1 AMD Theologenkongress - Leipzig Forum 5 „Wie wir wieder wachsen können“ Vortrag Bishop Stephen Cottrell, Reading, England Übersetzung des mündlichen Vortrags Zunächst möchte ich sagen, dass es gut tut, an diesem Morgen hier bei Ihnen zu sein und ich überbringe Ihnen Grüße der Church of England. Beginnen möchte ich mit einigen Worten aus Psalm 1: „Glücklich sind die, die Freude haben am Gesetz des Herrn. Sie sind wie Bäume, gepflanzt an den Wasserbächen, die ihre Frucht bringen zu ihrer Zeit.“ Der Hauptgedanke, den ich heute Morgen entfalten möchte, ist, dass eine gesunde Pflanze natürlicherweise wächst und Frucht bringt zu ihrer Zeit. Wenn wir also eine wachsende Kirche sein wollen, dann müssen wir eine gesunde Kirche sein. Es ist viel besser, sich um die Gemeindegesundheit zu kümmern, als um Gemeindewachstum. Wenn wir über Gesundheit nachdenken, dann denken wir bei einer Pflanze an ihre Wurzeln. Und wenn die Wurzeln gesund sind, dann wird die Pflanze wachsen. In den letzten zwanzig Jahren mussten wir uns in England einer Krise stellen. Wir haben eine starke Abnahme der Gottesdienstbesucherzahlen gesehen. Und wie im gesamten Westeuropa haben wir auch in England eine Zunahme der Säkularisierung erlebt. Viele Christinnen und Christen, viele Pfarrerinnen und Pfarrer hat das mit Angst vor der Zukunft erfüllt. Einige Kirchen sind inzwischen sogar stolz darauf klein und abnehmend zu sein. Sie denken, sie seien das letzte Häuflein der Aufrechten. Andere Gemeinden haben nach Amerika geschaut, um Antworten zu finden. Aber die amerikanischen Modelle des Gemeindewachstums haben in England nicht immer funktioniert. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hatten wir eine Dekade der Evangelisation. Und viele von uns haben gedacht: die Kirche wird dadurch wachsen. Aber ich sage Ihnen jetzt, was wirklich passiert ist: Gott hat uns in dieser Zeit gelehrt, was es heißt zu evangelisieren. Die 90er Jahre waren für die Church of England eine Dekade des Lernens. Wir haben gelernt, was es heißt, eine Kirche zu sein, die ein missionarisches Herz hat. Und wir haben gelernt, was es heißt eine gesunde Kirche zu sein, die auf die Wurzeln achtet. Auf dem Verteilblatt, das Sie bekommen haben, sind auf der Rückseite einige kurze Zusammenfassungen dessen, was wir gelernt haben. Das können Sie mit nach Hause nehmen. Sie brauchen das nicht jetzt lesen. Worüber ich jetzt sprechen möchte, sind drei Dinge, die uns geholfen haben, eine gesunde Kirche zu werden und die uns gelehrt haben, über Evangelisation anders nachzudenken. Eigentlich sind diese drei Dinge alles nur Wiederentdeckungen dessen, was eigentlich schon immer im Leben der christlichen Kirche da war. Aber das hat zu einem Paradigmenwechsel geführt, wie wir über Evangelisation und Gemeindewachstum denken. 2 1. Spiritualität und Evangelisation Das Erste, über das ich sprechen möchte, ist die Verbindung zwischen Spiritualität und Evangelisation. Ich kann nicht etwas mit anderen teilen, was ich selbst noch nicht empfangen und aufgenommen habe. Wenn wir unseren Glauben teilen wollen, dann müssen wir ihn erst einmal selbst für uns empfangen. Ein Großteil meiner Arbeit in England bestand darin Evangelisation zu lehren. Ich habe auf großen Konferenzen gesprochen oder in kleinen Gemeindegruppen. Immer wieder mache ich die gleiche Erfahrung: Ich beginne damit über Evangelisation zu reden, und nach ein paar Minuten höre ich auf, und fange dann an über Gebet zu sprechen. Denn bevor wir nicht eine betende Kirche werden, können wir keine missionarische Kirche sein. Und jeder muss sich die Frage stellen: Wo ist mein Platz, wo ich etwas empfange? Wo ist der Platz, wo ich es selbst für mich spüre, dass ich der Geliebte Gottes bin? Wenn ich weiß „Ich bin ein Geliebter Gottes“, dann kann ich das auch mit anderen teilen. Wir müssen den Leuten in unseren Gemeinden zeigen, wie sie beten können. Es gibt viele Christen in England, und möglicherweise auch in Deutschland, die nicht beten. Wie verrückt von uns ist es zu denken, wir könnten effektiv evangelisieren, ohne, dass dies aus einer authentisch gelebten Spiritualität herausfließt. Das verhilft uns auch dazu, über Mission als Gottes Werk nachzudenken. Gott ist der Evangelist. Ich habe als Evangelist viele Jahre gearbeitet, aber ich habe niemanden bekehrt. Aber ich habe gesehen, wie Gott Menschen zum Glauben gebracht hat. Die missionarische Gemeinde hat Anteil an der Mission Gottes. Die missionarische Kirche kann nur das weitergeben, was sie selbst empfangen hat. Effektive Evangelisation fließt aus authentischer Spiritualität heraus. Frère Roger aus Taizé hat gesagt: „Wenn die Kirche ein Haus des Gebetes wird, dann kommen die Leute angelaufen.“ Ich glaube das, nicht weil ich es im Neuen Testament gelesen habe, sondern weil ich es im Leben von Menschen so gesehen habe. Wenn Menschen entzündet sind durch die Liebe Gottes, und wenn das Licht Christi in ihnen leuchtet, dann fängt die Kirche an zu wachsen. Sie wird wachsen, weil sie eine Kirche ist, die verwurzelt ist in Jesus Christus. Sie ist ein Baum gepflanzt am lebendigen Wasser. Das ist die einzige Frage, die zählt: Sind wir ein Haus des Gebets? Sind wir Menschen des Gebets? Leben wir jeden Tag unseres Lebens in der Gemeinschaft mit Gott? 2. Der Weg nach Emmaus als Paradigma für Evangelisation Das zweite, das ich ihnen weitergeben möchte: In Europa gibt es im Moment Tausende von Menschen, die mit nur ganz wenig oder gar keinem Wissen über den christlichen Glauben aufwachsen. Ich denke, in England ist es noch schlimmer als in Deutschland. Für diese Menschen ist zum Glauben kommen wie eine Reise. Daraus ergibt sich eine neue Art über Evangelisation nachzudenken. Evangelisation bedeutet, den Menschen auf dieser Reise zu helfen. Es gab eine Untersuchung in England durch Bischof John Finney, die gezeigt hat, dass es im Durchschnitt vier Jahre dauert, bis jemand Christ wird. Wie können wir Menschen auf dieser Reise begleiten und ihnen helfen? In der Vergangenheit hat man, wenn man von Evangelisation gesprochen hat, an ein Event, an eine Veranstaltung gedacht: Ein Evangelist verkündet die Wahrheit des Evangeliums und erinnert die Menschen an den Glauben, von dem sie bereits etwas wissen. Aber heute kennen Menschen den christlichen Glauben nicht mehr. Deshalb dauert es viel länger. Wir müssen Hindernisse aus dem Weg räumen. Und wir müssen an der Seite von Menschen mitgehen. 3 Die Geschichte von Jesus auf dem Weg nach Emmaus ist der Schlüsseltext geworden: Auf der Straße nach Emmaus trifft Jesus die Leute da, wo sie sind. Zuerst erkennen sie ihn nicht. So ist das heute auch bei uns. Menschen werden Christus nicht sofort erkennen. Das erste, das Jesus macht, ist: Er stellt ihnen eine Frage. Er fragt sie: „Worüber redet ihr?“ Er hört ihren Fragen zu. Er lässt ihre Fragen die Tagesordnung bestimmen. Erst später fängt er an zu reden. Er interpretiert dann ihre Erfahrungen neu. Diese Geschichte hilft uns, über Evangelisation in einer neuen Weise nachzudenken. Wie können wir die Menschen dort treffen, wo sie sind? Wie können wir ihnen zuhören, bevor wir anfangen zu reden? Wie können wir ihre Lebenserfahrungen neu interpretieren? Der Alpha-Kurs, der Emmaus-Kurs und andere Evangelisationskurse sind in England sehr wirksam gewesen, weil sie Menschen auf der Reise helfen. Der christliche Glaube wird erklärt. Menschen haben die Gelegenheit Fragen zu stellen und es wird ein Schritt nach dem anderen gegangen. Um diesen Dienst der Evangelisation zu entwickeln, brauchen wir drei Dinge: Wir brauchen kleine evangelistische Veranstaltungen in unseren Stadtteilen und Orten nicht wie die großen Feldzüge, die wir früher hatten, aber kleine Veranstaltungen, wo Menschen sich versammeln und wo wir anfangen können, den Menschen zu begegnen. Dann können wir sie einladen indem wir sie einfach fragen: Möchten Sie gerne mehr herausfinden über den Glauben? Einige von diesen Menschen werden dann in Glaubenskurse kommen, wo sie den christlichen Glauben entdecken können. In England nennen wir das einen Platz des Wachstums („nurture“), wobei sich das Wort „nurture“ nicht ins Deutsche übersetzen lässt. Das ist ein Ausdruck, mit dem wir beschreiben, wie wir unsere Kinder aufziehen, ihnen Gutes tun, uns um sie kümmern usw.. Und so muss Evangelisation sein. Wir lehren unsere Kinder, aber wir lieben sie auch. Deshalb müssen wir mit einem liebenden Herzen evangelisieren, weil jeder ein Kind Gottes ist. Diese Modelle von Evangelisation sind inspiriert von dem Katechumenat der Alten Kirche. Sie haben auch in einer Kultur evangelisiert, die völlig fremd dem Evangelium gegenüberstand. Deswegen können wir viel von Jesus auf dem Weg nach Emmaus lernen, und wir können viel aus der Praxis der Alten Kirche lernen. Das dritte, das wir brauchen, ist, dass wir neuen Christen helfen Nachfolger zu werden. Es gibt viele Menschen in unseren Gemeinden, die seit vielen Jahren zum Gottesdienst kommen, aber in geistlichen Dimensionen sind sie noch immer kleine Babys. So müssen wir ihnen helfen, in ihrem Glauben zu wachsen. Auf dem Weg nach Emmaus passiert es, dass Menschen umgewandelt werden. Sie erkennen Jesus, als er das Brot bricht, aber dann kehren sie auch zurück nach Jerusalem. Sie können gar nicht warten, das mit anderen zu teilen, was sie empfangen haben. Ihre Evangelisation fließt aus ihrer Erfahrung heraus, ergibt sich aus ihrer Spiritualität. Sie haben Jesus gesehen und jetzt möchten sie mit anderen Jesus teilen. Das ist das Kennzeichen eines wahren Nachfolgers. Ein wirklicher Nachfolger ist nicht jemand, der etwas über Gott weiß, ein wahrer Nachfolger ist jemand, der sein Leben aus der Beziehung mit Gott heraus lebt. Wir müssen auch dies in unserer Kirche zum Wachstum bringen („nurture“). 4 3. Neue Ausdruckformen gemeindlichen Lebens Als drittes möchte ich über neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens sprechen. In England haben wir festgestellt, dass viele Erwachsene durch Glaubenskurse wie Alpha oder Emmaus Christen geworden sind. Aber für diese neuen Christen war der normale Sonntagmorgengottesdienst nicht automatisch der beste Platz, wo sie hingehen sollten. So mussten wir herausfinden, welche unterschiedlichen Formen des Gottesdienstes es geben kann und wie man auf verschiedene Weisen Gemeinde sein kann. Der Erzbischof von Canterbury, Roan Williams, hat gesagt, wir brauchen eine gemischte Kirche („mixed economy church“). In England findet man jetzt ganz traditionelle Sonntagmorgengottesdienste, aber die meisten wachsenden Gemeinden haben noch andere Gottesdienste zu anderen Tageszeiten und an anderen Wochentagen. Diese Gottesdienste sind sehr vielfältig und jeweils ein neuer Ausdruck des christlichen Glauben und christlicher Gemeinschaft. Die Geschichte der christlichen Mission war immer eine Geschichte des Wechsels. Wenn das Evangelium eine neue Kultur erreicht hatte, wurde auch eine neue Weise gefunden, das Evangelium auszudrücken. Wir beginnen nun Wege zu finden, wie wir das Evangelium in die heutige Kultur einkleiden können. Der römisch-katholische Theologe Hans Küng hat dies gesagt: „Immer das Gleiche zu tun, wenn alles andere um einen herum sich verändert, bedeutet nicht, das Gleiche zu tun.“ Also müssen wir die Formen verändern, mit denen wir den christlichen Glaubens ausdrücken. Einige Punkte zum Schluss: Wir müssen vom Dienst der Evangelisation sprechen und nicht vom Dienst des Evangelisten. Evangelisation bezieht die ganze Kirche und jeden einzelnen Christen mit ein. Mission und Evangelisation sind nicht dasselbe. Mission beschäftigt sich mit allen Vorhaben Gottes mit dieser Welt. Evangelisation ist die Art, wie wir neue Nachfolger gewinnen. Und der Nachfolger ist der, der an der Mission Gottes in der Welt beteiligt ist. Wenn wir nicht lernen, wie man evangelisiert, dann werden wir sterben. In England haben wir den Tod der Kirche an einigen Stellen gesehen. Aber jetzt sehen wir, dass Gemeinden wachsen, und das wegen diesen drei Gründen: Wir lernen wie man betet. Wir lernen wie man evangelisiert. Und wir lernen wie man neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in einer sich verändernden Kultur findet. Wir beginnen eine gesündere Kirche zu werden. Aber wie ich schon vorher gesagt habe: Gott ist der Evangelist. Und es ist Gott, der Heilige Geist, der die Menschen zum Glauben an Jesus Christus bringt. Wir wissen noch nicht, wann wir die Frucht sehen werden. Wir wissen auch noch nicht, wie viel Frucht da sein wird. Eine Pflanze im Winter ist immer noch eine gesunde Pflanze. Aber sie sieht anders aus als eine Pflanze im Frühling. Manchmal muss auch eine Gemeinde durch den Winter hindurchgehen. Dann müssen wir Wurzeln treiben durch Gebet, durch das Studium der Bibel und indem wir neue Wege lernen. Aber dann wird auch der Frühling kommen. Im Neuen Testament, im Johannesevangelium, spricht Johannes davon, dass Treue („faithfulness“) zur Frucht („fruitfulness“) führt. Brüder und Schwestern, wir müssen eine treue Kirche sein, dann wird Gott uns zu einer fruchtbaren Kirche machen. Dankeschön.