I. Fünf Leistungen von Religion Der erste Widerspruch

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Religionssoziologie
Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro,
des Priesters von Midian. Eines Tages trieb er das Vieh über die
Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb
Dort erschien ihm der Engel des Herrn in einer Flamme, die aus einem
Dornbusch emporschlug. Er schaute hin: Da brannte der Dornbusch
und verbrannte doch nicht.
Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn
der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.
Dann fuhr er fort: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams,
der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht;
denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die
Israeliten, aus Ägypten heraus!
Da sagte Mose zu Gott: Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen
und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da
werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen darauf sagen?
Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der «Ich-bin-da». Und er fuhr
fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der «Ich-bin-da» hat mich zu
euch gesandt.
Gott sagt als: „Ich bin der, der da ist“, dem entspricht im Jüdischen die
Buchstabenfolge JHWH mit den hebräischen Konsonanten Jod (‫)י‬, He
(‫)ה‬, Waw (‫)ו‬, He (‫ )ה‬und daraus ergibt sich in der Aussprache Jehova
So das alte Testament – das Buch das für drei Religionen, der jüdischen, der
christlichen und der muslimischen, die Grundlage des Glaubens ist. Sie
haben eine gemeinsame Basis, sie glauben alle an den gleichen Gott – den
Gott, der aus dem Dornbusch sprach.
Das heißt jedoch nicht, dass alle drei Religionen im Grunde gleich sind. Das
heißt auch nicht, dass diese drei Religionen immer friedlich miteinander
umgehen. Im Gegenteil: ein großer Teil der Konflikte der Menschheit – früher
wie heute - ist auf die z.T. gravierenden Unterschiede dieser drei Religionen
zurückzuführen. Ein Blick in die Tageszeitungen macht uns dies sehr deutlich.
Religionssoziologie beschäftigt sich nun jedoch nicht mit der Bibel oder
anderen Glaubensinhalten.
Wenn Soziologen sich mit Religion befassen – und das haben alle großen
Soziologen getan, ich erinnere nur an Durkheim, Weber und Simmel – dann
wollen sie uns nicht Gott erklären. Sie erzählen uns nicht über das Jenseits.
Es ist ihnen auch nicht wichtig, ob es ein Jenseits überhaupt gibt.
Religionssoziologen erzählen uns nur etwas über Tatsachen, die sich auf das
Diesseits beziehen. Sie erzählen uns etwas über Aufbau und Struktur von
Religionsgemeinschaften und über die gesellschaftlichen Wirkungen der
Religion und über das sichtbare religiöse Handeln der Menschen, die an Gott
glauben.
Die Religionssoziologie ist - wie die Soziologie allgemein - eine Erfahrungswissenschaft und Erfahrungswissenschaften untersuchten Wirkungen und
Voraussetzungen von Religion im Handeln der Menschen.
Und wie jede Wissenschaft braucht auch die Religionswissenschaft Definitionen und da stellt sich als erste Schwierigkeit das Problem ein, dass es
verschiedene Definitionen von Religion gibt. Es gibt keine Einheitlichkeit der
Definition.
Wohl aber gibt es eine gewisse Übereinstimmung darüber welche Bedeutung
die Religion im Leben der gläubigen Menschen hat. Dabei geht es nicht nur
um die christlichen Religionen, sondern auch um andere Religionen dieser
Welt
Was bringt die Religion den Menschen?
Religion hilft dem Menschen, mit den Widersprüchlichkeiten und Widrigkeiten
des Lebens leben zu können.
Dies will ich an fünf Beispielen beschreiben. Dabei beziehe ich mich im
Wesentlichen auf einen Aufsatz von Horst Jürgen Helle. Religion und
Religionssoziologie
http://www.theologie-online.uni-goettingen.de/pt/helle.htm
I. Fünf Leistungen von Religion
Der erste Widerspruch: Das Abstrakte und das Personale
Wenn Eltern ihre Kinder erziehen stehen sie immer vor dem Problem ihr Kind
dazu zu bringen, dass sie sich nicht zu spontanen Handlungen hinreißen
lassen. Dies geschieht um das Kind selbst zu schützen – das Kind darf
einfach nicht bei Rot über die Straße laufen was es spontan gerne tun würde
– es geschieht aber auch um andere Menschen zu schützen – das Kind darf
einfach nicht sich bei Aldi die Tafel Schokolade aus dem Regal nehmen und
diese nicht bezahlen.
Um solche spontanen Handlungen zu unterbinden sagt die Mutter oder der
Vater den Satz, den Sie alle kennen:
"Wenn das jeder machen wollte, wo kämen wir da hin!"
Ohne es zu ahnen, fordert sie das Kind auf, sich dem Kategorischen
Imperativ Emanuel Kants zu unterwerfen.
Kant hat diese berühmte Formel in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ formuliert. Hier heißt es:
„Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könnte.“
Wir können es auch viel einfacher formulieren:
Was du nicht willst das man dir tu, das füg auch keinem anderen
zu“
Das ist zunächst ein Appell an die Vernunft. Wenn jedoch das Kind den
Worten der Mutter folgt, dann geschieht das anfangs sicher nicht aus kluger
Einsicht, sondern einfach, weil es seine Mutter nicht traurig machen will.
Über das Problem des Generalisierten Anderen hatten wir schon in der
Vorlesung über Sozialisation gesprochen.
In der Beziehung zwischen Eltern und Kind geschieht nun etwas, was für
unser Thema wichtig ist: vernunftgesteuerter Handlungsanweisungen werden
mit positiven Emotionen verknüpft.
Genau das ist auch eine Funktion von Religion!
Religionen bieten ihren Anhängern die Möglichkeit liebevoller, hasserfüllter,
schwärmerischer oder furchtsamer Dialoge mit Göttern, Geistern und
Dämonen
Es ist daher eine der Leistungen von Religion, die Balance zwischen
sachbezogen analytischem Denken einerseits und personenbezogen
emotionalem Empfinden andererseits aufrecht zu erhalten.
Dazu gehört, wie das Mutter-Kind-Beispiel zeigen sollte, die Transformation
von abstrakt-vernünftigen, d.h. intellektuell-einsehbaren Prinzipien in die
erlebte Wirklichkeit personaler Nähe oder Ferne.
Was in der Beziehung zwischen Mutter und Kind Fall geschieht oder
geschehen sollte, ist das was auch Religion beabsichtigt.
Diese Wirkung von Religion ist wichtig. Ohne sie wäre sozial wertvolles
Verhalten in den Industrienationen westlich-moderner Kulturen nur noch eine
Frage des Intelligenzquotienten.
Der Unwillige könnte sich mit dem Argument verweigern: "Das sehe ich gar
nicht ein!"
Umgekehrt gibt es freilich leider auch viele Beispiele für ein rein emotional
gesteuertes Handeln unter Berufung auf einen göttlichen Willen. Einem
solchen Handeln täte es gut dem es gut wenn der Mensch sein Handeln
rationaler gestalten würde und vernünftig die Folgen seines Handelns
abwägen würde.
Die Konfrontation zwischen verstandesmäßiger Plausibilität einerseits und
personaler Plausibilität aus Zuneigung andererseits ist eine der
Widersprüchlichkeiten, die das menschliche Leben kennzeichnet. Um diesen
Widerspruch zu überbrücken, kann Religion bedeutsam sein.
Der zweite Widerspruch: Das Mögliche und das Wirkliche
Eine zweite Leistung von Religion ist ihr Beitrag der Widerspruch zwischen dem Möglichen und dem
Wirklichen zu mildern.
Jeder, der über sein Handeln distanziert nachdenkt, spürt immer wieder, dass das, was er in seinem
Leben kurz- oder langfristig verwirklicht, hinter dem zurückbleibt, was möglich wäre. Manchmal bleibt
das Tatsächliche sogar weit hinter dem Möglichen zurück.
Wenn wir hohe Ansprüche an uns und unsere Mitmenschen stellen haben wir ein hohes, ein hehres Bild
des Möglichen. Das sind unsere Idealvorstellungen, oder auch unsere Ideale.
Wer hat die nicht?
Und wir kennen beim Scheitern unserer Idealvorstellungen und hohen Ziele auch die Trost-Philosophie,
nach der wir greifen. Wir nivellieren unsere Ideale herunter und fragen uns: "Wo gibt’s denn schon
Menschen, die das verwirklichen, was ich angestrebt habe, was ich für möglich gehalten habe? Das gibt
es doch gar nicht, kein Mensch verwirklicht so etwas; das sind Illusionen!"
Um zu überleben stutzen wir notgedrungen unsere Ideale auf ein minderes Maß. Das machen wir mit
uns und auch mit anderen, die unsere Erwartungen nicht erfüllt haben.
Im Leben begegnet uns aber auch noch etwas anderes: ständig stehen wir unter dem Druck, dass gut
meinende Zeitgenossen uns so behilflich sein möchten, uns unsere Ideale zu Illusionen zu reduzieren
und umzudefinieren. Durch diese freundliche Hilfsbereitschaft wird etwas, von dem wir meinten, es sei
wertvoll und wegweisend, zu etwas, von dem man dann zugestehen muss, dass es irrig und abwegig,
weil realitätsfern ist.
Angesichts solcher Tendenzen zur Desillusionierung besteht die zweite Leistung von Religion darin,
dass sie den Widerspruch zwischen dem, was wir für möglich, und dem, was wir für wirklich halten, zu
lösen hilft.
"Bei Gott ist kein Ding unmöglich" sagt der gläubige, der fromme Mensch.
Oder auch “Der Glaube versetzt Berge“
Das Prinzip des Göttlichen besteht gerade darin, dass Mögliches und Wirkliches zusammenfallen, dass
der Konflikt aufgehoben wird.
Und wenn er nicht ganz aufgehoben wird, dann hilft uns die vom Glauben gestützte Hoffnung, das
Warten auf die Verwirklichung des Möglichen auszuhalten.
Und der religiöse Mensch gewinnt Kraft daraus, dass er in der von ihm verehrten oder geliebten Person
die Aufhebung dieses Widerspruchs erlebt. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um Gott, Heilige oder
geliebte und verehrte Menschen handelt.
Der dritte Widerspruch: Das Zeitliche und das Ewige
In unserer säkularisierten, vom Glauben weitgehend befreiten Welt zeigt sich ein bemerkenswertes
Phänomen: wir beobachten eine deutliche Verkürzung der Zeitperspektive. Dies gilt besonders für junge
Menschen, die nicht zum Glauben gefunden haben – oder noch nicht dazu gefunden haben.
Immer mehr Personen rechnen außerdem damit, dass die Menschen sich weiter zunehmend
voneinander isolieren werden. Der große Soziologe Simmel hat dies mit der Verstädterung der
Menschen in Zusammenhang gebracht. Diese Verstädterung nimmt weltweit zu.
Um 1800 lebten nur etwa 3% der deutschen Bevölkerung in Großstädten und rund 3/4 auf dem Land.
Heute leben über 30% der Deutschen in Großstädten
Weltweit sieht es noch dramatischer aus.
Zwischen 1950 und 2000 hat sich die Zahl der städtischen Bevölkerung von 0,75 Mrd. auf 2,9 Mrd.
vervielfacht, ihr Anteil an der Weltbevölkerung erhöhte sich von 29,8 % auf 47 %. Vor einigen Tagen
ging die Meldung durch die Presse, dass es nun über 50% sind.
Eine solche u.a. durch die Verstädterung mit verursachte Verkürzung der Zeitperspektive macht vielen
Menschen Angst. Denn je kürzer die überschaubare Zeitperspektive ist, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass eine soziale Bindung, die jetzt noch stützend da ist, verloren geht.
Die Formel, die der Priester bei der Eheschließung spricht: „Bis das der Tod euch scheidet“ gilt den
meisten Menschen die heiraten als hoffnungslos veraltet und verstaubt – der Tod liegt jenseits der
eigenen kurzen und überschaubaren Zeitperspektive.
Bei der heutigen rasanter Dynamik der Gesellschaft
liegt die Chance einer relativen
Enttäuschungsfestigkeit nur in einer möglichst kurzfristigen Perspektive.
Das späte 20. Jahrhundert die Zukunft disqualifiziert, und das dritte Jahrtausend hat mit
Zukunftslosigkeit begonnen.
Die religiösen Traditionen aller Kulturen lehren ihre Gläubigen, unvorstellbar lange Zeiten, genannt
Ewigkeiten, in Vergangenheit und Zukunft mit religiösem Sinn anzufüllen. Gemessen daran ist in der
Gegenwart in der wir leben, die Perspektive außerordentlich kurz, an der wir uns orientieren.
Der Europäer unserer Tage ist dazu geneigt, den Zeithorizont immer weiter zurückzunehmen, ihn immer
mehr zusammenschrumpfen zu lassen, weil immer weniger Zeitgenossen den Konflikt zwischen Zeit
und Ewigkeit aushalten.
Wenn ihnen dieser Konflikt bewusst wird, tauchen all die Ausweglosigkeiten auf, mit denen sie ohne
Religion weder intellektuell noch emotional umzugehen verstehen.
Darum wird auch die Tatsache des Sterbenmüssens ausgeblendet.
In vielen Lebenssituationen gilt es als grobe Unhöflichkeit, als Taktlosigkeit, jemandem zu sagen: "Du
musst sterben."
Der Tod ist so selbstverständlich, dass man darauf nicht besonders hinzuweisen braucht.
Das mag als intellektuelles Argument zutreffen, aber die Endlichkeit seines Lebens ist dem Europäer
unserer Tage gerade emotional nicht mehr präsent. Der Tod ist ausgeblendet. Viele von uns haben in
ihrem Leben noch keinen wirklichen Toten, keinen Leichnam gesehen. Um so mehr im Fernsehen.
Mir wurde von einer empirischen Untersuchung berichtet, wonach viele Kinder glauben, der normale
Tod eines Menschen sei der, einem Mord zum Opfer zu fallen.
Der heutige Mensch versucht, die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit zu lösen, indem er den
Zeithorizont so kurz wählt, dass sich innerhalb der überschauten Periode nicht viel verändern kann,
indem er ihn also vor allem so kurz wählt, dass er seinen Tod nicht zu befürchten braucht.
Auch hier übernimmt Religion eine Aufgabe, die sich anders wohl kaum lösen lässt: Religiöse
Menschen verehren Personen, die ewig sind.
Entweder ist ihr Leben längst abgeschlossen; da sie schon gestorben sind, unterliegen sie nicht mehr
den Unwägbarkeiten der Zeit.
Wenn ich also, wie ein Chinese in der Tradition seiner Kultur, meine eigenen verstorbenen Vorfahren
wie Heilige verehre, habe ich in ihnen etwas Ewiges vor mir.
Oder die Verehrung gilt einer göttlichen Person, und es ist das Merkmal jeder Gottheit, ewig zu sein. So
wird in der göttlichen wie in der heiligen Person der Konflikt zwischen 'zeitlich' und 'ewig' aufgehoben.
Der vierte Widerspruch: Gleichheit und Gerechtigkeit
Gleichheit und Gerechtigkeit sind in erster Linie politische Begriffe.
Auf dem Höhepunkt der Universitätsreform der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gab es in
Deutschland Universitätslehrer, die allen, die überhaupt an einer Lehrveranstaltung teilgenommen
hatten, die gleiche gute Note gaben.
Das traf bei einigen Studierenden damals auf lebhaften Beifall, weil so alle "gleich" behandelt wurden.
Aber es gab unter ihnen einige, die hart gearbeitet und viel Kraft investiert hatten, und andere, die nur
am Rande des Lehrbetriebs mitliefen und die fleißigeren Kommilitonen aushorchten oder sich sogar
direkt von ihnen helfen ließen.
So breitete sich nach und nach doch wieder das Empfinden aus, dass die Benotungspraxis der
progressiven Hochschullehrer zwar Gleichheit, aber auch Ungerechtigkeit herbeiführte.
Ein schönes Beispiel brachte vorgestern ein Artikel des Tagesspiegels über das amerikanische
Bildungssystem. In den USA sind Bildungseinrichtungen verpflichtet, Farbige entsprechend ihres Anteils
in der Bevölkerung aufzunehmen. Ein höchstrichterliches Urteil galt als gerecht und als ein Meilenstein
der Gleichberechtigung. Das hatte aber zur Folge, dass weiße Schüler selbst dann nicht aufgenommen
wurden, wenn ihre Leistungen besser waren als die der Farbigen – da das ihnen zustehende Kontingent
bereits ausgeschöpft war. An der Gerechtigkeit diese Forderung nach Gleichheit zweifeln nun viele
Eltern weißer Kinder und klagten. Nun hat ein hohes Gericht in den USA entschieden, dass
Gerechtigkeit nicht unbedingt die Gleichheit voraussetzen muss. Dieser Spruch kann ein revolutionäres
Ereignis für das amerikanische Bildungssystem bedeuten.
Diese Antinomie, dieser Widerspruch zwischen 'gleich' und 'gerecht' durchzieht das Menschsein.
Ralf Dahrendorf, der zum britischen Lord gewordene deutsche Soziologe – Sie kennen das
Dahrendorf'sche Haus - hat den Satz formuliert:
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, nach dem Gesetz aber nicht mehr.
Mit dieser witzigen Formel hat er den Widerspruch zwischen 'gleich' und 'gerecht' andeuten wollen;
denn wenn die Polizei, das Gericht, das Gesetz alle permanent gleich behandelten, führte das zu
unerträglicher Ungerechtigkeit.
Diese alltagspraktisch leicht einsehbare Problematik führt im Kontext der Religion zur Frage nach der
Gerechtigkeit Gottes, der Theodizee:
Wie kann eine Gottheit, von der ich mir vorstellen muss, dass sie gütig, allmächtig, allwissend und
gerecht ist, zulassen, dass das Geschick der Menschen so extrem unterschiedlich verläuft?
Wie kann diese Gottheit zulassen, dass es dem einen unverdient gut geht und dem anderen, wie es
scheint, unverdient weit schlechter?
Entweder ist die Gottheit zu schwach, etwas an den offenkundigen Missständen zu ändern; dann ist sie
nicht allmächtig.
Oder Gott liebt diesen oder jenen Einzelnen - oder sogar ganze Völker - nicht; dann wäre er ein höchst
problematischer Gott.
Oder er weiß gar nicht von all dem Unheil, das auf dieser Welt geschieht; dann allerdings ist er nicht
allwissend.
In klassischer Weise wurde das Problem bereits durch den griechischen Philosophen Epikur (341-270
v. Chr) formuliert:
Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft,
oder er kann es und will es nicht:
dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist,
oder er will es nicht und kann es nicht:
dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,
oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?
Das Problem der Theodizee stellt sich demnach als unlösbar dar: Wie können die gewünschten
Qualitäten der Gottheit - Güte, Allmacht, etc. - miteinander kombiniert und der ewigen göttlichen Person
zugeschrieben werden, und wie lässt sich zugleich eine vernünftige Erklärung für das Unfassbare
finden, das im Lebensalltag passiert?
Irgendwo auf der Welt geschieht immer Unerträgliches.
Aber selbst wenn man von den schlimmsten Beispielen für Naturkatastrophen und menschliche
Grausamkeit absieht, stets und überall stellt sich die Frage nach dem Sinn der Ungleichheit.
Und gerade die Soziologie ist als Wissenschaft im Umkreis der Frage nach den Ursprüngen sozialer
Ungleichheit entstanden.
Religiöse Konzepte haben eine Milderung dieses Widerspruchs herbeiführen können, weil durch sie den
Gläubigen nahe gelegt wurde, sich zu sagen, jenen, denen es jetzt schlecht gehe, werde es später gut
gehen; oder das erfahrene Leid sei eine gerechte Strafe; oder Leid schaffe eine besondere Nähe zu der
ebenfalls leidgeprüften Gottheit und lasse den Leidenden reifen; etc.
Die jeweilige Abfederung des Widerspruchs hängt von der Theodizee ab, die für die betreffende
Religion charakteristisch ist.
Max Weber hat sich mit dem Theodizee-Problem auseinander gesetzt: Wieso ist Gott gerecht, wenn er
die Menschen doch so ungleich leben lässt?
Der fünfte Widerspruch: Der Einzelne und das Allgemeine
Menschen möchten als Personen unvergleichlich sein.
Jeder von uns will diesen von sich sagen dürfen:
"Niemand ist so wie ich, niemand kann so sein wie ich, und weil ich das denken darf, kann ich mich als
unersetzlich, als einzig fühlen!"
So schön das ist und so sehr es in der Gegenwart westlicher Wohlstandsnationen auch möglich ist, so
zu leben, - wir möchten andererseits nicht, dass man hinter unserem Rücken von uns sagt:
"Merkwürdiger Mensch, völlig anders als alle anderen, ein Einzelgänger!"
Das Einzigartigsein kann so weit gehen, dass wir uns isoliert fühlen und dass wir fürchten, nicht in die
Gemeinschaft oder Gesellschaft eingebunden zu sein. Das wollen Menschen jedoch in aller Regel nicht.
Viele nicht-religiöse Veranstaltungen, Sekten und Vereine, vermitteln den Teilnehmern die Empfindung
des Eingebundenseins in das menschlich Allgemeine.
Menschen erleben dort das Bewusstsein des Allgemeinen als Gemeinsamkeit und Wohlgefühl, das als
Nähe zu jedermann erfahren wird.
Wir wollen trotz unseres unverwechselbaren Andersseins, dass die Schranken fallen, die etwa der
Ausländerstatus oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion aufgerichtet haben.
Ebendies leistet eine Religion mit universalistischem Anspruch, also ein Glaube an eine Gottheit, die
z.B. als Vater aller Menschen vorgestellt wird. Bezogen auf den einen Vater dürfen sich dann alle
Menschen, gleich wer sie sind, untereinander als "Geschwister" verstehen.
Wie in den vier anderen Fällen handelt es sich auch hier um eine religiöse Überbrückung von
Gegensätzen des Lebens: Primär leiden Menschen an dem Widerspruch zwischen ihrer Hoffnung,
einzigartig zu sein, und ihrem Bedürfnis nach Einbindung.
Ihre Individualität möchten sie entwickeln dürfen, und doch möchten sie etwas teilen können mit allen
anderen Menschen. Auch zu diesem Widerspruch, auch zu dieser Problemerfahrung, bietet die Religion
Lösungen.
Die hier vorgestellten fünf Widersprüche zunächst vorgetragenen Überlegungen sollten auf Probleme
aufmerksam machen, in denen Religionen versuchen Antworten zu geben.
Die Prognose liegt nahe, dass die Menschheit ohne Religion nicht auskommen wird.
Religionen werden sich wandeln; es gibt unterschiedliche Arten von Religionen zu unterschiedlichen
Zeiten.
Aber dass der in sich so vielfältige Gegenstandsbereich, den die Religionssoziologie bearbeitet,
irgendwann völlig verschwindet, ist nicht gut vorstellbar.
II. Begriff und Methoden der Religionssoziologie
1. Begriff der Religion
Was 'Religion' für den Soziologen sei, kann nicht in einer kurzen Definition geklärt werden.
Die Religionssoziologie bemüht sich, Gegenstände, mit denen sich andere Disziplinen auch befassen,
aus einer besonderen Blickrichtung zu betrachten.
Die soziologische Art, auf Dinge zu schauen, ergibt sich aus ihrem Verständnis von Wirklichkeit:
Soziologie befasst sich mit den Beziehungen der Menschen zu anderen Menschen und Gruppen und
sie befasst sich mit dem “Gesellschaft“ genanten Überbau, der vom Individuum nicht oder kaum
verändert werden kann und dem das Individuum dennoch unterworfen ist – ich erinnere in diesem
Zusammenhang an Durkheim.
Überträgt man das auf Fragen religiöser Erfahrung, so wird ebenfalls nach besonderen - eben religiösen
- Qualitäten von Beziehungen zwischen Personen zu suchen sein.
Bei aller Hochachtung vor den anderen Fachgebieten religionswissenschaftlicher Arbeit muss es dem
Soziologen erlaubt sein, von seinem Fach als einer Erfahrungswissenschaft auszugehen und als
'religiös' etwas zu bestimmen, das einigermaßen eindeutig bestimmbar d.h. operationalisierbar ist.
Wenn eine Person sich auf eine andere Person bezieht, ihr Denken und Handeln an dieser anderen
orientiert, dann kann in dieser, nur von einer Seite ausgehenden Beziehung eine soziale Wirklichkeit
gesehen werden. Und zwar selbst dann, wenn die andere Person gar nicht wirklich teilnimmt.
Bekannt sind Fälle der Verliebtheit, in denen ein Partner die Beziehung mit echter Liebe erfüllen will,
während der andere davon nichts bemerkt oder darauf nicht eingeht.
Zur sozialen Wirklichkeit kann also auch eine Beziehung gerechnet werden, die sich zwischen einer
aktiven Person und einer anderen, außerordentlich passiven entwickelt. Trotz dieser Passivität ist sie für
die aktive Person wichtig und unentbehrlich.
Dabei müssen wir nicht unbedingt an Religion denken. Dieses Grundverhältnis sehen wir in jeder Form
der Fan-Verehrung.
Es reicht aus, wenn der passive Partner die Wirklichkeitskonstruktion des aktiven aushält, anstatt sie
absichtlich und ausdrücklich zunichte zu machen.
Analog zur Verliebtheit kann die religiöse Qualität einer Beziehung gesehen werden - oder vielleicht ist
sogar das Verliebtsein etwas Religiöses.
Während Alltagsbeziehungen sich jedoch durch zeitliche Begrenztheit auszeichnen, wird einer
religiösen Beziehung jedoch ein Ewigkeitscharakter zu geschrieben.
Ewig im Sinne von "ohne zeitliche Begrenzung" kann eine Beziehung nur sein, wenn die Beteiligten ihre
Existenz als ewig anerkennen.
Eine Person, die sich - aus gutem Grund - für sterblich hält und dazu noch meint, mit dem Tode sei
alles aus, wird keine Beziehung mit Ewigkeitscharakter aufbauen.
'Religiös' kann eine Beziehung daher nur sein, wenn von der Unendlichkeit der Existenz der daran
Beteiligten ausgegangen wird.
Das führt zum Umgang mit dem Tod.
Alle Religionen, so unterschiedlich sie in ihren Lehren sonst sein mögen, stimmen darin überein, dass
der Tod nicht die Existenz der Person auslöscht.
Der Kommunismus Maos in China musste die traditionelle Hochschätzung der Ahnen fortführen; um
aber nicht Religion zu sein, lehrte er, dass jeder das Andenken seiner Vorfahren im Gedächtnis behalte
wie Bilder in einem Photoalbum, verbunden jedoch mit der ausdrücklichen Überzeugung, dass eine
reale Existenz aller verstorbenen Verwandten mit deren Tode geendet habe.
Ein frommes Angedenken an eine Person, an deren Weiterleben man nicht glaubt, kann nicht zu einer
religiösen Beziehung führen.
Charakteristisch ist vielmehr gerade, dass eine Person, auf die hin der lebende Mensch sich orientiert,
als unsterblich und daher ewig gilt.
Sie ist dies entweder, weil sie schon verstorben ist - wie Vorfahren und Heilige, oder weil sie dem Tode
niemals unterlag - wie Personen mit göttlicher Qualität und andere Geistwesen.
Es engte den Religionssoziologen jedoch unzulässig ein, würde er den Begriff 'religiös' jedoch so
auslegen, dass an jeder religiösen Beziehung eine unsterbliche Person als unmittelbarer
Interaktionspartner beteiligt sein muss.
Das Wort "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, ..." weist in die Richtung des
Zusammenhangs von jenseitigen Personen – in meinem Namen - zu diesseitigen sozialen
Beziehungen.
2. Methoden der Religionssoziologie
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf vier verschiedene Ansätze eingehen, die Religionssoziologen
bei der Behandlung ihres Themas verwenden. Natürlich ist auch diese Einteilung nicht zwingend. Es
gibt Mischformen und Übergänge – aber diese Vierteilung hilft vielleicht bei der Orientierung.
a) Der objektivistische Ansatz
Je nach der Methode, die ein Religionssoziologe bevorzugt, variieren seine Vorstellungen von dem, was
denn sein Gegenstand sei.
Aus der Perspektive eines objektivistischen Ansatzes ist Religion das, was sich dinglich materiell
vorfinden lässt:

man kann in einem Land die Zahl und die Größe der Tempel, Pagoden, Synagogen oder
Kirchen zählen;
 man kann die Zahl der Personen ermitteln, die diese Bauwerke aufsuchen;
 man kann feststellen, mit welcher Häufigkeit und auch in welcher Kleidung sie das tun;
 ob nur Männer teilnehmen oder auch Frauen, ob Kinder zugelassen sind;
 ob das religiöse Geschehen hinter verschlossenen Türen oder öffentlich stattfindet; wie man
das Mitglied der Gemeinde vom Außenseiter unterscheiden kann; usw.
Alle auf solche Weise gewonnenen Fakten sind wichtig und für die religionssoziologische Forschung
unentbehrlich, und doch bergen sie ein ungelöstes Problem in sich.
Was nämlich 'Religion' inhaltlich ist, bleibt ungeklärt; und so können keine Antworten auf die folgenden
Fragen gegeben werden:
Das Freitagsgebet in einem islamischen Gotteshaus mag den nicht teilnehmenden Betrachter eher
durch seine politische als durch seine religiöse Qualität beeindrucken: Wie lässt sich beides
gegeneinander abgrenzen?
Oder: Bis zu welchem Punkt der Überlegung war ein bestimmter Kreuzzug eine religiöse
Unternehmung, und wann wurde daraus eine militärische Expedition?
Oder: Wenn in Deutschland die Männer, die in einer Freimaurerloge zusammengeschlossen sind und
einander als Brüder anreden, hinter verschlossenen Türen ihr maurerisches Ritual vollziehen, geschieht
dann Religion? Wenn aber das, was in der Loge geschieht, nicht Religion ist, warum ist es das dann
nicht, und was ist es stattdessen?
Den Gegenstand der Religionssoziologie nur an seiner Fassade erkennen zu wollen, wäre also
ungenügend.
Ein wenig auch hinter die Kulissen der 'Bühne' eines Altarraums oder eines Sakralbaus nicht-christlicher
Religionen zu schauen ist darum erforderlich. Außerdem macht ein Blick in die Bibel oder den Koran
nicht dümmer!
b) Der marxistische Ansatz
In der marxistischen Religionssoziologie wird 'Religion' zur Verschleierung der Wirklichkeit, wird zu
einem Produkt eines falschen Bewusstseins und hemmt dadurch die sozialistische Revolution.
Die Inhalte ernst zu nehmen ist schon darum überflüssig, weil es sie ja nur als Ausdruck einer
verkehrten Welt gibt.
So sehr das Programm des Positivismus August Comtes den politischen Absichten von Karl Marx
entgegensteht, - in der Einschätzung von Religion als einer überholten Denkform, die keine Zukunft
haben kann, stimmen beide Männer und manche Vertreter der von ihnen begründeten Richtungen
(positivistische bzw. marxistische Soziologie) überein.
Die Tatsache, dass irgendwo eine Religion Zustimmung findet, ist für Marx ein Symptom, das auf das
Vorhandensein einer Krankheit der Gesellschaft hinweist, das aber nicht selbst die Ursache der
Krankheit ist.
Das bedeutet für ihn wie für die marxistische Religionssoziologie im Kern dies: Religion bewirkt nichts,
sie kann den Menschen nicht motivieren, sie macht ihn nur beschränkt, borniert, passiv und
insbesondere unfähig zur kritischen Aktivität.
Daher ist Religion auch nicht Bedingung für das Gelingen oder Scheitern der Emanzipation.
Ihr Vorhandensein weist schlicht auf Missstände hin, die ganz andere, von der Religion unabhängige
Gründe haben.
c) Der funktionalistische Ansatz
Die Religionssoziologen, die einem funktionalistischen Ansatz nahe stehen, fragen, was Religion in der
Gesellschaft bewirkt, welche Aufgaben im Dienste des Ganzen also sie kontinuierlich wahrnimmt.
In den religionssoziologischen Arbeiten von Émile Durkheim, Talcott Parsons und Thomas Luckmann
begegnet der Leser der funktionalistischen Fragerichtung.
Sie hat den großen Vorteil, dass sie die Makroperspektive ins Zentrum rückt, also ausdrücklich die
Gesellschaft als Adressantin religiöser Wirkungen untersucht.
Doch sie bringt ähnliche Schwächen mit sich wie der objektivistische Ansatz, von dem zunächst die
Rede war.
Der Gegenstand kann auch hier nicht von seinem eigenen inneren Wesen her untersucht werden.
Der Funktionalismus gelangt zu Einsichten wie dieser:
"Keine Gesellschaft ohne Religion."
Staatskommunismus und Nationalsozialismus treten in dieser Sicht ähnlich wie 'echte' Religionen auf.
Man hilft sich aus dieser Verlegenheit mit Begriffen wie "Sozialreligion" oder "Ersatzreligion".
Ebenso wie der objektivistische Ansatz, also z.B. das Zählen der Kirchenbesucher, auch
'Kirchensoziologie' genannt, leidet der funktionalistische Ansatz darunter, dass er von den
dogmatischen, zentralen Inhalten der untersuchten Religion absieht.
Nur so kann Durkheim die Elementarformen des religiösen Lebens untersuchen.
Denn er hofft, Bewusstseins- und Handlungsstrukturen herausarbeiten zu können, die allen Religionen
aller Zeiten und Kulturen gemeinsam sind.
Was dabei jeweils inhaltlich geglaubt, also für unbezweifelbar wahr gehalten wird, erscheint nahezu
beliebig austauschbar.
Diese Position galt in der Tradition der Aufklärung auch außerhalb der Religionssoziologie bei
gebildeten Bürgern generell als fortschrittlich, weil sie der Haltung entsprach, nach der ein progressiver
Mensch ein wenig herablassend auf den Frommen nieder schaute und zugleich großzügig die Meinung
vertrat, jeder möge, wie Friedrich der Große das von seinen katholischen Gardisten gesagt hat, nach
seiner Façon selig werden.
d) Der verstehende Ansatz
Als vierter Weg zum Gegenstand der Religionssoziologie bietet sich der verstehende Ansatz in der
Tradition Georg Simmels und Max Webers an.
Für Simmel steht fest, dass die Ebene des persönlichen Erlebens, die Simmel 'Religiosität' nennt,
zum Religiösen notwendig hinzugehört.
Nicht die Religion schafft "die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion"
Das bedeutet, dass die Religionssoziologie nicht von dem Deutung der Religion absehen darf, den der
Einzelne aufgrund seines Verstandes und seiner Gefühle vornimmt.
Immerhin geht es in den meisten Religionen um personale Beziehungen zu jenseitigen Personen - im
Christentum sind es wegen des trinitarischen Gottes zumindest drei -, und es wäre abwegig, personale
Beziehungen nicht auch unter dem Gesichtspunkt ihrer emotionalen Komponenten zu erforschen.
Dem Gläubigen begegnen in seinem jeweiligen Jenseits Väter, Mütter, Vorfahren, bewunderte
Vorbilder, verehrte Angehörige des anderen Geschlechts.
Solche 'transzendenten Sozialbeziehungen' haben für den Gläubigen den Charakter unverbrüchlicher
Realität aufgrund seiner eigenen Religiosität. Für den nicht religiösen Menschen existieren sie hingegen
nur als irrige Vorstellungen, auf die man lei|der im Denken anderer Menschen stößt, aber eben nur
dort.
Im ersten Fall sind sie für Simmel tatsächlich Religion, und zwar aufgrund der Religiosität, die sie zur
Religion macht; im zweiten Fall sind sie vom Standpunkt des Betrachters aus gesehen, gerade nicht
Religion, sondern nichts als die Ideologie anderer Leute.
Generell hat der verstehende religionsoziologische Ansatz den großen Vorteil dem Phänomen der
Religion besonders nahe zu kommen. Die Betrachtung der engen persönlichen Beziehungen der
Gläubigen zu jenseitigen Personen, Göttern, Heiligen, Engeln und Dämonen, den Seelen Verstorbener,
oder auch zu transpersonalen Mächten lässt den objektiven Betrachter am ehesten erahnen, was
Religion im Innersten ist.
Vielleicht kann auch die folgende Anekdote einen Weg zeigen, was Religion ist:
Als Rabbi Meir, von dem Martin Buber und im Anschluss an ihn Simmel berichtet, mit
seinen Schülern darüber nachdenkt, wie beim Tode des Menschen die Begegnung mit
Gott vorzustellen sei, sagt der Rabbi: "Wenn der Herr mich im Jenseits fragen wird:
'Meir, warum bist du nicht Moses geworden?', so werde ich sagen: 'Herr, weil ich nur
Meir bin.' Und wenn er mich weiter fragen wird: 'Meir, warum bist du nicht Ben Akiba
geworden?', so werde ich gleichfalls sagen: 'Herr, weil ich eben Meir bin.' Wenn er aber
fragen wird: 'Meir, warum bist du nicht Meir geworden?', was werde ich da antworten?"
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