprechen über die Grenzen
des Lebens. Oder wir organisieren mit dem Roten Kreuz eine Blutspendeaktion und reden dann über
die versöhnende Kraft des Blutes Jesu. In einem Schwarzwald-Dorf feierten wir den Abschluss-Abend
in Form einer Thomas-Messe. Unser Programm wird nicht „eingeflogen“, sondern vor Ort gemeinsam
erarbeitet.
Ich wünsche mir, dass viele Gemeinden die Zeltmission als moderne und flexible Form der
Evangelisation wieder neu entdecken.
3.) Die Bereitschaft zum Wagnis hinsichtlich kirchlicher Organisationsformen
Die Engländer sprechen von einer „Mischwirtschaft“ aus Ortskirchengemeinden und
Netzwerkgemeinden, die innerhalb eines größeren Gebietes, also vielleicht eines Dekanates,
partnerschaftlich mit anderen zusammenarbeiten.
„Die Anglikanische Kirche von England will Kirche für die ganze Nation sein. Dies soll nicht die
Bedeutung einer etablierten Kirche als Institution bestätigen, sondern ihren missionarischen Auftrag
betonen.“
Das parochiale System kann verglichen werden mit einem großen Schweizerkäse. Nach außen hin
wirkt er wie eine solige, einheitliche Masse, bei genauerem Hinsehen aber zeigen sich eine Reihe von
Löchern, sozusagen „käsefeien Zonen“.
„Wenn wir anglikanisch im eigentlichen Sinn sein wollen, müssen wir uns danach sehnen, tief im
Gemeinwesen verwurzeltzu sein und für alle, die hier leben, offen und zugänglich zu sein.“
40 Prozent unkirchliche Menschen („un-churched“). Davon 20 Prozent „offene Kirchenferne“ und 20
Prozent „verschlossene Kirchenferne“ (Untersuchung von 1996).
Manche Menschen beschreiben Kirche als „ein fremdartiges, kostspieliges Gebäude, in dem ich mich
völlig fremd und hilflos fühle, und das, was noch schlimmer ist, von Menschen benutzt wird, mit
denen ich sowieso nichts zu tun haben möchte“ (George Lings, Living Proof, 1999).
„Die große Mehrheit der englischen Gesellschaft ist nicht ´unser Volk´. In ihrer eigenen
biographischen Erinnerung sind sie es nie gewesen noch wollen sie es sein. Tatsache ist, dass die
meisten in England lebenden Menschen die Kirche in ihrer aktuellen Ausprägung nebensächlich,
undurchsichtig, verwirrend oder unwichtig finden.“
„Mission-shaped Church“ (deutsch: Mission bringt Gemeinde in Form), London 2004
Was fällt auf?
- Die Unterstützung von „oben“ (z.B. Erzbischof Williams von Canterbury, Bischof Graham Gray)
Neue Formen werden gefördert, nicht nur geduldet. Herbst: „Entschlossenheit in der Führung und
Leitung der Kirche“
Das bedeutet, dass die neuen Formen anerkannt und in das kirchliche Ganze integriert werden
(Finanzen, Wahlrecht, kirchliche Abgaben usw.)
<-> württembergische Erfahrungen.
- Die Kreativität und Pluralität („trial und error“). Mut zu missionarischer Vielfalt.
- Freiheit im Umgang mit Strukturen.
<-> Bei uns gibt es v.a. auch unter den liberalen Theologen einen Strukturkonservatismus. Finney: „In
typisch anglikanischer Manier versuchen wir, die Dinge durch unsere Definitionen nicht allzu deutlich
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festzulegen. Wir lassen immer Raum für Weiterentwicklungen. Natürlich zahlen wir dafür einen Preis:
Unsicherheit.“
- Ehrlichkeit: „Nicht alles, was in der Aufbruchstimmung des Gemeindepflanzungsprozesses Anfang
der 1990er Jahre entstand, hat überlebt. Gründe für ein Scheitern waren unter anderem schlechte
Planung, Probleme in der Gemeindeleitung, ausschließlich nach innen gerichtete Aufmerksamkeit,
Nichtbeachtung kultureller Bedingungen, in Teilzeit arbeitende Gemeindeleiter und fehlende
finanzielle Mittel. Schätzungen besagen, dass 90 Prozent der anglikanischen Gemeindepflanzungen
weiterhin Bestand haben. Das ist eine Zahl, die sich positiv abhebt von einigen anderen
Denominationen.“
Neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens (fresh expressions of church – bemerke die sprachliche
Kreativität; www.freshexpressions.org.uk):
- Alternative Gottesdienstgemeinden
- Basisgemeinden
- Cafékirchen
- Zellgemeinden
- Gemeinden, die aus Initiativen zur Gemeinwesenarbeit entstehen (S. 120123)
- Differenzierte Gottesdienstgemeinden und Wochentagsgemeinden
- Netzwerkorientierte Gemeinden
- Schulgemeinden oder –gemeinschaften
- Kirche für Suchende
- Traditionelle Gemeindepflanzungen
- Traditionelle Gemeinde – alte Formen neu entdecken
- Jugendgemeinden
 Zukunftswerkstatt für die Christuskirche in Reutlingen
Rowan Williams, seit 2002 Erzbischof von Canterbury:
Wenn „Kirche“ dort Gestalt bekommt, wo Menschen dem auferstandenen Jesus begegnen und ihr
Leben darauf ausrichten, diese Begegnung in der Begegnung miteinander fortzuführen und zu
vertiefen, dann gibt es theologisch gesehen genügend Raum für eine Vielfalt in Rhythmus und Stil.
Voraussetzung ist allerdings, dass wir diesen auferstandenen Christus im Herzen jeder Ausdrucksform
gemeinsamen christlichen Lebens identifizieren können und er Raum bekommt.
Meinem Eindruck nach sind uns die Engländer zehn bis 20 Jahre in der Entwicklung voraus.
Sie starren nicht nur auf das Geld und die Strukturen, sie sind schon mindestens zwei Schritte weiter:
Sie versuchen herauszubekommen, wie Menschen zum Glauben kommen.
Sie gehen den Weg der persönlichen Evangelisation durch Glaubenskurse.
Sie bringen eine hohe Bereitschaft zum Wagnis hinsichtlich kirchlicher Organisationsformen mit.
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